Zum Einfluss von Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation auf die sonder-pädagogische Professionalität in Deutschland und den USA

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Sieglind Ellger-Rüttgardt und Grit Wachtel (Hg.) Pädagogische Professionalität und Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 139–148.
Copyright: © Kiuppis, Pfahl, Powell 2010

Zum Einfluss von Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation auf die sonder-pädagogische Professionalität in Deutschland und den USA

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Bedeutung der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Sonderpädagogik in Deutschland und den USA. Die ICF wurde im Jahr 2001 in englischer Sprache verabschiedet und ist heute in 193 WHO-Mitgliedstaaten offiziell gültig. Sie stellt aus unterschiedlichen Gründen eine große Herausforderung für die Sonderpädagogik dar, insbesondere weil die ICF nicht nur den funktionalen Gesundheitszustand und die Behinderung, sondern auch die Aktivitäten und die Umweltfaktoren von Personen beschreibt. Der Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Überzeugung, dass mit der – in Deutschland wie in den USA bislang ausbleibenden – Umsetzung der ICF die Möglichkeit eröffnet wird, ein teilhabeorientiertes Verständnis von Behinderung auch in der Pädagogik zu etablieren (vgl. z.B. Luder et al. in diesem Band; Simeonsson et al. 2008, Felkendorff & Kunz 2008).

Im Folgenden geht es zunächst um die Fragen, was Klassifikationen sind und welchen Stellenwert sie allgemein für Professionen und Organisationen einnehmen. Anschließend erfolgt skizzenhaft eine grundlegende Charakterisierung der ICF und eine kurze Beschreibung ihrer Rezeption in verschiedenen Disziplinen. Danach geht der Beitrag – schwerpunktmäßig in Bezug auf professionelle Interessensverbände und Klassifikationspolitiken – auf die Frage ein, welche Rolle Klassifikationen im Verlauf der Disziplinbildung und Professionalisierung der Sonderpädagogik in Deutschland und den USA zukamen. Am Schluss wird diskutiert, ob eine weiterreichende Implementierung der ICF in der Pädagogik zu erwarten ist.

Zu der Bedeutung von Klassifikationen und der Rolle der WHO

Klassifikationen, verstanden als Instrumente für die Aufteilung, Einordnung und gewissermaßen auch für die Steuerung der Welt, gehören zum Kernbestand sozialen Lebens. Im Allgemeinen ist die Rede von einer Klassifikation, wenn nahezu das gesamte Wissen eines Bereichs nach methodischen Prinzipien gruppiert wird (vgl. Bowker & Star 1999). Insofern handelt es sich um ein Verzeichnis von Begriffen und Konzepten, die systematisch zusammengestellt und geordnet und darüber hinaus z.B. in Achsen, Dimensionen und Facetten strukturiert sind; hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen einer Nomenklatur und einer Klassifikation (vgl. u.a. Kiuppis 2008, 27ff.).

In der Einleitung eines Handbuchs der WHO zur Internationalen Klassifikation der Krankheiten heißt es: „Classification is fundamental to the quantitative study of any phenomenon“ (WHO 1967, VII). Klassifikationen sind aber nicht nur Grundlage sondern auch wirkmächtige Einflussnehmer auf menschliches Handeln. So wirken sie sich z.B. direkt auf die Qualität des Handelns von Experten aus. Dabei stellen Professionen den institutionellen Kontext dar, in dem Experten im Zuge ihrer beruflichen Sozialisation lernen, relevante Kategorien in einem professionellen Handlungsfeld anzuwenden (vgl. Pfahl 2008). Insofern sind Klassifikationen auch eine wichtige Grundlage professioneller Kommunikation. Jede Institution bedient sich stabilisierender Prinzipien, um die eigene Existenz zu sichern, und eines der wichtigsten dieser Prinzipien ist die Reifizierung sozialer Klassifikationen (Douglas 1986). Für Organisationen im Bildungsbereich sind es im Besonderen Klassifikationen der Schüler, Lehrer und Curricula, sowie des sonderpädagogischen Förderbedarfs, die als institutionalisierte Regelwerke deren Entstehung und als legitim definierten Funktionen überhaupt erst ermöglichen (vgl. Meyer & Rowan 1992, 76ff.). In Bezug auf Wohlfahrtsstaaten lässt sich Klassifizierung als Mechanismus verstehen, der die Vergabe staatlicher Ressourcen (z.B. von Finanzmitteln für sonderpädagogische Förderung) und die Gewährung von Rechten (z.B. für Personen, die als „mit Behinderung“ klassifiziert sind) regelt (Powell 2003). Somit spielt der Prozess der Klassifizierung eine Schlüsselrolle in Lebensläufen bzw. Bildungskarrieren von Personen.

Im weiteren Sinne verstanden, kommt der WHO durch ihre Hauptklassifikationen gesetzgebende Bedeutung zu: Sie hat als Internationale Organisation die Rolle eines „Global Players“ inne, in der sie in Kooperation mit anderen Internationalen Organisationen, Professionellen, nationalen und lokalen Behörden, Ämtern, Agenturen und Experten Paradigmenwechsel konstruiert und institutionalisieren hilft (vgl. Fuchs & Schriewer 2007, 145f.; Kiuppis 2008, 13ff.). In dieser Rolle verbreitet sie ihre Klassifikationen als „soft law“ (vgl. Mörth 2004; Jacobsson & Sahlin-Andersson 2006). Das heißt, dass wir es bei den Klassifikationen der WHO mit global konsentierten bzw. für nahezu allgemeingültig erklärten Leitlinien zu tun haben, die zwar nicht im engeren Sinne rechtsverbindlich sind, die aber zu einem weitgehend obligatorischen Prinzip erhoben und offiziell als Standard angeordnet werden.

Während die andere „große Klassifikation“ der WHO, die (verkürzt) so genannte „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ (ICD), schon seit Jahrzehnten in der sonderpädagogischen Praxis breite Anwendung gefunden hat, stellt sich die Frage, ob und wie die ICF, die neben der zehnten Revisionsfassung der ICD (ICD-10) als zweite Referenzklassifikation der WHO gilt, ebenfalls in der Pädagogik angewandt werden kann.

Es spricht vieles dafür, die ICF – komplementär zur ICD-10 – in der Bildung anzuwenden: Ein Vorteil besteht darin, dass durch die ICF ein Gegengewicht zur ICD-10 zur Entfaltung kommen würde, das nicht als medizinische Klassifikation im klassischen Sinne charakterisierbar ist. Vielmehr wird die ICF als eine staaten-, system- und disziplinübergreifende Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der Aktivitäten und der Umweltfaktoren von Personen verstanden. Wie erste Erfahrungen bei der Umsetzung der ICF im Bildungsbereich zeigen, eignet sich die ICF zum Beispiel als Basis für Diagnoseverfahren im Zusammenhang mit „schulischen Standortgesprächen“ (Hollenweger & Lienhard-Tuggener 2003) oder als Hilfe bei Erhebungen von Lernständen einzelner Schülerinnen und Schüler (vgl. Moser & Hollenweger 2008).

Dennoch spiegeln diese Beispiele nicht annähernd den Umsetzungsstand der ICF im Bildungsbereich wider. So haben sich, abgesehen von wenigen Ausnahmen, die Profession der Sonderpädagogik und ihre Ausbildungsstrukturen bis heute nicht der Herausforderung gestellt, die die ICF für sie bedeutet. Nach wie vor orientiert sich die sonderpädagogische Professionalität stark an den defizitorientierten Konzepten, wie sie etwa die ICF-Vorgängerin, die „Internationale Klassifikation der Schädigungen, Behinderungen und Beeinträchtigungen“ (ICIDH) aus dem Jahr 1980 beinhaltet. Eine Vielzahl der Studiengänge für die Ausbildung von Sonder- als auch von Rehabilitations-, Heil- oder Behindertenpädagogen, lehnt sich immer noch an die traditionellen Fachrichtungen mit ihrer Schwerpunktsetzung auf Behinderungsarten und die alte Unterscheidung verschiedener Sonderschultypen an. Die Profession vermittelt damit mehr eine Ausrichtung auf individuelle Zuweisungen von Diagnosen denn ein Denken in Dimensionen entlang des so genannten „bio-psycho-sozialen“ Modells der ICF. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie groß bisher ihr Stellenwert für die Profession der Sonderpädagogik ist.

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)

Mit der ICF liegt, der WHO zufolge, ein komplexes Modell der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit des Menschen vor, mit dem auch Umweltfaktoren, etwa familiäre Ressourcen oder schulische Lerngelegenheiten von Kindern, begriffen werden können. In ihr werden Dimensionen beschrieben, aus denen sich zum einen die Komponenten der Funktionsfähigkeit und zum anderen der Behinderung zusammensetzen, wobei Funktionsfähigkeit als Ressource des Menschen verstanden wird und Behinderung der Begriff ist, der als „negative umbrella term“ bezeichnet wird (WHO 2001, 3f.). Bei der ICF handelt es sich um eine Klassifikation, in der nicht ausschließlich medizinisch bzw. defizitorientiert Krankheiten oder gesundheitliche Schädigungen aufgelistet sind, sondern darüber hinaus auch „positive“ Konzepte und Begriffe, wie z.B. „Partizipation“, womit die Funktionsfähigkeit eines Menschen in seiner sozialen Einbindung gemeint ist; oder „Aktivitäten“, die Funktionsfähigkeit auf der Ebene des Individuums und dessen Tätigkeiten widerspiegeln; oder „Körperfunktionen und -strukturen“, was die Funktionsfähigkeit auf der Ebene des Körpers meint.

Trotz Kritik wird der ICF zunehmend große Wichtigkeit beigemessen, insbesondere in der Medizin und der Psychologie (vgl. Dederich 2007, 140). Und in den Rehabilitationswissenschaften gilt sie inzwischen als das verbindende Bezugssystem für ihre Teildisziplinen, wonach Rehabilitation „als eine gemeinsame, interdisziplinäre Aufgabe zu verstehen [ist], die sich über die ganze Lebensspanne erstreckt“ und ihr Selbstverständnis zu einem Großteil aus dem theoretischen Repertoire des ICF-Bezugrahmens zieht (vgl. Kiuppis 2008, 89). Demgegenüber lassen sich in diesen Disziplinen nur wenige Beiträge finden, die sich gegen den theoretischen Überbau der ICF oder gegen das ihr zugrunde gelegte Vokabular richten. Kritik an der ICF bezieht sich in der Regel konkret auf die Ausgestaltung der in ihr enthaltenen Konzepte und Kategorien, die im Einzelnen nicht ausreichend umfangreich, übersichtlich oder anwendbar konzipiert seien (vgl. u.a. Wehrli 2006). Außerdem wird angemahnt, dass der Einfluss der ICF auf die nationalen Gesetzgebungen allenfalls im partizipationsorientierten Bereich auszumachen ist und in den nationalen Praxen nach wie vor medizinische Modelle vorherrschen (vgl. Maschke 2008). Darüber hinaus wird kritisiert, dass sowohl die Kontexte, die Behinderung erst herstellen als auch die Relationalität des Phänomens Behinderung in den Klassifikationen stärker berücksichtigt werden müssen. Dem ist hinzuzufügen, dass trotz des gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich initiierten Wandels von Behinderungs- und Gesundheitskonzepten bei der Klassifizierung von einzelnen Individuen oder zu Gruppen zusammengefassten Merkmalsträgern gravierende Nachteile bestehen: (a) die Komplexitäten menschlicher Differenzen werden nicht ausreichend berücksichtigt; (b) Personen werden negativ etikettiert und folglich stigmatisiert; und (c) die Mitgliedschaft in bestimmten Kategorien bringt oft wenige oder keine Vorteile für die Betroffenen (Powell 2003; Florian et al. 2006).

Bei genauerer Betrachtung der Rezeption der ICF stellt sich heraus, dass sich zwar die Kategorien der ICF – und insofern die Bestandteile der ICF als Elemente einer „Sprache“ – langsam durchsetzen, das Modell als Ganzes jedoch kaum umgesetzt wird. Weshalb die ICF zwar als Modell in den wissenschaftlichen Disziplinen präsent ist, aber bislang noch keinen konkreten, praxisrelevanten Ansätzen der Sonderpädagogik dient, soll im Folgenden anhand eines Vergleichs ihres bisherigen Einflusses auf die Profession der Sonderpädagogik in Deutschland und den USA skizziert werden.

Sonderpädagogik in Deutschland und den USA

Die transnationale Diffusion der Klassifikationsmodelle der WHO hat bewirkt, dass die Sonderpädagogik die bekannten Klassifikationen ICD-10 und ICIDH im Zuge ihrer akademischen Disziplinbildung im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Grundlage aufgegriffen hat und heute selbstverständlich anwendet. Aufgrund ihrer besonderen Professionalisierungsgeschichte, bei der die wissenschaftliche Disziplin Sonderpädagogik im Anschluss an die professionellen Handlungsfelder entstanden ist, wurden die international anerkannten Klassifikationssysteme erst später und vor dem Hintergrund starker professioneller Handlungsbezüge zur Anwendung gebracht (vgl. MHADIE 2004). Sowohl in den USA als auch in Deutschland wurden bereits vor Beginn des 20. Jahrhunderts, also vor der internationalen Verbreitung der Klassifikationssysteme, spezielle Sonderpädagogen ausgebildet, die an Hilfsschulen, in Sonderklassen und in Anstalten arbeiteten und sich die professionelle Zuständigkeit für bestimmte Individuen und Gruppen von Merkmalsträgern erwarben (Powell im Erscheinen). Die Kategorien der klinischen Disziplinen wurden nachträglich in bestehende Praktiken und Institutionen der Sonderpädagogik eingeführt und dienten als kategoriale Bezeichnungen des vorhandenen, institutionell definierten Klientels (vgl. Pfahl 2008). Dies trifft sowohl auf die Professionalisierung der Sonderpädagogik in Deutschland zu, die stark entlang eigenständiger schulischer Organisationsformen verlaufen ist, als auch für die USA, wo die Behandlung individueller besonderer Bedürftigkeit („special needs“) innerhalb allgemeiner Schulen stattfand (vgl. Powell 2009). Auch die universitären und schulischen Ausbildungsgänge der Sonderpädagogen sind seit Gründung dieser „sekundären Disziplin“ (Stichweh 2004) in beiden Ländern inhaltlich auf den Typ der Sonderschule bzw. auf die Typik der unterschiedlichen Behinderungsarten ausgerichtet. Dabei zeigt die historische Entwicklung der Sonderpädagogik im Vergleich zwischen Deutschland und den USA eine anfängliche Ähnlichkeit, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts einer zunehmenden Divergenz (sowohl in den Klassifikationsraten als auch in den Segregations- Integrationsraten) der sonderpädagogischen Fördersysteme weicht (vgl. Powell 2006; 2007; 2009). Die unterschiedliche Anwendung der Klassifikationen als Begründung und Bezeichnung für Sonderschüler in Deutschland und als Prinzip für planmäßige Ressourcenausstattung von Schülern mit individuellem Förderplan in den USA wird in der (sonder-)pädagogischen Ausbildung gelehrt und gelernt. Der Umgang mit und die Anwendung von Klassifikationen hat somit auch einen bleibenden Einfluss auf Entscheidungen seitens der Lehrer, ob, wie und wozu bestimmte Schüler kategorisiert werden (vgl. Kottmann 2006).

Um im Allgemeinen die Professionalisierung innerhalb der Sonderpädagogik und im Speziellen die Differenzierung der Allgemeinen Pädagogik von der Sonderpädagogik zu verstehen, muss jeweils betrachtet werden, welche Experten mit welchen klassifizierten Schülern arbeiteten. Die Klassifikationen, die verstärkt auch im vor- und nachschulischen Bildungsbereich Anwendung finden, orientieren sich in Deutschland trotz der Definition von sonderpädagogischen Förderschwerpunkten ab dem Jahr 1994 nach wie vor an den Sonderschultypen. Hingegen wurde die im Gesetz festgeschriebene Klassifikation der Beeinträchtigungs- bzw. Behinderungskategorien in den USA seit den 1970er Jahren ausdifferenziert. Damit verbunden wurde der allgemeine Bildungsauftrag von Schulen – die Vorbereitung auf das Arbeits- und Berufsleben – indirekt in die Klassifikationen getragen: Die jeweilige Behinderungsklassifikation gibt damit immer auch Auskunft über den (un-) möglichen beruflichen Lebensweg (Pfahl & Powell 2005; Pfahl 2006; Pfahl 2009). In den USA werden sowohl Individuen, die als (hoch-)begabt gelten, als auch diejenigen, die mit Lernschwierigkeiten eingestuft werden, als „exceptional learners“ in den allgemeinen Schulen gefördert – obgleich teilweise in separaten Klassenzimmern. Die sonderpädagogischen Ausbildungsgänge richten sich dabei ebenfalls an Klassifikationen aus, in diesem Fall an unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen. Allerdings arbeitet die Sonderpädagogik als Disziplin nur begrenzt einer in besonderen Schulen zusammengefassten Klientengruppe zu, sondern entwickelt Modelle zum professionellen Umgang mit individuellen Schülern mit Förderbedarf – an allen allgemeinbildenden Schulen. Die Organisation und individualisierende Ausrichtung der nationalen Fördersysteme unterscheiden sich darin, dass allgemeine Schulen in den USA Schülern einen „Individualized Education Plan“ anbieten, sie jedoch in heterogenen Sonderklassen zusammenfassen.

In Deutschland findet, trotz der Ablösung defizitorientierter Klassifikationen durch pädagogisch-bestimmte Förderschwerpunkte, die Beschulung von Schülern mit besonderem Förderbedarf immer noch zu 84% an Sonderschulen statt (KMK 2008). Die Merkmale einer ICF-basierten individuellen Förderplanung, die sich an Einflüssen der körperlichen Voraussetzungen und der Umwelteinflüsse orientieren, werden in einigen wenigen Staaten ausgelotet (vgl. Luder et al. in diesem Band). Die deutsche Entwicklung hin zu Förderschwerpunkten stellt einen Schritt zur individuellen Ressourcenorientierung dar und löst die traditionell defizitorientierte sonderpädagogische Klassifikation teilweise ab. Gleichzeitig bleibt der professionelle Handlungsansatz, die Defizite bestimmter Schülergruppen an Sonderschulen zu kompensieren, für den größten Teil der Sonderpädagogen bestehen, was eine äußerst zögerliche Entwicklung hin zu einer integrativen Individualisierung der Förderung an allgemeinen Schulen zur Folge hat. Die institutionell separierten Handlungsfelder der sonderpädagogischen Profession verstellen den Blick auf die Kontexte aller Schüler und verhindern das kurzfristige Bereitstellen von Unterstützungsleistungen und Ressourcen für einzelne Schüler unabhängig vom Förderort. Der Logik der ICF folgend, müssten alle Schüler anhand ihrer Lebensbedingungen und ihrer Ressourcen zur Teilhabe beobachtet und jeweils individuell unterstützt werden. In den USA müsste die bereits bestehende Infrastruktur individueller Lernförderung an allgemeinen Schulen den Anschluss an komplexe Modelle wie die ICF erleichtern. Eingelöst werden kann dies jedoch erst dann, wenn inklusiver Unterricht tatsächlich stattfindet und nicht, wie in den USA üblich, in den allgemeinen Schulen in Sonderklassen unterrichtet wird.

Professionelle Interessenverbände und Klassifikationspolitiken

Die Disziplinbildung der Sonderpädagogik unterstützend, beteiligten sich die Fachverbände der Profession in beiden Ländern maßgeblich an der wissenschaftlichen Definition und der Weiterentwicklung relevanter Kategorien und haben somit Klassifikationssysteme des sonderpädagogischen Förderbedarfs entlang professioneller Interessen ausdifferenziert und verfestigt. Im Jahr 1898 wurde der Verband deutscher Sonderschulen gegründet, der bis heute die Entwicklung der deutschen Sonderschulerziehung wesentlich beeinflusst (vgl. Möckel 1998). Auch sein funktionales Äquivalent in den USA, das 1922 gegründete Council for Exceptional Children, hat mit seinen 45.000 Mitgliedern national wie international großen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Sonderpädagogik und der Bildungspolitik. Im Unterschied zu anderen Disziplinen, wie etwa der Medizin oder der Psychologie, gibt es sowohl in den US-amerikanischen als auch in den deutschen Verbänden der Sonderpädagogik wenige Hinweise darauf, dass die ICF bisher in den professionellen Empfehlungen, den Publikationen, oder den Ausbildungsangeboten Eingang gefunden hat. Offenbar gibt es vielfältige Gründe für diese Zurückhaltung. Neben den allgemeinen Übersetzungsherausforderungen blockieren die langfristig institutionalisierten Fachsprachen der Professionen eine solche Transformation. In beiden Ländern gibt es statt grundlegenden Wandlungsprozessen eher eine pfadabhängige Weiterentwicklung der Klassifikationen, was in der Persistenz alter Modelle von Behinderung und der darauf aufgebauten (Schul-) Strukturen verdeutlicht wird (vgl. Powell 2007). Darüber hinaus sind zum Teil gravierende regionale Disparitäten ein Indikator für die lokal konstruierte und regional festgehaltene Bedeutung, Interpretation und Zuschreibung der „schulischen Behinderung“ (Powell 2006). Die ausgesprochene Trägheit in Gesetzgebungen und Bildungspolitik auf Länder bzw. state-ebene erschweren eine Flexibilisierung der Ressourcenzuwendung.

Die WHO hat, trotz ihres Status als eine der wichtigsten internationalen Organisationen, die schwierige Lobbyarbeit (noch) nicht geleistet, der es bedarf, um die ICF als Ersatz für etablierte, rein defizitorientierte Klassifikationen durchzusetzen. Dennoch werden internationale wissenschaftliche Netzwerke, wie das Projekt „Measuring Health and Disability in Europe (MHADIE)“, von staatlicher Seite gefördert, um die Anwendung der ICF voranzutreiben (vgl. MHADIE 2004). Auch haben einige disziplinäre Verbände, wie etwa die American Psychological Association, Programme zur Implementierung der ICF etabliert, aber die größten sonderpädagogischen Verbände in Deutschland und den USA haben die ICF bisher in ihren Datenbanken und Publikationen kaum erwähnt, sodass eines der wichtigsten Quellen der möglichen Hilfestellung entfällt.

Mehr Teilhabe durch die Implementierung der ICF?

Die ICF steht zwar in einer Entwicklungslinie mit älteren Klassifikationsmodellen der WHO, in denen Behinderung als Folge von Krankheiten klassifiziert wird (Kiuppis 2008, 41ff.), jedoch nähert sie sich einem sozial-politischen Modell von Behinderung an, in dem die Partizipation – im Deutschen durch den Begriff der Teilhabe ergänzt – an gesellschaftlichen Zusammenhängen berücksichtigt wird. Der Begriff der Funktionsfähigkeit knüpft an messbare Grade von Erwerbsfähigkeit bzw. Integrationsfähigkeit an und re-individualisiert Behinderung und Gesundheit durch seinen leistungsorientierten Fokus. Damit sollen zwar alle Menschen – unabhängig ihrer kulturellen Herkunft – miteinander vergleichbar gemacht werden, jedoch setzt diese Perspektive Personen in einen ökonomischen Verwertungszusammenhang, der äußerst kritisch im Blick zu behalten ist (vgl. Pothier & Devlin 2006).

Die ICF stellt die Disziplin Sonderpädagogik vor die Aufgabe, ihre institutionell vorgegebenen und oftmals eigens entwickelten Klassifikationssysteme zu überdenken und Grundlagen der Konzeption von Behinderung zu reflektieren. So bietet eine grundlagentheoretische und problemorientierte Auseinandersetzung und ggf. Aneignung der ICF eine Möglichkeit für die Sonderpädagogik, einen Zugang zur Unterstützung aller Schüler wissenschaftlich zu etablieren. Ein an der ICF entwickeltes Grundlagenmodell für die pädagogische Sicherung von Lernmöglichkeiten könnte allgemeines und zugleich systematisches Wissen über die Schüler als Individuen bereitstellen, das zudem neue Handlungsfelder für Pädagogen etabliert. Dies dürfte im Zuge des weltweiten Trends zur inklusiven Bildung spätestens beim Verschwinden der sozialstrukturell vorgegebenen Klientengruppen der klassifizierten Sonderschüler notwendig werden und zeigt sich bereits im bestehenden Legitimationszwang der Sonderpädagogik gegenüber der Allgemeinen Pädagogik, der Integrationspädagogik und zunehmend (erst recht) der Inklusionspädagogik. Obwohl die ICF umfassender als bisher die Anerkennung der sozialen Strukturiertheit von Behinderung und Gesundheit darstellt, reicht sie für die Überwindung eines klinischen, naturalisierenden Zugangs zu diesen Phänomenen jedoch nicht aus. Mit ihrer bestehenden Ausrichtung an individuellen Förderlehrplänen und ihrer Expertise für ressourcenarme Schüler ist die Sonderpädagogik als Profession gut vorbereitet, sich an einem notwendigen Dialog über die Verbindung von Funktionsprofilen mit den sozialen Prozessen des Lernens, der schulischen Aktivitäten und der gesellschaftlichen Partizipation zu beteiligen.

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Quelle

Florian Kiuppis, Lisa Pfahl, Justin Powell: Zum Einfluss von Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation auf die sonder-pädagogische Professionalität in Deutschland und den USA

Erschienen in: Sieglind Ellger-Rüttgardt und Grit Wachtel (Hg.) Pädagogische Professionalität und Behinderung. Stuttgart 2010: Kohlhammer, S. 139–148.

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Stand: 01.02.2018

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