Die Dialogspirale von Milani Comparetti in der Elementaren Musikpädagogik

Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Bachelorarbeit
Releaseinfo: Bachelorarbeit; Leopold - Franzens - Universität Innsbruck; Fakultät für Bildungswissenschaften; Institut für Erziehungswissenschaft; bei Priv. - Doz. Dr. Petra Reinhartz
Copyright: © Christine Knoll-Kaserer 2014

Einleitung

Meine langjährige Arbeit im Bereich der Elementaren Musikpädagogik (EMP) kann als Hauptantrieb für die Themenstellung dieser Bachelorarbeit gesehen werden. Neben dem praktischen Tun, dem musikalischen Eintauchen mit den Kindergruppen, dem Vorbereiten, Planen und Reflektieren der Stunden erwies sich das Lesen der Literatur und verstärkte Erarbeiten der Theorie als passendes Gegenstück — Elemente, welche immer stärker ineinander zu greifen begannen.

Ich lehre seit 2005 am Tiroler Landeskonservatorium im Fachbereich Elementare Musikpädagogik die Fächer Lehrpraxis und Didaktik der Musikalischen Früherziehung. In dieser so spannenden Aufgabe, Menschen in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung und Ausbildung zu begleiten, bin ich immer wieder bestrebt, den Studierenden mit Hilfe anschaulicher Modelle „Handwerkszeug“ für ihren musikpädagogischen Unterricht mitzugeben. Um die besondere Methodik der EMP in ihrem künstlerisch-pädagogischen Wirken besser veranschaulichen zu können, verwendete ich häufig die Dialogspirale von Milani Comparetti, die ich bei Shirley Salmon im Universitätslehrgang „Musik und Tanz in sozialer Arbeit und integrativer Pädagogik“ am Orff-Institut kennengelernt hatte. Auch im Laufe meines Studiums der Erziehungswissenschaften stieß ich in der Einführung zur Inklusiven Pädagogik bei Prof. Dr. Schönwiese auf dieses Modell von Milani Comparetti.

Seither begleitet mich dieses Modell und ich bin überzeugt, dass es gerade in der EMP einen besonderen Stellenwert hat und auf das besondere kreative Herangehen verweisen kann. Doch kommt es innerhalb der EMP-Stunden tatsächlich zu einem musikpädagogischen Dialog? Wie sieht dieser aus? Und welche förderlichen bzw. hinderlichen Elemente des Dialogs in der EMP können aufbauend auf die Analyse einer EMP-Stunde mit Kindern von vier bis sechs Jahren formuliert werden?

Diese Fragen beschäftigen mich schon länger und haben mein Interesse geweckt, diesen im Rahmen einer theoriegeleiteten Praxisanalyse auf den Grund zu gehen und das Thema „Die Dialogspirale in der EMP“ von unterschiedlichen Standpunkten zu betrachten.

Folgende Forschungsfrage möchte ich mit Hilfe meiner Arbeit beantworten:

Kann die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell in der Elementaren Musikpädagogik gesehen werden — Möglichkeiten und Grenzen aufbauend auf der Analyse einer EMP-Stunde mit Kindern von 4 bis 6 Jahren.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Bereiche: Im ersten Kapitel wird auf die historische Entwicklung und die Zielebenen der Elementaren Musikpädagogik eingegangen. Ein besonderer Fokus wird zudem auf die Methodik, die Bedeutung der Gruppe und der musikpädagogischen Lehrkraft in der EMP gelegt.

Im zweiten Kapitel werden die Dialogspirale von Milani Comparetti, sein Leben, Werk und Schaffen vorgestellt. Im dritten und letzten Teil der Arbeit, dem eigentlichen „Herzstück“, wird versucht, mit Hilfe der Praxisanalyse und aus dem Blickwinkel des theoretischen Bezugsrahmens die Dialogspirale im EMP-Unterricht auf der Grundlage von Beobachtungen und zwei Videotranskriptionen zu beschreiben.

Auf den Aspekt der Kreativität, die Achse, auf der sich die Dialogspirale Milani Comparettis in die Höhe schraubt, wird im Rahmen dieser Bachelorarbeit nicht weiter eingegangen. Dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen und wäre vielleicht Ausgangspunkt für eine neue Arbeit unter Berücksichtigung dieses Begriffes.

1 Die Elementare Musikpädagogik

1.1 Von der Musikalischen Früherziehung zur Elementaren Musikpädagogik

Um die Elementare Musikpädagogik mit ihren Zielen, Methoden und ihrem Wirkungsbereich näher beschreiben zu können, ist es erforderlich, einen Blick zurück zu werfen. Die Veröffentlichungen von Ribke und Dartsch sollen diese institutionelle Entwicklung der Elementaren Musikpädagogik im Laufe der letzten vier Jahrzehnte näher skizzieren. Diese Ausführungen betreffen vor allem Deutschland — für Österreich gibt es darüber nur wenig vergleichbare Literatur. Die großen Veränderungen sind bzw. waren in Österreich ähnlich zu beobachten. Mit Hilfe von Auszügen aus österreichischen Lehrplänen wird versucht, die Entwicklung der EMP in Österreich wiederzugeben.

Die Anfänge dieses mittlerweile eigenständigen Fachbereiches liegen in der Musikalischen Früherziehung. Seit Ende der 1960er-Jahre steht der Begriff der „Musikalischen Früherziehung“ für eine grundlegende Musikerziehung für Kinder im Vorschulalter. Der erste Modellversuch des Verbands deutscher Musikschulen wurde 1968 in Deutschland gestartet und war der Beginn für die Ausarbeitung eines eigenen Curriculums. (Vgl. Dartsch 2010, S. 10) Dieser Strukturplan war in drei Stufen gegliedert und sah für die sogenannte Grundstufe die Musikalische Früherziehung für vier- bis sechsjährige Kinder vor. (Vgl. Ribke 1995, S. 29) Diese Regelungen stellten den Beginn der Institutionalisierung der musikpädagogischen Bildung von Kindern im Vorschulbereich außerhalb bzw. zusätzlich zum Kindergarten dar. Die Musikalische Früherziehung entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Kernbereich der Musikschulen in Deutschland — und auch in Österreich. Die Elementar- und Grundstufe ist im Strukturplan des Verbands der deutschen Musikschulen fest verankert und wurde in dem 1980 veröffentlichten Lehrplan festgeschrieben:

„Mit der Musikalischen Früherziehung soll ein früher, vor der Einschulung in der Regelschule liegender Umgang mit Musik ermöglicht werden. Dieser Musikunterricht für vier- bis sechsjährige Kinder dient der Vorbereitung der instrumentalen und vokalen Ausbildung in der Musikschule. Dabei wird von der Erkenntnis ausgegangen, dass ein früher musikalischer Beginn sowohl die musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Kindes zu wecken und zu entwickeln vermag, als auch zu seiner Gesamtentwicklung beitragen kann.“ (Ribke 1995, S.29)

In der Neufassung des Lehrplanes von 1994 werden die Aufgaben der Musikalischen Früherziehung wie folgt beschrieben: Sie soll einen frühen qualifizierten Umgang mit Musik ermöglichen, musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten wecken und insbesondere der Vorbereitung der instrumentalen und vokalen Ausbildung in der Musikschule dienen. (Vgl. Dartsch 2010, S. 11)

Heute wird die Musikalische Früherziehung überwiegend als Praxis der Elementaren Musikpädagogik mit Kindern im Vorschulalter gesehen. Aus der Musikalischen Früherziehung, die zu Beginn ihres Daseins als reine „Vorbereitung“ für den Instrumentalunterricht gesehen wurde, entwickelte sich die Elementare Musikpädagogik. Die altersstufenabhängige Bezeichnung der MFE greift mittlerweile zu kurz:

„Elementare Musikpädagogik ist hingegen ein altersunabhängiges Konzept und repräsentiert ein künstlerisch-pädagogisches Prinzip.“ (Ribke 2002, S. 15)

Ribke schreibt weiter in ihrem Buch „Elementare Musikpädagogik“: „Altersunabhängig ist der elementare Umgang mit Musik über Sinne, Körper, Stimme, Perkussion; altersabhängig sind die Feinauswahl der Inhalte, die Komplexität des Angebotes, die Progression...sowie die Methoden, über die der elementare Umgang mit Musik angestrebt wird.“ (Ribke 1995, S. 30)

In Österreich wurde von der Konferenz der österreichischen Musikschulwerke (KOMU) erstmals 1994 der Rahmenlehrplan für Musikalische Früherziehung herausgegeben. Im Zeitraum 2004 bis 2007 wurde der neue Lehrplan für Elementare Musikpädagogik unter Mitwirkung der FachgruppenleiterInnen aus ganz Österreich erarbeitet. Es werden hier erstmals alle Fächerangebote erfasst und mit ihren speziellen Erfordernissen, Zielen, Inhalten und Methoden für die jeweilige Altersgruppe beschrieben. (Vgl. Komu 2008, S. 2)

Das Angebot an den deutschen und auch österreichischen Musikschulen hat sich im Elementarbereich erweitert: Neben der Musikalischen Früherziehung gibt es neuerdings auch Angebote für Eltern-Kind-Gruppen, für Kinder von 6 bis 12 Jahren, für Jugendliche, für Erwachsene und Senioren, für Menschen mit Behinderung. (Vgl. Komu 2008, S. 4) Die hier beschriebenen Gruppenangebote befinden sich jedoch erst im Ausbau — die meiste Nachfrage besteht sicherlich immer noch im Bereich der Musikalischen Früherziehung.

Der facettenreiche Fachbereich der Elementaren Musikpädagogik hat im Laufe der vergangenen Jahre an Bedeutung gewonnen. Aus seiner ursprünglichen Aufgabe, auf den Instrumentalbereich vorzubereiten, wurde ein eigenes künstlerisch-pädagogisches Fach mit einem altersübergreifenden Ansatz.

1.2 Zum Begriff des Elementaren

Unterschiedlichste Auffassungen zum Begriff des „Elementaren“ zeugen davon, dass dieser nur bedingt „fassbar“ und sprachlich artikulierbar ist. (Vgl. Jungmair 1992 S. 261 ff.) Mit unterschiedlichen Definitionen einiger MusikpädagogInnen wird versucht, dem Wesen des Elementaren näherzukommen.

Elfriede Feudel, eine Mitarbeiterin von Jaques-Dalcroze, bezeichnete die rhythmisch-musikalische Erziehung als elementare Pädagogik, in der „die Bewegung als Bindeglied zwischen Geist und Körper angesehen und in den Prozess des Lernens und Lehrens einbezogen wird.“ (Klöppel/Vliex, 1992, S. 13) Elementar nannte sie ihre Pädagogik, weil „nur Fähigkeiten und Anlagen zum Ausgang genommen werden, die jedes Kind mit ins Dasein bringt.“ (Klöppel/Vliex, 1992, S. 13)

Maria Seeliger beschreibt das Elementare als „das dem Menschen und das der Musik zu Grunde liegende.“ (Seeliger 2003, S. 15) Dieses Elementare ist gerade in den Kindern so offensichtlich und echt.

Ulrike Jungmair stellt Begriffsbestimmungen von „elementar“ zusammen und schreibt, dass „elementum, Element … immer ein weiter nicht definierbares, rational faßbares, auf geheimnisvolle Art mit natürlichem Geschehen in Verbindung stehendes Phänomen“ ist. (Jungmair 1992, S. 136) Damit verweist sie auf den hohen Erlebnisanteil elementarer Prozesse, die in dieser Hinsicht „nicht beobachtbar, schon gar nicht plan- oder methodisierbar sind“. (Jungmair, 1992 S.195)

„Das Elementare ist als das ursprünglich Hervorbringende zu verstehen, als das aus sich selbst Tätige, das aus sich Wirkende, sich selbst Organisierende, sich selbst Erneuernde, als sich selbst setzendes Ereignis.“ (Jungmair, 1992 S. 136)

EMP sieht sich als Kernbereich, von dem aus weitere Felder der Musikerziehung erschlossen werden. Dabei wird das Elementare nicht als Simplifizierung oder Vereinfachung, sondern als Freilegung des Grundsätzlichen verstanden.

„Im Wort ‚Element’ stecken zwei Bedeutungen: die des Unteilbaren, Grundlegenden und die des Zentralen, Mittelpunkhaften.“ (Keller 1962, S. 31) schreibt Wilhelm Keller in seinem Artikel „Elementare Musik“.

Als einer der Begründer der Elementaren Musikpädagogik kann Carl Orff genannt werden, ein Komponist und Pädagoge, der von 1895 bis 1982 lebte. Nach sechsjähriger Tätigkeit an der Günther-Schule entstanden 1930 seine damals ganz revolutionären Pläne für eine neue Art der Musikerziehung. Er nannte sein erstes pädagogisches Werk Orff-Schulwerk-Elementare Musikübung. Von ihm stammt der Satz:

„Die Musik fängt im Menschen an und so die Unterweisung. Nicht am Instrument, nicht mit dem ersten Finger oder in der ersten Lage oder mit diesem oder jenem Akkord. Das Erste ist die eigene Stille, das In-sich-Horchen, das Bereitsein für die Musik, das Hören auf den eigenen Herzschlag und den Atem“. (Orff zit. nach Jungmair, 1992 S. 97)

Orff geht davon aus, dass in jedem Menschen so etwas wie eine Urmusik existiert, die im Laufe der Zeit des Heranwachsens meist verschüttet wird. Er forderte eine Einheit aus Musik und Bewegung und ihren Wurzeln: die Musikübung, das Musizieren aus der Bewegung. „Der Beginn des Unterrichts […] soll vom Menschen aus, beim Kinde vom Spieltrieb, beim Erwachsenen vom Bewegungstrieb (Motorik) ausgehen.“ (Orff 1931, S. 239)

Carl Orffs Definition von „elementar“:

„Was ist elementar? Elementar, lateinisch elementarius, heißt ‚zu den Elementen gehörig, urstofflich, uranfänglich, anfangsmäßig’. Was ist weiterhin elementare Musik? Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern Mitspieler einbezogen ist. Sie ist vorgeistig, kennt keine Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenformen, Ostinati und kleine Rondoformen. Elementare Musik ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.“ (Orff 1963, S. 16)

1.3 Zielebenen der Elementaren Musikpädagogik

Musikpädagogische Zielsetzungen bauen meist auf allgemeinen Erziehungs- und Bildungszielen auf. Dazu gehört für Michael Dartsch, den Menschen in seiner lebensbejahenden Einstellung zu seinem individuellen Sein und Leben zu unterstützen. (Vgl. Dartsch 2010, S. 196 f.) Musik kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen den Menschen erreichen und somit „berühren“. Auch im österreichischen Rahmenlehrplan der Elementaren Musikpädagogik wird als ein Unterrichtsziel „Von Musik berührt sein können“ (Komu 2008, S. 5) angeführt.

„Der Mensch kann in der Elementaren Musikpädagogik Verbindungen eingehen, die ihm Beziehungen auf drei Ebenen ermöglichen. Als erste Verbindung ist die von Mensch und Musik zu nennen, als zweite die von Mensch und Mensch und als dritte die vom Menschen zu sich selbst.“ (Ribke 2002, S. 11)

Dieses Zitat beschreibt auf eindrucksvolle Weise das große Potential, das der Musik zu Grunde liegt und das sich in Verbindung mit dem Menschen bzw. in der EMP-Gruppe entfalten kann. Der Mensch erfährt somit in jeder musikbezogenen Grunderfahrung nicht nur ein „Stück Welt“, sondern zudem sich selbst — er erfährt und lernt über das musikalische Gestalten und Erleben hinaus auch, „wie es ist,“ Musik in ihrer Fülle „…wahrzunehmen, zu erleben, hervorzubringen, damit zu spielen und sich hineinzugeben.“ (Dartsch 2010, S. 201)

Als weiteres übergeordnetes Lehrziel formuliert Michael Dartsch die Aufforderung zur Selbsttätigkeit in der Musik. Mittels Anregungen, meist in Form von Spielsituationen, sollen die Kinder selbsttätig und in einem primären Kontakt Musik in ihrer Vielfalt erfahren können.

Nach Juliane Ribke orientieren sich die Ziele der Elementaren Musikpädagogik an den Grundbedürfnissen eines Menschen. Dazu zählen sensorische, psychische, motorische und soziale Bedürfnisse. Elementare Musikpädagogik ist im „Schnittpunkt“ dieser Bedürfnisse angesiedelt und kann die nachfolgenden Ziele nur dann erfüllen, wenn den Grundbedürfnissen Rechnung getragen wird.

Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass musikalisches Verhalten innerhalb der EMP kein isolierter Bereich der menschlichen Persönlichkeit ist und der ganzheitlichen, allgemeinen Förderung innerhalb der EMP große Bedeutung zukommt. Musik ist zudem wie kein anderes Medium dazu geeignet, Sinne, Körper, Emotion, Fantasie und Verstand gleichermaßen anzusprechen. (Vgl. Ribke 1995, S.127)

1.3.1 Die Zielebenen der EMP nach Ribke

a.) Psychosoziale Ziele:

Die psychosozialen Ziele sind in die psychologischen und sozialen Ziele unterteilt.

Psychologische Ziele:

Ziel der elementaren Musikpädagogik ist, dass die GruppenteilnehmerInnen...

  • Geborgenheit erfahren, sich sicher fühlen

  • in der Selbstwahrnehmung gefördert werden

  • durch Identifikationsprozesse mit verschiedenen Lebewesen, Naturerscheinungen und Objekten Ich-Erweiterung erfahren

  • Ideen entwickeln

  • persönlich herausgefordert werden, sich präsentieren, Unsicherheiten bestehen

  • Spannungen aushalten, Durchhaltevermögen steigern, Befriedigungsaufschub ertragen

  • Initiative ergreifen, Entscheidungen fällen

  • Beziehungen zur Gruppe, zum Partner aufbauen

  • zurücktreten, verzichten können, Selbstkontrolle ausüben;

Soziale Ziele:

  • den/die anderen wahrnehmen

  • abwarten, eine Reihenfolge einhalten

  • die Ideen anderer akzeptieren

  • aufeinander reagieren, in Kommunikation zueinander treten

  • aufeinander Rücksicht nehmen

  • sich mitverantwortlich fühlen

  • sich als Gruppe Regeln setzen

  • ein Gruppengefühl entwickeln

(Ribke 1995, S. 132ff.)

b.) Motorische Kernziele

Ziel Elementarer Musikpädagogik ist es, dass die TeilnehmerInnen...

  • sich ihre Bewegungsfreude erhalten oder ihre Bewegungsfreude wiederentdecken

  • die kinästhetischen und kutanen Sinnessysteme differenzieren

  • das Körperschema festigen und über ein gutes Körperbewusstsein verfügen

(Ribke 1995, S 132ff.)

c.) Musikalische Ziele

Ziel der Elementaren Musikpädagogik ist, dass die TeilnehmerInnen...

  • die Musik als ein Medium erleben, das Ausdruck ihrer physischen und psychischen Energien ist

  • den auditiven Sinn differenzieren, aktiv lauschen, konzentriert hören/horchen

  • über differenzierte Handlungsmöglichkeiten im Bereich von Stimme, Instrument und Körper verfügen;

(Ribke 1995, S.132ff.)

Die hier angeführten Ziele können nicht als definitive Könnens- und Wissensziele gesehen werden, denn ihr Erreichen oder Nichterreichen ist kaum kontrollierbar. Trotzdem werden sie in der EMP als Ziele formuliert, jedoch nicht als Endprodukt, sondern als Orientierungspunkte für die musikpädagogische Lehrkraft, den Unterricht „schülerzentriert“ zu planen. Die oben angeführten Ziele haben somit „Prozesscharakter“, denn Entwicklung und Lernen werden innerhalb der EMP als „lebenslanger Differenzierungsprozess“ gesehen. (Vgl. Ribke 1995, S. 132)

Bildung kann bzw. muss jedoch immer als Prozess gesehen werden — wenn jeder der angeführten Zielkategorien genügend Beachtung geschenkt wird, kann Raum für vielfältige Bildungsprozesse entstehen. Es braucht zudem ein rechtes Maß an Ausgewogenheit und sollte nicht zu einer einseitigen Akzentuierung in den Zielkategorien führen.

„Bildung entfaltet sich stets im Spannungsfeld zwischen kulturellen Gegenständen und dem Einbringen von Eigenem, ja sie lebt gerade aus der Verschränkung von Kultur und Individuum; dabei wurzelt sie in grundlegenden Erfahrungen und führt diese unmittelbar in die Verästelungen zunehmender Differenzierung. Aus diesen Differenzierungen schließlich resultieren Muster, die auf ein möglichst stimmiges Leben im Spannungsfeld zwischen dem ‚Anderen’ und dem Eigenen abzielen.“ (Dartsch 2010, S. 211)

1.4 Zur Methodik der EMP

1.4.1. Die Quellen des menschlichen Musizierens — vom Spiel hin zu den acht Prinzipien der EMP

Bevor die Methoden der EMP näher betrachtet werden, soll eine kurze Annäherung über die Quellen menschlichen Musizierens den Weg dorthin ebnen. In dem Artikel „Elementare Musikpädagogik im anthropologischen Bedingungsfeld“ unterscheidet Michael Dartsch zwischen Entscheidungsfeldern (dazu zählen Ziele, Inhalte, Methoden und Medien) und Bedingungsfeldern — diese stehen meist außerhalb des Einflusses der musikpädagogischen Lehrkraft und werden von gesellschaftlichen, kulturellen und institutionellen Faktoren geprägt. Von großer Bedeutung innerhalb dieses zweiten Feldes ist das anthropologische Bedingungsfeld zu nennen — denn als Musikpädagogen/Innen haben wir es immer als Menschen mit Menschen zu tun. (Vgl. Dartsch 2002, S. 311) Und so ist das pädagogische Denken und Handeln immer geprägt von einem bestimmten Bild vom Menschen — ob bewusst oder unbewusst. Das Menschenbild kann als Zielvorstellung für Erziehungsprozesse dienen und/oder als unumgängliches Blickfeld, das das pädagogische Tun als solches kennzeichnet: Im Zentrum steht der Mensch — dieser wird von verschiedensten Seiten in den Blick genommen — je nach Pädagogik oder psychologischer Theorie unterschiedlich gesehen — und davon hängt in großem Maße das pädagogische Handeln und Sein ab. Das menschliche Sein im musikpädagogischen Kontext zu betrachten und zu beschreiben wäre ein sehr spannendes, aber auch weitreichendes Themenfeld. Dies würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, deshalb muss auf Arbeiten von Dartsch (2002, 2010) und Ribke (1995) verwiesen werden.

Doch einer Grundfrage menschlichen Musizierens soll hier nachgegangen werden: Warum und wie musiziert der Mensch? Ein erstes Anknüpfen findet man beim möglichen Beantworten dieser Frage im alltäglichen Sprachgebrauch: Man spielt ein Instrument oder ein bestimmtes Musikstück. Hierbei wird die besondere Bedeutung und Verbindung des Spielens der Musik deutlich. Musizieren kann als eine besondere Form des Spielens gesehen werden. (Vgl. Dartsch 2002; S. 314)

Über diese unterschiedlichen Definitionen des Spielens definiert Dartsch die Grundzüge des menschlichen Musizierens wie folgt:

  • „Spiel als Urmöglichkeit, in eine ‚abgehobene Welt’ einzutreten

  • Phantasie als Spiel im psychischen Innenraum

  • Ausdruck als zugrunde liegendes Bedürfnis

  • Beziehung als Resultat des Ausdrucks“ (Dartsch 2002, S. 314)

Diese vier angeführten Quellen menschlichen Musizierens können auch als Prinzipien innerhalb der Elementaren Musikpädagogik gesehen werden und leiten sich aus der Musik und ihrem Wesen ab: So ist auch Musik eine besondere Form des Spiels, und ist die Musik als Kunstform kreativ und bedarf der Phantasie. Musik stellt immer auch eine besondere Form des Ausdrucks dar.

„Musik basiert also auf der Spielfähigkeit und dem Fantasiepotenzial des Menschen, entspringt seinem Ausdrucksbedürfnis und stiftet Beziehungen.“ (Dartsch 2002, S. 314)

Doch welches Bedürfnis steckt hinter dem musikalischen Spiel? Dartsch ortet dies im Wunsch jedes Menschen, sich auszudrücken — Ausdruck als zentrale Motivation jeder künstlerischen Äußerung. Im Ausdruck entdeckt der Mensch gewissermaßen sich selbst — er begibt sich in eine Beziehung zu sich selbst und es wird möglich, neue Facetten in seinem Mensch-Sein über die Musik bzw. in der Musik zu entdecken und zu entfalten. Zum anderen teilt der Mensch sich über den musikalischen Ausdruck auch anderen in der Gruppe mit — und somit dient der Ausdruck auch der Beziehung zum anderen/zur anderen.

In Anlehnung an das oben angeführte Modell leitet Michael Dartsch folgende acht Prinzipien der EMP ab: „Spiel und Experiment, Kreativität und Prozessorientierung, intermediales Arbeiten und Körperbezug, Beziehungsgestaltung und Offenheit stellen Leitgedanken der Elementaren Musikpädagogik dar.“ (Dartsch 2002, S. 321)

Folgende Tabelle soll dies noch einmal veranschaulichen:

Annäherung

Ausrichtung der EMP / Prinzipien

SPIEL

spielorientiert, experimentell

FANTASIE

kreativ, prozessorientiert

AUSDRUCK

intermedial, körperorientiert

BEZIEHUNG

beziehungsorientiert, offen

(vgl. Dartsch 2002, S. 321)

Diese acht Prinzipien kennzeichnen die besondere Herangehensweise innerhalb der Elementaren Musikpädagogik und man findet sie mit unterschiedlichen Ausprägungen der einzelnen Ausrichtungen (etwa mehr körperbetont oder eher experimentell, um nur zwei Beispiele zu nennen) in allen Stunden wieder. Der Kern und somit das Ziel jeder Unterrichtsstunde ist allerdings, die Musik über das Spiel und das kreative Tun, den Körper, mit Hilfe unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb einer Gruppe zu erleben. Es geht also nicht um ein beliebiges Spiel, sondern um ein musikbezogenes Spiel und analog dazu um ein musikbezogenes Experimentieren, und so weiter. (Vgl. Dartsch 2010, S. 253)

Diese Ausrichtungen in der EMP sind aber auch immer in ihrem jeweiligen Spannungsfeld zu sehen: So lässt sich zum Beispiel vieles im Rahmen des EMP-Unterrichts über das eigene Erleben und Experimentieren entdecken, ein tradierter Tanz beispielsweise wird jedoch zumeist über Vorzeigen und Vermitteln bzw. Vorleben und Nachahmen erlernt. Auch das Definitionsmerkmal der Offenheit in der EMP ist durch kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten sowie durch die musikpädagogische Lehrkraft und deren Persönlichkeitsstruktur begrenzt. Dem spielerischen Zugang wird oft auch ein Üben und Wiederholen und Festigen hinzugefügt, das als Ergänzung innerhalb der MFE-Stunden seinen Sinn und dadurch seine Berechtigung erfährt.

1.4.2. Elementare Musikalische Prozesse

In der Elementaren Musikpädagogik geht es einerseits um die Vermittlung allgemeiner musikalischer Grundphänomene, wie Anfang und Ende der Musik, Tonhöhe, Tondauer, u.v.m. Zudem wird dem kreativen Handeln der Gruppe große Bedeutung zugemessen, indem Raum und Zeit für selbstgesteuerte Gestaltungsprozesse eingeplant werden.

„Es gilt, eine Ausgewogenheit zwischen ‚ausführenden’ [technischen, reproduzierenden] und ‚schöpferischen’ [kreativen, improvisatorischen] Tätigkeiten zu erzielen.“ (Beidinger 2002, S. 288)

Dieses Spannungsfeld stellt in der EMP eine große Herausforderung an die musikpädagogische Lehrkraft, ihre Vorbereitung und ihr musikpädagogisches Handeln und Sein in bzw. mit der Gruppe dar — und begleitet sie ständig. Es gilt, einen dynamischen Prozess in der Gruppe zu initiieren, in welchem sich diese beiden Felder wechselseitig ergänzen und gegenseitig befruchten. So haben auch bestimmte musikalische Skills und sogenanntes „Handwerkszeug“ (wie zum Beispiel die Grundzüge der relativen Solmisation, oder rhythmische und melodische Patterns) genauso ihren Platz und ihre Berechtigung wie offene und weite Spielräume, die zum gemeinsamen Erkunden, Ertönen und Tanzen einladen.

Um sowohl den ausführenden also auch den schöpferischen Tätigkeiten innerhalb der EMP genügend Raum und Zeit zu geben und diese beiden miteinander zu verbinden, können methodische Aktivierungsketten — in Form von Aneinanderreihung von Handlungsprinzipien als wesentliche und die EMP in ihrem Wesen kennzeichnende Methoden dargestellt werden. (Vgl. Beidinger 2002, S. 288)

1.4.2.1 Exploration — Improvisation — Gestaltung

Diesen Handlungsablauf beschreibt Beidinger in seinem Artikel zur Methode der EMP „Vom Erlebnis zum Ergebnis“ (Beidinger 2002, S. 279ff.). Über das neugierige Erforschen und Ausprobieren setzt sich der musikalische Prozess im Improvisieren fort und endet bzw. mündet in eine gemeinsame Gestaltung, die bestimmte (Spiel-) Regeln impliziert. Von dem freien, herausgelösten Tun, vom „Alleinspiel“ hin zum Regelspiel „Ich-Du-Wir“.

Für Ruth Schneidewind beinhaltet der Prozess des Elementaren Musizierens unterschiedliche Praktiken, die sich teilweise überlappen und fließend in einander übergehen können: Sie unterscheidet vorbereitende Praktiken und Musizierpraktiken.

„Zu den vorbereitenden Praktiken zählen: ‚Sensibilisieren’ [die Sinne öffnen, sensibel werden], ‚Erkunden’ [explorieren, forschen, ausprobieren, sammeln, unterscheiden, erproben, experimentieren] und ‚Spielen’ [weiteres Unterscheiden oder Differenzieren, Kommunizieren, unbewusstes, implizites Üben.]“ (Schneidewind 2011, S. 92)

Diese vorbereitenden Praktiken sollen die individuellen Quellen der einzelnen GruppenteilnehmerInnen öffnen und neues Klangmaterial erschließen. Dieses Suchen und Entdecken sowie Wahrnehmen der Klänge stellt für Schneidewind einen sehr individuellen Prozess dar — jede handelnde Person trifft eigene Entscheidungen, die für sie bedeutsam sind. (Vgl. Schneidewind 2011, S. 93)

Die „Musizierpraktiken“ umfassen die beiden Bereiche des „Improvisierens“ und „Gestaltens“, sie bauen auf die vorangegangenen Erfahrungen auf und nutzen das eben erschlossene Klangmaterial. Beim Improvisieren entsteht die Musik im Moment des Spielens. Improvisation kann als absichtsvolles Spielen und Gestalten von Klängen und Musik gesehen werden. Zusätzlich zu dieser Absicht kommt auch noch die Hingabe — wenn die Musik, die sich im Moment entwickelt, bewusst wahrgenommen und das Spielen der Musik wichtiger wird als das Einhalten bzw. Ausführen von Spielregeln. (Vgl. Schneidewind 2011, S. 98) Bei der darauf aufbauenden Stufe des „Gestaltens“ geht es noch mehr um eine Planung und Durchführung von bestimmten musikalischen Verläufen.

Auch bei Praxisbeispielen in der EMP-Literatur wird immer wieder auf diesen Drei- bzw. Vierschritt im Aufbau der Stunden verwiesen — bestehend aus Sensibilisierung, Exploration, Improvisation und Gestaltung (beispielsweise Witoszynski: „Improvisieren und Gestalten mit Musik, Bewegung, Bild und Sprache“ 1997, S. 151 f; und Dummert: „Elementares Komponieren mit Kindern“ 2004, S. 74f).

„Der Drei- oder Vierschritt der Phasen kann somit nicht nur als folgerichtig angesehen werden, sondern bietet die Chance, dass die Kinder über die ganze Stunde hinweg erfüllte Zeit erleben und somit den vorgesehenen Aktivitäten auch zustimmen können.“ (Dartsch 2010; S. 254) Hiermit wird neben einem schlüssigen methodischen Aufbau auch noch die Abstimmung mit dem Wesen und Lernverhalten der Kinder festgeschrieben. Das lustvolle Sich-Annähern an und Explorieren eines Materials bzw. Instruments kommt der Entwicklung des Kindes entgegen — es eröffnet Raum und Zeit zum Gewahrwerden und Offenwerden, zum Sich-Einlassen auf neue (Lern-) Inhalte. Mit diesem Phasenmodell geht meist eine große intrinsische Motivation der Kinder einher — besonders die Explorationsphase ist gekennzeichnet von einem lustvollen und meist intensiven Ausprobieren. Es gilt diesem Tun — von Seiten der musikpädagogischen Lehrkraft — ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen. Ein zu frühes Eingreifen bzw. Einbringen von Impulsen kann in Folge zu Unruhe und Unaufmerksamkeit in der Gruppe führen. Es braucht also wieder ein hohes Maß an Sensibilität und Flexibilität, um den Einsatz und die Gestaltung der Übergänge innerhalb des Phasenmodells, mit Hilfe von Überleitungen, in Abstimmung mit der jeweiligen Gruppe anzuleiten. (Vgl. Dartsch 2010, S. 255) Die genaue Definition und Trennung der einzelnen Begriffe des Phasenmodells kann nur unzureichend vollzogen werden — immer wieder kommt es zu fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Phasen.

Die zweite Aktivierungskette, die Beidinger anführt, ist ein möglicher, umgekehrter Weg:

1.4.2.2 Reproduktion — Variation — Improvisation

Im Unterschied zur ersten Aktivierungskette beginnt der musikalische Prozess mit einem konkreten, vermittelten „Produkt“ — zum Beispiel mit einem Lied, einem Rhythmus oder einem Tanz, den die GruppenteilnehmerInnen erlernen.

Ausgehend von diesem werden neue „Spiel-Räume“ für die TeilnehmerInnen geschaffen. Innerhalb dieser steht der Gruppe Raum und Zeit zum Improvisieren und Gestalten mit einem Material, mit Instrumenten oder einem bestimmten Klang- bzw. Tonmaterial zur Verfügung. Die Auswahl dieses Materials steht in enger Verbindung mit dem eigentlichen musikalischen Ziel der Stunde. Es gilt auch bei diesem nachschaffenden und zerlegenden Vorgehen darauf zu achten, dass „…ein organischer Spannungsbogen herzustellen ist, der auch Momente freier und spielorientierter Betätigung enthält“ (Dartsch 2010, S. 260). Als konkretes Praxisbeispiel kann ich das Entdecken und Spielen der Klangbausteine im Anschluss an ein zu Beginn der Stunde eingeführtes Geisterlied, das wie die Instrumente im pentatonischen Raum verankert ist, anführen (siehe Praxisanalyse - Vorbereitung). Das Lied dient als Rahmen für die Stunde, der tonal die „Richtung vorgibt“ und als Rahmenlied Struktur schafft. Das Experimentieren und spätere Improvisieren mit den Klangbausteinen (auch im pentatonischen Bereich) eröffnet neue, zusätzliche Hörerlebnisse und wird abschließend als Gruppenimprovisation die einzelnen „Strophen“ des Liedes ergänzen.

1.4.2.3 Kontraste

Neben den oben beschriebenen Phasenmodellen kann den elementaren musikalischen Prozessen ein weiteres Merkmal zugeordnet werden: Häufig finden sich Kontraste als ein Erlebnisprinzip in den Musikstunden. „Forte aktualisiert sich gegen Piano, Dur gegen Moll, Dolce gegen Energico; die Freiheit des Rubato hebt sich ab von der Strenge des Grundtempos, der Neuanfang vom Nullpunkt, in dem eine alte Gestalt endet. Jeder Charakter in seiner Einseitigkeit erzeugt gleichsam Hunger auf das Ausgeschlossene; und wer diese innere Triebdynamik wirklich nachvollzieht, dem erscheint eine kontrastierende Figur nicht nur als widerstreitend, sondern zugleich mit dem Ausdruck von Erfüllung.“ (Uhde/Wieland 1988, S. 297)

Dieses Zitat beschreibt auf ganz besondere Weise die Fülle der Musik mit ihren unterschiedlichen Parametern — und diese sind in der Elementaren Musikpädagogik zentrale Spiel- bzw. Lerninhalte. Die Erfahrungen von Gegensatzpaaren der Musik (wie zum Beispiel laut-leise, langsam-schnell oder legato-staccato, u.v.m.) können über den Körper, die Bewegung, den Raum hin zu Erfahrungen mit Materialien und Instrumenten bzw. Begegnungen mit anderen GruppenteilnehmerInnen reichen.

Doch auch die Planung und Gestaltung der MFE-Stunde weist ein hohes Maß an Kontrasten im Wechsel auf — das Einsetzen unterschiedlicher Raumebenen, die Variationen der Interaktionsformen (wie Kreis, Paarübung,…) und das Wechselspiel von Bewegung und Entspannung, von angeleiteten und eher frei gestalteten Elementen zeichnen eine gelungene und in sich runde und stimmige MFE-Stunde aus. (Vgl. Beidinger 2002, S. 290)

Der amerikanische Musikpsychologe Edwin E. Gordon geht noch einen Schritt im Sinne der Kontraste weiter, indem er diese zur Verdeutlichung eines Inhalts nutzt. Dem Hören und hörenden Verstehen (Audiation) des Tongeschlechts Dur setzt er eine Hörerfahrung in anderen Modi, wie Moll, Dorisch oder Mixolydisch, entgegen. Dieses Lernen durch das Vergleichen der Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede bezeichnet er als inference learning. (Vgl. Beidinger 2002, S. 290) Dieses Lernen ist jedoch nicht nur (ausschließlich) auf das Tongeschlecht bezogen, sondern bezieht andere musikalische Parameter mit ein: „…it is important that children hear a diversity of tonalities, keyalities, harmonies, meters and tempos.“ (Gordon 2003, S. 58)

Doch bei der Fokussierung auf die unterschiedlichen Parameter und „Einzelheiten“ der Musik soll das große Ganze — diese unglaubliche Fülle und Dichte innerhalb der Musik — nicht außer Acht gelassen werden. Es geht in der EMP nicht um ein Vereinfachen oder Herausnehmen musikalischer Phänomene, sondern um ein Eintauchen in die Musik — ein Sich-Hineinstellen in ihre unglaubliche Kraft und Vielfalt.

„Damit verbietet sich eine Zertrümmerung des musikalischen Materials; stattdessen treten im hörenden und im handelnden Umgang mit Musik Klanggestalten, Spannungsverläufe, Phrasierungen, Artikulationen, dynamische Entwicklungen und affektiv aufgeladene Darstellungen in den Vordergrund.“ (Ribke 1997, S. 52) Ribke sieht diese musikalischen Phänomene nicht als Accessoires, sondern als „Dreh- und Angelpunkte“ des musikalischen Handelns und des Dialoges zwischen Mensch und Musik.

1.4.3 Zur Bedeutung der Gruppe in der EMP

Der Mensch ist ein Gruppenwesen mit Bedürfnissen nach Kontakt, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Sicherheit und Liebe. Diese Bedürfnisse erfordern aber zugleich auch eine nie endende Lernbereitschaft in unserem sozialen Verhalten. In der MFE haben die Kinder Gelegenheit, die verschiedensten Seiten der Gemeinschaftlichkeit kennenzulernen. Sie lernen einerseits ihre Eigenart, ihr Selbst zu verwirklichen und sich andererseits in eine Gruppe einzufügen. Somit kann der Unterricht in Gruppen als unerlässlich betrachtet werden, denn „Gruppe ist ein Stück Welt auf Zeit,...“ (Langmaack, Braune-Krickau 1989, S. 2) und stellt ein besonderes Merkmal der Elementaren Musikpädagogik dar.

1.4.3.1 Gruppenformen und Interaktionsmodi nach Ribke

Eine Gruppe definiert sich jedoch nicht bloß als Summe ihrer Teile (GruppenteilnehmerInnen), sondern findet nach und nach von einem Nebeneinander zu einem interaktiven Miteinander. Dieser soziale Bezugsrahmen muss von der musikpädagogischen Lehrkraft aktiv mitgestaltet werden. Hierfür braucht es die Bereitschaft zur Reflexion und das Wissen um die Wirkung und Interaktionen der unterschiedlichen Gruppenformen. (Vgl. Ribke 1995, S. 159)

Ribke unterscheidet verschiedene räumliche Anordnungsmöglichkeiten einer Gruppe:

Abbildung 1. Räumliche Anordnungsmöglichkeiten

Kreuze die, die Möglichkeiten der räumlichen Anordnung
                              verdeutlichen sollen. In Form von einem Kreis, einem Halbkreis,
                              einer
 Traube, einem Tropfenfeld, einer Gasse und einer
                              Schlange.

(Ribke 1995, S. 159)

In der Musikalischen Früherziehung ist das Bilden und Einhalten der Gruppenformen noch zu erarbeiten bzw. zu erlernen. Für die vier- bis sechsjährigen Kinder können die einzelnen Formen im Rahmen der Stunden erleb- und erfahrbar gemacht werden. Mit Hilfe von Liedern, Anhängesprüchen, Tänzen in der Schlange bzw. in der Gasse sind die Kinder an dem Entstehen der einzelnen Gruppenformen unmittelbar beteiligt. Das Bilden einer Gruppenform kann somit nicht als formale Voraussetzung in der MFE gesehen werden, sondern muss in die methodischen Überlegungen und den Stundenaufbau mit einbezogen werden. Je nach Wahl der räumlichen Anordnungsmöglichkeit werden unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten für die Gruppe stärker erlebbar: Das Anordnen bzw. Sitzen im Kreis grenzt die Gruppe von der Außenwelt — dem übrigen Raum — ab und schafft zugleich einen klar strukturierten Innenraum — und ist deshalb besonders gut für konzentriertes und fokussiertes Arbeiten geeignet. (Vgl. Ribke 1995, S. 160)

Jede Gruppe lebt von den unterschiedlichsten Interaktionen der GruppenteilnehmerInnen, die in unterschiedlichsten Konstellationen von Ribke beschrieben worden sind:

Abbildung 2. Gruppenkonstellationen

Darstellung unterschiedlicher Interaktionen in einer
 Gruppe
                              anhand von Strichmännchen.

(Ribke 1995, S. 162)

Die erste interaktive Konstellation beschreibt einen Sensibilisierungsprozess: die TeilnehmerInnen sollen beispielsweise mit geschlossenen Augen Klängen nachhören bzw. einen Gegenstand ertasten. Im Unterschied dazu nehmen die GruppenteilnehmerInnen in der interaktiven Konstellation II die anderen Anwesenden peripher war, während sie etwa ein Instrument erkunden (=Parallelspiel). Die interaktive Konstellation III kennzeichnet sich durch das Ich in Interaktion mit dem „Massendu“ aus. Die Gruppe nimmt dazu die Funktion eines „vervielfältigten“ Partners an. Diese Spielform — meist in Form von Rollen bzw. Regelspielen — fällt Kindern in der MFE meist leichter, als mit einem Partner zu spielen und zu interagieren. Dies stellt dann schon die IV. soziale Interaktionsstufe bei Ribke dar: ICH — DU.

„Konstellation V ist eine deutliche Steigerung der vorgenannten Beziehungsformen; in sie gehen individuelle Aktionen jedes einzelnen, fluktuierende Partnerrelationen und übersummative Gruppeneffekte gleichermaßen ein.“ (Ribke 1995, S. 162)

Als Beispiel für diese Konstellation können eine Gruppenimprovisation oder eine kreative Gruppenarbeit angeführt werden. Voraussetzungen dafür sind das vorherige Einbringen und Ausleben von persönlichen Wünschen und Interessen, aufbauend auf zahlreichen Regulierungsprozessen der GruppenteilnehmerInnen.

Ein Großteil der MFE-Stunden vollzieht sich auf der III. sozialen Konstellationsstufe — wo das Ich in die Interaktion mit dem „Massendu“ eintritt (eingeht). Hierzu werden folgende Interaktionsmodi zugordnet:

  • Führen und Sich-Führen-Lassen (z.B.: beim Bewegungseinstieg; wo ein/e GruppenteilnehmerIn die anderen auf der Trommel zur Bewegung anleitet, oder bei Dirigierspielen)

  • Initiieren und Imitieren (z.B.: bei Spiegelspielen bzw. Schattenspielen)

  • Hervortreten und Sich-Eingliedern (z.B.: beim Vorspielen der gerade erfundenen Klänge und Töne solistisch in der Gruppe)

(vgl. Ribke 1995, S. 164 ff.)

1.4.3.2 Die Gruppe als kreatives Feld nach Burow

Ruth Schneidewind beschreibt die EM(P)-Gruppe als „kreativen Ort des gemeinsamen Musik-Erfindens“. (Schneidewind 2011, S. 110) Zudem sieht sie die Gruppe als Klangkörper, der die Musik zum Erklingen bringt, und zugleich als Hörende und Aufnehmende — als ihr eigenes Publikum. (Vgl. Schneidewind 2011, S. 110) In ihren weiteren Ausführungen stützt sich Ruth Schneidewind auf die Theorie des „Kreativen Feldes“ von Olaf-Axel Burow. Kreativität ist für ihn Ausdruck eines „…besonders günstig strukturierten Feldes, eines ‚Kreativen Feldes’…“ (Burow 1999, S. 15). Die Gruppe, die sich aus unterschiedlichen und vielfältigen Individuen zusammensetzt, wird zu einem Kreativen Feld, das als „Nährboden“ für kreative Entwicklungen und einzigartige Leistungen gesehen werden kann. Kreativität ist für Burow weniger in den isolierten Leistungen Einzelner zu sehen, sie entsteht vielmehr in (kreativen) Feldern, die in besonderer Weise aufgebaut sind. (Vgl. Burow 1999, S. 13) Mit Hilfe der anderen Gruppenmitglieder kommt es einerseits zu einer Verstärkung der eigenen Fähigkeiten und zudem zu einer Öffnung und Erweiterung des eigenen Lebensraumes. (vgl. Burow 1999, S. 138f.)

„In der gegenseitigen Anregung wird unser ungenutztes kreatives Potential hervorgelockt — eine Erfahrung, die wir als lustvoll erleben.“ (Burow 1999, S. 137) In der gemeinsamen Begegnung und im gemeinsamen musikalischen Spiel kann es laut Burow gelingen, dass man somit „…über sich selbst hinauswachsen kann.“ (Burow 1999, S. 137) Das Zustandekommen von Kreativen Feldern wird durch bestimmte Rahmenbedingungen begünstigt: „Voraussetzung für die Freisetzung von Kreativität“, so schreibt Burow, „scheint ein gewisses Maß an Unordnung und die Fähigkeit zur Improvisation in offenen Räumen zu sein.“ (Burow 1999, S. 20) Solche offenen Räume, abseits reinen fehlerfreien „Nachspielens“ auf einem Instrument, sieht er beispielsweise beim Improvisieren in einer Jazzband (vgl. Burow 1999, S. 21). Diese Offenheit, sich in einer Gruppe musikalisch auf Neues einzulassen und lustvoll auszuprobieren, begegnet uns auch in den MFE-Gruppen. Die Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren brauchen meist keinerlei Aufforderung, sich hingebungsvoll einem Material bzw. einem Instrument zu öffnen — sie probieren aus, entdecken, hören und staunen. Meist bleibt es allerdings bei diesem Spiel im Austausch mit dem Instrument bzw. dem Material, viele Kinder nehmen die anderen nur peripher wahr. Mit Unterstützung der musikpädagogischen Lehrkraft können auch Ideen der anderen Kinder in der Gruppe wahrgenommen und ausprobiert (bzw. übernommen) werden, indem die einzelnen Vorschläge der Kinder verbalisiert werden. (siehe auch Praxisanalyse Dialogspirale)

„Das Feld strukturiert mich ebenso wie ich das Feld mitstrukturiere.“ (Burow 1999, S. 138) In diesem Sinne erleben sich die GruppenteilnehmerInnen als Gebende und auch Nehmende — sie bringen sich als klang- und bewegungsgestaltende Personen in den Gruppenprozess ein und nehmen konkrete individuelle Seins-Erfahrungen mit durch die Begegnung in diesem Kreativen Feld der MFE-Gruppe. (geben und nehmen — siehe auch Stundenvorbereitung)

Zusätzlich zum „offenen Raum“ als notwendige Rahmenbedingung für das Entstehen eines Kreativen Feldes formuliert Burow verschiedenste Schlüsselkonzepte, von denen das erste dem „Dialog“ gewidmet ist.

„Der Dialog zielt auf einfühlendes Verstehen als gegenseitiges Hervorlocken und Anregen und nicht auf Beherrschen und Zerstören ab. Dialogfähigkeit im Sinne v. Foersters die Kultivierung der Fähigkeit, sich sowohl verunsichern als auch anregen zu lassen. Erst im Dialog sind wir fähig, den Reichtum wahrzunehmen, der uns umgibt, und nur der Dialog gibt uns die Möglichkeit, die nötigen Anregungspotentiale zu erschließen, um zu echter Kreativität durchdringen zu können.“ (Burow 1999, S. 125)

In diesem Zitat wird die dialogische Haltung als Ausgangspunkt für kreatives Schaffen und Musizieren gesehen. Und zu der Anregung im Dialog mit der Gruppe kommt auch manchmal eine Verunsicherung, eine „Störung“ des bisherigen Denkens und Handelns,die neue Wege öffnen kann. Mit Hilfe des Dialogs, nach Burow, wird es möglich, zur Quelle der Kreativität vorzudringen.

„Das kreative Feld einer EM-Gruppe schafft aus dem Eigenen und Eigenständigen der Gruppenmitglieder mehr und Besonderes, nämlich Musikalisch-Künstlerisches.“ (Schneidewind 2011, S. 118f.)

1.5 Die musikpädagogische Lehrkraft in der Elementaren Musikpädagogik

1.5.1. Von der Wichtigkeit der Sensibilität

Die Komplexität des musikpädagogischen Handelns und Seins zeichnet sich durch eine Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender und ineinander verflochtener Faktoren aus. Diese annähernd zu erkennen, zu erfassen und zu deuten, dazu benötigt es die Tugend der Sensibilität. Mit dem Begriff der Sensibilität geht auch der Begriff der Empathie einher. In dem MFE-Unterrichtswerk „Spiel und Klang“ kann man folgende Definition lesen: „Empathie bezeichnet die Fähigkeit, sich in die persönlichen, emotionalen Erlebnisinhalte des Kindes einzufühlen und die Umwelt aus der Sicht des Kindes wahrzunehmen.“ (Berger et al. 2004, S. 33) Den Begriff der Empathie hat in besonderer Weise Carl Rogers in seiner klientenzentrierten Therapie geprägt — er sieht Empathie als Voraussetzung für eine gute Beziehung und das Gelingen der therapeutischen Bemühungen. Für ihn ist dieses „einfühlsame Verstehen“ ein wichtiger förderlicher Aspekt im therapeutischen Setting. (Vgl. Rogers 1981, S.68) Aber auch in einigen sehr bekannten Forschungsarbeiten von Tausch und Tausch, Ainsworth oder dem Entwicklungspsychologen Daniel Stern wird auf die große Bedeutung der Sensibilität der ErzieherInnen bzw. Mütter und Väter auf die Entwicklung des Kindes hingewiesen. (Vgl. Dartsch 2010; S. 46) In der EMP geht es um das „Sich-Hineinfühlen“ in das Kind, und zudem um das bewusste Wahrnehmen und „Hereinnehmen“ des gesamten pädagogischen Geschehens: „Erzieherische Fachkräfte bringen in ihrem Handeln eher wie ein Künstler etwas hervor, lassen etwas szenisch entstehen, indem sie zugleich denken, empfinden und handeln.“ (Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen 1998; S. 18) Dieser Satz verdeutlicht die hohen Anforderungen an die musikpädagogische Lehrkraft, die in ständiger Interaktion mit bzw. in der Gruppe auf verschiedensten Ebenen aktiv ist bzw. aktiviert wird. Dieser Vielschichtigkeit und dieser Fülle gerecht zu werden, dies setzt eine differenzierte Wahrnehmung und eine hohe Sensibilität voraus. Diese besondere Form des „Aufeinander-Eingehens“ beschreibt Michael Dartsch mit dem Bild eines „Ballspieles“ — für ihn sind diese „Zuspielprozesse“ eine

„Modellvorstellung[…], nach der sich zwischen den Bildungsprozessen der Kinder und dem erzieherischen Handeln der Fachkräfte in gegenseitigem Aufeinander-bezogen-Sein gewissermaßen ein fortwährendes ‚Zuspielen’ ereignet — fast wie bei einem Ballspiel […]. Das Kind nimmt den Impuls der Erzieherin auf, macht daraus etwas für sich, strahlt Entsprechendes nach außen ab, was wiederum von der Erzieherin ‚aufgefangen’ und in Bezug zu eigenen Impulsen gesetzt wird. Daraus resultieren bei ihr neuerliche Gedanken, Handlungen oder Empfindungen, die das Kind wieder auf seine Weise aufnimmt“. (Dartsch 2001, S. 58)

Mit Hilfe der Sensibilität der musikpädagogischen Lehrkraft für die jeweilige gegenwärtige Situation in der Gruppe und ihre Möglichkeiten und Grenzen können gewohnte und eingefahrene Wege verlassen und neue beschritten werden. (Vgl. Dartsch 2010, S. 46f.) Die Tugend der Sensibilität wird durch ein gewisses Maß an Offenheit im Bezug auf die Stundengestaltung erweitert. Die GruppenteilnehmerInnen sollen in der Folge als aktive PartnerInnen in der Stundengestaltung gesehen werden — als Miteinwirkende und Mitspielende — es soll Zeit und Raum für Ideen und Bedürfnisse der Kinder sein.

„Damit sich Spiel und Experiment, Kreativität und Bildungsprozesse entfalten können, muss die Gestaltung der Stunde offen bleiben für das Mitspielen der Kinder im Sinne der Erziehung als ‚Zuspielprozess’“. (Dartsch 2010, S. 253)

1.5.2. Vom Leiten und Lassen

Doch „wie viel“ Freiraum verträgt eine Gruppe? Wann braucht es Impulse oder eine klare Anleitung der musikpädagogischen Lehrkraft? Diese Fragen führen zum dahinterliegenden Spannungsfeld, das die (Musik-) Pädagogik von Beginn an begleitet und auch zukünftig begleiten wird: Die Suche nach einer dynamischen Balance zwischen Leiten und Lassen.

Theodor Litt, ein deutscher Sozialphilosoph und Pädagoge (1880-1962) prägte in diesem Zusammenhang und in Auseinandersetzung mit der Geschichte der (Reform-) Pädagogik das Gegensatzpaar des „Führens“ und „Wachsenlassens“. Für ihn stellt dies das „pädagogische Grundproblem“ dar. Laut Litt können diese beiden Begriffe nicht von einander gelöst werden, sondern bedingen einander:

„In verantwortungsbewusstem Führen niemals das Recht vergessen, das dem aus eigenem Grunde wachsenden Leben zusteht — in ehrfürchtig-geduldigem Wachsenlassen niemals die Pflicht vergessen, in der der Sinn erzieherischen Tuns sich gründet — das ist der pädagogischen Weisheit letzter Schluss.“ (Litt 1964, S. 81f.)

Doch wie begegnet die musikpädagogische Lehrkraft diesem unauflöslichen Spannungsfeld? In der musikpädagogischen Arbeit können dem Gegensatzpaar des „Führens und Wachsenlassens“ die drei Begriffe der Steuerung, der Anregung und des Zulassens von Eigenaktivitäten zugeordnet werden, die für die konkrete Planung und Umsetzung der EMP-Stunden hilfreich hinzugezogen werden können. (Vgl. Dartsch 2010, S. 150) Mit Hilfe der Steuerung wird versucht, ein Kind in eine bestimmt Richtung zu einem klar definierten Verhalten zu bringen. Es geht um das Erreichen genauer und nachprüfbarer Ziele, sogenannter Feinziele. „Steuern ist auf Aktivitäten des Übens von Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Materialien und auf das Vermitteln von Einsichten beschränkt.“ (Dartsch 2010, S. 325) Die Anregung geht hingegen stärker von allgemeinen Zielen, sogenannten Grobzielen aus und bietet dem Kind Materialien bzw. eine vorbereitete Umgebung an, die verschiedenste Wahl- bzw. Erfahrungsmöglichkeiten beinhalten. Beim Zulassen von Eigenaktivität stehen der Impuls und das Bedürfnis des Kindes im Zentrum des Geschehens. Das Kind verfolgt seine eigenen Ziele, die musikpädagogische Lehrkraft sieht sich vor allem in der Rolle der Beobachterin und Begleiterin. (Vgl. Dartsch 2010, S. 150)

Die Steuerung kann dem Pol des „Führens“ zugeordnet werden. Hingegen unterstützt das Zulassen von Eigenaktivitäten das „Wachsenlassen“ des Kindes. In der Mitte dieses von Litt aufgestellten Gegensatzpaares kann die Anregung verortet werden, jedoch sind die Übergänge zwischen den einzelnen Begriffen fließend. In der Elementaren Musikpädagogik ist es Aufgabe der musikpädagogischen Lehrkraft, vor allem im Bereich der Anregung ausreichend Erfahrungsmöglichkeiten anzubieten. Durch das Vorsehen von Raum und Zeit für Eigenaktivität und das Wahrnehmen und Aufnehmen von Bedürfnissen und Vorschlägen der Kinder in den Unterricht wird auch das Kind in seinem „Wachsenlassen“ unterstützt und begleitet. Die Steuerung findet in der EMP nur begrenzten Raum: Das genaue Vorgeben und verbale Anleiten kann in bestimmten und kurzweiligen Kontexten, z.B. dem Einführen von relativer Solmisation, ihre Berechtigung erfahren — jedoch immer mit dem Blick auf die Gruppe mit ihren Bedürfnissen.

„Dies alles spricht für eine Methodik, die sich mit Augenmaß im Spannungsfeld zwischen Steuerung und Zulassen von Eigenaktivität um das Anregen herum bewegt.“ (Dartsch 2010, S. 316)

Der Prozess des Leitens und Lassens wird sehr stark von der Gruppe, ihrer jeweiligen Konstitution und der gegenseitigen Interaktion mit der musikpädagogischen Lehrkraft mitbestimmt: Einmal braucht es mehr, ein anderes Mal weniger Leitung, z.B. mittels aktiver Interventionen. Ziel ist hierbei ein ständiges Suchen einer dynamischen Balance zwischen einem (An-) Leiten und einem Lassen. Für Ruth Schneidewind besteht die Vorbereitung des Leitens „…im Bereitstellen geeigneter Ideen und Methoden, die im jeweiligen Musizierprozess eingebracht werden können.“ (Schneidewind 2011, S. 164) Zugleich sollen aber auch Situationen des Lassens eingeplant werden, es sollen Räume für die Eigenaktivität der GruppenteilnehmerInnen geschaffen werden. In der konkret erlebbaren Unterrichtssituation kommen jedoch immer wieder Fragen zu diesem Spannungsfeld des Leitens und Lassens auf: Braucht die Gruppe noch Zeit zum freien Experimentieren? Soll ein neuer Impuls eingebracht werden? Mit Hilfe von Beobachtung und der oben angeführten Sensibilität wird sich die musikpädagogische Lehrkraft immer wieder aufs Neue in die Gruppe einfühlen, um zu entscheiden, was die Gruppe genau jetzt braucht. Wenn diese Entscheidungen im Einklang mit der Gruppe getroffen werden, kann der kreative Prozess sich weiterentwickeln, bei Fehlentscheidungen kann es zu einer Unterbrechung bzw. einer Unstimmigkeit im Prozess kommen. Ruth Schneidewind spricht in diesem Zusammenhang von der „Stimmigkeit des Elementaren Musizierens“ (Schneidewind 2011, S. 164), die für sie nur durch ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Leiten und Lassen erreicht werden kann. Das Eingehen auf die und „Hereinnehmen“ der einzelnen GruppenteilnehmerInnen ist allerdings ein recht anspruchsvolles Unterfangen. Die musikpädagogische Lehrkraft kann den verschiedensten Ideen und Bedürfnissen einer Gruppe nur selten gerecht werden, meist geht es darum, möglichst viele zu berücksichtigen. (Vgl. Schneidewind 2011, S. 163)

Die unterschiedlichen Blickwinkel und Betrachtungsweisen von Autoren und Autorinnen im Bereich der EMP führen zu verschiedenen Aufgabenprofilen bzw. Herangehensweisen in Bezug auf die Aufgaben der musikpädagogischen Lehrkraft. Im folgenden Teil sollen einige unterschiedliche Sichtweisen zu einem weiteren Blick auf die Aufgabe und Rolle der musikpädagogischen Lehrkraft verhelfen:

Mit dem Wissen um die Vorerfahrungen und das reiche Repertoire des Menschen von Kindheit an, sieht es Ulrike E. Jungmair in ihrem Artikel „Elementare musikalische Erziehung — das wirkliche Lernen“ als Aufgabe der Musikpädagogin/des Musikpädagogen an, diesen „Schatz“ der TeilnehmerInnen mit in den Unterricht hineinzunehmen. Sie fordert weiter einen Kind-gemäßen, im weitesten Sinne „Menschen-gemäßen“, Unterricht, der sich an den Gegebenheiten und Bedingungen des kleinen und großen Menschen orientiert und der seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten, sich die Welt anzueignen, entspricht. Dazu zählt für Jungmair unter anderem das bewusste Einbauen von Bewegung als Lern- und Erfahrungsfeld, das Anknüpfen an die Fantasie des Menschen. Zudem sollen auch „Brücken“ für den Ausdruck der inneren Bewegtheit gefunden und im Unterricht eingebaut werden. Der Körper soll als klangvolles, in Resonanz schwingendes vollwertiges Musikinstrument ausgebildet und entwickelt werden. (Vgl. Jungmair 1997, S. 63f.)

„Es ist die Bewusstheit seitens der Lehrkräfte, die jenen vermeintlich untergeordneten, manchmal auch unbemerkten Zeilen erst die gebührende Bedeutung verschafft!“ (Beidinger 2002, S. 287) Für Beidinger soll die Begegnung mit Musik während der EMP-Stunden im Zentrum des Handelns und Tuns der Gruppe stehen — angeleitet durch die musikpädagogische Lehrkraft. Musik sollte sich wie ein roter Faden durch die EMP-Stunde ziehen — auch bzw. gerade durch Überleitungen, z.B. das Austeilen von Instrumenten in der Gruppe: Dieser Vorgang dauert aufgrund der Gruppengröße mitunter länger und kann aber gerade deshalb als Rahmen für einen musikalischen Input (in Form eines Rhythmus oder einer Melodie) genutzt werden. Solche Übergänge bieten zudem die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit jedem einzelnen Gruppenmitglied. (siehe Stundenvorbereitung: Stimmgabel) Abseits von „Fun-Aktionismus“ plädiert Beidinger für ein vermehrtes Anbieten und Ermöglichen „besonderer“ Musik, d.h. von Liedern, Rhythmen und Tänzen, die in den Bereichen Ton- und Taktarten bzw. Stilrichtung oder Epoche als Ergänzung zu unseren alltäglichen Hörgewohnheiten ausgewählt wurden. (Vgl. Beidinger 2002, S. 287)

Juliane Ribke definiert die Aufgabe einer musikpädagogischen Lehrkraft wie folgt:

„Ihre Aufgabe ist es, elementare musikalische Bildungsprozesse einzuleiten, in denen sie Mensch und Musik in einen breiten, variantenreichen wechselseitigen Bezugsrahmen stellen. Rezeption und Produktion, Aufnehmen und Handeln, Verinnerlichen und Ausdrücken füllen diesen Rahmen aus und können in der gegenseitigen Bedingtheit gleichermaßen als elementare Prozesse gestaltet werden.“ (Ribke 2002, S. 15f.)

2 Die Dialogspirale von Milani Comparetti

2.1 Zur Person: Adriano Milani Comparetti

Adriano Milani Comparetti wurde 1919 in Italien geboren und absolvierte eine umfassende Ausbildung als Arzt für Pädiatrie, Neurologie, Psychiatrie und Physiater. Er hatte für viele Jahre eine Professur für Physikalische Medizin und Rehabilitation an der Universität Florenz inne. Bei der Entwicklung seines medizinischen Konzeptes wurde er wahrscheinlich auch von seinem älteren Bruder, der Priester war und sich intensiv für bessere Bildungschancen von sozial schwachen und armen Menschen einsetzte, geprägt. Von 1958 an war Milani Comparetti Direktor des Rehabilitationszentrums für Zerebralparesen in Florenz. In seiner wissenschaftlichen Arbeit begann er sich schon sehr früh mit der Früh- und Neugeborenen-Neurologie, mit der Diagnostik und der Therapie von Zerebralparesen zu beschäftigen. Zudem war es ihm ein Anliegen, ganzheitliche Rehabilitationskonzepte zu entwickeln, und er trat an der Seite von Professor Bassaglia für eine Auflösung von Sondereinrichtungen ein, um die Integration behinderter Menschen voranzutreiben. (Vgl. Straßburg 1995, S. 73)

Im Jahre 1985 wurde in Frankfurt eine Tagung mit Milani Comparetti und seiner Mitarbeiterin Frau Dr. Anna Gidoni veranstaltet — unter dem Titel „Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit“. Die Dokumentation dieser Fachtagung hat — als eine der wenigen deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema — das Konzept von Milani Comparetti für eine breitere Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht. Zehn Jahre danach — im Oktober 1995 — wurde unter dem Titel „Entwicklungsförderung im Dialog“ wieder eine Fachtagung organisiert. Im Fokus war diesmal, die aktuelle Praxis und Forschung zu Fragen der Entwicklungsförderung bei Kindern im Sinne des Konzeptes von Milani Comparetti vorzustellen und zu diskutieren. (Vgl. Jannsen 1995, S. 5 f.)

Milani Comparetti war ein psychoanalytisch orientierter Pädiater, der im Laufe seines Lebens internationale Bedeutung im Bereich der Pädiatrie zu gewinnen begann, und fand auch in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend Resonanz. (Vgl. Prengel 2006, S. 58) Milani Comparetti galt „als einer der führenden Neuropädiater und Sozialmediziner“. (Aly 1995, S. 13)

Am 12. April 1986 starb Adriano Milani Comparetti in Florenz im Alter von nur 66 Jahren, nur ein Jahr nach seiner Pensionierung.

2.2 Milani Comparettis Werk & Schaffen

Schon im Titel seines Vortrages „Von der ‚Medizin der Krankheit’ zu einer ‚Medizin der Gesundheit’“ (1985) stellt Milani Comparetti eine Verbindung zum Aufruf der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „From cure to care“ her. Letztere verlange den „unbedingten Respekt vor der Ganzheitlichkeit des Menschen“ (Milani Comparetti 1985 S. 17). Denn durch die einseitige Fixierung auf die Krankheit des Patienten läuft man Gefahr, den Menschen als ganzheitliche Persönlichkeit aus den Augen zu verlieren. „Die Tendenz zur Abspaltung in kranke und gesunde Teile steht in engem Zusammenhang zu Abwehrmechanismen, die wir Menschen unbewusst gegen unsere eigene Angst vor dem Leid und dem dadurch verkörperten ‚Bösen’ aufbauen“. (Milani Comparetti 1985, S. 16 f.) Milani Comparetti entwickelte darauf aufbauend sein Modell der Angst-Abwehrformen, das die Verleugnung, die schizo-paranoide und die depressive Position beinhaltet (vgl. Milani Comparetti 1985, S. 18). Zusätzlich zu seinem Konzept, dem die Ganzheitlichkeit des Menschen zu Grunde lag, trat er immer wieder stark für eine interdisziplinäre Teamarbeit ein. Nur das Zusammenarbeiten und Zusammenwirken mehrerer und unterschiedlicher Berufsgruppen kann der Ganzheitlichkeit und Komplexität des Menschen gerecht werden. (Vgl. Milani Comparetti 1985, S. 20)

Mit Hilfe der Motoskopie, d.h. der Beobachtung des kindlichen Bewegungsverhaltens, untersuchte Milani Comparetti die prä- und postnatale Motorik. Die Bewegung des Fötus zeichnet sich schon früh durch selbständige Aktivität aus und ist durch Kreativität gekennzeichnet.

Milani Comparetti legte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit und Forschung auf die Bedeutung der (fetalen) Motorik als Ausdruck von Verhalten und nicht als Reflex bzw. Reiz-Reaktionsschema (vgl. Straßburg 1995, S. 75). Im medizinischen und auch therapeutischen Setting sollte auf die Kompetenz und Fähigkeit des Kindes geachtet werden und ein „kreativer Dialog“ mit ihm eröffnet werden. Für ihn stand die Fähigkeit des Kindes und nicht die Prognose der Diagnose im Vordergrund (vgl. Straßburg 1995, S. 77). In seinem Vortrag „Von der Medizin der Krankheit zur einer Medizin der Gesundheit“ beschreibt Comparetti seine Sichtweise des Kindes „…als ‚Protagonist’, als Hauptakteur seiner eigenen Entwicklung…“ (Milani Comparetti 1985, S.24).

„Adreano Milani-Comparetti betont auf neue Weise die unhintergehbare Eigenaktivität kleiner Kinder vom pränatalen Stadium an. Die Motorik kleiner Kinder in der Zeit vor und nach der Geburt ist eine Äußerungs- und Einwirkungsform, mit der sie ihre ureigensten Impulse der Umwelt mitteilen wie mit einer Sprache.“ (Prengel 2006, S. 58) Die motorischen Mitteilungen der Kinder werden nicht als Reaktion auf einen Reiz gesehen, sondern als Aktivitäten. Prengel leitet davon die Bedeutung für den erzieherischen Umgang mit behinderten und nicht-behinderten Kindern ab: Es gehe darum, die Vorschläge der Kinder wahrzunehmen und darauf adäquat zu reagieren. Dies kann in Form von „bestätigenden Widerspiegelungen“ oder Antworten sein (Vgl. Prengel 2006, S. 58). Diese „Gegen-Vorschläge“ enthalten auch immer die schöpferischen Impulse des Kindes und sind nicht nur als reine Reaktionen anzusehen. „Wesentlich ist aber, dass sie auf dem Wahr- und Ernstnehmen der Vorschläge des Kindes beruhen und auf diese eingehen […]“ (Prengel 2006, S. 58 f.).

2.3 Die Dialogspirale

Abbildung 3. Dialogspirale

Dialogspirale

(Milani Comparetti 1985, S. 25)

Aus der Praxis und seiner Arbeit mit behinderten Kindern entwickelte Milani Comparetti sein Dialogmodell (siehe Abb. 3). Im Gegensatz zum geschlossenen Kreis des Stimulus-Response-Modelles, das sich in festen, wiederkehrenden Bahnen bewegt, wird der Dialog als nach oben offene Spirale gesehen. „Vielmehr geht es darum, die Vorschläge des Kindes wahrzunehmen, sie aufzunehmen und mittels Gegenvorschlägen einen Dialog zu entwickeln.“ (Milani Comparetti 1985, S. 24)

Im Wechselspiel zwischen dem Vorschlag des einen und dem Gegen-Vorschlag der anderen entwickelt sich auf der Achse der Kreativität etwas Neues, Unvorhersehbares. Beide Dialogpartner entwickeln gemeinsam etwas Neues und entfernen sich immer mehr vom eigentlichen Ausgangspunkt. Etwas irreführend kann der Ausdruck „Gegen-Vorschlag“ sein, wenn man die Intention des Autors nicht berücksichtigt. „Dabei ist mit ‚Gegenvorschlag’ nicht gemeint, dass dieser ‚gegen’ den des Partners gerichet ist, sondern lediglich, dass er sich von diesem unterscheidet.“ (von Lüpke 2006, S. 2)

„Zwischen Vorschlag und Gegenvorschlag gibt es eine ‚kreative Differenz’, die auch Geheimnisse in sich birgt.“ (Aly 1995, S. 90 f.) Diese Differenz wird hier nicht als Störung, sondern als entwicklungsfördernde Komponente gesehen. Beide Dialogpartner werden bei Milani Comparetti als gleichberechtigt gesehen — Erwachsener und (behindertes) Kind sind Dialogpartner — und bereichern sich gegenseitig.

„Dialog bedeutet hier: eine gleichberechtigte Beziehung mit dem Kind entwickeln.“ (Aly 1995, S. 14)

Nicht abgebildet werden kann im Dialogmodell von Milani Comparetti hingegen „das Geheimnis“, das als „…Nische der sprachlich nicht mehr fassbaren Subjektivität…“ (Milani Comparetti 1985, S. 26) umschrieben werden kann: Bei all dem Austausch im Dialog bleibt trotzdem manches „ungesagt“, in dem Sinn „…dass jemand es nicht mitteilen möchte oder auch, dass etwas nicht mitgeteilt werden kann.“ (von Lüpke 2013, S. 145) Hans von Lüpke schreibt: „…von der Begrenzung des Mitgeteilten — nicht aus Mangel an Kommunikationsmöglichkeiten, sondern als Bestandteil des Dialogs.“ (von Lüpke 2006, S. 2) Was wir über unser Gegenüber wissen bzw. im Dialog erfahren, kann immer nur als „Teil“ gesehen werden — ein vollständiges Verstehen des anderen / der anderen schließt sich dadurch aus. „Jenes nicht Verfügbare wird für die Kommunikation gleichermaßen zur Bereicherung und Grenze.“ (von Lüpke 2013, S. 146) Auch wenn somit manches im Dialog offen und unverstanden bleibt, kommt der Wertschätzung und Akzeptanz des Dialogpartners/ der Dialogpartnerin eine große Bedeutung zu. Dies zeigt sich auch im Aushandeln und Aufeinander-Eingehen bei Vorschlag und Gegenvorschlag. „Der Vorschlag des anderen muss mir so viel bedeuten, dass ich bereit bin, meine eigene Vorstellung durch ihn verändern, variieren, modifizieren zu lassen, einen Teil des Eigenen dafür aufzugeben — in der Hoffnung, durch diese Aufgabe selbst bereichert zu werden.“ (von Lüpke 2013, S. 146) Die Wertschätzung des Dialogpartners, diese Bereitschaft, sich einzulassen auf Neues, diesem Miteinander Bedeutung zusprechen zu können, sind somit Voraussetzungen für einen gelingenden Dialog - für eine nach oben wachsende Dialogspirale im Sinne Milani Comparettis.

3 Praxisanalyse

Vom Versuch, die „nicht planbare, nicht begründbare und kategorisierbare Wirklichkeit“ einzufangen...( v. Hentig 1977 zitiert nach Jungmair 1992, S. 232)

Im Wissen um die Schwierigkeit, die eigene pädagogische Tätigkeit in dieser Fülle, Dichtheit und dem eigenen „Involviert-Sein“ zu beschreiben, stelle ich mich dieser Herausforderung. Ausgewählte Zitate werden in den Praxisteil eingebaut, um so die Verbindung zwischen Theorie und Praxis noch besser beschreiben zu können.

3.1 Die Dialogspirale in der EMP

Aufbauend auf die Dialogspirale von Milani Comparetti möchte ich mein Verständnis von „dialogischem Arbeiten“ innerhalb der EMP in Abgrenzung zum geschlossenen Kreis definieren.

In der Praxisanalyse möchte ich mich auf die nach oben offene Spirale von Milani Comparetti beziehen, als mögliche und erwünschte Form des Dialogs innerhalb des musikpädagogischen Tuns. Der geschlossene Kreis, den Milani Comparetti als Gegenentwurf zur Spirale anführt, kann auch in bestimmten Teilen des EMP-Unterrichts beobachtet werden. (Beispiel: die bekannte Methode des „Call and Reponse“, bei der die musikpädagogische Fachkraft Rhythmen oder melodische Patterns spielt bzw. singt und die Gruppe als eine Art „Echo“ antwortet.) Jedoch stellt die Forschungsfrage dieser Bachelorarbeit das dialogische Arbeiten in der EMP in den Mittelpunkt und deshalb wird in der nun folgenden Praxisanalyse der Fokus auf die nach oben offene Dialogspirale mit den Elementen des „Vorschlages“ und „Gegenvorschlages“ gelegt.

Die Praxisanalyse beinhaltet verschiedenste Elemente:

  1. Meine schriftliche Vorbereitung einer EMP-Stunde mit Kindern von 4 bis 6 Jahren.

  2. Die Durchführung der Musikstunde mit den Kindern (Videoaufzeichnung)

  3. Diese Stunde wird von 3-4 Studierenden mittels einer teilnehmenden, offenen Beobachtung (siehe Beobachtungsprotokoll im Anhang) dokumentiert

  4. Analyse der Stundenvorbereitung, der Beobachtungsprotokolle, und der konkret erlebten Musikstunde (mit konkreten Bezügen zur Videoaufzeichnung) und mit Hilfe der Videotranskriptionen im Hinblick auf die Dialogspirale von Milani Comparetti

3.2 Zum Forschungsprozess

Die theoriegeleitete Praxisanalyse kann grundsätzlich als Feldforschung verstanden werden, d.h. dass dieses Feld, welche Beschaffenheit es auch immer hat, mit anderen Institutionen verbunden ist, und dass dieses Feld und der darin stattfindende soziale Prozess keinen absoluten Anfang bzw. kein absolutes Ende haben. (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010; S. 53) Meine eigene Rolle in diesem Feld ist eine besondere: als Musikpädagogin begleite und leite ich diese EMP-Gruppe schon seit dem Wintersemester 2012/2013. Seit vier Monaten bin ich im Rahmen der Bachelorarbeit am genaueren Beobachten und Reflektieren in Bezug auf mein Thema — und somit Forschende und Beforschte zugleich. Diese beiden Rollen mit ihren sich jeweiligen Aufgabengebieten können nicht klar voneinander getrennt werden und haben unweigerlich Auswirkungen auf meine musikpädagogische Arbeit und meine Praxisanalyse.

3.2.1 Zur Beobachtung während der Stunde und der Videoanalyse

Beobachtung vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen Verstehen und eigentlichem Beobachten. Jedoch bedingen sich beide Pole gegenseitig. Allerdings ist der Stellenwert des Verstehens innerhalb der wissenschaftlichen Beobachtung noch nicht (endgültig) geklärt. (vgl. Lamnek 2005, S. 551) Die Beobachtungen sind durch die vorgegebene EMP-Stunde lokal und zeitlich begrenzt. Beobachtung kann als eine Art „des Erfahrens der Welt“ (Lamnek 2005; S. 556) gesehen werden. Die Erfahrungen der BeobachterInnen werden als individuell-selektiv eingestuft. Die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der aufgezeichneten Daten sind dadurch möglicherweise gefährdet. (vgl. Lamnek 2005, S. 568) Die Studierenden sind im Stundengeschehen reine BeobachterInnen ohne Interaktion mit dem Feld. Die hohe Komplexität der Unterrichtssituation mit ihren vielen Gruppenmitgliedern und vielfältigsten sozialen Interaktionen und musikalischen Prozessen stellt hohe Ansprüche an die BeobachterInnen. Diese EMP-Unterrichtsstunde genau und vollständig festzuhalten ist unmöglich, deshalb wird versucht, mit Hilfe der Beobachtungsprotokolle den Fokus auf die Dialoge innerhalb der Gruppe zu legen. Die Beobachterinnen sind im Rahmen ihrer Ausbildung am Landeskonservatorium mit dem Verfassen und Aufzeichnen der Stunden vertraut — im wöchentlichen Wechsel verfassen sie eine Art „Stundenprotokoll“. Bei dieser Beobachtungsaufgabe soll ihr Blick auf die Vorschläge und Gegenvorschläge der Kinder bzw. der Musikpädagogik gelenkt werden. Jedoch ist die Gefahr, dass die Beobachter von der Forscherin in bestimmte Rollen bzw. Vorgehensweisen hineingedrängt werden, nicht von der Hand zu weisen. Für diese Praxisanalyse wird ein teilstrukturierter Beobachtungsbogen verwendet. (siehe Anhang)

Das Beobachtungsprotokoll wurde am 13.12.2013 im Rahmen einer EMP-Stunde vorab getestet. Drei Studierende stellten sich dafür zur Verfügung. In der anschließenden Nachbesprechung gaben einige Fragen Anlass, Details zu verändern und Anpassungen vorzunehmen. Wir einigten uns darauf, alle Formen von Vorschlägen zu dokumentieren (nicht nur „rein“ musikalische Impulse der Kinder). Das Beobachten und Niederschreiben erlebten die Studierenden als äußerst anstrengend, deshalb wird beim nächsten Mal der Gruppenprozess im Wechsel (für 5-10 Minuten) beobachtet. Der Ausdruck Musikpädagogin (MP) wurde im Beobachtungsprotokoll durch die den Studierenden geläufigere, Bezeichnung Gruppenleiterin (GL) ersetzt.

Drei Studierende beobachteten die Stunde vom 11.1.2014. Auf insgesamt 25 Beobachtungsprotokollen wurden von den drei Studierenden Dialoge innerhalb des Unterrichts notiert.

Das mehrmalige Betrachten des Videos gab mir die Möglichkeit, Dinge aus einer gewissen Distanz (zeitlich und räumlich) zu beobachten. So konnte ich Details wahrnehmen, die mir während der Stunde gar nicht aufgefallen waren.

3.3 Rahmenbedingungen — die EMP-Gruppe

Die strukturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der EMP-Gruppe werden in diesem Kapitel kurz beschrieben:

Die Musikalische Früherziehungsgruppe am Tiroler Landeskonservatorium soll Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren in die „klingende Welt der Musik“ führen. Die Inhaltsbereiche erstrecken sich über das Singen und Erfinden von Liedern, das Spielen und Ausprobieren von Body Percussion, Bewegung und Tanz (alleine, zu zweit, in der Gruppe) bis hin zur Sensibilisierung der Sinne mit Hilfe von Rhythmik-Materialien, dem Kennenlernen von Instrumenten, dem Spiel auf Instrumenten des Kleinen Schlagwerkes und Stabspielen und dem Hören von ausgewählten Musikhörbeispielen. Die Gruppe wird im Rahmen des Lehrganges „Elementare Musik- und Bewegungspädagogik“ für die Studierenden als Lehrpraxisgruppe angeboten. Zwei bis vier Studierende sind als Hospitierende und auch Praktizierende in das Gruppengeschehen mit eingebunden. Die wöchentliche Stunde dauert 50 Minuten und findet am Freitagnachmittag statt. Die Kinder kommen aus unterschiedlichsten Kindergärten im Raum Innsbruck. Diese Gruppe ist derzeit im zweiten MFE-Jahr und kann auf ein gemeinsam erlebtes Musikjahr aufbauen.

3.4 Die EMP-Stunde

Für die Praxisanalyse entschied ich mich, den Fokus auf eine EMP-Stunde zu legen, in dem Wissen, dass mehrere verschiedene Stunden mehr Vergleichsmöglichkeit bieten würden. Die Analyse einer EMP-Stunde bietet eine große Dichte und Fülle an Informationen, und ich setze mir zum Ziel, den Grundvollzug dialogischen Arbeitens innerhalb der EMP beispielhaft an dieser einen Stunde aufzuzeigen.

3.4.1 Stundenvorbereitung

Zur näheren Betrachtung der schriftlichen Stundenvorbereitung und des Geisterliedes verweise ich auf den Anhang.

Die Stunde ist unterteilt in die fixen Stundenelemente, die als eine Art Ritual in jeder Stunde wiederholt werden: der Begrüßungsteil mit dem Begrüßungslied ( in e-Moll) und der Überleitung mit der Stimmgabel. Auch der anschließende Bewegungseinstieg kommt mit seinen Grundelementen der Spannung und Entspannung, der Musik und Stille in jeder Musikstunde vor. Der Hauptteil dieser EMP-Stunde ist der klingenden Welt der Pentatonik gewidmet. Das Spiel auf dem Metallophon soll die Kinder mit der Melodie des Liedes vertraut machen und sie in die Bewegung durch den Raum führen. Unterschiedliche Körperteile können zu dieser schwingenden Melodie (3/4 Takt) wahrgenommen und bewegt werden. Es folgen weitere methodische Schritte, die den Bereich des Singens (unterschiedliche Vokale), des Bewegens (Austeilen der Taschentücher) und des Hörens (Phrasenhören beim Austeilen der Taschentücher und beim Bewegen zum Spiel auf dem Metallophon) umfassen. Das Material (die Taschentücher) soll die Kinder in ihrer schwingenden Bewegung zu diesem Lied unterstützen. Die Ideen der Kinder sind erwünscht und gefragt — durch das Hereinnehmen der Ideen der Kinder (z.B.: schaut, wie Anna mit ihrem Tuch tanzt) kann sich das Kind als wertvoll und kompetent erleben — als bewegungs- und klanggestaltende/r Teilnehmer/in der Gruppe. Im Anschluss kann das Spiel mit den Schlägeln ein bewusstes Umsetzen des vorher schon erlebten Taktschwerpunktes (in der ganzkörperlichen Bewegung) hervorbringen und mündet dann in ein Experimentieren mit den und Spielen der Klangbausteine. Die Gestaltung, bei der die einzelnen Strophen von Zweiergruppen im musikalischen Dialog gespielt werden, stellt den Höhepunkt der Stunde dar. Die Stunde klingt mit dem vertrauten Schlusslied (e-Moll) aus.

3.4.2 Stundenreflexion

In dieser EMP-Stunde bestand die Gruppe aus 9 Kindern (6 Buben und 3 Mädchen). Drei Studierende des Lehrganges „Elementare Musik- und Bewegungspädagogik“ saßen als Beobachterinnen am Rande des Raumes. Die Videokamera wurde in einer Ecke aufgestellt, die Kinder zu Beginn des Unterrichts über das Mitfilmen der Stunde informiert.

Vielleicht erhielt diese EMP-Stunde durch diesen Hinweis auf die Aufnahme einen besonderen Charakter. Die Kindergruppe zeigte sich immer wieder an der Kamera interessiert und war weniger „bei sich“. Vielleicht übertrug sich meine etwas höhere (An-) Spannung auf die Kinder. Auch meine eigenen, hohen Erwartungen an mich, an die Gruppe und an das Gelingen der Stunde waren für alle spürbar und zeigten ihre Wirkung. Und auch die Studierenden hatten mit dem Beobachten viel zu tun, erlebten es (wie sie nachher erzählten) als „stressig“. Die Atmosphäre in der Musikstunde war, meinem Empfinden nach, eine andere, eher angespannte, was ich auf das Filmen und den „Vorzeigecharakter“ dieser Stunde zurückführen würde.

Ich erlebte die Kindergruppe in dieser Stunde als unruhig — ein nervöses „Gekichere“ und Lachen war immer wieder in der Stunde zu hören — eventuell der Versuch, die Spannung im Raum und bei allen Beteiligten abzubauen? Aufgrund dieser Beobachtung bot ich den Kindern die Möglichkeit an, ihre Spannung über Bewegung abzubauen, zum Beispiel beim Bewegungseinstieg, wo die Kinder ihre Füße am Boden „anklebten“ und verschiedenste Körperteile zur Musik ausschüttelten konnten.

Bei der anschließenden Durchsicht der Stundenvorbereitung fiel mir auf, dass ich einige von mir geplante Schritte mit der Gruppe bzw. in Abstimmung auf die Gruppe abgeändert hatte: Zu Beginn das Aufnehmen des Musimausliedes auf Wunsch eines Kindes (siehe Kapitel 3.5.2.1), der Bewegungseinstieg wurde durch die Vorschläge der Kinder mit dem Schwerpunkt des Galopps versehen (siehe Kapitel 3.5.2.1). Auch die Dauer der von mir vorbereiteten Spielideen variierte aufgrund der Erlebnistiefe bzw. Unruhe in der Gruppe. So erschöpfte sich das Bewegen und Tanzen mit dem Taschentuch zur Melodie des Metallophons rasch — es mündete in ein eher wildes Laufen der Kinder — das Hören auf die Musik mit ihren unterschiedlichen Teilen war für die Kinder nicht mehr möglich. So entschied ich mich dafür, dies abzuschließen, und die Gruppe mit einem neuen Impuls weiter zu begleiten.

Diese Unruhe und die Spannung in der Gruppe standen im Widerspruch zu dem schwebenden und schwingenden Geisterlied. Ich könnte mir vorstellen, dass eine kraftvolle Erarbeitung eines Rhythmusspruches als Stundenthema besser geeignet gewesen wäre und die Kinder folglich mehr Möglichkeiten gehabt hätten, sich einzulassen und einzusteigen.

3.5 Praxisanalyse der EMP-Stunde im Hinblick auf die Dialogspirale

Zu Beginn der Praxisanalyse lag mein Hauptaugenmerk auf dem Dialog zwischen der Gruppe und der musikpädagogischen Fachkraft. So wurden beim Erstellen der Beobachtungsprotokolle die Kinder und die Musikpädagogin im Raster angeführt. Erst bei der Stundenreflexion löste sich diese Fixierung allmählich, ich begann die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell auch in anderen Bereichen zu entdecken.

3.5.1 Unterschiedliche Ebenen des Dialoges in der EMP

Das folgende Kapitel widmet sich den unterschiedlichsten Ebenen, in denen sich Dialogspiralen entwickeln können.

3.5.1.1 Sprachliche Dialoge

Beim wiederholten Ansehen der aufgezeichneten Stunde fiel mir der sprachliche Dialog auf, der sich wie ein „feines Netz“ durch die Stunde zog. Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst gewesen, dass während der ganzen EMP-Stunde die Musikpädagogin in einem ständigen Dialog steht, der sehr oft mit „Ansagen“ der Musikpädagogin beginnt, zu welchen die Kinder dann ihre Ideen sprachlich einbringen. Es gilt immer wieder, auf die Wortmeldungen der Kinder einzugehen, ihnen dadurch zu vermitteln, dass sie als GruppenteilnehmerInnen wahr- und angenommen werden. Das Besondere bei diesem sprachlichen Dialog ist allerdings, dass die Musikpädagogin nicht ein Kind vor sich hat, sondern eine Gruppe. So gesehen könnte man dies als „Gespräch der Musikpädagogin mit der Gruppe“ bezeichnen. Die Herausforderung liegt darin, möglichst viele Kinder in diesen Dialog mit einzubinden, bei gleichzeitigem Unvermögen, allen gerecht zu werden, d.h. allen gleich Gehör zu verschaffen bzw. zuzuhören. Dieses Spannungsfeld kann nicht wirklich aufgelöst werden — es gilt, einerseits die Gruppe und andererseits die einzelnen Kinder im Blick zu haben. Mit Hilfe der Bewusstmachung dieses Spannungsfeldes und der eigenen Reflexion kann versucht werden, in der Praxis diesem hohen Anspruch bestmöglich gerecht zu werden.

Eine lebendige EMP-Stunde lebt von diesem sprachlichen Dialog, der sich inmitten des musikpädagogischen Seins und Handelns in der Stunde vollzieht.

Doch wie verhält es sich nun mit den sprachlichen Äußerungen der Musikpädagogin im Vergleich zu den Wortmeldungen der Kinder? Mit Hilfe der Videoanalyse konnte ich ca. 290 Wortmeldungen der Musikpädagogin zählen — die Kinder kamen auf ca. 200 sprachliche Äußerungen.[1] Mit Richtwerten von 290 zu 200 ist das Verhältnis im Hinblick auf die Dialogspirale leicht einseitig. Auch die Kinder bringen sich (manche mehr, manche weniger) sprachlich immer wieder ein und geben so ihre Ideen, Eindrücke und Impulse an die Musikpädagogin zurück, doch überwiegen die Äußerungen und Wortmeldungen der musikpädagogischen Lehrkraft.

Neben den ca. 290 sprachlichen Äußerungen wurden auch die Fragen der Musikpädagogin an die Gruppe gezählt. In der analysierten EMP-Stunde wurden ca. 55 Fragen an die Gruppe gerichtet. Etwas mehr als ein Fünftel der Wortmeldungen der Musikpädagogin waren Fragen an die Gruppe — dies überraschte mich, ich war in meinem subjektiven Empfinden und Erleben von mehr offenen Fragen an die Gruppe ausgegangen. Solche Fragen können vor allem im Bereich des Experimentierens kreative Räume öffnen, in denen Kinder zum lustvollen Ausprobieren gelangen können. Um genaueres in diesem Bereich beschreiben zu können, bräuchte man noch weitere Stundenanalysen, um diese miteinander vergleichen zu können bzw. um einen Trend festmachen zu können, der allerdings auch wiederum stark an die Person der Musikpädagogin gebunden ist.

3.5.1.2 Musikalische Dialoge

„Damit verbietet sich eine Zertrümmerung des musikalischen Materials; stattdessen treten im hörenden und im handelnden Umgang mit Musik Klanggestalten, Spannungsverläufe, Phrasierungen, Artikulationen, dynamische Entwicklungen und affektiv aufgeladene Darstellungen in den Vordergrund. Dieses sind die strukturgebenden Phänomene der Musik und lediglich Accessoires eines musikalischen Textes. Sie sind Dreh- und Angelpunkte einer adäquaten Korrespondenz zwischen Mensch und Musik …“ (Ribke 1997, S. 52f.)

Die Verbindung und den Dialog zwischen Mensch und Musik zu fördern kann als zentrales Ziel in der Elementaren Musikpädagogik gesehen werden. Die musikalischen „Vorschläge“ von Seiten der Musikpädagogin in der analysierten Stunde sind:

  • singendes Erzählen (F-Dur)

  • Musihaus-Lied (F-Dur)

  • das Begrüßungslied (e-Moll)

  • Hören und Spüren der Stimmgabel (a’)

  • verschiedenste Rhythmen auf der Djembe (Schwerpunkt Galopp) zum Bewegen

  • Spiel am Metallophon (Pentatonik) zur Bewegungsbegleitung und zum Ausruhen am Boden

  • Summen und Singen des Geisterliedes (Pentatonik)

  • Experimentieren und Spielen auf den Klangbausteinen

Doch wie viel Raum und Zeit nimmt das in einer Stunde ein? Mit Hilfe der Videoaufzeichnung konnte die Dauer der musikalischen Sequenzen errechnet werden. Beim Aneinanderreihen der oben angeführten musikalischen „Vorschläge“ wurden ca. 23 Minuten (von insgesamt 52 Minuten EMP-Unterricht) gezählt. Das entspricht fast der Hälfte der Musikstunde und zeigt, dass dem Ziel, die EMP-Kinder mit vielfältigster Musik in Berührung zu bringen, Rechnung getragen wird. Diese Zeit konnten die Kinder als Hörende, Staunende, sich am Boden Ausruhende, sich Bewegende, Mitsingende, Mitspielende ganz vielfältig miterleben. Im Sinne der Dialogspirale von Milani Comparetti wären diese musikalischen Impulse von Seiten der musikpädagogischen Lehrkraft „Vorschläge“. Wie sieht es nun aber mit den „Gegenvorschlägen“ der Kinder aus? Diese musikalischen Dialoge zu beschreiben ist ein weitaus schwierigeres, da äußerst komplexes, Unterfangen. Dazu bräuchte es ein noch genaueres Beobachten und Herausarbeiten der Gegenvorschläge der Kinder, die sich nicht immer sprachlich äußern, sondern oft auch mit einem inneren und äußeren Bewegtsein verbunden sind.

Der musikalische Schwerpunkt dieser EMP-Stunde lag auf der Liederarbeitung des Geisterliedes, diese lebt von der Wiederholung. Beim Vertiefen kommt jedoch den Variationen eine große Bedeutung zu: Es gilt, das Lied durch die unterschiedlichen Parameter der Musik zu ziehen, unterschiedliche Erlebnisräume zu schaffen, die es den Kindern ermöglichen, sich immer wieder aufs Neue auf ein und dasselbe Lied bzw. eine Melodie einzulassen. Doch wie oft kommen die Kinder in einer Stunde in den Genuss dieser pentatonischen Melodie? Im Rahmen der Videoanalyse hatte ich die Möglichkeit, diese Zahl „festzumachen“: In dieser EMP-Stunde hörten die Kinder die Melodie des Geisterliedes insgesamt 48 Mal, und zwar in unterschiedlichsten Variationen: gesummt, am Metallophon gespielt, gesungen, rhythmisch gesprochen, die Melodie des Liedes mit unterschiedlichen Vokalen gesungen. Dieses Hören und Lauschen, Mitsingen, Einstimmen und Mitspielen des Liedes kann immer wieder auf der Dialogspirale zwischen Kind und Musik nach oben führen, indem musikalische „Vorschläge“ — Eindrücke — das Kind zu neuerlichen Ausdrücken musikalischer, motorischer oder emotionaler Art führen können.

Abbildung 4. Dialogspirale Kind

Dialogspirale Kind

(eigene Darstellung)

3.5.1.3 Zwischenleiblicher Dialog

Zwischen der Musikpädagogin und der Gruppe entsteht zudem „…ein ständig stattfindender ‚zwischenleiblicher Dialog’, der sich auch auf Gesprächssituationen überträgt…“. (Terr 2013, S. 25) Somit gewinnt auch die leibliche Seite der musikpädagogischen Lehrkraft und ihrer Gruppe an Bedeutung. Es geht nicht nur um sprachliche Kommunikation, sondern auch darum, sich in die Gruppe „einzufühlen“, sich aufeinander einzuschwingen und aufeinander zu zu bewegen. Dieses innere Bewegtsein und dessen Ausdruck sind zentraler Bestandteil jeder EMP-Stunde, besonders im Bewegungseinstieg. Dabei kommt der Musik, mit ihrer Kraft und Fülle, und ihren unbeschreiblichen Möglichkeiten, sich zu äußern und zu vollziehen, eine besondere Bedeutung zu.

Diesen zwischenleiblichen Dialog im Rahmen der EMP-Stunde mit Hilfe der Videoaufzeichnung zu beobachten ist eine äußerst schwierige Aufgabe und mit meiner Erfahrung und den mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht machbar. Ich persönlich kann dieses „Aufeinander-Einschwingen“ in den EMP-Stunden zwar spüren — ich vermute, auch die Kinder nehmen diese Schwingungen der Gruppe und der Musik oft wahr — dies objektiv zu beobachten und zu beschreiben wäre jedoch ein weitaus größeres, komplexeres und sicherlich sehr spannendes Forschungsvorhaben.

„Zu den intensivsten Erfahrungen zählt das gemeinsame Musizieren, bei dem sich die Sinne gleichsam synchronisieren und zu einer gemeinsamen Resonanz führen, bei der sich die Erfahrungsräume nicht nur nach außen, auch nach innen in die Tiefe, Höhe und Weite ausdehnen. Dieses Zusammenschwingen lässt zu sich kommen und zugleich in ein übergeordnetes Ganzes überscheiten.“ (Terr 2013, S. 25)

3.5.1.4 Die Dialogspirale im Hinblick auf das Spannungsfeld Kind — Gruppe

„Bildung entfaltet sich stets im Spannungsfeld zwischen kulturellen Gegenständen und dem Einbringen von Eigenem, ja sie lebt gerade aus der Verschränkung von Kultur und Individuum; dabei wurzelt sie in grundlegenden Erfahrungen und führt diese unmittelbar in die Verästelungen zunehmender Differenzierung. Aus diesen Differenzierungen schließlich resultieren Muster, die auf ein möglichst stimmiges Leben im Spannungsfeld zwischen dem ‚Anderen’ und dem Eigenen abzielen.“ (Dartsch 2010, S. 211)

Elementares Musizieren mit all seinen Facetten und Möglichkeiten findet in der Gruppe statt — das Individuum muss sich in ein größeres Ganzes einfügen, um miteinander in einen gemeinsamen Puls, in ein gemeinsames Spüren, Spielen und Erleben zu kommen. Dafür können einzelne Impulse der Kinder nicht immer oder nur unzureichend in den Gruppenprozess aufgenommen werden. Das individuelle Gestalten, Ausprobieren, Experimentieren (zum Beispiel auf den Instrumenten) bleibt manchmal ein wenig auf der Strecke. Im Rahmen der Praxisanalyse wurde das wieder augenscheinlich — das Spannungsfeld ICH — WIR, das unser aller Leben durchdringt und unser Sein bestimmt. In seinem Buch „Grundformen der Angst“ beschreibt Fritz Riemann dieses Dilemma mit dem Bild von der Erdrotation und dem Kreisen um die Sonne. Beide Bewegungen bestimmen den Lauf der Erde — auf der einen Seite die Bewegung um sich selbst (ICH), auf der anderen Seite das Einfügen, das Eingebundensein in ein größeres System — die Rotation um die Sonne gemeinsam mit anderen (WIR). (Vgl. Riemann 2003, S. 11 ff.) Im musikalischen Kontext liegt der Schwerpunkt der Musikalischen Früherziehung auf dem Musizieren in der Gruppe, auf dem WIR. Idealerweise würde das Experimentieren und genaue Hinhören, das Staunen und kreative Ausprobieren und verstärkte Aus-Sich-Heraus-Schöpfen im Freispiel der Kindergärten bzw. in der Freiarbeit der Schule Möglichkeiten dafür bieten. Denn meist braucht es beides, nährt das eine das andere.

Dieses Spannungsfeld des „Eigenen“ und „Anderen“ konnte im Rahmen der Praxisanalyse anhand der selbstgebastelten Musimaus von Kind B beobachtet werden. Gleich zu Beginn der Stunde zeigte er voll Stolz seine Maus und so wurde sie auch gleich zum „Thema“ innerhalb der Gruppe (siehe auch Kapitel 3.5.2.1 Videotranskription). Doch auch nach dem Singen und Verräumen des Teppichs und der Maus stellte Kind B immer wieder einen Bezug zu seiner Maus her mit Sätzen wie: „Aber die Musimaus, die müssen wir noch besuchen“ (00:25:18) oder „Bitte kommt jetzt die Musimaus“ (00:29:32). Auf meine Antwort, dass die Musimaus bei unserem Lied vielleicht zuhören könne, meinte er: „Aber wir wollen sie auch sehen.“ (00:47:58) Und so holte er die Musimaus vom Klavier und brachte sie wieder in die Gruppe. Ich legte einen Teppich in die Mitte und er konnte der Musimaus endlich den Platz geben, den er ihr gerne schon die ganze Stunde einräumen wollte, im Zentrum des Kreises. Bei der Reflexion der Stunde fiel mir auf, dass es mir trotz Hereinnehmen der Musimaus und des Singens für die Musimaus zu Beginn der Stunde, nicht gelungen war, das für Kind B so wichtige Thema seiner Musimaus sinnvoll und für ihn befriedigend in die Stunde einzubauen — vielleicht hätte mehr Offenheit und auch ein Nachfragen meinerseits uns in einen gemeinsamen Dialog führen können. Nur seinem ausdauernden Dranbleiben war es zu verdanken, dass die Musimaus dann doch, am Ende der Stunde, ihren Platz inmitten der Gruppe bekam.

Die Schwierigkeit, die Gruppe und die Interessen der einzelnen Kinder zu vereinen bzw. in einer Balance zu halten, wird in diesem Beispiel erneut sichtbar — es deckt das darunter liegende Spannungsfeld ICH — GRUPPE wieder auf:

Und so geht es in der EMP-Stunde meist um ein gleichzeitiges Erleben des „ganz bei sich Seins“ und einer tiefen Verbundenheit mit anderen bzw. der Gruppe. Dieses Erleben kann sich jedoch auch in einem Wechselspiel — einem Dialog — vollziehen. Innerhalb der EMP-Stunde haben die Kinder immer wieder die Möglichkeit, bei sich selbst zu sein (zum Beispiel beim Erkunden der Klangbausteine), beziehungsweise in Kontakt mit anderen zu sein, sich in der Bewegung und dem Singen der Musik zu einem größeren Ganzen zusammenzufinden. (ICH — GRUPPE) dies vollzieht sich durch beziehungsweise inmitten der Musik. Die graphische Darstellung dieses Dialoges könnte folgendermaßen aussehen:

Abbildung 5. Dialogspirale Kind-Gruppe

Dialogspirale Kind-Gruppe

(eigene Darstellung)

3.5.1.5 Im Dialog Grenzen setzen — von „störenden“ Impulsen und der Notwendigkeit auf diese einzugehen

Von den 25 Beobachtungsprotokollen der Studierenden wird in drei Dialogspiralen „störendes Verhalten“ einzelner Kinder beschrieben, genauer gesagt, Verhalten, das mich als Musikpädagogin gestört hatte: Zweimal versammelten sich ein paar Kinder um die Videokamera, einmal spielte ein Kind Luftgitarre und „juchzte“ dazu. Dieses Verhalten der Kinder kann auch als Vorschlag im Sinne der Dialogspirale aufgefasst werden, für mich war es in jenem Moment nicht vereinbar mit den Bedürfnissen der Gruppe, meinem eigenen „Plan“, unvereinbar auch im Hinblick auf die Rahmenbedingungen der Stunde. Dies verdeutlicht für mich wieder, wie hoch im Begriff „Störung“ der subjektive Anteil ist. Denn aus der Beschreibung des Kindes und seiner Handlung, „Kind spielt Luftgitarre und juchzt dazu“, geht noch nicht klar hervor, ob das eine Störung ist oder nicht. Diese Beschreibung ist herausgelöst aus dem Kontext, meiner eigenen Befindlichkeit und dem momentanen Gruppenereignis und könnte unter anderen Umständen auch ein Vorschlag sein, der von der musikpädagogischen Fachkraft verbalisiert und aufgenommen wird: „Schaut zu Kind E., wie es sich bewegt, oder welches Instrument es spielt.“ Doch in diesem Moment „störte“ mich das Verhalten dieses Kindes und ich forderte es auf, mitzusingen anstatt zu juchzen.

Mein „Holen“ der Kinder von der Videokamera zurück in die Gruppe, in den Kreis kann somit auch als eine Art Gegen-Vorschlag zu ihrer Idee gesehen werden. Es war ein bewusstes Entscheiden und klares Äußern: „Nein, das möchte ich jetzt nicht“. Die Beobachtungsprotokolle konnten somit aufzeigen, dass auch solche Äußerungen bzw. Handlungen der Kinder im gegenseitigen Einvernehmen und im Dialog — im Sinne Milani Comparettis — gesehen werden können.

3.5.2 Dialogspirale im Hinblick auf die musikpädagogische Lehrkraft und die Gruppe

„Dialogfähigkeit erfordert im Sinne von Foerster die Kultivierung der Fähigkeit, sich sowohl verunsichern als auch anregen zu lassen. Erst im Dialog sind wir fähig, den Reichtum wahrzunehmen, der uns umgibt, und nur der Dialog gibt uns die Möglichkeit, die nötigen Anregungspotentiale zu erschließen, um zu echter Kreativität durchdringen zu können.“ (Burow 1999; S. 125)

Diese von Burow beschriebene Offenheit kann als Voraussetzung für Dialogfähigkeit gesehen werden: Die Offenheit, sich anregen und auch mitunter verunsichern zu lassen. Für die musikpädagogische Lehrkraft können „Vorschläge“ und „Gegenvorschläge“ der Kinder beides sein: Man kann diese als Bereicherung und Anregung für die Unterrichtssituation sehen oder als „Störung“ und Verunsicherung der eigenen Vorbereitung. Die Dialogspirale von Milani Comparetti kann hierbei als Modell dienen, um die Wichtigkeit und den Grundvollzug von Dialog zwischen der musikpädagogischen Lehrkraft und der Gruppe aufzuzeigen.

Mit Hilfe der insgesamt 25 Beobachtungsprotokolle konnten diese Dialoge innerhalb des Unterrichts beschrieben werden: Die Studierenden erzählten im Anschluss wieder von der fast unmöglichen Aufgabe, die Dialogspiralen während des Geschehens zu notieren, von der Schwierigkeit, die Dialoge in der Komplexität der Stunde zu erfassen. Auffallend bei der Analyse und Durchsicht dieser Protokolle: Der überwiegende Teil der Dialogspiralen vollzog sich nur in den ersten zwei Stufen (Vorschlag, Gegenvorschlag, Vorschlag, Gegenvorschlag). Es drängt sich die Frage auf, warum die meisten von den Studierenden notierten Dialogspiralen nach ein, zwei Umwindungen beendet waren und nur einige wenige sich noch weiter in die Höhe schraubten. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die einzelnen Vorschläge der Kinder immer in Abstimmung mit der ganzen Gruppe gesehen werden müssen und somit immer wieder Vorschläge der einzelnen Kinder zu kurzen Dialogspiralen führen, um dem Anspruch der Kinder und der Gruppe gerecht zu werden. Bezugnehmend auf diese Beobachtungsprotokolle kommt es im Laufe einer EMP-Stunde zu vielen verschiedenen und eher kleinen Dialogspiralen.

Die notierten Vorschläge und Gegen-Vorschläge sind meist Ideen der Kinder, die sie im Rahmen des Tanzens, Spielens am Instrument oder über die Bewegung „äußern“. In den Beobachtungsprotokollen sind nur zwei sprachliche Äußerungen von den Kindern notiert. Dies kann unterschiedliche Gründe habe: Eventuell ist dies der Schwierigkeit geschuldet, so schnell mitzuschreiben, oder es kam tatsächlich eher selten zu sprachlichen Vorschlägen der Kinder — dies müsste mit der Videoaufzeichnung neuerlich verglichen werden. Die meisten Vorschläge und Gegenvorschläge beziehen sich auf Beschreibungen der Aktivitäten der Kinder. (z.B.: „Kind spielt dazu“, „Kind spielt Luftgitarre und juchzt dazu“, „Ein Kind legt sich hin“)

3.5.2.1. Praxisanalyse zweier Videosequenzen

Mit Hilfe der Videotranskription können noch einmal im Detail Dialoge im EMP-Unterricht analysiert werden. (siehe Anhang)

Musimauslied“ (81 Sekunden)

Zur Transkription:

Insgesamt 32 sprachliche Äußerungen konnten gezählt werden. Drei Kinder bringen ihre Ideen und Gedanken ein (Kind D elfmal, Kind B sechsmal, Kind A einmal). Der Kindergruppe konnten Äußerungen wie „mmh“ und ein Rufen „eah“ und ein Lachen zugeordnet werden. Die Musikpädagogin äußert sich 14 Mal. Die eigene Spalte für Musik beinhaltet: das Zupfen des F-Dur Dreiklanges auf der Gitarre, das singende Fragen, ob jemand ein Musikmauslied weiß, und das Singen des Musimausliedes (F-Dur). Kind B hat eine selbstgebastelte Maus aus Papier mit und zeigt sie der Musikpädagogin (Sec. 2-8). Was können wir der Musimaus vorsingen? Kind D und Kind B verweisen auf ein Lied vom letzen Jahr, das uns aber nicht mehr einfällt. Kind D schlägt dann vor, dass wir ein neues Lied erfinden könnten. Nach 5 Sekunden Pause singe ich auf zwei Tönen „Hat jemand eine Idee für ein Musimaus Lied?“. Dann kommen zwar zwei Wortmeldungen von den Kindern, aber keine konkrete, für mich „brauchbare“ Idee. Daher schlage ich vor, das heurige Musihauslied zu singen. Die Töne werden angezupft, das Haus mit den Armen gebaut, doch es kommen noch immer Wortmeldungen von den Kindern, es vergeht einige Zeit, bis dann wirklich gesungen werden kann.

Interpretation:

Diese erste Sequenz fand ganz zu Beginn der EMP-Stunde statt und war eigentlich nicht von mir als Musikpädagogin beabsichtigt bzw. geplant, doch war es aufgrund der von Kind B mitgebrachten Maus ein Gruppenthema, das ich aufgreifen wollte. Dieser 81 Sekunden dauernde Ausschnitt zeigt auf den ersten Blick die Dichtheit und die Fülle des EMP-Unterrichts, die vielen unterschiedlichen Wortmeldungen der Kinder. Die Musik zieht sich sozusagen als roter Faden durch. Immer wieder versuche ich als Musikpädagogin, Vorschläge der Kinder in musikalische Ideen umzuwandeln. So wird das Mitbringen der Musimaus von Kind B zum Anlass genommen, ein Lied zu singen. Auch die Frage nach dem Lied wird bewusst in F-Dur angesungen — in der Hoffnung, dass die Kinder Töne oder eine Melodie dazu erfinden. Meine gesungene Frage kann als Vorschlag — im Sinne der Dialogspirale gesehen werden. Doch kommt von den Kindern kein Gegenvorschlag und daher bringe ich den Vorschlag ein, das schon bekannte diesjährige Musimauslied zu singen.

Bei der Durchsicht der Transkription fällt auf, dass sich Wortmeldungen und das Singen auch immer wieder überschneiden. Die Gleichzeitigkeit, die sich da in diesen 81 Sekunden vollzieht, stellt eine große Herausforderung an die musikpädagogische Lehrkraft dar: Sie muss „bei sich bleiben“ und soll gleichzeitig die Äußerungen und Vorschläge der Kinder wahrnehmen.

„Bewegungseinstieg“

Zur Transkription:

Diese 78 Sekunden dauernde Sequenz war Teil des Bewegungseinstiegs. Die Ausgangssituation war ein Bewegen der Kinder zu meinem Spiel auf der Djembe. Die sprachlichen Äußerungen kommen von der Musikpädagogin, eine Wortmeldung (ganz zum Schluss) von Kind A. Die musikalischen Einwürfe auf der Djembe halten sich mit den sprachlichen Äußerungen der Musikpädagogin (Verhältnis 8:9) fast die Waage. Die Musik zieht sich mit kurzen Pausen wie ein roter Faden durch. Die sich nach oben entwickelnde Dialogspirale lässt sich anhand der Videotranskription folgendermaßen beschreiben:

Abbildung 6. Dialogspirale in der EMP

Dialogspirale in der EMP

(Praxisbeispiel)

Die linke Seite stellt die Vorschläge der Kinder dar, die Gegen-Vorschläge der Musikpädagogin sind auf der rechten Seite abgebildet. Die Vorschläge der Kinder werden meist über Bewegung geäußert. Diese werden von mir verbalisiert und in die Gruppe eingebracht. Die Idee von Kind A mit dem Seitwärtsgalopp (siehe 1.) verbalisiere ich und gebe meine Beobachtung so an die Gruppe zurück (siehe 2.). Bei der nun folgenden Bewegung zum Galopp der Djembe beginnt Kind C, seine Arme mitzubewegen (siehe 3.). Das wiederum wird von mir aufgenommen und sprachlich in die Gruppe eingebracht (siehe 4.). Die Kinder bewegen sich weiter zum Rhythmus — Kind A beendet die Phrase mit einem „Abschluss-Hüpfer“. Dies wird von mir als Musikpädagogin wieder der Gruppe mitgeteilt. Zum Schluss der Sequenz meldet sich Kind A. selbst zu Wort und beschreibt seine Bewegung und seinen Hüpfer mit folgenden Worten: „Christine, i mach beim Schluss normal.“ (Sekunde 75 — 77).

Interpretation:

Diese Videotranskription zeigte eine sich nach oben entwickelnde Dialogspirale inmitten des Bewegungseinstieges. Die Idee von Kind A. brachte mich und die anderen Kinder auf das Galoppieren — in weiterer Folge zum Seitgalopp. Mit Hilfe des Spiels auf der Djembe und eines Rhythmusspruches versuchte ich, den Kindern eine Form vorzugeben, innerhalb welcher sie ihre Ideen einbringen konnten. Und so entwickelten sie vielfältigste Bewegungsmöglichkeiten (mit Armen, mit einem Abschlusshüpfer) und erweiterten ihr Bewegungsrepertoire zunehmend. Vom anfänglichen, beginnenden Vorwärtsbewegen zur Djembe (dem Ausgangspunkt) entfernten wir uns immer mehr — über den Seitwärtsgalopp hin zu kreativen Variationen — in einer nach oben offenen Spirale — im Sinne Milani Comparettis. Die „Form“ bzw. der Rahmen blieb für einige Zeit gleich (Rhythmus und Rhythmusspruch), jedoch das Bewegen und die Ausführung veränderten sich mit den Ideen der Kinder.

Das bewusste Wahrnehmen und Hereinnehmen der Ideen der Kinder (im Sinne eines Vorschlages) kann Kinder ermutigen, sich mit ihren unterschiedlichsten Möglichkeiten zu zeigen — sie bringen sich dann verstärkt ein — manche sogar über die Sprache: So wie Kind A., das zum Schluss sagte: „Christine, i mach beim Schluss normal.“ Dieses „normal“ bezieht sich auf den Abschlusshüpfer, den Kind A mit geschlossenen Beinen und ohne Armbewegung vormacht. Ihm war es wichtig, dies mir und auch den anderen Kindern in der Gruppe vorzuzeigen und zu erzählen.

3.5.2.2.MODELL „Entwicklungsschritte eines Dialoges in der EMP“

Um die oben abgebildete Dialogspirale des Bewegungseinstieges noch genauer analysieren zu können, soll die Komplexität des ersten Schrittes dieser Dialogspirale veranschaulicht werden. Dabei wird der Fokus auf den Ausschnitt des Vorschlages und Gegenvorschlages gelegt. (1. - 2. In Abbildung 6)

Modell Entwicklungsschritte des Dialogs in der EMP

Phasen

Entwicklungsschritte des Dialoges

Voraussetzungen

I.

Dialogeröffnung

Beobachten der Kinder

Wahrnehmen der Ideen der Kinder (über visuellen und auditiven Sinn)

Aufmerksamkeit

Offenheit gegenüber den Ideen der Kinder als „Vorschläge“ nicht „Störungen“Flexibilität

II.

Dialogprozess

Einordnen / Integrieren der Ideen der Kinder in die eigene Vorbereitung/ den eigenen „Plan“

in eigener Abschätzung der Bedürfnisse der Gruppe bzw. unter Berücksichtigung der Gruppenatmosphäre

und im Hinblick auf Rahmenbedingungen (Ziele, Inhalte) der EMP-Stunde

Fähigkeit, Spannung auszuhalten

Fähigkeit, Ideen der Kinder und die eigenen Ideen der musikpädagogischen Lehrkraft zusammenzuführen (integrative Fähigkeiten)

III.

Dialogvariation

Sich entscheiden: nehme ich die Idee auf? Wie, in welcher Weise?

„Ja“ Vorschlag wird aufgenommen

Nein“ Vorschlag wird nicht aufgenommen

Sich äußern (die Entscheidung nach außen bringen — über die Sprache oder über Vorzeigen)

Klarheit

Entscheidungskraft

Sicherheit und Vertrauen in die eigene Arbeit und in die Gruppe (eventuell basierend auf Vorerfahrungen)

(eigene Darstellung)

Dieses Modell soll die vielschichtige Interaktion der Musikpädagogin mit der Gruppe beschreiben; dieser Prozess vollzieht sich in einer EMP-Stunde innerhalb von wenigen Sekunden oder Zehntelsekunden. Wenn sich das Aufnehmen und Einordnen der Vorschläge der Kindergruppe zu sehr in die Länge zieht, ist sehr oft eine Verunsicherung der Gruppe zu beobachten — die Gruppe spürt intuitiv die „Abwesenheit“ der Musikpädagogin — sie wartet auf eine Antwort — einen Gegenvorschlag. In weiterer Folge kommt es nach der Entscheidung und Äußerung der Musikpädagogin (Gegenvorschlag) zu einem Durchlaufen der oben angeführten Entwicklungsschritte bei den Kindern — nun ist der „Ball“ bei ihnen. Die Kinder nehmen die Äußerung der Musikpädagogin wahr beziehungsweise auf (Stufe I.) und integrieren diese in Abstimmung mit ihren eigenen Ideen und Bedürfnissen (Stufe II.) oder auch nicht. Die Vorschläge der Kinder zeigen sich häufig über den motorischen oder den sprachlichen Bereich. (Stufe III.) Diese besondere Form des „Aufeinander-Eingehens“ beschreibt Michael Dartsch mit dem Bild eines „Ballspieles“: Er beschreibt den Dialog als

„Modellvorstellung[…], nach der sich zwischen den Bildungsprozessen der Kinder und dem erzieherischen Handeln der Fachkräfte in gegenseitigem Aufeinander-bezogen-Sein gewissermaßen ein fortwährendes ‚Zuspielen’ ereignet — fast wie bei einem Ballspiel […]. Das Kind nimmt den Impuls der Erzieherin auf, macht daraus etwas für sich, strahlt entsprechendes nach außen ab, was wiederum von der Erzieherin ‚aufgefangen’ und in Bezug zu eigenen Impulsen gesetzt wird. Daraus resultieren bei ihr neuerliche Gedanken, Handlungen oder Empfindungen, die das Kind wieder auf seine Weise aufnimmt“. (Dartsch 2001, S. 58)

Diese Beschreibung des geglückten Dialoges zwischen Musikpädagogin und Kind deckt sich mit dem oben angeführten Modell. Es geht um ein gegenseitiges Aufnehmen bzw. „Auffangen“ von Impulsen bei beiden Dialogpartnern, die sich in diesem Miteinander wie auf der Dialogspirale Milani Comparettis nach oben drehen - immer in Abstimmung und Modifikation mit dem eigenen Inneren (Dialogprozess – Stufe II.)

Mit Hilfe dieses Modells wird ersichtlich, dass es sich hierbei um eine besondere Form des Dialoges handelt, der sich auf unterschiedlichen Ebenen vollziehen kann (sprachlicher, musikalischer & körperlicher Ebene). Zudem wird auf anschauliche Weise die Komplexität dialogischen Arbeitens in der EMP aufgezeigt. Das darunterliegende Spannungsfeld des Eigenen und Anderen wird sichtbar — der Dialog zwischen Musikpädagogin und Kind bzw. Gruppe kann eine Art „Brücke“ darstellen. Dialog wird dann als gelungen und befriedigend erlebt, wenn im gegenseitigen Austausch bzw. im Fluss („flow“) die Dialogpartner (in diesem Falle die Kinder, die Gruppe und die Musikpädagogin) in ein lebendiges Miteinander eintreten — wenn es zu einer sinnstiftenden Verbindung kommt.

Welche Faktoren wirken sich aber nun förderlich auf die Entwicklung eines Dialoges im EMP-Unterricht aus? Diese lassen sich aus der vierten und letzten Spalte des Modells, den Voraussetzungen, ableiten:

Von Seiten der musikpädagogischen Lehrkraft braucht es Aufmerksamkeit und Offenheit gegenüber den Ideen der Kinder. Diese sollen im Sinne eines „Vorschlages“ und nicht als „Störung“ der eigenen Vorbereitung wahrgenommen werden. Im Dialogprozess braucht es die Fähigkeit, Spannung auszuhalten, die durch die Ideen der Kinder und die eigene eventuell divergierende Planung entstehen kann. Zugleich können aufgrund integrativer Fähigkeiten die Ideen der Kinder und die eigenen Ideen der musikpädagogischen Lehrkraft zusammengeführt werden. In der Phase der Dialogvariation verhilft Klarheit, neben der Sicherheit und dem Vertrauen in die eigene Arbeit und in die Gruppe, zu einer klaren und schnellen Entscheidungsfindung. Diese Voraussetzungen auf Seiten der musikpädagogischen Lehrkraft begünstigen eine offene Atmosphäre, in der sich die Kinder in ihrem individuellen „Sein“ und mit ihren Ideen zeigen und öffnen können — die wertschätzende und offene Haltung und Stimmung in der Gruppe kann als „fruchtbarer Boden“ des Dialoges gesehen werden. Bezüglich der Stundenplanung und des Aufbaus der Stunde können das Einplanen von genügend Experimentierphasen (im Sinne eines Drei- bzw. Vierschrittes) und das offene Formulieren von Impulsen (im Sinne von Fragen) als förderliche Elemente für die Entwicklung eines Dialoges in der EMP angeführt werden.



[1] Diese Zahlen müssen als Richtwerte gesehen werden, aufgrund einer fehlenden genauen Festlegung und Abgrenzung, wo eine sprachliche Äußerung beginnt und endet, und aufgrund der Schwierigkeit, parallele oder überlappende Wortmeldungen voneinander zu trennen.

Resümee & Ausblick

Die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell in der Elementaren Musikpädagogik zu entdecken war Ziel dieser theoriegeleiteten Praxisanalyse. Es wurde versucht, die möglichen Grundzüge dialogischen Arbeitens innerhalb der EMP beispielhaft an einer Stunde aufzuzeigen.

Kann die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell in der Elementaren Musikpädagogik gesehen werden — Möglichkeiten und Grenzen aufbauend auf der Analyse einer EMP-Stunde mit Kindern von 4 bis 6 Jahren.

Aufgrund der in Kapitel 3.5.1 und 3.5.2 beschriebenen Ausführungen kann die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell in der EMP gesehen werden. Die weit gefasste Formulierung der Forschungsfrage bot in ihrer Beantwortung die Möglichkeit, diese Dialogspirale auf unterschiedlichsten Ebenen zu analysieren. Neben dem Dialog zwischen der musikpädagogischen Lehrkraft und der Gruppe konnten Dialoge auf anderen Ebenen aufgezeigt werden: Hierzu zählen der sprachliche, der musikalische, der zwischenleibliche Dialog, der Dialog Kind-Gruppe und das Grenzensetzen im Dialog.

Im Sinne Michael Dartschs und seines Gegensatzpaares des Eigenen und Anderen (vgl. Dartsch 2010, S. 211) kann die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell dieser Begegnung, des Austausches zwischen der Gruppe als Anderem und dem Eigenen als Individuum gesehen werden. Nur wenn es gelingt, innerhalb des EMP-Unterrichts einen stimmigen Dialog innerhalb dieses Gegensatzpaares entstehen zu lassen, welcher sich wiederum auf unterschiedlichen Ebenen, z.B.: sprachlich oder musikalisch, zeigen kann, wird ein musikalisch-künstlerischer Prozess wie eine nach oben offene Spirale wachsen können. Ob und wie sich dieser Prozess, dieses gemeinsame „Sich-Entwickeln“ eines musikalischen Themas im Rahmen einer EMP-Stunde, vollzieht, hängt von der Gruppe und in hohem Maße von der musikpädagogischen Lehrkraft ab. Denn die Musikpädagoge/in hat „…Zeuge des Schöpferischen im Menschen…“ (Jungmair 1992, S. 264) zu werden. Diese „…im Augenblick für den Augenblick geborenen Ausdrucksbewegungen, Einfälle…“(Jungmair 1992, S. 264) gilt es zu erkennen, zu entdecken. „Versteht er [Anm. der Musikpädagoge] es nicht, ihnen Dauer zu verleihen, sie über den Augenblick hinaus für das Kind, die Gruppe oder Klasse, wirksam werden zu lassen, bleiben sie Erscheinungen des Augenblicks.“ (Jungmair 1992, S. 264) Um diese kostbaren Augenblicke als solche zu erkennen braucht es eine hohe Sensibilität und genaue Beobachtungsgabe der musikpädagogischen Lehrkraft, die im ständigen Dialog mit der Gruppe innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen treffen muss, welche „Vorschläge“ bzw. „Gegenvorschläge“ der Kinder sie in den Unterricht aufnimmt und wie sie diese in den musikalischen Prozess einfügt (oder auch nicht).

Um diesen Dialog aber noch besser analysieren zu können wurde versucht, mit dem Modell „Entwicklungsschritte eines Dialoges in der EMP“ diesen Prozess, der sich zwischen der Gruppe und der musikpädagogischen Fachkraft vollzieht, zu beschreiben. Dieses Modell stellt den vielschichtigen Prozess dieses Dialoges dar — diese besondere Form des „Aufeinander-Eingehens“. Auf anschauliche Weise wird die Komplexität dialogischen Arbeitens in der EMP aufgezeigt und kann als möglicher „Kern“ des Dialoges zu einem lebendigen und wertschätzenden „Aufeinander-Eingehen“ führen.

„Der Vorschlag des Anderen muss mir so viel bedeuten, dass ich bereit bin, meine eigene Vorstellung durch ihn verändern, variieren, modifizieren zu lassen, einen Teil des Eigenen dafür aufzugeben — in der Hoffnung, durch diese Aufgabe selbst bereichert zu werden.“ (v. Lüpke 2013, S. 146)

Neben den Möglichkeiten, die Dialogspirale von Milani Comparetti als Modell in der EMP zu sehen, können auch Grenzen aufgezeigt werden. Die Spirale, ursprünglich von Milani Comparetti als Modell für Eltern — Kind oder Therapeut/in — Kind, entwickelt, stößt bei der Anwendung in einer Gruppe oft an ihre Grenzen. Denn die Gruppe in der EMP stellt ein komplexes Gegenüber mit unterschiedlichen, teils sogar widersprüchlichen, Bedürfnissen, Interaktionen und Gegenvorschlägen dar. Diese Anforderungen können nur begrenzt im Sinne einer Dialogspirale zusammengeführt werden. Doch auch die Spirale als Modell ist in sich begrenzt, da sich musikalische Prozesse in einer EMP-Stunde in keine „starre“ Form pressen lassen und sich nicht (nur) von unten nach oben in einem vorgegebenem Tempo vollziehen. Bei der „erratischen Spirale“ von Gidoni, einer Mitarbeiterin Milani Comparettis, die seine Dialogspirale weiterentwickelte, stehen alle Dimensionen offen — auch Bewegungen nach unten oder hinten sind möglich - mit Pausen, Verdichtungen, mit dynamischen Elementen wie Verzögerung (Ritardando) oder Beschleunigung (Accelerando) und unterschiedlicher Lautstärke (piano-forte) — doch immer im Dialog mit bzw. in der Gruppe. (Vgl. Lüpke 1998, S. 4)

Abschließend kann formuliert werden, dass Dialoge in der EMP auf verschiedensten Ebenen beobachtet werden können. Dies legt auch den Schluss nahe, dass es diese Dialoge als Voraussetzung für musikalische Prozesse in der Gruppe braucht.

Im Rahmen der theoriegeleiteten Praxisanalyse konnten Dialoge auf unterschiedlichsten Ebenen beobachtet, jedoch nicht immer ausreichend beschrieben werden. Vor allem im zwischenleiblichen und im musikalischen Bereich gelang dies nur unzureichend.

Weitere Forschungsarbeiten in folgenden Bereichen wären wünschenswert:

  • Interviews mit musikpädagogischen Lehrkräften über ihre Einschätzungen dialogischen Arbeitens im EMP-Unterricht

  • Videoanalysen mehrerer EMP-Stunden und in unterschiedlichen Gruppen mit dem Fokus auf Vorschlag/Gegenvorschlag zwischen musikpädagogischer Lehrkraft und Gruppe

  • Welche Faktoren können das „Weiterwachsen“ der Dialogspirale begünstigen?

  • Im Dialog mit anderen musikpädagogischen Lehrkräften musikalische Prozesse in ihrem Entstehen und Wachsen zu beobachten und zu beschreiben,

  • um in weiterer Folge den Zusammenhang von dialogischem Arbeiten und Kreativität zu erforschen.

Persönliches Resümee

In dieser mehrmonatigen Auseinandersetzung mit der Forschungsfrage und ihrer möglichen Beantwortung begann sich auch für mich eine Spirale zu entwickeln — jedoch nach unten - mit einer großen Kraft und einem Sog, die mich immer tiefer in diese Materie eindringen ließen: Ich erlebte das Schreiben, neben all den Mühen, als äußerst kreativen und lustvollen Prozess. Und so kam ein Gedanke zum anderen, wurde ein Post-it ums andere zu ungewöhnlichen Tages- und Nachtzeiten beschrieben — und ich kam vom Äußeren des Themas allmählich ins Innere und stieß mit der Beschreibung des „Modells zur Entwicklung eines Dialoges“ auf einen möglichen „Kern“ der Dialogspirale in der EMP. Was bleibt? Ein breites Gefühl der Zufriedenheit und Dankbarkeit und viele neue Türen, die geöffnet, Fragen, die beantwortet werden wollen….

Literaturverzeichnis

ALY, Monika (1995): Nachruf für Professor Adriano Milano Comparetti. In: Janssen, Edda / Lüpke, Hans von (Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Frankfurt am Main: Mattes Verlag. S. 13 — 15.

ALY, Monika (1995): Therapiekorrektur-Versuch einer persönlichen Bilanz. In: Janssen, Edda / Lüpke, Hans von (Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Frankfurt am Main: Mattes Verlag. S. 86-94.

BEIDINGER, Werner (2002): Vom Erlebnis zum Ergebnis. Elementare Musikpädagogik als methodenintegrierendes Konzept. In: Ribke, Juliane / Dartsch, Michael (Hrsg.): Facetten der Elementaren Musikpädagogik. Erfahrungen, Verbindungen, Hintergründe. Band 9. Regensburg: Con Brio Verlag. S. 279-292.

BERGER, Ulrike et al. (2004): Spiel und Klang. Die Musikalische Früherziehung mit dem Murmel Lehrerband. Kassel. Gustav Bosse Verlag.

BUROW, Olaf-Axel (1999): Die Individualisierungsfalle. Kreativität gibt es nur im Plural. Stuttgart. Klett-Cotta Verlag.

DARTSCH, Michael (2001): Erzieherinnen in Beruf und Freizeit. Eine Regionalstudie zur Situation von Fachkräften in Tageseinrichtungen für Kinder. Opladen. Leske und Budrich Verlag.

DARTSCH, Michael (2010): Mensch, Musik und Bildung. Grundlagen einer Didaktik der Musikalischen Früherziehung. Wiesbaden. Breitkopf & Härtel Verlag.

DUMMERT, Renate (2004): Elementares Komponieren mit Kindern. In: Ribke, Juliane / Dartsch, Michael (Hrsg.): Gestaltungsprozesse erfahren-lernen-lehren. Texte und Materialien zur Elementaren Musikpädagogik. Band 11. Regensburg: Con Brio Verlag. S. 74-79

GORDON, Edvin E. (2003): A Music learning theory for newborn and young children. GIA Publications. Chicago

JANSSEN, Edda (1995): Vorwort. In: Von der „Medizin der Krankheit“ zu einer „Medizin der Gesundheit“. In: Janssen, Edda / Lüpke, Hans von (Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Frankfurt am Main: Mattes Verlag. S. 5-6.

JUNGMAIR, Ulrike E. (1992): Das Elementare. Zur Musik- und Bewegungserziehung im Sinne Carl Orffs. Mainz: B. Schotts Söhne Verlag.

JUNGMAIR, Ulrike E. (1997): Elementare Musikalische Erziehung — das wirkliche Lernen. In: Niermann, Franz (Hrsg.) : Elementare Musikalische Bildung. Grundfragen. Praxisreflexionen. Unterrichtsbeispiele. Wien. Universal Edition Verlag, S. 54-64.

KELLER, Wilhelm (1962): Elementare Musik- Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Jahrbuch des Orff-Instituts. Mainz. B. Schotts Söhne Verlag. S. 31-35.

KLÖPPEL, Renate, VLIEX, Sabine (1992): Helfen durch Rhythmik. Verhaltensauffällige Kinder erkennen, verstehen, richtig behandeln. Freiburg. Verlag Herder.

KOMU Konferenz der österreichischen Musikschulen (2008): Elementare Musikpädagogik an Musikschulen in Österreich und Südtirol. Kefermarkt: Weinberg Verlag.

KORNBERGER Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten (2001): Qualität im Dialog entwickeln. Wie Kindertageseinrichtungen besser werden. Seelze/Velber. Kallmeyer’sche Verlagsbuchhandlung.

LAMNEK, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 4. Auflage. Weinheim Basel. Beltz Verlag.

LANGMAACK, Barbara / BRAUNE-KRICKAU, Michael (1989): Wie die Gruppe laufen lernt. Anregungen zum Planen und Leiten von Gruppen. Ein praktisches Lehrbuch.3 Auflage. München. Psychologie Verlags Union.

LITT, Theodor (1952): Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. Stuttgart. Verlag Ernst Klett.

Von LÜPKE, Hans (1998): Der stimmige Moment — Zur Dynamik von Entwicklungsprozessen. Verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/beh2-98dynamik.html (Stand 2014-02-18).

Von LÜPKE, Hans (2006): Der Dialog in Bewegung und der entgleiste Dialog. Beiträge aus der Säuglingsforschung und Neurobiologie. Verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/luepke-dialog.html (Stand 2014-02-18).

Von LÜPKE, Hans (2013): „Ich versteh’ dich.“ — „Nein Danke!“. In: Flieger, Petra / Plangger, Sascha (Hrsg.): Aus der Nähe. Zum wissenschaftlichen und behindertenpolitischen Wirken von Volker Schönwiese. Neu Ulm. AG Spak. S. 144-150.

MILANI COMPARETTI, Adriano (1985): Von der „Medizin der Krankheit“ zu einer „Medizin der Gesundheit“. In: Janssen, Edda / Lüpke, Hans von (Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Frankfurt am Main: Mattes Verlag. S. 16-27.

NIERMANN, Franz (Hrsg.) (1997): Elementare musikalische Bildung. Grundfragen, Praxisreflexionen, Unterrichtsbeispiele. Wien. Universal Edition Verlag.

ORFF, Carl (1931): Musik aus der Bewegung. In: Deutsche Tonkünstlerzeitung. Heft Nr. 554. Berlin. Verlagsanstalt deutscher Tonkünstler A.G. S. 239-240.

ORFF, Carl (1963): Das Schulwerk — Rückblick und Ausblick. In: Jahrbuch des Orff-Instituts. Mainz. B. Schotts Söhne Verlag. S. 13-20.

PRENGEL, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Auflage. Wiesbaden. Verlag für Sozialwissenschaften.

PRZYBORSKI, Aglaja, WOHLRAB-SAHR, Monika (2010): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 3., korrigierte Auflage. München. Oldenbourg Verlag.

RIBKE, Juliane (1995): Elementare Musikpädagogik. Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept. Band 3. Regensburg: Con Brio Verlag.

RIBKE, Juliane (1998): Elementare Musikpädagogik als Beitrag zur Persönlichkeitsbildung. In: Niermann, Franz (Hrsg.) : Elementare Musikalische Bildung. Grundfragen. Praxisreflexionen. Unterrichtsbeispiele. Wien. Universal Edition Verlag, S. 45 — 53.

RIBKE, Juliane, DARTSCH Michael (Hrsg.) (2002): Facetten der Elementaren Musikpädagogik. Erfahrungen, Verbindungen, Hintergründe. Band 9. Regensburg: Con Brio Verlag.

RIBKE, Juliane, DARTSCH Michael (Hrsg.) (2004): Gestaltungsprozesse erfahren-lernen-lehren. Texte und Materialien zur Elementaren Musikpädagogik. Band 11. Regensburg: Con Brio Verlag.

RIEMANN, Fritz (2003): Grundformen der Angst. 35. Auflage. München. Reinhardt Verlag.

ROGERS, Carl R. (1981): Der neue Mensch. Stuttgart. Klett-Cotta Verlag.

SEELIGER, Maria (2003): Das Musikschiff. Kinder und Eltern erleben Musik. Von der pränatalen Zeit bis ins vierte Lebensjahr. Regensburg: ConBrio Verlag.

SCHNEIDEWIND, Ruth (2011): Die Wirklichkeit des Elementaren Musizierens. Wiesbaden: Reichert Verlag.

STRAßBURG, Hans- Michael (1995): Konsequenzen des Milani-Konzepts für die heutige interdisziplinäre Betreuung von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen. In: Janssen, Edda / Lüpke, Hans von (Hrsg.): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Frankfurt am Main: Mattes Verlag.

TERR, Irmtraud (2013): Resonanz — das Beste wieder finden. Resonanzerfahrungen sind persönlichkeitsprägend. In: Üben und Musizieren 6/2013. S. 23-26

UHDE, Jürgen, WIELAND, Renate (1988): Denken und Spielen. Studien zu einer Theorie der musikalischen Darstellung. Kassel: Bärenreiter Verlag.

WITOSZYNSKYI, Eleonore (1997): Improvisieren und Gestalten mit Musik, Bewegung, Bild und Sprache. In: Niermann, Franz (Hrsg.) (1997): Elementare musikalische Bildung. Grundfragen, Praxisreflexionen, Unterrichtsbeispiele. Wien. Universal Edition Verlag. S.150-156.

Anhang

Transkription EMP1 „Musimauslied“

Transkription EMP 2 „Bewegungseinstieg“

Vorbereitung und Lied

Beobachtungsprotokoll

Quelle

Christine Knoll-Kaserer: Die Dialogspirale von Milani Comparetti in der Elementaren Musikpädagogik

Bachelorarbeit; Leopold - Franzens - Universität Innsbruck; Fakultät für Bildungswissenschaften; Institut für Erziehungswissenschaft; bei Priv. - Doz. Dr. Petra Reinhartz Bibliographische Angaben / Zweckinformation und eventuelle weitere Hinweise.

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 10.06.2015

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation