Deutschsprachige Disability Studies im Doppelpack: Einführung und Exemplarische Darstellung

Themenbereiche: Rezension
Schlagwörter: Disability Studies
Textsorte: Rezension
Copyright: © Markus Dederich, Anne Waldschmidt, Werner Schneider 2007

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: Markus Dederich, 2007

Titel: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies

Themenbereich: Kultur

AutorIn/Hrsg.: Anne Waldschmidt, Werner Schneider, 2007

Titel: Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsmittel

Themenbereich: Kultur

Kursbeschreibung:

Die ursprünglich aus den USA und Großbritannien stammenden Disability Studies - ein interdisziplinärer Ansatz zur Erforschung des gesellschaftlichen Konstruktes "Behinderung" auf Grundlage eines sozialen bzw. kulturellen Modells von Behinderung - werden seit 2001 auch in Deutschland diskutiert. Es hat seitdem auch deutschsprachige Veröffentlichungen aus diesem Bereich gegeben, aber nur wenige mit dem Schwerpunkt auf "Körper". In diese Lücke ist jetzt der transcript Verlag getreten, der ab 2007 die Buchreihe "Disability Studies: Körper - Macht - Differenz" mit den HerausgeberInnen Anne Waldschmidt, Thomas Macho, Werner Schneider und Heike Zierden verlegt. Jetzt sind erstmalig zwei Bücher in dieser Reihe erschienen: eine umfassende deutschsprachige Einführung in die Disability Studies von Markus Dederich und ein Sammelband von Anne Waldschmidt und Werner Schneider mit kulturwissenschaftlichen Beiträgen zu unterschiedlichen Aspekten der Disability Studies. Beide Bücher machen deutlich, dass Disability Studies nicht nur für behinderte Menschen sondern für alle von Interesse sind, da sie einer "Analyse der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Wissensordnung dienen können." (Dederich 2007, 32)

Markus Dederich hat für seine Einführung umfassend englischsprachiges Textmaterial aufgearbeitet, das bis dato nur im Original vorliegt. Schon deswegen ist das Buch lesenswert. Er stellt zunächst die Disability Studies als neues Forschungsfeld vor, in dem Behinderung nicht als medizinisches oder gesellschaftliches Problem, sondern als kulturelles Konstrukt in Erscheinung tritt. Indem Behinderung in einen historischen, sozialen und politischen Kontext gestellt wird kann gezeigt werden, wie sie gesellschaftlich hergestellt wird. Behinderung wird an abweichenden Körpern festgemacht, woraus sich körpersoziologische Fragestellungen ergeben, die -nach einer kurzen Darstellung von Körperdiskursen- im Weiteren aufgezeigt werden.

Dederich beschreibt den "Körper als Medium der Wahrheit und Matrix der Differenz" (79), u.a. anhand der Geschichte der "Freak-Shows" sowie "Fragmente(n) einer Körpergeschichte des Monströsen" (86ff) und zeigt auf, wie Behinderung in literarischen Texten konstruiert wird. Das Kapitel "Konstruktionen" beschäftigt sich mit "Norm und Normalität" sowie mit "Körperkonstruktionen und leibliche(n) Erfahrungen". Hier wird eine neue Perspektive auf das mit Behinderung oft gleichgesetzte Leiden dargestellt. Vom Leiden ist es nicht weit zur Verhinderung von Leiden; und so schließt das Buch mit einem Kapitel über den Diskurs der Disability Studies zu den Biowissenschaften bzw. zur Bioethik, die nach Dederich eine "Herausforderung für die Disability Studies" (174) darstellen, da sie "mit einer neuen Fassung des medizinischen Modells von Behinderung operieren" (ebd.) und Behinderung damit wieder naturalisieren. Abschließend geht es um die Frage, "wie die kulturwissenschaftliche Sichtweise des Körpers in den Disability Studies und das entsprechende Modell von Behinderung für einen behinderungsbezogenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs zu Problemen der Biowissenschaften fruchtbar gemacht werden können." (190)

Dederich stellt in seinem Buch einen großen Teil der Themen vor, die im Rahmen der internationalen Disability Studies diskutiert werden. Es ist ein klar strukturiertes, gut lesbares Buch, das als Einstieg in die Thematik hervorragend geeignet ist, wenn auch kritisch angemerkt werden könnte, dass der in dem Buch so zentrale Körper immer nur geschlechtslos erscheint und damit den in den Disability Studies wichtigen Strang "Behinderung und Geschlecht" außen vor lässt.

Mittels der Beiträge im von Anne Waldschmidt und Werner Schneider herausgegebenen Sammelband "Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung" kann man, wie der Untertitel ankündigt, "Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld" durchführen. Beide geben zunächst eine Einführung in die "kultursoziologischen Grenzgänge" zwischen Disability Studies und der Soziologie der Behinderung. Danach werden in fünf Kapiteln Beispiele für die Umsetzung des Ansatzes der Disability Studies gegeben. Das erste Kapitel zu theoretisch-analytischen Grundlagen der Disability Studies beinhaltet eine körpersoziologische Grundlegung zum behinderten Körper in den Disability Studies (Robert Gugutzer & Werner Schneider), eine Analyse der dortigen Foucault-Rezeption (Anne Waldschmidt) sowie einen Beitrag, der sich mit Behinderung als "Erfahrung und Ereignis" auseinandersetzt (Michael Schillmeier). Im zweiten Kapitel werden Querverbindungen zu den Cultural Studies und den Queer Studies her- und die sich daraus ergebenden wissenschaftlichen Perspektiven dargestellt: Clemens Dannenbeck plädiert "für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen" und Heike Raab schreibt zur "Interdependenz von Behinderung; Heteronormativität und Geschlecht". Der "deformierte" (Thomas Becker) und der "kriegsversehrten" Körper (Maren Möring) stehen im Fokus des dritten Kapitels, das sich mit "historischen Rekonstruktionen des Blicks auf den ‚anderen' Körper" beschäftigt. Einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt bildet der Themenkomplex "Medizinische Praxis, Selbstbestimmung im Alltag und biographische Erfahrung". Hier werden Arbeiten zu Alltagsinszenierungen von Blindheit (Siegfried Saerberg), der interaktiven Konstruktion von Selbstbestimmung bei NutzerInnen Persönlicher Assistenz (Karsten Altenschmidt & Lakshmi Kotsch) und dem Zusammenhang von wissenschaftlichem Diskurs und Biographie im Leben contergangeschädigter Menschen(Walburga Freitag) vorgestellt. Abgerundet und beendet wird dieser Reigen interessanter Beiträge mit dem Schwerpunkt "Institutionen der Inklusion / Exklusion". Hier geht es um die Frage "Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge?" (Gudrum Wansing), um Behinderung als Herausforderung für Forschung und politische Praxis (Michael Maschke) und schließlich um die Rolle der Schule im Prozess der Konstruktion von Behinderung (Justin Powell).

Anne Waldschmidt und Werner Schneider ist es gelungen, in diesem Band viele ansprechende und anspruchsvolle Texte zu versammeln. Die Autoren und Autorinnen, die aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen kommen, zeigen auf, welche Bereicherung ein kulturwissenschaftlicher Zugang, der "Behinderung als erkenntnisleitendes Moment für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft" benutzt, (15) für die Diskussion um Behinderung und Normalität darstellen kann.

Quelle:

Rezensiert von Swantje Köbsell

bidok- Rezensionshinweise

Stand: 20.11.2007

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