Bewegungsorientierte Frühförderung mit Familien - das Tübinger Konzept

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 113 - 130
Copyright: © Regina Klaes, Renate Walthes 1996

Bewegungsorientierte Frühförderung mit Familien - das Tübinger Konzept

Zu den Konzepten, die sich seit sieben Jahren mit den Anregungen des "Milani-Konzeptes" auseinandersetzen, gehört das Tübinger Forschungsprojekt zur Situation von Kindern mit einer Sehschädigung. Dieses Projekt ist der Verknüpfung von Theorie und Praxis verpflichtet, begreift die Entwicklung beider Seiten als eine Art Koevolution und hat vor allem das Vorschlag-Gegenvorschlag-Axiom Milani Comparettis in vielfältiger Weise umgesetzt. Das Tübinger Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung mit Familien gilt heute in der Frühförderlandschaft als eines der innovativsten. Nicht nur wegen der ungewöhnlichen Praxis, wie sie in dem Modell der Eltern-Kind-Kurse bereits angesprochen wurde, sondern vor allem wegen der anderen Sicht- und Verständnisweisen, wegen des für Sonder- wie für Bewegungspädagogik neuen theoretischen Ansatzes und dessen Konsequenzen.

Wenn wir Ihnen im folgenden das auf Behinderung im je sozialen Kontext, auf Familie, und auf Fachleute bezogene Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung vorstellen, dann in dem Wissen, daß eine so kurze Darstellung auf vieles verzichten muß, was in der Realisierung des Konzeptes jedoch unverzichtbarer Bestandteil ist, so z.B. sich Zeit lassen, um Kinder und Eltern in ihren Handlungsweisen verstehen zu lernen. Im Austausch mit ihnen, nicht nur zu reden, sondern gemeinsam etwas zu tun, in einen handelnden, bewegten Dialog einzutreten und darin jede Bewegung (sei sie auch noch so klein, wie z.B. die Augenbewegung oder das Fingerspiel beim Säugling) als einen Vorschlag zu begreifen, der einer Resonanz bedarf, um als Eigenaktivität, als wirksames Handeln im Dialog erlebt werden zu können.

Bausteine des Konzepts

Inhaltsverzeichnis

Zunächst werden wir Ihnen anhand der Begriffe Bewegung, Behinderung und Problem einige wesentliche Bausteine des theoretischen Grundgerüstes darstellen. Wenn Ihnen nach diesem Kurzabriß deutlich geworden ist, warum das Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung Bewegung in den Mittelpunkt stellt, und warum wir mit Familien zusammenarbeiten, dann hat dieser Durchgang seinen Zweck erfüllt. An einem Beispiel wollen wir im zweiten Teil unsere konkrete Vorgehensweise veranschaulichen und Ihnen daran anschließend das Kernstück unserer Arbeit, das Modell der Eltern-Kind-Kurse skizzieren. Im letzten Teil unserer Darstellung stellen wir dann in der Verschränkung der beiden zentralen Aufgaben des Projekts, der Konzeptionsentwicklung und der "Untersuchung zur Situation von Familien mit einem blinden, mehrfachbehinderten oder sehbehinderten Kind" einige Erkenntnisse der Projektarbeit vor (vgl. Walthes et al. 1994; Klaes 1994).

Bewegung

Bewegung war und ist der Ausgangspunkt unserer Arbeit, gewissermaßen das Zentralkristall, von dem aus sich die einzelnen Elemente des Konzeptes in Theorie und Praxis koordinieren und ihre jeweiligen Zusammenhänge bilden.

Bewegung wird in ihrer Bedeutung für die Auseinandersetzung der Person mit ihrer Umgebung und damit in ihrer Bedeutung für Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis betrachtet. Bewegung stellt in der dem Konzept zugrundeliegenden Theorie die Basis für Wahrnehmung und Erkenntnis dar, und diese Basis kann man nicht radikal genug denken. Wie phänomenologische und gestalttheoretische Wahrnehmungstheorien, so geht auch die von uns vertretene sogenannte "Theorie der virtuellen Bewegung" von M. Palagyi davon aus, daß Bewegung den Beginn eines zirkulären Prozesses von Wahrnehmen, Bewegen, Erfahren und Erkennen darstellt. Ohne Selbstbewegung, so die Grundannahme, gibt es keine Wahrnehmung der Außenwelt. Bewegung ist in der kindlichen Entwicklung der Schlüssel für die Unterscheidung von Selbst und Fremd, sie ist das Medium, das innere Prozesse wie Empfindungen und Spannungen erleb- und erfahrbar macht, uns mit der Umwelt in Kontakt bringt und hält, und über das wir uns mitteilen können. Sie ist die wesentliche Bedingung für den Aufbau von Wahrnehmung, Identität und Kommunikation.

Die Unterscheidung zwischen Selbst und Fremd, zwischen mir und dem, was mich umgibt, stellt allgemein eine wichtige Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung und den Prozeß der produktiven Realitätsverarbeitung dar. Um zur Unterscheidung von Selbst und Fremd gelangen zu können, ist Bewegung notwendig, so der ungarische Wahrnehmungstheoretiker M. Palagyi (1924). Ein Wesen, das zu keiner Bewegung fähig sei, könne nicht zwischen sich und dem, was es umgibt, unterscheiden, könne daher nicht wahrnehmen. Nur in der Bewegung und der damit verbundenen Möglichkeit, sich selbst und Dinge außerhalb von sich selbst zu berühren, sieht er die Basis für diese Unterscheidung gegeben (vgl. 1924, S. 13ff. und Roth 1994, S. 282).

In der Selbstberührung wird die Bewegung des Berührens (als aktiver Prozeß) und das berührt werden (als passiver Prozeß) gleichzeitig erlebbar. Berühre ich hingegen einen fremden Gegenstand, fehlt das gleichzeitige Erleben von Selbst und Fremd. Diese grundlegende Unterscheidung differenziert sich im Zuge weiterer Bewegungs- und Wahrnehmungsaktivitäten aus, sie ist sozusagen die Keimzelle, von der aus das Kind sich immer weitere Wahrnehmungs- und Bewegungshorizonte erschließen kann. Wahrnehmung wird hier also als Prozeß mehr oder weniger starker innerer und äußerer Mitbewegung verstanden, der nicht mit dem Erreichen einer bestimmten Entwicklungsstufe beendet ist. Daß uns dieser Prozeß nicht gegenwärtig ist, liegt an der Dominanz der visuellen Wahrnehmung, deren Bewegungsgrundlage stark schematisiert ist, so daß wir Erwachsenen sie nur noch in außergewöhnlichen Situationen wahrnehmen, zum Beispiel wenn wir neue Bewegungen lernen oder wenn wir uns verschätzen (vgl. dazu Walthes 1991a, S. 37).

Wie sich durch Bewegungsunfähigkeit visuelle Wahrnehmungen verändern können, deren Bewegungsbezug uns nicht mehr bewußt ist, veranschaulichen Untersuchungen mit Menschen, die durch Unfall oder Verletzung gelähmt sind. Die Betroffenen berichten, daß sich nach einer längeren Zeit ihre Raumwahrnehmungen veränderten. So sagten viele, die Wände hätten keinen Abstand mehr vom Bett, sie würden die Tiefe, den Abstand zwischen Bett und Wand, von dem sie wüßten, daß er da sei, nicht mehr sehen (vgl. Plügge 1967, 1970; Sacks 1989).

Bewegung spielt daher nicht nur für das Wahrnehmen-Lernen in der frühen Kindheit eine entscheidende Rolle, sondern der zirkuläre Prozeß von Wahrnehmung und Bewegung kann in jeder neuen Situation belebt und aktiviert werden.

Diese Beispiele sollen veranschaulichen, daß Bewegung im Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung nicht nur die Voraussetzung der Wahrnehmungen, Erfahrungen und Kommunikationen darstellt, sondern daß sie zugleich auch durch diese gestaltet, modifiziert, hervorgebracht wird. Wir verstehen die Bewegungen einer Person, die Art wie sie geht und steht, wie sie mit Dingen und anderen Personen umgeht als Ausdruck ihrer je individuellen Erfahrungs-, Selbstorganisations- und Erlebnisgeschichte. Als solche beschreibt jede Bewegung die Art und Weise, wie eine Person sich zu ihrer Umwelt und umgekehrt wie sie ihre Umwelt zu sich in Bezug setzt (vgl. dazu Klaes u. Walthes 1995).

Ausgehend von dem Interesse am Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung scheint die Entscheidung für eine Personengruppe, für die Wahrnehmung ein explizites Thema ist, folgerichtig. Doch ist sowohl aus der Entstehungsgeschichte des Projektes als auch aus der konkreten Projektarbeit ersichtlich, daß das spezifische Interesse an der Bedeutung der Bewegung für blinde Menschen, und das allgemeine Interesse an der Bedeutung der Bewegung für den Aufbau von Wahrnehmung sich Hand in Hand entwickelt hat. Entscheidend ist bei dieser Interessenskoalition auch nicht die Überprüfung der Reichweite der Theorie anhand eines Extremfalls wie Blindheit, sondern die Möglichkeit, den Prozeß der Wirklichkeitskonstruktion blinder, seh- oder mehrfachbehinderter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener mit Hilfe der theoretischen Annahmen über den Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung besser verstehen und mitgestalten zu können.

Geht man davon aus, daß Bewegung die Basis für Wahrnehmung und Erfahrung und für jede Form des Unterscheidens darstellt, dann kann man annehmen, daß "Blind Sein" oder "Anders Sehen Können" Phänomene sind, die die Bedeutung von Bewegung für das Kennen- und Begreifen lernen der Umwelt besonders hervorheben. Dabei ist die Art und Weise der Aneignung von Welt zwischen Sehenden und Nicht-Sehenden nicht prinzipiell, sondern nur graduell verschieden. Sich Bewegen, Tasten oder Hören nehmen in den Wirklichkeitskonstruktionen eines blinden oder sehbehinderten Kindes einen anderen Raum ein, als bei visuell orientierten Menschen. Das bedeutet für Eltern wie für Fachleute, die mit einem Kind mit Sehschädigung zu tun haben: wenn es darum gehen soll, für das nicht oder anders sehende Kind Gelegenheiten zur Erschließung der Umwelt zu schaffen, ist die Umwelt jeweils auf ihre Wahrnehmungsqualitäten hin zu prüfen.

Blindheit oder Sehbehinderung wird damit nicht als die ganz andere für Sehende unbegreifliche Art in der Welt zu sein gesehen, sondern wird als eine Bedingung betrachtet, die eine Person in das Geschehen mit einbringt.

Behinderung

Daß eine Person blind ist, oder sich deutlich anders bewegt, daß jemand Zusammenhänge anders deutet als ich dies tue oder Stimmen hört, die andere nicht wahrnehmen können, ist aus unserer Perspektive keine Behinderung. Es sind Phänomene, d. h. spezifische Bedingungen, die Personen in den Kommunikationsprozeß, d.h. in den Prozeß der Auseinandersetzung mit der Umwelt einbringen. Das Behindernde liegt aber noch nicht in der Spezifik der Bedingungen, liegt nicht in der Schädigung als solcher; das Behindernde entfaltet sich erst in der sozialen Situation, also in der Beziehungswirklichkeit der Kommunikationspartner und ist daher als Prozeß zu verstehen. Wenn ich mich mit einem gehörlosen Menschen nicht verständigen kann, dann liegt dies nicht nur an seinen durch die Gehörlosigkeit eingebrachten Bedingungen, sondern ebenso an meinen, die Situationen mitgestaltenden Möglichkeiten. Er kann nicht hören und ich verfüge nicht über die ihm verständliche Zeichensprache. Wenn Familien mit einem Kind mit außergewöhnlichen Bedingungen ihre Familiensituation, ihren Alltag als normal beschreiben, dann tun sie dies nicht, weil sie - wie vielfach von Fachleuten unterstellt - die Behinderung ihres Kindes nicht wahrhaben wollen, sondern weil sich möglicherweise in ihrem Alltag, in ihrer Familiensituation Behinderndes nicht einstellt. Das heißt: ob sich Behinderung entfaltet oder nicht, hängt von allen Beteiligten ab bzw. von allen situtationsgestaltenden Faktoren: Personen, Institutionen, Regeln, Umgebungsbedingungen. Wir können daher sagen: Behinderung ist der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit. Behinderung ist nicht Eigenschaft einer Person, sie entfaltet sich im Zwischen, in der Beziehungswirklichkeit (vgl. Klaes u. Walthes 1994, S. 53-56). In diesem Zusammenhang macht es Sinn, eine Unterscheidung von Behinderung und Problem einzuführen.

Problem

Soziale Situationen, in denen sich Behinderung entfaltet, sind solche, in denen es, aus welchen Gründen auch immer, nicht gelingt, die Kommunikationsweisen der Beteiligten so aufeinander abzustimmen, daß gegenseitiges Verstehen möglich wird. In diesen Situationen erzeugen die Dialogpartner Problemwirklichkeiten. Da Probleme die Eigenschaft haben, das Wohlbefinden erheblich zu stören, werden diejenigen, die ein Problem haben, auf die Veränderung der Situation drängen (vgl. dazu Ludewig 1992).

Traditionellerweise wird das Problem aber nicht als eine in und über Kommunikation entstandene Wirklichkeitskonstruktion begriffen, sondern ursächlich auf die Behinderung als Eigenschaft einer Person zurückgeführt. Auf diesem Wege stellt sich das Problem als etwas überdauerndes, höchstens kompensierbares dar. Konsequenterweise richten sich dann alle Veränderungsbemühungen an die Adresse des Kindes. Es wird gefördert, therapiert, trainiert etc.

Selbstverständlich geht es auch uns nicht darum, die Schädigung z.B. im Sinne des Nicht-Sehen-Könnens zu ignorieren. Unser Zugang erlaubt es jedoch die Probleme nicht bei der einen oder anderen Person zu verorten, sondern auf die Kontexte zu schauen, die für die Problementwicklung förderlich zu sein scheinen, die in sozialen Situationen entstehen und gemeinsam mit denen, die dieses Problem formulieren, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

Den drei skizzierten Verständnisweisen Bewegung, Behinderung und Problem ist gemeinsam, daß sie jeweils Relationen, also Beziehungen, in den Blick nehmen. Bewegung steht für die Relation Person/Umwelt, Behinderung für das Verhältnis zwischen einer Person und den jeweiligen situativen Bedingungen, unter denen sie ihr Handeln organisiert, und Problem steht für die Kommunikationsbeziehung zwischen Personen. Zu diesen Grundannahmen kommt noch eine vierte hinzu, die sich aufs Engste mit den drei zuvor genannten verbindet, ein Menschenbild bzw. eine Vorstellung von menschlichem Handeln, die davon ausgeht, daß alles, was eine Person tut, für diese selbst Sinn macht, sonst würde sie es nicht tun.

Handlungsleitende Prinzipien

Inhaltsverzeichnis

In den Rahmen der hier nur skizzierten Grundannahmen des Konzepts der bewegungsorientierten Frühpädagogik fügen sich die Prinzipien ein, die als handlungsleitende Prinzipien für das pädagogische Handeln formuliert wurden. Zwei Gruppen handlungsleitender Prinzipien sollen thesenartig vorgestellt werden. Die erste Gruppe bezieht sich auf die Sichtweise von Kind und Familie, die zweite auf das bereits entwickelte Bewegungsverständnis.

Kind und Familie

  1. Jedes Kind, gleichgültig, ob als behindert bezeichnet oder nicht, hat die Möglichkeit und Fähigkeit, sich produktiv mit seiner materialen und sozialen Umwelt und sich selbst auseinanderzusetzen.

  2. Jedes Kind findet - gewissermaßen vom ersten Atemzug an - seine Auseinandersetzungsform mit dieser Umwelt und findet sie ständig neu.

  3. Jede Familie findet ihre Beziehungs- und Interaktionsmuster vom ersten Tag an und findet sie ständig neu.

  4. Für beide, Kind und Familie, machen die gefundenen Strukturen und Muster Sinn, sonst würden sie diese nicht beibehalten. Sie konstruieren ihre Wirklichkeit.

  5. Jede Profession in der Frühförderung hat ihre Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster. Mit diesen konstruiert sie ihre Wirklichkeit und konstruiert sie mit jeder Familie neu. Diese Wirklichkeitskonstruktion, d.h. die Art und Weise der Wahrnehmung und Deutung von Situationen, wirkt auf die Situation selbst zurück und gestaltet sie. Die in der Frühförderung Tätigen müssen sich als Teil dieser Wirklichkeitskonstruktion mitreflektieren und können sich nicht als außerhalb stehende, neutrale Beobachter begreifen.

  6. Die Aufgabe der Professionellen in der Zusammenarbeit mit einer Familie besteht darin, die Strukturen und Muster der Wirklichkeitskonstruktion zu verstehen und Alternativangebote zu entwickeln.

  7. Ob diese Angebote von Kind oder Familie angenommen werden, liegt in deren Entscheidung. Es wird davon ausgegangen, daß sie nur diejenigen Umweltimpulse integrieren, die ihrer eigenen Logik und Struktur entsprechen. Aufgabe von pädagogischer Intervention ist es, über das Bereitstellen von Umweltdeutungsangeboten die Selbsthilfepotentiale von Kind und Familie zu stärken.

Bewegung

  1. Die Grundlage, der Gegenstand und das Medium der Auseinandersetzung mit der Umwelt ist Bewegung. Jede Bewegung eines Kindes wird als Vorschlag verstanden, den das Kind in die Situation einbringt. Ein solcher Vorschlag ist - um sich ausgestalten und differenzieren zu können - auf einen Gegenvorschlag angewiesen. Bewegung bedarf, um als Gestaltungsprinzip wirken zu können, dieses Dialogs (vgl. Milani Comparetti u. Roser 1982, S. 77-88).

  2. Jede Bewegung als Vorschlag des Kindes wird als authentische, für das Kind sinnvolle Bewegung gesehen. Es wird nicht nach einfachen Ursache-Wirkungszusammenhängen gesucht, sondern nach den Bezügen gefragt, die durch den Bewegungsvorschlag hergestellt werden.

  3. Bewegung wird als Wegweiser für die Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Umwelt begriffen. Sie gibt Auskunft über die Ausschnitte von Wirklichkeit, die in das Tun einbezogen werden.

  4. Die Bewegung des Kindes als Vorschlag für seine Konstruktion von Wirklichkeit verstehen zu wollen, heißt auch, dem Kind ein Verstehen-Können und -Wollen meiner Gegen-Vorschläge zuzugestehen. Diese Gegenvorschläge dürfen nicht nur verbaler Art sein, sondern sollten vielmehr die Ebene mit einbeziehen, die dem kindlichen Vorschlag entspricht, die Ebene der Bewegung. Trete ich auf dieser Ebene in einen Dialog mit dem Kind ein, dann stehen meine Bewegungen und mein Bewegungsverständnis ebenso zur Disposition wie die des Kindes.

  5. Identitätsbildung und Aufbau von Selbstbewußtsein werden als Prozesse verstanden, deren Basis das Vertrauen in die eigenen Bewegungen darstellt. Diese Bewegungen haben daher unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Zusammenarbeit von Eltern und Fachleuten

Welche Konsequenzen hat ein solches Grundgerüst für die konkrete Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern?

Lösungsorientierte Zusammenarbeit

In der Kooperation mit den Familien gehen wir davon aus, daß das zum Thema gemacht wird, was Anliegen der Familie, der Eltern ist. Eltern sind aufgefordert den Alltag, das Leben mit ihrem Kind zu gestalten; nur wenn ihre Fragen; ihre Themen; ihre Probleme zum Gegenstand der Zusammenarbeit gemacht werden, kann unseres Erachtens eine Unterstützung hilfreich sein.

Wir nehmen nicht an, daß mit dem Nicht-Sehen-Können eines Kindes zwangsläufig bestimmte Probleme in einer Familie zirkulieren; das heißt, wir haben auch keinen Stufenplan einer "richtigen" Verarbeitung dieses Phänomens im Kopf. Daß es so etwas wie sich häufende Themen oder sogar typische Problemkonstellationen gibt, liegt unseres Erachtens darin begründet daß die Familien in ein ähnliches Netz von Regelungen, Strukturen und Institutionen eingebunden sind, und den gesellschaftlichen Ansprüchen gemäß mit Sichtweisen konfrontiert werden, was und wie ein Kind mit spezifischen Eigenheiten zu sein und zu werden habe. Diese, und nicht die Eigenheit des Kindes sind der häufigste Anlaß für die Entstehung von Problemen.

Wenn Eltern ein Problem haben, dann wünschen sie sich die Veränderung einer Situation, für die sie im Moment keine Lösungsmöglichkeit sehen. Wir als Fachleute, die um Hilfe angefragt sind, sind nützlich, wenn wir die Eltern bei der Lösung ihres Problems unterstützen können. Wie sieht ein solcher Prozeß konkret aus?

Nehmen wir einmal folgende Situation an: Eltern wenden sich an uns mit der Frage und Bitte, etwas gegen die "Stereotypien" ihres Kindes zu tun.

Mit Hilfe unseres theoretischen Grundgerüstes haben wir ein Verständnis von scheinbar monoton sich wiederholenden Bewegungen oder Verhaltensweisen entwickelt, das diese nicht als Stereotypien pathologisiert, sondern als sinnvolle Handlungsstrategie des Kindes begreift. In dem Sinne, als sie z.B. für das Verstehen von Zusammenhängen, für die Sicherheit der Wiederholbarkeit, für das Erleben von Aktion und Reaktion bedeutsam sind.

Etwas als Stereotypie zu pathologisieren, macht von diesem Verständnis aus zunächst einmal eine Aussage über die Verstehensweise desjenigen, der dies sagt (also hier die Eltern). Es macht keine Aussage über das, was das Kind tut, geschweige denn, darüber, was diese Bewegung für das Kind bedeutet.

Unser Vorgehen sieht nun folgendermaßen aus: Zunächst klären wir gemeinsam mit den Eltern die Bedingungen, die die Bewegung zum Problem werden lassen. Das heißt, wir fragen danach, wann sie von wem beobachtet wird, wer was zu dieser Bewegung sagt, wen sie in welcher Situation stört usw. Diese Klärung kann bereits ergeben, daß die Bewegung keineswegs situationsunabhängig auftritt, sondern an spannende und aufregende oder auch an Situationen gebunden ist, in denen wenig geschieht. Sie kann ergeben, daß die Bewegungen des Kindes zu Hause kein Problem sind und hier auch in ihrer Auftretenshäufigkeit gar nicht eingeschätzt werden können, daß sie aber immer dann zum Problem werden, wenn andere Personen hinzukommen, die - seien es Freunde, Bekannte oder auch Fachleute - die Eltern auf das Vorhandensein einer Stereotypie aufmerksam machen.

Sind solche Bedingungen geklärt, dann ist es gemäß der Prämisse von der Sinnhaftigkeit allen Tuns unsere Aufgabe, gemeinsam mit den Eltern, den Bedeutsamkeiten des kindlichen Tuns nachzukommen. Diese andere Brille, durch die wir gemeinsam die Bewegungen des Kindes betrachten, läßt uns oft neue Elemente in dieser Bewegung entdecken, die auch uns Erwachsenen sinnvoll erscheinen, z.B. kleine Variationen, minimale Intensitätsveränderungen, situationsangepaßtes Verhalten, usw.

Von dem Druck der Pathologisierung befreit, muß die kindliche Handlungsweise nicht unterdrückt oder umgelenkt werden, vielmehr ist es möglich, sie dem Kind als seine Auseinandersetzungsform zu lassen. Dies hat vermutlich Auswirkungen auf das Selbsterleben des Kindes. Es erfährt Zutrauen zu seinen Strategien, einen akzeptierenden Umgang mit den von ihm gewählten Handlungen - unseres Erachtens eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Sind zudem die Bewegungen bei den Eltern nicht länger angstbesetzt und ist den Situationen die Spannung genommen, hat dies sicherlich auch Auswirkungen auf die Art und Weise wie Eltern mit den Bewegungen ihres Kindes umgehen.

Sie können sich diesen zirkulären Prozeß sicherlich selbst weiter ausmalen und daran erkennen, daß es sich hier nicht um randständige, sondern um zentrale Themen des Miteinanderumgehens handelt. Nun muß es trotz aller Umdeutungs- und Verstehensversuche nicht, bzw. nicht notwendig dabei bleiben, die Bewegungen des Kindes einfach so hinzunehmen, wenn sie Mutter oder Vater stören bzw. wenn Eltern die Idee haben, die vom Kind gefundene Bewegung könnte erweitert bzw. in andere Zusammenhänge gestellt werden. Ein Verstehen der Bewegungen des Kindes ist jedoch auch hier eine gute Bedingung für die Entwicklung von Alternativangeboten. Ob z.B. aus dem ständigen Tür auf/Tür zu ein Tür- und Raumerkundungsspiel wird, oder aus dem Hüpfen auf der Stelle ein Tanzen mit unterschiedlicher rhythmischer Gestaltung, ob Schlagbewegungen in Trommelformen übergehen, oder Fingerbewegungen im Kneten einen anderen Bezug finden, stets wird durch andere Kontexte die Bewegung in einen neuen Zusammenhang gestellt und kann damit neue Sinndimensionen gewinnen.

"Modell der Eltern-Kind-Kurse"

Familien sehen sich im Zusammenhang mit der Verschiedenheit / Behinderung ihres Kindes mit Auffassungen, Regelungen und Maßnahmen auf der Seite vieler Fachleute, Institutionen und auch ihres privaten Umfeldes konfrontiert, die zur Entstehung neuer Probleme mehr beitragen, als daß sie bestehende lösen. Dies kann man als ein wichtiges Ergebnis unserer Untersuchung zur Situation von Familien mit blinden, mehrfachbehinderten oder sehbehinderten Kindern festhalten (vgl. Klaes u. Walthes 1994, S. 350-367).

Wir konzentrieren uns auf die Sorgen und Probleme, die die Eltern äußern und versuchen, die Eltern mit Hilfe von bewegungsorientiertem Tun, von Gesprächen und in einem anderen als dem häuslichen Umfeld bei der Lösung ihrer Probleme zu unterstützen.

Dieses andere Setting heißt Eltern-Kind-Kurse und bedeutet konkret, zwei Wochen gelebter, nicht alltäglicher Kursalltag von sieben bis acht Familien und ebenso vielen Teamerinnen und Teamern. Die Eltern-Kind-Kurse sind ein neues Modell innerhalb der Frühförderung, sie besitzen eine spezifische Struktur, die unseres Erachtens sowohl auf der inhaltlichen wie auch auf der atmosphärischen Seite geeignete Bedingungen für ein konstruktives und kreatives Miteinander schafft. Das gemeinsame Tun zwischen einer Familie und einer Teamerin steht im Wechsel mit Aktivitäten der ganzen Gruppe. Abendthemen zu Fragen und Themen der Eltern sind kombiniert mit Bewegungs- und Entspannungsaktivitäten, mit Selbsterfahrungseinheiten und individuellen Gesprächen.

Tabelle 1. Sturktur der Eltern-Kind-Kurse

1. Woche

Vormittags

Nachmittags

Abends

Samstag

Anreise

Eingewöhnung

Gemeinsames Ankommen

Sonntag

Eingwöhnung

Teambesprechung

Einführung

Montag

Großgruppe

Familienbez. Tun

Gemeinsame Planung der Abendthemen

Dienstag

Familienbez. Tun

Team

Bewegungsthema "Großgruppe"

Mittwoch

Großgruppe

Familienbez. Tun

Gesprächsthema "Kinder verstehen"

Donnerstag

Familienbez. Tun

Team

Austausch der Eltern

Freitag

Familienbez. Tun

Großgruppe

Bewegungsthema "Wahrnehmung-Bewegung"

2. Woche

Vormittags

Nachmittags

Abends

Samstag

Familienbez. Tun

Großgruppe

Gesprächsthema "Wahrnehmung"

Sonntag

Team

Team

"Halbzeitgespräche

Montag

Großgruppe

Familienbez. Tun

Austausch der Eltern

Dienstag

Familienbez. Tun

Team

"Bewegungsdialoge"

Mittwoch

Großgruppe

Familienbez. Tun

Gesprächsthema "Kindergarten Schule"

Donnerstag

Familienbez. Tun

Team

Bewegungs- und Gesprächsthema B.o.F.F.[a]

Freitag

Großgruppe

Familienbez. Tun

Abschlußabend

[a] Bewegungsorientierte Frühförderung mit Familien

In den sogenannten Halbzeitgesprächen wird den Themen der Familie in einem ausführlichen Gespräch zwischen Eltern und Teammitglied viel Raum gegeben.

Der Austausch der Eltern untereinander sowie das Erleben ihrer Kinder im Umgang mit anderen Kindern, mit oder ohne Sehschädigung, sind zentrale Momente der Eltern-Kind-Kurse. So haben wir oft die Erfahrung gemacht, daß sich die Geschwistersituation durch das Erleben anderer Geschwisterkonstellationen bzw. durch den Umgang vieler Kinder miteinander deutlich entspannt und verändert hat.

Das interdisziplinäre Team, zu dem die Mutter eines älteren blinden Kindes zählt, in dem ansonsten Personen aus den Berufsfeldern Bewegungspädagogik, Rehabilitation, Sonderpädagogik, Krankengymnastik, Beschäftigungs-, Musiktherapie und Logopädie vertreten sind, hat während der Eltern-Kind-Kurse jeden zweiten Tag 3 bis 4 Stunden Gelegenheit zur Besprechung, zur Supervision, zur weiteren Planung und interdisziplinären Zusammenarbeit. Da in gemeinsamen Aktionen in der großen Gruppe mit allen, viele Möglichkeiten der wechselseitigen Beobachtung bestehen, sind die Chancen für einen Austausch, für konstruktive Kritik und das Entwickeln von Alternativen groß. Jedes Team-Mitglied kann sehr unmittelbar und direkt von den Kompetenzen der anderen profitieren.

Wir sind derAuffassung, daß diese intensive Teamarbeit wesentlich zum Gelingen der Eltern-Kind-Kurse beiträgt. Die konstruktive Zusammenarbeit der Teammitglieder, der enge Austausch sowie die gemeinsame Ideenentwicklung bildet das Kernstück des Modells der Eltern-Kind-Kurse.

Die Eltern-Kind-Kurse sind etwas ausführlicher in dem Tagungsband der Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung dargelegt (vgl. Walthes 1991 b, S. 109-114). Wir möchten hier lediglich auf vier Punkte hinweisen, die aus der Sicht des Teams bzw. der Konzeptentwicklung bedeutsam sind.

1) Eltern-Kind-Kurse bieten u.E. ein Setting, das es den Eltern erlaubt, ohne ständiges Vergleichen und ohne Konkurrenzdruck von den Möglichkeiten und Kompetenzen der anderen Eltern zu profitieren. Unsere Erfahrung zeigt, daß Eltern diese Möglichkeiten intensiv nutzen.

2) Eltern-Kind-Kurse stellen für Kinder, mit und ohne Sehschädigung, einen Rahmen für einen neugierigen, anregenden Umgang mit anderen Kindern und anderen Erwachsenen sowie mit neuen Umgebungsbedingungen dar. Auch wenn vierzehn Tage gemeinsames Leben von 30-40 Personen unterschiedlichen Alters für alle recht anstrengend sind, so haben wir mit einer Ausnahme doch nur von positiven Wirkungen eines solchen Kurslebens gehört (vgl. Walthes-Friton 1993).

3) Eltern-Kind-Kurse bieten einen Umgang mit Bewegung an, der fern ab von einer Klassifizierung in richtig oder falsch, gut oder schlecht, darauf bezogen ist, Spaß und Freude am Sich-Bewegen zu entdecken und Zutrauen in die eigenen Bewegungsmöglichkeiten zu gewinnen. Diese Herangehensweise ermöglicht es den Kindern oftmals, völlig neue Erfahrungen zu machen und Dinge zu tun, die sie entweder bisher abgelehnt hatten, oder die sie nicht kennen lernen konnten, weil auf Seiten der Erwachsenen keine Idee davon entwickelt werden konnte, daß ihr Kind "so etwas" überhaupt lernen könnte. Daß Eltern und andere Erwachsene keine Vorstellung davon entwickeln können, wie solche Bewegungen von blinden oder sehbehinderten Kindern gelernt werden, liegt häufig daran, daß sie die gekonnte Bewegung, gewissermaßen das fertige Produkt vor Augen haben und dieses zu den von ihnen antizipierten Möglichkeiten ihres Kindes nicht in Beziehung setzen können. Dabei geht es um sehr viel mehr als um die Technik, um das Beherrschen einer Fertigkeit, es geht um die Erfahrungen und Erlebnisse im Prozeß des Bewegens und Lernens. Das kann die Erfahrung der schweren Rollschuhe beim Gehen im Gras sein, oder das spannende Experiment einen beweglichen Boden unter den Füßen zu haben, der in seiner Instabilität dazu auffordert, Strategien der Stabilisierung zu entwickeln, oder auch die Erfahrungen des wackeligen Kajaks im Schwimmbad. In dem praktischen wie gedanklichen Austausch darüber, welche umfangreichen, und nicht welche eingeschränkten Erfahrungsmöglichkeiten blinde, mehrfachbehinderte oder sehbehinderte Kinder besitzen, wenn man ihnen geeignete Bedingungen zur Verfügung stellt, bieten Eltern-Kind-Kurse eine sehr große Hilfestellung und rüsten Eltern und Kinder mit dem nötigen Know-how aus.

4) Eltern-Kind-Kurse zeigen allen, Kindern, Eltern und dem Team immer wieder, daß es trotz völlig unterschiedlicher Voraussetzungen der Kinder wie der Erwachsenen möglich ist, Situationen, Spiele, Bewegungsthemen gemeinsam zu gestalten. Dies gelingt dann, wenn alle die Situation nach ihren Möglichkeiten Mitgestalten können. Daher machen wir bei den Eltern-Kind-Kursen jedesmal die Erfahrung, daß Integration von Alt und jung, Groß und Klein, dieser oder jener Verschiedenheit gelingt.

Resonanz des Konzepts

Die Untersuchung zur Situation von Familien mit einem Kind mit Sehschädigung, von der ersten Antragstellung an gefordert, war aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten erst 1991 und 1992 durchführbar. Die dadurch für traditionelles Forschungsdesign unübliche Situation, daß nämlich konzeptionelle Arbeit geleistet werden mußte, bevor die Situation ausreichend untersucht war, hat heute, im Rückblick ein unschätzbaren Vorteil.

Wir wissen heute, daß unser Konzept ein für die Bedürfnisse und Probleme der Eltern passendes, ein gewünschtes und ein geeignetes ist. Dies wissen wir nicht nur, weil Eltern, die an den Eltern-Kind-Kursen teilgenommen haben, uns dies immer wieder sagen. Wir wissen dies nicht nur, weil Eltern in der Untersuchung unsere Arbeits-, Denk- und Handlungsweise als ungewöhnlich, anders und ausgesprochen hilfreich dargestellt haben. Wir wissen dies vor allem auch, weil die Eltern, die unsere Arbeit nicht kannten, in der Untersuchung Bedürfnisse beschreiben, Probleme benennen und Wünsche äußern, auf die unser Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung antwortet. Die Untersuchung zur Situation von Familien mit einem blinden, mehrfachbehinderten oder sehbehinderten Kind kann daher als eine Überprüfung der von uns entwickelten Konzeption gesehen werden. Die Bedürfnisse, die Eltern äußern und in der Zusammenarbeit mit uns eingelöst sehen, sowie die Probleme, die diejenigen Eltern beschreiben, die keinen Kontakt zur Projektarbeit hatten, beziehen sich auf folgende Zusammenhänge:

a) Auf die Art und Weise, wie sie als Eltern gesehen werden möchten - nämlich als kompetente Partner, als Personen, die Verantwortung für ihr Kind übernommen haben, die von Beginn an in der Lage sein mußten und dies auch waren, den Alltag mit ihrem Kind zu gestalten und die daher über das größte Wissen in Bezug auf ihr Kind verfügen.

b) Sie beziehen sich ferner auf den Umgang mit ihren Familienthemen. Eltern wünschen sich in der Auseinandersetzung mit ihren Themen von Fachleuten ernstgenommen zu werden und wünschen sich, daß ihr Anliegen nicht vorschnell als mangelnde Akzeptanz der Behinderung, als Überbehütung, als Festhalten wollen und nicht loslassen können, als Therapieabhängigkeit usw. abqualifiziert wird. Unsere Untersuchung hat gezeigt, daß ein großer Teil der Probleme, die zwischen Eltern und Fachleuten entstanden sind, darauf beruhen, daß die unterschiedlichen Sichtweisen, Rollenverständnisse, Erwartungen und Ansprüche aneinander nicht aufeinander abgestimmt werden. Auch hier erweisen sich die meisten Probleme als Kommunikationsprobleme.

c) Die in den Interviews geäußerten Anliegen beziehen sich auf die Themen, die Eltern haben. Eltern erhoffen sich bei ihren Fragen und Problemen eine Unterstützung darin, ihr Kind in dem, was es tut, besser verstehen zu können. Hier sehen sie sich von vielen Therapie- und Fördermaßnahmen enttäuscht, die, statt sie in diesem Verstehensprozeß zu unterstützen, einseitig mit dem Kind etwas tun und glauben, den Eltern einen besseren, richtigeren Umgang mit dem Kind zu zeigen. Die sicherlich gute Absicht der Fachleute wirkt hier oftmals kontraproduktiv. Gemeinsame begleitende Beobachtungen des Kindes, Analysen von Videoaufnahmen, praktischer Nachvollzug der kindlichen Bewegungshandlungen und gemeinsame Deutungsentwicklung sind Methoden, mit denen wir in den Eltern-Kind-Kursen versuchen, den Verstehensprozeß zu unterstützen.

d) Sie beziehen sich vor allem auf den Umgang mit dem Kind. Eltern beschreiben in den Interviews einen Umgang der Fachleute mit ihrem Kind, den sie als defizitorientiert, überwiegend auf die Behinderung bezogen, und als klassifizierend, z.B. im Hinblick auf die späteren schulischen Möglichkeiten, erleben. Sie wünschen sich, nicht nur Sonntagsreden, sondern im konkreten Umgang, wie auch im Gespräch über ihr Kind, eine Haltung, die ihr Kind als Person mit Fähigkeiten und Möglichkeiten sieht und ihr Kind als Kind versteht.

Die Unterschiede, die das Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung gerade im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Eltern und Fachleuten eingeführt hat, beziehen sich unseres Erachtens auf folgende Faktoren, die insbesondere in den Eltern-Kind-Kursen eine große Rolle spielen:

1) den Faktor Zeit: zwei Wochen Zeit zu haben, Themen zu besprechen, gemeinsam zu spielen, zu beobachten, das Erlebte überschlafen zu können und alles am nächsten Tag noch einmal neu anzuschauen, nimmt viel Druck aus der Situation und trägt zur Entspannung bei;

2) den Faktor gemeinsamer Alltag: Kinder, Eltern und Team erleben sich während der zwei Wochen in völlig unterschiedlichen Situationen. Im gemeinsamen Tun, beim Essen, in der Mittagspause, morgens nach dem Aufstehen, abends bei einem Glas Wein, usw. kann offensichtlich das Kompetenzgefälle, das sonst von beiden Seiten aufgebaut wird, nicht erst entstehen.

3) Über das gemeinsame Bewegen von Kindern, Eltern und dem Team entsteht ein völlig anderer, ein vitaler und von wechselseitiger Akzeptanz getragener Kontakt zwischen Eltern und Fachleuten. Dieser stellt das entscheidende Moment für die Zusammenarbeit, auch über die zwei Wochen Eltern-Kind-Kurs hinaus, dar.

Die Resonanz der Familien auf das in diesem Projekt entwickelte Angebot, wie auch die Ergebnisse unserer Untersuchung zur Situation von Familien mit einem blinden, mehrfachbehinderten oder sehbehinderten Kind zeigen, daß das Konzept der bewegungsorientierten Frühförderung mit Familien als Ergänzung und Erweiterung der bestehenden Angebote im System früher Hilfen eine sehr wichtige Funktion hat, und daß es seine Möglichkeiten über die Sehgeschädigtenspezifik hinaus erweisen sollte.

Das im Rahmen des Projektes von 1989-1994 entwickelte Konzept wird heute vom einem Verein "Bewegung im Dialog - Zentrum für Systemische Bewegungstherapie und Kommunikation" vertreten und in Eltern-Kind-Kursen, Eltern-Kind-Wochenenden und Fortbildungen weitergeführt und weiterentwickelt.

Die zu Beginn der Projektarbeit mit Hilfe des "Milani-Konzeptes" entwickelte Grundstruktur, hat sich nicht nur als ausgesprochen tragfähig erwiesen, sie konnte in vielfältiger Weise differenziert und ausgebaut werden.

Literatur

Foerster H v (1991) Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Watzlawick P (Hrsg.) Die erfundene Wirklichkeit. Piper, München (S. 39-60)

Glasersfeld E v (1991) Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In: Watzlawick P (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Piper, München (S. 16-38)

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Klaes R, Walthes R (1994) Zur Gegenstandskonstruktion der Untersuchung. In: Walthes R, Cachay K, Gabler H, Klaes R (Hrsg.) Gehen, Gehen Schritt für Schritt ... Zur Situation von Familien mit blinden, mehrfachbehinderten oder sehbehinderten Kindern. Campus, Frankfurt

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Quelle:

Regina Klaes und Renate Walthes: Bewegungsorientierte Frühförderung mit Familien - das Tübinger Konzept

Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti.

Herausgegeben von Edda Janssen und Hans von Lüpke im Auftrag des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband e. V., Frankfurt; Dez 1996

(1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 113 - 130

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2005

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