Behindert, weiblich, migriert – Aspekte mehrdimensionaler Benachteiligung

Themenbereiche: Geschlechterdifferenz
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: AEP Informationen 4/2015: „Nebensache Frau-Sein“. Schwerpunkt zu Mädchen und Frauen mit Behinderung, S. 10-14. AEP Informationen (4/2015)
Copyright: © Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft 2015

Behindert, weiblich, migriert

Zurzeit befinden sich Tausende Menschen auf der Flucht und benötigen in Europa Asyl. Sie hoffen auf ein Leben in Sicherheit und eine Zukunft für sich und ihre Kinder. Viele von ihnen benötigen aufgrund von Beeinträchtigungen und Traumata medizinische und sozial-psychologische Betreuung. Ärzt_innen, Psycholog_innen und Freiwillige bemühen sich um eine erste Hilfe bei der Ankunft, auf spezielle Bedürfnislagen kann dabei nicht eingegangen werden. Damit wird die Nichtwahrnehmung der Bedürfnisse von Flüchtlingen mit Beeinträchtigungen fortgeschrieben; denn weder bei der Errichtung von Flüchtlingslagern noch bei der Planung von Hilfsmaßnahmen werden behinderte Flüchtlinge systematisch mitgedacht, wodurch es für diese z.B. nur erschwert oder gar nicht möglich ist, die sanitären Einrichtungen zu benutzen oder die Verteilungspunkte für Wasser und Nahrungsmittel zu erreichen, was sie faktisch von der Versorgung ausschließt und ihre Vulnerabilität erhöht (Mayer 2014). Dieses Beispiel zeigt, dass Überschneidungen von Behinderung und Migration bislang nicht ausreichend berücksichtigt werden, weder von staatlichen noch von zivilgesellschaftlichen Institutionen und Organisationen. In diesem Beitrag gehen wir den Gemeinsamkeiten und Unterschieden kultureller Zuschreibungen von Migration und Behinderung nach. Wir zeigen, welche Zusammenhänge zwischen Migrations- und Behinderungserfahrungen bestehen und welche Rolle Geschlecht dabei spielt.

Verflechtungen

Die Kategorien „Behinderung“ und „Migrationshintergrund“ sind machtvolle Konstruktionen, die „in ähnlichen und in jeweils spezifischen Weisen zur Strukturierung von Gesellschaft bei(tragen)“ (Attia 2013, 19, Hervorh. im Original). Die größte Gemeinsamkeit ist die Konstruktion als das „Andere“ einer weißen, christlichen, nichtbehinderten gesellschaftlichen Mehrheit, die sich selbst als „normal“ ansieht – eine Normalität, die nicht hinterfragt wird. Dieser Prozess des „Othering“ beinhaltet die Tendenz zur Segregation in wichtigen sozialen Feldern wie Bildung und Arbeit. Darüber hinaus führt er zu individueller und struktureller Diskriminierung, zu eingeschränkter Selbstvertretung und fehlender kultureller Repräsentation sowie zur essentialistischen Reduktion auf ein einziges Merkmal. „Behinderung“ und „Migration“ werden als „Probleme“ angesehen, für die eine „Lösung“ gefunden werden muss, und von den Betroffenen wird erwartet, dass sie sich soweit wie möglich der Normalität anpassen (vgl. Gummich 2010, 137f). Dies führt einerseits zu einer Homogenisierung der sehr unterschiedlichen Mitglieder dieser Gruppe, andererseits erfolgt eine Dichotomisierung in „die“ und „wir“ (Attia 2013, 14).

Es gibt jedoch zahlreiche Unterschiede zwischen beiden Gruppen, z.B. unterscheiden sich die Diskriminierungserfahrungen: Behinderten Menschen wird nicht selten mit Mitleid und Herablassung begegnet, ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft jedoch nicht infrage gestellt; Menschen mit Migrationshintergrund dagegen werden oft als grundlegend nicht dazugehörend angesehen (ebd., 139). So werden die Angehörigen der „Gruppen“ aus unterschiedlichen Gründen von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen, doch für beide gilt: „Ihre Diskursivierung als Andere wird im Alltag und in unterschiedlichen Facetten immer wieder aufs Neue aktualisiert, als freaks (sic!) und exotisch, aufregend und beängstigend, beneidenswert und verabscheuungswürdig, jedenfalls als nicht normal und damit als jenseits moderner Gesellschaftsordnungen liegendes Problem des Einzelnen.“ (Attia 2013, 1)

Migration(shintergrund)

Der in Deutschland inzwischen gängige Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ ist eine relativ neue Wortschöpfung, für die es keine verbindliche Definition gibt. „Menschen mit Migrationshintergrund” bezeichnet eine heterogene Gruppe von Zuwanderer_innen und ihren Nachkommen aus vielen Ländern mit vielfältigen kulturellen, ethnischen, religiösen und sozio-kulturellen Hintergründen und den unterschiedlichsten Lebenslagen. Darunter befinden sich Menschen auch mit Behinderungen – manche leben seit ihrer Geburt damit, andere haben sie durch Krieg und Verfolgung oder auf der Flucht erworben. In Abhängigkeit von ihrer Migrationsgeschichte bekommen sie im Aufnahmeland einen unterschiedlichen rechtlichen Status (Debler & Gregor 2011), der unter anderem darüber entscheidet, ob bzw. welchen Zugang zum Gesundheits- oder Sozialsystem behinderte Flüchtlinge bekommen. Ein fehlender Zugang zu Gesundheitsleistungen trägt zum Entstehen bzw. zur Verschlimmerung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zu Behinderungserfahrungen bei.

Modelle von Behinderung

Im Kontext staatlichen Handelns wird Behinderung nach wie vor überwiegend aus der Perspektive des medizinischen Models betrachtet und vorrangig als Defizit der betroffenen Person, also als ein Leiden betrachtet, das entweder geheilt oder ertragen werden muss. Diese, an gesellschaftlich gesetzten körperlichen bzw. Verhaltensstandards orientierte Perspektive auf Behinderung reduziert Menschen mit einer Beeinträchtigung auf eben diese, was u.a. dazu führt, dass so bezeichnete Personen oft rhetorisch in der vermeintlich geschlechtslosen Masse „der Behinderten“ aufgehen. Mit dem zunehmend verbreiteten und nun auch durch die UN-Behindertenrechtskonvention gestützten sozialen Modell von Behinderung wird eine grundlegend andere Sichtweise vertreten: Behinderung wird hier als eine der Beeinträchtigung nachfolgende Konstruktion verstanden, die beeinträchtigte Frauen und Männer aufgrund ihrer Beeinträchtigung ausgrenzt und von der vollen Teilhabe in der Gesellschaft ausschließt (Priestley 2013, 26). Das soziale Modell von Behinderung ist inzwischen einerseits zum Common Sense in der internationalen Behindertenpolitik avanciert, andererseits vielfach kritisiert (z.B. Hughes & Paterson 1997) und weiterentwickelt (Waldschmidt 2005) worden. Für eine Analyse der verschiedenen Faktoren, die zur Konstruktion von Behinderung beitragen, ist es jedoch u. E. nach wie vor äußerst hilfreich.

Intersektionen von Migration und Behinderung

Ein Blick auf die Intersektion, d.h. die Überkreuzung von Migration und Behinderung zeigt zahlreiche Gemeinsamkeiten der so bezeichneten Gruppenangehörigen auf. So können Erwerb oder Vorliegen einer Beeinträchtigung in engem Zusammenhang mit dem Migrationsgeschehen stehen: Eine bereits bestehende Beeinträchtigung kann der Grund dafür sein auszuwandern, wenn es z. B. im Herkunftsland kein zugängliches Gesundheitssystem gibt und sich dadurch der Gesundheitszustand bis hin zur Lebensbedrohlichkeit verschlimmern kann. Das Vorliegen einer Beeinträchtigung kann aber auch ein Migrationshindernis darstellen: Es macht z.B. eine Flucht schwieriger, erhöht die Vulnerabilität während dieser wie auch das Risiko, von Grenzpolizist_innen aufgehalten zu werden.

Verfolgung, Folter und bewaffnete Konflikte sind eine zentrale Ursache vieler Beeinträchtigungen: Der weltweit größte Anteil von Kindern und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen lebt in Kriegsregionen (vgl. Kastl 2010, 129f). Im Aufnahmeland gibt es zusätzliche psychische Belastungen wie die Angst ausgewiesen oder als illegal Eingewanderte entdeckt zu werden, auch die Sorge um zurückgelassene Angehörige (Razum et al. 2004) sowie Erfahrungen mit Rassismus sind belastend (Hutson 2010). Man kann also davon ausgehen, dass viele Migrant_innen Beeinträchtigungen oder gesundheitliche Probleme haben. Nach deutschem Gesetz haben sie jedoch – solange sie keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen – nur Anspruch auf die Behandlung akuter Erkrankungen, wozu weder Physio- noch Psychotherapie gehören. Bis eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt wird vergeht oft viel Zeit, in der sich der Gesundheitszustand dramatisch verschlechtern kann.

Auch Menschen, die in zweiter Generation im Land leben, sind einem erhöhten Risiko auf Erwerb oder Verschlimmerung einer bestehenden Beeinträchtigung ausgesetzt. Hier spielt vor allem die schlechte ökonomische Situation vieler Familien mit Migrationshintergrund eine wichtige Rolle, denn eine Migrationsgeschichte erhöht das Armutsrisiko. Ebenso ist der Zusammenhang von Armut und Beeinträchtigung bekannt: „Behindert wird vor allem der, der arm ist, und wer behindert ist, wird arm. Behinderung und Armut sind eng mit einander verflochten“ (Cloerkes 2007, 99). Armut bewirkt die Häufung potentiell gesundheitsschädigender Bedingungen wie beispielsweise das Leben müssen in zu kleinen, dunklen oder feuchten Wohnungen, aber auch die des eingeschränkten Zugangs zu Gesundheitsversorgung und Präventionsmaßnahmen, der durch geringe Sprachkenntnisse verstärkt werden kann (Razum et al. 2004). In diesen Ausgrenzungsprozessen spielt von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ableism beeinflusste institutionelle Diskriminierung (Gomolla & Radtke 2002) ebenso eine Rolle wie die Erfahrungen alltäglicher Diskriminierungen.

Behinderung, Migration und Geschlecht

Geschlecht ist eine wirkmächtige Kategorie, die alle Menschen betrifft und als gesellschaftliche Konstruktion hierarchisch gegliedert ist. Behinderung hingegen wurde lange als geschlechtloser Zustand betrachtet. Dass sich dies geändert hat, ist vor allem dem langjährigen Kampf behinderter Frauen zu verdanken, die seit 1981 immer wieder auf die spezifischen Diskriminierungserfahrungen durch die „Überkreuzung“ der beiden Ungleichheitsdimensionen Behinderung und weibliches Geschlecht hingewiesen haben (vgl. u.a. Ewinkel et al., 185, Faber 2007). Diese Diskriminierungserfahrungen unterscheiden sich erheblich sowohl von denen behinderter Männer als auch von denen nichtbehinderter Frauen. Oft werden behinderte Frauen gar nicht als Frauen wahrgenommen. Sie gelten als unattraktive Partnerinnen; selbstbestimmte Sexualität wurde ihnen lange abgesprochen und Mutterschaft verwehrt. Als Gruppe sind sie massiv von sexualisierter Gewalt betroffen. Auch auf dem Arbeitsmarkt sind behinderte Frauen deutlich benachteiligt: Sie sind weniger häufig in Beschäftigungsverhältnissen als behinderte Männer oder nichtbehinderte Frauen; wenn sie einen Arbeitsplatz haben, verdienen sie weniger als die anderen beiden Gruppen, was zu prekären Lebenssituationen und vorprogrammierter Altersarmut führt.

Zur Lebenssituation behinderter Frauen mit Migrationshintergrund gibt es bis jetzt kaum Veröffentlichungen und so gut wie keine Forschung. Allerdings lassen sich aus statistischen Erhebungen Tendenzen ableiten. Auffällig ist, dass im Vergleich mit behinderten Frauen ohne Migrationshintergund und Männern mit Migrationshintergrund prozentual wesentlich weniger – vor allem jüngere – Frauen mit Migrationshintergrund eine Anerkennung als Schwerbehinderte haben, (vgl. Libuda-Köster & Sellach 2014, 313). Man kann vermuten, „dass Frauen mit Migrationshintergrund in jüngeren Jahren eher keinen Antrag auf Anerkennung ihrer Behinderung stellen wegen ihrer schlechten ökonomischen Situation verbunden mit der Sorge, wegen der Behinderung am Arbeitsmarkt benachteiligt zu werden“ (ebd., 315). Tatsächlich bilden behinderte Frauen mit Migrationshintergrund das Schlusslicht auf dem Arbeitsmarkt (BMAS 2013, 142). Sie gehören „anteilig am häufigsten zur Gruppe der Nichterwerbspersonen“ (Libuda-Köster & Sellach 2014, 316), verfügen über das geringste Einkommen (ebd.) und haben damit das höchste Armutsrisiko.

In Bezug auf ihre Lebenssituation fällt auf, dass „behinderte Frauen ohne Migrationshintergrund häufiger ledig sind als Migrantinnen und diese wiederum signifikant häufiger verheiratet waren“ (ebd., 315). Abgesehen davon, dass auch nichtbehinderte Frauen mit Migrationshintergrund häufiger verheiratet sind als solche ohne (vgl. Boos-Nünning & Stein 2013, 34), scheint das Phänomen der so genannten „verminderten Heiratsfähigkeit“ (vgl. Ehrig 1996) nicht in gleichem Maße auf behinderte Frauen mit Migrationshintergrund zuzutreffen wie auf behinderte Frauen ohne diesen. Weshalb behinderte Frauen mit Migrationshintergrund deutlich häufiger verheiratet sind ist genauso wenig erforscht wie ihre Erfahrungen mit (sexualisierter) Gewalt. Studien zur Gewalterfahrung von Frauen mit und behinderten Frauen ohne Migrationshintergrund zeigen, dass Erstere in besonderem Maße gefährdet sind Gewalt zu erfahren. Wie Schröttle und Glammeier (2014, 294) betonen, liegt dies nicht an der ethnischen Herkunft, vielmehr seien „die Migrationsfolgen und die mit ihnen einhergehenden sozialen Spannungen und Belastungen im Geschlechterverhältnis“ Gewalt fördernd. Auch muss in diesem Zusammenhang noch einmal die Heterogenität der „Menschen mit Migrationshintergrund“ betont und auf die Gefahr der Kulturalisierung dieser Fragen hingewiesen werden, denn „(b)ei der Diskussion um Gewalt gegen Migrantinnen geht es (…) nicht wirklich um alle Frauen mit Migrationshintergrund (…), sondern unausgesprochen werden nur bestimmte, als besonders unterdrückt, abhängig und/oder wehrlos imaginierte Gruppen (z.B. Frauen türkischer Herkunft mit geringem Bildungs- und sozialen Ressourcen, schwarze Frauen) thematisiert“ (ebd., 300). „Die“ behinderte Frau mit Migrationshintergrund gibt es nicht; es ist davon auszugehen, dass die „Lebenssituation, Belastungen und Diskriminierungen, denen Migrantinnen mit Behinderung ausgesetzt sind, (...) stark variieren“ (ebd., 300). Fest steht, dass die in dieser Gruppe zusammengefassten Personen aufgrund des ihres weiblichen Geschlecht, ihrer Behinderung und ihres Migrationshintergrunds mit einer Vielzahl von Benachteiligungen konfrontiert sind.

Unsichtbarkeit

In den deutschsprachigen Ländern gibt es zahlreiche Beratungs- und Dienstleistungsangebote für behinderte Menschen wie auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Da dies jedoch zwei völlig getrennte Systeme sind, fallen Menschen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung in die Lücke dazwischen. Sie sind als Adressat_innen der Angebote nicht „vorgesehen“, bleiben benachteiligt und unterversorgt. Beratungsangebote für Migrant_innen fokussieren vor allem rechtliche Aspekte der gesellschaftlichen Integration und beschäftigen sich nicht mit gesundheitsspezifischen oder gar rechtlichen Fragen, die mit Behinderung zusammenhängen. Die Behindertenhilfe hingegen kennt sich mit Letzterem gut aus, hat aber keine Kompetenz bzgl. Fragen, Problemen und Lebenslagen, die mit Migration und/oder Flucht zusammenhängen. Außerdem haben die Mitarbeiter_innen hier in der Regel selbst keinen Migrationshintergrund. Sie arbeiten überwiegend mit einem westlich geprägten, kulturhomogenen Verständnis von Behinderung, was zu ausschließenden Praktiken führt, obwohl die Angebote vom Grundsatz her für alle behinderten Menschen angeboten werden (Kauczor 2008, 70f). In der Regel scheint es sich dabei nicht um offen antiislamische, antisemitische oder rassistische Haltungen zu handeln, sondern um eine Mischung von Unwissenheit und Mangel an Sensibilität für die Erfahrungen, Hintergründe und Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund bzw. ihrer Familien. Viele Mitarbeiter_innen der Behindertenhilfe wissen wenig über kulturelle Werte und Regeln und ihre Auswirkungen auf den Umgang mit Behinderungen sowie über individuelle Migrationsgeschichten oder deren rechtliche Implikationen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in der Behindertenhilfe vielerorts hartnäckig das medizinische Modell von Behinderung hält. Dies führt dazu, dass nur das scheinbar Offensichtliche als Problem wahrgenommen wird, nicht aber die Faktoren, die im Hintergrund behindernd wirken, so dass nicht der jeweiligen Situation angemessen gehandelt bzw. interveniert wird. Dies errichtet Barrieren, die den Zugang zum System der Behindertenhilfe für Migrant_innen erschweren (ebd.: 71) und ihre Unsichtbarkeit aufrechterhalten.

Eine große Barriere sind fehlende Sprachkompetenzen bei den Mitarbeiter_innen der Behindertenhilfe und nur sehr wenige haben selbst einen Migrationshintergrund. Auch gibt es in vielen Herkunftsländern keine vergleichbaren Unterstützungsangebote, weshalb Migrant_innen kultursensible Informationen in ihnen zugänglichen Formaten benötigen. Ebenso kann es sein, dass die Betroffenen wenig oder kein Wissen über die Entstehung und Behandlungsmöglichkeiten des gesundheitlichen Problems bzw. der Beeinträchtigung verfügen. Hier müssen die Betroffenen durch kultursensible Aufklärung in die Lage versetzt werden, sich für oder gegen eine bestimmte Maßnahme zu entscheiden. Unter Umständen teilen Migrant_innen nicht die hier vorherrschende Vorstellung im Hinblick auf Selbstbestimmung, (Un-)Abhängigkeit, Pflege und Therapie nicht oder formulieren aus Angst vor Autoritäten ihre Bedürfnisse nicht. Manchmal haben sie negative Erfahrungen mit deutschsprachigen Beratungsangeboten gemacht und misstrauen diesen.

Verschärft wird die Problemlage behinderter Migrant_innen durch institutionelle Diskriminierung, die den Zugang zu medizinischen Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen vorenthält oder erschwert. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben Menschen mit Migrationshintergrund geringwertigere Schulabschlüsse und nur gering qualifizierende Ausbildungszertifikate und dadurch deutlich reduzierte Möglichkeiten einen Existenz sichernden Lebensunterhalt zu verdienen. Ursache dafür sind institutionelle Diskriminierungen im Bildungsbereich, die u.a, dazu führen, dass vor allem männliche Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wesentlich häufiger in Sonderschulen überwiesen werden als im Bevölkerungsdurchschnitt, wodurch sich ihre Chancen auf Teilhabe an Bildung, Ausbildung und Erwerbstätigkeit deutlich reduzieren (Powell & Wagner 2014). Da behinderte Menschen generell ein erhöhtes Risiko der Erwerbslosigkeit besitzen (wobei das Risiko bei Frauen ausgeprägter ist als bei Männern), verwundert es nicht, dass Migrant_innen mit Behinderung eine deutlich höhere Arbeitslosenquote aufweisen – Frauen 24%, Männer 14% im Vergleich zu 12% der Frauen mit Behinderung aber ohne Migrationshintergrund und 10% der Männer in dieser Gruppe (BMAS 2013, 142). Behinderte Migrant_innen sind daher in weit höherem Maße von staatlichen Transferleistungen abhängig als ihre Peers ohne Migrationshintergrund. Hier wird deutlich, wie die Intersektion von Migration, Behinderung und Geschlecht Armut und Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe bedingt.

Um das komplexe Themenfeld Behinderung und Migration geschlechtersensibel anzugehen, bedarf es unterschiedlicher Maßnahmen auf supra-nationaler, staatlicher und regionaler Ebene. Vereine und Verbände der Behindertenhilfe müssen sich der Thematik ebenso annehmen wie migrationsspezifische Vereinigungen. Der Teilhabebericht (BMAS 2013) der deutschen Bundesregierung hat bereits begonnen, die Lebenslagen von behinderten Migrant_innen mit einzubeziehen. Dabei zeigten sich erneut die schlechte Datenlage und viele offene Fragen (Wansing & Westphal 2014, 31). Die deutsche Bundesregierung wird nun die Entwicklung eines entsprechenden Surveys in Auftrag gegeben. Ferner müsste u. E. der Aufbau von Beratungsstrukturen finanziert werden, die die beschriebene Lücke in den Beratungsangeboten füllen und besonders Unterstützungsangebote auf Peer-Ebene fördern.

Insgesamt steht die Behindertenhilfe und -selbsthilfe vor der Herausforderung, sich für alle behinderten Menschen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Ethnizität, Sprache und Religion – zuständig zu erklären und dies in ihrem Handeln und ihren Angeboten deutlich zu machen. Das hieße, differenzfreundlich zu agieren und die eigenen Strukturen und Angebote daraufhin zu überprüfen, ob sie Migrant_innen aus- bzw. nicht eindeutig einschließen und entsprechende Veränderungen auf den Weg zu bringen.

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Quelle

Swantje Köbsell, Lisa Pfahl: Behindert, weiblich, migriert – Aspekte mehrdimensionaler Benachteiligung. Erschienen in: AEP Informationen 4/2015: „Nebensache Frau. Schwerpunkt zu Mädchen und Frauen mit Behinderung, S. 10-14. http://aep.at/aep-informationen/ ISSN 2072-781X

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.01.2016

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