„Wenn ich selber Kinder hätte, die kämen in kein Heim. Nicht eine einzige Minute.“

Zur Konstruktion von Behinderung durch das Leben in (totalen) Institutionen

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Schnell, I. (Hrsg.): Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt; 2015.
Copyright: © Kremsner, Emberger 2015

1 Aspekte der Unterbringung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in (totalen) Institutionen

Menschen mit Lernschwierigkeiten lebten in Österreich bis zur Umsetzung der Psychiatriereform 1991 (vgl. Geretsegger, 2010, 24) überwiegend in Einrichtungen, die als totale Institutionen im Sinne Goffmans (1973)[1] bezeichnet werden können – darunter etwa Psychiatrien, Kinderheime und Krankenhäuser, die der dauerhaften Unterbringung dieser Personengruppe dienten. Die formale Deinstitutionalisierung von Menschen mit Lernschwierigkeiten gilt hierzulande jedoch erst seit 2001 als abgeschlossen (vgl. Berger et al., 2006). Vor allem die Schlagworte „Macht“ und „Gewalt“ spielten bei dieser Form der Unterbringung eine zentrale Rolle, wie bereits an anderer Stelle erläutert (vgl. Kremsner, 2014). Exemplarisch verdeutlicht werden kann dies etwa mit dem Leitartikel eines Magazins aus dem Jahr 1991 zur Niederösterreichischen Landesnervenklinik Ost in Maria Gugging unter dem Titel: „‘Das Kinderhaus gehört gesprengt‘. Geistig behinderte leben ohne Privatsphäre, werden chemisch ruhiggestellt und trinken aus der Klomuschel.“ (Profil, 1991, 90)

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Einerseits lässt sich ein direkter Bezug zu den Praktiken des Nationalsozialismus herstellen, der speziell in der Auseinandersetzung mit den (Lebens-)Bedingungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten – zumindest in Österreich – kaum fundiert aufgearbeitet wurde: „Mit dem Jahr 1945 wurden zwar die Mordaktionen beendet, manche ihrer Akteure kehrten jedoch bald wieder in psychiatrische Leitungsfunktionen zurück. Auch das biologistische Paradigma wirkt - zum Teil bis heute - ungebrochen fort.“ (Berger & Müller, 2002, o. S.).

Andererseits könnte dahinter auch ein Aspekt verortet werden, der den Ausschluss einiger Personengruppen als gesellschaftliche Notwendigkeit erachtet und sich – Foucault folgend - so beschreiben ließe: “Die Definition von Krankheit und Wahnsinn und die Klassifizierung von Geisteskranken ist darauf angelegt, eine Anzahl Menschen aus unserer Gesellschaft auszuschließen. Erklärte sich unsere Gesellschaft selbst für verrückt, würde sie sich selbst ausschließen. Für eine interne Reform [wie z.B. die Psychiatriereform 1991, Anm. d. Verf.] tut sie manchmal so als ob.“ (Foucault et al., 2008, 54f.)

Um diese Mechanismen aufzudecken bzw. aus der Nähe zu betrachten, widmet sich ein Forschungsprojekt an der Universität Wien dem Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten in (totalen) Institutionen. Dabei rückt allerdings die Darstellung und Betrachtungsweise der betroffenen Personen selbst ins Zentrum: Im Rahmen des Ansatzes der inklusiven Forschung werden Lebensgeschichten erhoben und gemeinsam bearbeitet, um so den Zugang der Erfahrungen und des Erlebens dieser Personengruppe zu eröffnen. Dies ist insofern besonders bedeutsam, als gerade diesen Personen über einen langen Zeitraum hinweg die Fähigkeit abgesprochen wurde, wahr zu sprechen (vgl. Koenig & Buchner, 2011). Sie wurden etikettiert und diskriminiert; ihr Leben wurde in Akten festgehalten, die oftmals für die betreffenden Personen selbst jedoch (auch nachträglich) nicht zur Einsicht freigegeben werden.[2] Ihr Erinnerungsvermögen ist somit häufig die einzige Möglichkeit, die bleibt, um ihre Biographien zu rekonstruieren: „The research participants are also people who have been labelled and discriminated against. In a sense, they are people whose life stories are “missing”, because of their institutional histories, and because of their personal case notes (often the only documentary record of their lives) are fragmented, lost or even destroyed.” (Atkinson, 2005, 429)

Die systematische Unterdrückung von vermeintlich „andersartigen“ Menschen hat eine lange Geschichte. Der für das bereits genannte Forschungsprojekt relevante Zeitraum erstreckt sich aufgrund der Geburtsjahre der ForschungsteilnehmerInnen von etwa Mitte der 1950er-Jahre bis heute. Angesichts der Tatsache, dass die meisten von ihnen bereits als Kleinkinder in totale Institutionen eintraten, sei an dieser Stelle einmal mehr auf die Relevanz des Nachwirkens des NS-Regimes verwiesen, das zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als ein Jahrzehnt zurücklag.

Goffman (1973) beschreibt totale Institutionen als von physischer und psychischer Repression geprägte überwachende und strafende Gebilde. Sie alle – vom Konzentrationslager bis zur Psychiatrie - weisen grundlegend ähnliche, wenn auch qualitativ unterschiedliche Strukturen auf. Totale Institutionen, die in den erhobenen Lebensgeschichten genannt werden, sind Krankenhäuser, Kinderheime und vordergründig Psychiatrien. Auffallend ist jedoch, dass diesbezüglich in den Interviews der ForschungsteilnehmerInnen keinerlei Unterschiede gemacht werden und die Institutionen – Foucault (1973) folgend - oftmals untereinander verwechselt werden: „Es ist nicht verwunderlich, dass die Internierungshäuser wie Gefängnisse sind und dass oft diese beiden Institutionen miteinander verwechselt worden sind, so dass man die Geisteskranken ziemlich gleichgültig in die einen oder die anderen gesperrt hat.“ (Foucault, 1973, 105)

Auch wenn durch das Unterbringungsgesetz 1991 die dauerhafte Unterbringung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in psychiatrischen Kliniken per legem verunmöglicht wurde, lassen sich bis heute Hinweise auf von Machtmissbrauch durchsetze Strukturen in der Behindertenhilfe aufspüren (vgl. Kremsner, 2014). Totale Institutionen mögen zwar mittlerweile (zumindest im deutschsprachigen Raum) für Menschen mit Lernschwierigkeiten Geschichte sein, dasselbe gilt jedoch nicht für die (gesellschaftspolitisch aufgezwungene?) fremdbestimmte Lebensweise dieser Personengruppe, die in weiten Teilen nach wie vor Anwendung findet und von den betroffenen Personen selbst oft gar nicht in Frage gestellt werden kann. Aus langjährigen Erfahrungen in (totalen) Institutionen und/oder mit (vom Missbrauch von Macht durchdrungenen) Abhängigkeitsverhältnissen konstituieren sich so Biographien, die Behinderung bzw. die Etikettierung von Menschen als „behindert“ zum Dispositiv - auch durch betroffene Menschen selbst - erheben: „Power categorizes individuals, marks them by their own individuality, attaches them to their own identities, imposes a law of truth that they must recognize in themselves and that others must recognize in them“ (Yates, 2005, 68).



[1] „Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für eine längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.“ (Goffman, 1973, 11)

[2] Vor allem letztgenannter Aspekt dient als einer der vielen Hinweise für die Struktur einer totalen Institution: „Zunächst wird der Informationsvorbehalt hinsichtlich der eigenen Person verletzt. Bei der Aufnahme werden die Fakten – besonders die diskreditierenden – über den sozialen Status und die Vergangenheit des Insassen gesammelt und in einem Dossier zusammengestellt.“ (Goffman, 1973, 33)

Dass dies auch noch heute gängige Praxis in vielen Einrichtungen der Behindertenhilfe ist, verweist auf die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesem Thema.

2 Zur Konstruktion von Behinderung

Foucault beschreibt Macht als produktives Phänomen: Macht unterdrückt nicht nur, sondern ist von Menschen mitgestaltbar. Durch das Durchdrungenwerden mit Macht wird das Selbst in fremdbestimmten Systemen zum/zur „wahre/n“ Kategorisierte/n, wie zum Beispiel zum „Menschen mit Lernschwierigkeit“. Formen der Machtausübung wie Regeln, Ratschläge oder die Aufforderung zu einem bestimmten Verhalten produzieren diese Wahrheit (vgl. Yates, 2005). Macht über Menschen mit Lernschwierigkeiten wird so weiterhin legitimiert und praktisch umgesetzt. Wenn wir nun also davon ausgehen, dass Macht – in welcher Form auch immer sie sich zu zeigen vermag – als Konstante vorhanden ist und die Lebens- und Erfahrungswelt von allen Menschen (positiv wie negativ) durchdringt, so bleibt dennoch offen, ob und inwiefern eine Systematik in der Entrechtung und Unterdrückung von bestimmten, sozial marginalisierten Personengruppen zu erklären ist: „Jemand fällt aus der Nation nicht einfach so heraus, sondern wird für mangelhaft befunden und wird auf diese Weise, durch die Bezeichnung und deren implizite und aktiv wirksame Kriterien, zum ‚Mangelwesen‘. Der sich daraus ergebende Status, der jede beliebige Anzahl Menschen zu Staatenlosen macht, wird zum Mittel, um diese Menschen innerhalb eines Machtfeldes diskursiv zu konstituieren und juridisch zu berauben. Das fallengelassene Leben ist somit gesättigt mich Macht; jedoch ohne Anrechte und Verpflichtungen.“ (Butler & Spivak, 2007, 25)

Menschen mit Lernschwierigkeiten sind – auch wenn sie von Butler und Spivak hier nicht explizit genannt werden – sozial marginalisierten und in diesem Sinne „staatenlosen“ Personengruppen zuzurechnen. Sie unterliegen Mechanismen, die als machtvoll bezeichnet werden können und ihr gesamtes Leben determinieren: Durch die Abhängigkeit von Assistenzleistungen und/oder – wie in vielen Fällen – die (oftmals unfreiwillige) Bestellung einer gesetzlichen Vertretung. Dies hat zur Folge, dass selbst geringfügige Handlungen, die möglicherweise problemlos selbstständig verrichtet werden könnten, mit der Verpflichtung einhergehen, „um Erlaubnis oder um Material zu bitten“ (Goffman, 1973, 47). In weiterer Folge werden Machtverhältnisse stabilisiert und manifestiert, indem das Individuum die an es gestellte Verhaltenserwartung antizipiert und als RollenträgerIn (mit kreativer Eigenleistung) in kooperative Handlungszusammenhänge eintritt und somit zu einer harmonischen Aufrechterhaltung des sozialen Systems beiträgt (vgl. Pfahl, 2011, 64).

In diesem Sinne kann also festgehalten werden, dass Behinderung (bzw. das Ausfüllen einer wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Erwartung an das Verhalten von Menschen mit Behinderung) nicht als gegebene Tatsache vorhanden ist, sondern diskursiv (im Sinne gesellschaftlicher Praktiken) konstruiert wird (vgl. Waldschmidt, 2006). Hergestellt wird sie durch die Verfahren der Disziplinarmacht:

„Zum einen werden Körper, um sie als behindert etikettieren zu können, laufend mit anderen Körpern verglichen, zum Beispiel in Intelligenztests und medizinischer Diagnostik; auch werden sie differenziert, nämlich als unterschiedlich – leistungs- und erwerbsgemindert, förder-, hilfs- und pflegebedürftig – eingestuft; des Weiteren werden sie – zum Beispiel nach dem sozialrechtlich festgelegten „Grad der Behinderung“ – in eine hierarchisierenden Rangordnung eingegliedert; außerdem werden sie in homogene Gruppen – in Lernbehinderte, Hörgeschädigte, Körperbehinderte etc. – eingeteilt und schließlich werden sie in Sonderschulen, Wohnheimen und Behindertenwerkstätten exkludierenden Strategien unterworfen.“ (ebd., 5806, Hervorhebungen im Original)

Etikettierungen verfestigen sich in (totalen) Institutionen nicht nur durch von außen auf die Person einwirkende Faktoren (wie in etwa Diskreditierungen im Fallbericht und/oder physische und psychische Gewalt), sondern finden auch Eingang in das Selbst der betreffenden Person (vgl. Goffman, 1973, 43). Dies äußert sich zum Beispiel in Aussagen wie diesen: „Ich war schließlich total entnervt und habe gerufen: ‚Okay, ich geb’s zu: Ich bin behindert! Aber ich kann ja auch nix dafür, dass ich behindert bin!‘“ (Westermann & Buchner, 2008, 129)

Nach dem Austritt aus der totalen Institution erhält das Individuum eine konstruierte Position in der Gesellschaft, die durch Ausverhandlungsprozesse zwischen institutioneller Vorgeschichte und der Gesellschaft, in der sich die Person nun befindet, produziert wird. Nach der Exklusion bleibt die Entrechtung zwar nur teilweise erhalten (es sind neue Freiheiten möglich), das diskursiv konstruierte Selbst und der Status als Mitglied einer höheren Abstraktionsgruppe (z.B. als Mensch mit Lernschwierigkeit, Psychiatrieerfahrung oder Behinderung) bleibt jedoch bestehen (vgl. Foucault, 1977, 344).

Ein Kernproblem dieses Aufrechterhaltens konstruierter gesellschaftlicher Rollen aufgrund der eigenen Vorgeschichte und/oder zugeschriebener vermeintlicher Unzulänglichkeiten könnte – im Anschluss an Spivak (2008) – darin festgemacht werden, dass in Folge von auf Menschen mit Lernschwierigkeiten einwirkende Unterdrückungsmechanismen diesen Personen verunmöglicht wird, für sich selbst zu sprechen. Die Subalterne bei Spivak (2008) wird vor allem über die (Un-)Möglichkeit der Artikulation definiert, indem sie sowohl von denjenigen Personen unterdrückt wird, die GEGEN ihr Wohl handeln (und gegen sie sprechen), aber auch von jenen Personen, die sich vermeintlich FÜR ihr Wohl einsetzen (indem auch diese nicht mit der Subalternen selbst kommunizieren) (vgl. Spivak, 2008). Da diese Personengruppe in mehrfacher Hinsicht gesellschaftlich und politisch marginalisiert wird, ist es nach Ansicht der AutorInnen dieses Beitrages durchaus angebracht, auch Menschen mit Lernschwierigkeiten der Subalternen zuzurechnen: Entlang stereotyper Kommunikationsstrukturen wird ÜBER das subalterne Subjekt gesprochen, das seinerseits wiederum ebenfalls nur entlang dieser Linien sprechen kann und so – weil ihm nicht (richtig) zugehört wird bzw. ihm die Möglichkeit des Sprechens entsagt wird – sich selbst reproduziert.

Wenn wir nun also davon ausgehen, dass die Ausübung von Macht (und auch Gewalt) gegen Menschen mit Lernschwierigkeiten in totalen Institutionen der Vergangenheit angehört, wir mit Spivak (2008) jedoch auch das Handeln FÜR eine Person als Unterdrückung deuten können, so hat dies weitreichende Folgen auf die Betrachtung der aktuellen Lebensbedingungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie sind aufgrund ihrer Etikettierung (als erste Bedingung der Unterdrückung) nach wie vor aus vielen gesellschaftlichen (weil elitären) Strukturen ausgeschlossen und bewegen sich oftmals in gesellschafts-exklusiven Strukturen der Behindertenhilfe, die ihrerseits wiederum zum vermeintlichen Wohl von Menschen mit Lernschwierigkeiten überhaupt erst geschaffen wurden (als zweite Bedingung der Unterdrückung). Spivak’s zentrale Aussage ist, dass subalterne Personengruppen zum einen gar nicht erst gefragt werden, was sie selbst erwarten und möchten, und ihnen zum anderen, sollten sie doch die Möglichkeit dazu bekommen, auch gar nicht zugehört werden würde. Zuhören würde in diesem Sinne bedeuten, die Sprache der Subalternen verstehen zu lernen (vgl. ebd.). Bezogen auf Forschung im Zusammenhang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten könnte dies auch so formuliert werden: „The overwhelming majority of scholarship on disability either utilises or implies the third person plural: ‚they‘ do this, ‚they‘ are like that, ‚they‘ need such and such. This contributes to the objectification of disabled people and contributes to their experience of alienation.” (Goodley, 2011, 22)

3 „Wenn ich selber Kinder hätte, die kämen in kein Heim. Nicht eine einzige Minute.“

Eine Variante, subalterne Artikulation zu ermöglichen und unterdrückten Personengruppen Gehör zu verschaffen, eröffnet sich im Rahmen inklusiver Forschung. Die wissenschaftliche Repräsentation (zum Beispiel durch das Veröffentlichen von Lebensgeschichten) bietet - mit Einschränkungen - die Möglichkeit, eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung zu deren Gunsten zu bewirken (vgl. Koenig & Buchner, 2011, 275). Dies begründet sich unter anderem durch die Annahme, „dass jede Gruppe von Menschen – Gefangene, Primitive, Piloten und Patienten – ein eigenes Leben entwickeln, welches sinnvoll, vernünftig und normal erscheint, sobald man es aus der Nähe betrachtet.“ (Goffman, 1973, 7)

Um Unterdrückung bzw. Macht(-missbrauch) auch im Zuge des Forschungsprozesses weitgehend zu verhindern (bzw. zumindest zu minimieren), werden Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht nur als ForschungsteilnehmerInnen im Sinne der Datenerhebung befragt, sondern auch auf gleicher Augenhöhe in alle Schritte des Forschungsprozesses als ForschungspartnerInnen mit einbezogen (vgl. u.a. Walmsley & Johnson, 2003). Ziel dieses Zuganges ist es immer, die gewonnenen Ergebnisse für Menschen mit Lernschwierigkeiten nutzbar zu machen, sodass sich erkennbare Vorteile aus der Zusammenarbeit für die beteiligten ForschungspartnerInnen ergeben (vgl. Buchner, 2008). Inklusive Forschung spricht MIT der Subalternen – um bei den bereits verwendeten Begrifflichkeiten zu bleiben – und steht mit ihr auf. So können stereotype Repräsentationslinien, die sich selbst reproduzieren, indem sie ÜBER das Subjekt sprechen, durchtrennt werden (vgl. Spivak, 2008). In anderen Worten: „Sie machen auf die Bedeutung von Forschung aufmerksam, welche für Menschen mit intellektueller Behinderung von Nutzen ist. Sie unterstreichen die Bedeutung von sozialer Veränderung und der Beseitigung von Barrieren, die der vollen Teilhabe im Weg stehen, und vergrößern dadurch das kollektive Bewusstsein von Menschen mit intellektueller Behinderung über die Art und Weise, wie Behinderungen sozial produziert sind.“ (Koenig & Buchner, 2011, 275)

Biographieforschung kann durch das Bearbeiten der eigenen Lebensgeschichte neue Sichtweisen auf das eigene Leben eröffnen – vor allem dann, wenn die Erinnerungen aus der Vergangenheit (in totalen Institutionen) verschollen oder gar vernichtet worden sind. Dem eigenen Leben kann so Bedeutung verliehen werden, denn „people can come to own and control the stories of their lives“ (Atkinson, 2004, 691).

Bei all diesen Bemühungen darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass akademische WissenschaftlerInnen dennoch aus einer privilegierten Situation heraus agieren – der Zugang zu Universitäten ist Eliten vorbehalten und Menschen mit Lernschwierigkeiten sind vom regulären Zugang zu akademischer Wissensproduktion nach wie vor ausgeschlossen. Idealvorstellungen über einen inklusiven Forschungsprozess, der ForschungsteilnehmerInnen als Co-ForscherInnen auf Augenhöhe propagiert, dürfen daher nicht über reale Gegebenheiten hinwegtäuschen: Akademische ForscherInnen sind nach wie vor in einer elitären, machtvollen Position. In diesem Sinne gilt es, sich besonders achtsam mit machtbesetzten Dynamiken in inklusiven Forschungsprozessen auseinanderzusetzen, denn:

„Subalterne zu finden scheint mir nicht besonders schwierig zu sein, wohl aber, in eine Struktur der Verantwortlichkeit mit ihnen einzutreten, in der Antworten in beide Richtungen fließen. Ein Lernen zu erlernen, ohne diese verrückte Suche nach schnellen Lösungen, die Gutes bewirken sollen und mit der impliziten Annahme einer sich über ungeprüfte Romantisierungen legitimierenden kulturellen Überlegenheit einhergehen, das ist die Schwierigkeit.“ (Spivak, 2008, 129)

Besonders bedeutsam wird dies dann, wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten aufgrund ihrer eigenen Biographie traumatisiert, massiven Gewaltübergriffen ausgeliefert und aufgrund bestehender Abhängigkeitsverhältnisse schwerwiegendem Missbrauch von Macht ausgesetzt wurden. Hier ist Einfühlungsvermögen und Sensibilität – vor allem in Bezug auf sich möglicherweise reproduzierende Machtverhältnisse – unbedingt notwendig und muss im Zuge des Forschungsprozesses sorgsam reflektiert werden (vgl. Kremsner, 2014). Die Wichtigkeit dessen kann gar nicht überbetont werden: „People were (and often still are) invisible because of their symbolic and actual exclusion from ordinary life. Variously seen as threats to society, the perpetrators of numerous social ills or as impaired, vulnerable or otherwise afflicted victims, they have hitherto led separate and segregated lives in special educational and residential institutions. They have been silent because (…) the rest of society has chosen not to listen, and has thereby systematically devalued their lives. We have not listened primarily because we have believed that people with learning difficulties had no capacity for understanding or conveying their own situation or experiences. They had nothing to say, or if they had, they had no means of doing so. This meant, (…) that many people gave up the struggle to speak out and instead stayed silent. Now autobiography holds out the promise that those ‘lost voices’ may yet be recovered.” (Atkinson & Walmsley, 1999, 209)

Zum Abschluss dieses Beitrages soll einer unserer Forschungspartner zu Wort kommen, der im Zuge des Forschungsprozesses seine eigene Lebensgeschichte mit folgenden Worten reflektiert:

„Wenn ich selber Kinder hätte, die kämen in kein Heim. Nicht eine einzige Minute.“

Literaturverzeichnis

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Printmedien:

Bettschart, R. (1991): Das Kinderhaus gehört gesprengt. In Profil, Nr. 49, S. 90-95.

Quelle

Erschienen in: Kremsner, G. und Emberger, B. (2015): „Wenn ich selber Kinder hätte, die kämen in kein Heim. Nicht eine einzige Minute.“ Zur Konstruktion von Behinderung durch das Leben in (totalen) Institutionen. In: Schnell, I. (Hrsg.): Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, Seite 393.

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 06.08.2015

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