Behindertenhilfe und Sonderpädagogik. Erfahrungen und Praxisbeispiele aus Dänemark

Autor:in - Max Kreuzer
Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © Max Kreuzer 1999

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Max Kreuzer

Titel:Behindertenhilfe und Sonderpädagogik. Erfahrungen und Praxisbeispiele aus Dänemark

Infos: Neuwied ; Kriftel ; Berlin : Luchterhand, 1999

Themenbereich: Behinderung, Integration, Normalisierungsprinzip, Praxis

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Jutta Schöler

Endlich liegt ein Buch vor, das umfassend sowohl die Praxis als auch die rechtlichen und theoretischen Grundlagen der dänischen Realitäten darstellt, welche sich am Normalisierungsprinzip nach BANK-MIKKELSEN orientieren: Auch für Menschen mit Behinderungen besteht in Dänemark der Anspruch, ein weitgehend normales Leben führen zu können.

Dieser Anspruch und der Grad der Realisierung wird anhand von aktuellen Originalbeiträgen dänischer Fachleute und Forscher und mit Bezug auf eine Fülle weiterführender Literatur so dargestellt, dass dies sehr gut auch für die deutschen Leser nachvollziehbar ist, welche die dänischen Verhältnisse nicht kennen.

Max KREUZER hat diese Text drei Themenkomplexen zugeordnet: »Lebenslage - Sozialpolitik - Sozialarbeit«, »Schule und Unterricht« und »Normalisierung und Lebensqualität«. Jedes dieser drei Kapitel wird von ihm eingeleitet, wodurch es dem Leser/der Leserin ermöglicht wird, die nachfolgenden Einzelbeiträge sowohl historisch in die spezifische dänische Entwicklung einzuordnen als auch Vergleiche heranziehen zu können zu zeitgleichen oder zeitlich verschobenen Entwicklungen in anderen europäischen Ländern. Zahlreiche weiterführende Literaturhinweise belegen die umfassende Literaturkenntnis des Autors.

Aus den einzelnen Kapiteln sollen an dieser Stelle nur einige wenige Informationen aufgegriffen werden:

Steen BENGTSSON hat durch eine umfassende empirische Untersuchung festgestellt, dass die sozialen Folgen einer Behinderung durch die dänische Gesetzgebung hinreichend geregelt seien. Auch die Betroffenen selbst stellten fest, dass die Ausstattung mit Wohnraum, die von den Kommunen finanzierten Umbaumaßnahmen in den Wohnungen, die Finanzierung von Haushaltshilfen, die Unterstützung am Arbeitsplatz, die Beschäftigung von Arbeitsassistenten hinreichend geregelt sei. Jedoch: Von den Betroffenen wird kritisiert, dass die Sachbearbeitung durch die kommunalen Behörden häufig zu lange dauert.

In seiner Einleitung zu dem Kapitel »Schule und Unterricht« stellt Max KREUZER fest: "Mir ist kein hochrangiges schulpolitisches Dokument der letzten 30 Jahre aus Dänemark bekannt, in dem die Beibehaltung oder der Ausbau von Sonderschulen schulpolitisch favorisiert werden. Die Grundhaltung ist vielmehr eindeutig auf das Ziel der Integration gerichtet." (S.122)

In einem der drei nachfolgenden Beiträge werden die Ergebnisse einer breit angelegten Studie zur Entwicklung der schulischen Integration aus dem Jahr 1989/1990 und den anschließenden praktischen Erfahrungen dargestellt. Eines der Ergebnisse erscheint der Rezensentin besonders wichtig: "An den meisten Schulen wird es als eine Aufgabe des Sonderunterrichts angesehen, zu einer Entwicklung des allgemeinen Unterrichts beizutragen, in dem die größtmögliche Rücksicht auf alle Schülerinnen und Schüler genommen wird. So wird in den allgemeinen Unterricht ein Teil der Qualitäten des Sonderunterrichts integriert." (S.143) Zu dem Vorgehen, welches diesen Ansprüchen entspricht, werden Beispiele gegeben.

In dem Kapitel »Normalisierung und Lebensqualität« wird relativ ausführlich eine Untersuchung zum Thema »Wohnen in der Nachbarschaft« dargestellt; sehr wichtig ist auch das Kapitel »Geistig Behinderte und ihre Sexualität«, das von JORGEN BUTTENSCHON, einem MITARBEITER BANK-MIKKELSENS geschrieben wurde, der sich seit 1972 schwerpunktmäßig mit diesem Thema beschäftigt, eine Sexualberatungsstelle für Menschen aufgebaut hat, die als geistig behindert bezeichnet werden. Anhand von Beispielen und mit sehr konkreten Vorschlägen werden Hinweise gegeben, um "die Rahmenbedingungen und ein allgemeines Verständnis dafür zu schaffen, daß geistig behinderte Menschen die Möglichkeit bekommen, ihre Sexualität auszuleben, wenn sie es möchten." (S.281) Die Sichtweise des Autors soll aus dem Zitat deutlich werden, mit dem er dieses Kapitel einleitet:

"Sie haben eine Sitzung einberufen - drei Stunden lang - über mein Gefühlsleben.

Nach langen Diskussionen haben sie sich nun geeinigt - und eine Diagnose gestellt - über mein Gefühlsleben.

Jetzt muß es behandelt werden - sagen sie - mein Gefühlsleben.

Natürlich haben sie darüber mit meinen Eltern gesprochen, es ist ja eine ernstzunehmende Angelegenheit - mein Gefühlsleben.

Es werden mehrere Personen beteiligt sein - an der Behandlung meines Gefühlslebens - um sich abzusichern natürlich - damit keine Gefühle ins Spiel kommen - es sollte schließlich nicht zu Mißverständnissen kommen. Ich denke, sie haben ein ernsthaftes Problem

- mit ihrem Gefühlsleben." (S. 280)

In jedem der drei Kapitel findet sich auch ein Abschnitt zur Ausbildung derjenigen, die in dem jeweiligen Bereich beruflich tätig sind; Konzepte für die Aus- und Weiterbildung werden vorgestellt.

Erfreulich, dass Max KREUZER anhand von Originaltexten das »Normalisierungsprinzip«, wie es von BANK-MIKKELSEN entwickelt wurde, gut nachvollziehbar darstellt und auch einen Originaltext von ihm in den Sammelband aufgenommen hat. -

Bisher wenig bekannt ist die Tatsache, dass BANK-MIKKELSEN als Mitglied der dänischen Widerstandsbewegung während des Nationalsozialismus in einem Konzentrationslager interniert war und später seine eigene damalige Situation mit der Lebenssituation von Geistigbehinderten in dänischen Institutionen verglich. Er wird zitiert: "Ich war schockiert festzustellen, dass deren Leben nur geringfügig besser war als das eines Insassen eines Nazi-Konzentrationslagers." (S.198, Übersetzung J.Sch.) Dieser Erfahrung wird entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des »Normalisierungsprinzips« zugesprochen und es wird auch darauf verwiesen, daß BANK-MIKKELSEN in seinem Handeln »mit den Eltern sympathisiert«. (S. 199)

In der Gesamteinleitung des vorliegenden Buches stellt Max KREUZER sehr ausführlich und auf der Basis breiter Literatur den Nutzen von Ländervergleichen dar. Dies ist nicht nur ein Beitrag zur vergleichenden Sonderpädagogik; die Kenntnis dieses Textes ist auch für die allgemeine Pädagogik nützlich. Es ist bedauerlich, dass wegen des Titels dieses Buches sich vermutlich überwiegend oder ausschließlich Sonderpädagogen angesprochen fühlen; die Lektüre ist aufschlußreich für alle Pädagoginnen und Pädagogen.

Ein kleiner Kritikpunkt soll angemerkt werden: Englischsprachige Originalzitate werden nicht übersetzt.

Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für alle, die in den nächsten Jahren eine Exkursion nach Dänemark machen wollen, um dort die allgemein-gesellschaftliche Realität, das Schulwesen und speziell die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung kennenzulernen. Dieses Buch ist aber auch anregend für Exkursionen zu denselben Themen in andere Länder (z.B. Italien). Dieses Buch wird aber auch allen empfohlen, welche in Deutschland beruflich oder privat von dem Sonderbeschulungs- Betreuungs- oder Verwaltungssystem für Menschen, die als »Behinderte« bezeichnet werden, zu tun haben. Es kann vielfältige Anregungen geben, um die »deutsche Normalität«: das immer noch vorrangige Denken und die Praxis von Aussonderung in Frage zu stellen.

Quelle:

Rezensiert von Jutta Schöler

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 29.03.2006

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