Anerkennung und Diskreditierung im Grenzbereich

Überlegungen zur beruflichen Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Autor:in - Andreas Keplinger
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit am Studiengang Sozialarbeit/Sozialmanagement FH JOANNEUM Graz 2007. Fachbetreuung: Rainer Loidl - Keil
Copyright: © Andreas Keplinger 2007

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Eigentlich habe ich gedacht, dass ich kein Mensch bin der an den Anfang seiner Diplomarbeit Dankesworte stellt. Nun erscheint es mir in Anbetracht des Weges, sowie der Zeit, die vergangen, ist jedoch wichtig an dieser Stelle ein paar Zeilen zu schreiben. Die Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten begleitet mich beruflich nun schon eine Weile, worin auch das Interesse am Thema begründet war. Durch diese Arbeit hatte ich die Möglichkeit mich auch auf theoretischer Ebene mit der Thematik auseinanderzusetzen. Die wichtigste Quelle für die vorliegende Arbeit waren die fünf InterviewpartnerInnen, die sich viel Zeit für mich genommen haben und meine oft komplizierten Fragen geduldig beantwortet haben. Bei ihnen möchte ich mich an dieser Stelle ganz besonders bedanken.

Ein besonderer Dank gebührt an dieser Stelle meiner Freundin Regina, meinen beiden Töchtern Maja und Anika, meinen Eltern, Geschwistern und meinen Freunden, für die ich in den letzten Monaten weniger Zeit gehabt habe und die mir trotzdem mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Danke auch an meinem Betreuer Rainer Loidl - Keil der mich mit viel Geduld bei der Entstehung dieser Arbeit begleitet hat.

[...] weil Anerkennung ist das allerwichtigste im Leben, weil wenn du keine Anerkennung bekommst von jemanden, dann würd sich´s auch nicht bringen, dass du etwas arbeitest.

Mein Traum wäre, mit einer Frau in einer Privatwohnung zu leben - also ein normales Leben

führen zu können

PS: Leider ist es aus "zeitlichen Gründen" nicht möglich, die Arbeit in leichte Sprache zu übersetzen. Da ich weiß, wie viel Arbeit dies bedeuten würde, setze ich mir dies auch nicht zum primären Ziel. Als Konsequenz dessen, und um allen interessierten LeserInnen einen Einblick in die "Überlegungen zur beruflichen Sozialisation" zu gewährleisten, wurde das "Abstract" in leichter Sprache verfasst.

Zusammenfassung

Diese Diplomarbeit handelt von der "beruflichen Sozialisation" von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Die Wissenschaft sagt: Sozialisation ist die Entwicklung der Persönlichkeit. Also alle Sachen, die einen Menschen zu dem machen, was er ist: Erziehung, Freunde, Arbeit, Politik, Natur, Wohnen und vieles anderes. Forscherinnen und Forscher interessiert es, wie Menschen mit Lernschwierigkeiten leben. Sie schauen, ob es Schwierigkeiten gibt und wie man etwas besser machen kann. Sie wollen neue Ideen entwickeln. Die Gesellschaft soll dadurch beeinflusst werden.

Menschen mit Lernschwierigkeiten wissen, dass es für sie schwer ist, eine Arbeit zu finden. Es ist auch schwierig, sie zu behalten. Deshalb will die Forschung vieles genau wissen: Wo arbeiten diese Menschen? Was arbeiten sie? Was bedeutet es, im Beruf Lernschwierigkeiten zu haben? Wie wirkt das alles zusammen? Die Wissenschaft weiß, dass jeder Mensch verschieden ist. Ziel dieser Diplomarbeit ist es, mehr über diese Menschen und ihre Arbeit zu erfahren. Dazu wurden fünf erzählende Interviews geführt. Die Menschen haben erzählt, dass es ihnen oft gut geht. Manchmal ärgern sie sich sehr. Das Taschengeld in der Beschäftigungstherapie ist wenig. Sie haben zuwenig Zeit. Sie dürfen nur wenig selbst entscheiden. In diesem Buch wird versucht, diese Lebensgeschichten wissenschaftlich zu verstehen.

Menschen mit Lernschwierigkeiten können viel selbst tun. Sie wollen dort unterstützt werden, wo sie es brauchen. Es gibt viele Schwierigkeiten. Bücher von anderen Wissenschaftern haben die Schwierigkeiten manchmal erklärt. Sie schreiben, dass es immer weniger Arbeit für alle geben wird. Es wird für Menschen mit Behinderungen noch schwerer, eine Arbeit zu finden.

Die interviewten Menschen erzählten, dass es oft Probleme mit der Zeit gibt. Das ist wirklich eine schwierige Sache. Die Gesellschaft tut sich sehr schwer, wenn jemand Probleme mit der Zeit hat. Sie glaubt, dass er oder sie dann nicht erwachsen ist. Elias, ein berühmter Wissenschafter hat das erforscht (ebd., 1988). Er hat gesagt, die Menschen sollten sich wieder mehr Zeit lassen. Die Menschen lassen sich aber immer noch nicht Zeit! Menschen mit Lernschwierigkeiten wollen gleichberechtigt sein. Das ist das wichtigste Ergebnis dieser Forschungsarbeit.

1 Einleitung

Der "beruflichen Sozialisation" von Menschen mit Lernschwierigkeiten, oder so - genannter "geistiger Behinderung" ist bisher in Österreich von Seiten der Sozialwissenschaften wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Generell kann festgestellt werden, dass der Wissensstand über diese Gruppe sehr gering ist. Weder ist die Anzahl der Betroffenen bekannt, noch weiß man etwas über ihre Lebensumstände. Generell ist die Frage, wer denn diese Menschen nun sind, ungeklärt. Im Rahmen der durchgeführten Recherchen konnten weder qualitative noch quantitative Befunde erhoben werden, die diese Fragen in Teilen intersubjektiv nachvollziehbar geklärt hätten.

Die vorliegende Arbeit kann diese Fragen aller Voraussicht nach (das sei hier vorweggenommen) nicht auflösen. Viel mehr war eine Erkenntnis des Forschungsprozesses, dass Menschen mit so genannter geistiger Behinderung nicht in der Form als Gruppe fassbar sind, wie wir üblicherweise Menschen in Kategorien einzuordnen pflegen. Menschen mit blauen Augen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit ...; den Personenkreis, den die Bezeichnung "Menschen mit Lernschwierigkeiten", wie Menschen mit so genannter "geistiger Behinderung" in dieser Arbeit, angelehnt an die Forderung des europäischen "People First Netzwerkes", genannt werden, umspannt, klar abzugrenzen, ist auf Grund der individuellen Unterschiede von Menschen nicht möglich.

Bei den geführten Erhebungen und Auswertungen galt es nicht, die zentrale Kategorie "Lernschwierigkeiten" oder "geistige Behinderung" zu klären und aus dem heraus eine einheitliche Perspektive zu entwickeln. Viel mehr stand der Mensch mit dem, was ihn ausmacht, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Abseits von Zuschreibungen wurde, nach dem Grundsatz der Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten "People First", der Mensch ins Zentrum der Untersuchungen gerückt und die Frage beleuchtet, wie verschiedene Menschen ihre Sozialisationsbedingungen erleben und erlebt haben.

Im Rahmen der Arbeit an den "Überlegungen zur beruflichen Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten" wurden Interviews mit verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Biografien und Charakterzügen geführt, und sie haben ihre Geschichte, und wie sie diese erlebt haben, erzählt. Dass der Mensch im Zentrum von Überlegungen zu dessen Persönlichkeitsentwicklung stehen muss, wurde dadurch bestätigt. Nicht blaue Augen oder ein krankes Herz (vgl. AAMR, 2002) charakterisieren einen Menschen. Viel mehr macht seine Vielfalt ihn zum individuellen Menschen.

Die Sozialwissenschaften untersuchen das Individuum in seinem Verhältnis zur Gesellschaft. Um Rückschlüsse auf Lebensbedingungen zu ziehen ist es nötig für die wissenschaftliche Beleuchtung dieser "gesellschaftliche "Subsysteme" als Bezugspunkte zu erkennen. Die Lebenssituationen von Menschen mit Lernschwierigkeiten sind nicht allesamt vergleichbar. Bei den hier angestellten Überlegungen wurden trotzdem institutionelle Zusammenhänge, von denen sie betroffen sind, in einem hohen Maß berücksichtigt.

Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die (berufliche) Sozialisation von Menschen zu beleuchten, die mehr oder weniger Chance haben, bzw. hatten, an der Gesellschaft teilzuhaben. Dies stellt einen Schritt dar, den Bedingungen, die Arbeit und Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten prägen, auf den Grund zu gehen und daraus hervorgehend Überlegungen anzustellen, wie sich die Situation möglicherweise weiterentwickeln wird bzw. welche Konsequenzen die soziale Arbeit daraus ziehen könnte.

Die Motivation, der Frage nach der Lebenssituation von Menschen mit Lernschwierigkeiten mit dem besonderen Fokus auf ihrer "Arbeitsbedingungen" wissenschaftlich auf den Grund zu gehen, entstand im Speziellen im beruflichen Kontext. Zum einem zeigt jeder Arbeitstag aufs Neue, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten gänzlich unterschiedlich sind und die BeraterInnen sehr flexibel sein müssen. Zum anderen war festzustellen, dass viele Menschen, die Berufsberatung in Anspruch nahmen, von der Situation am Arbeitsmarkt überfordert waren und am allgemeinen Arbeitsmarkt zu wenig Schutz und Hilfestellung, auf dem Sonderarbeitsmarkt (Beschäftigungstherapie) zu wenig Normalität und Existenzabsicherung erfahren (vgl. Markowetz, 2007, S. 269). Die alltäglichen Schwierigkeiten in der Beratung sowie der subjektive Eindruck, dass die Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf kein gesellschaftliches Interesse stößt, ließen die Idee reifen, die Sozialisation der Menschen selbst zu untersuchen. Stand zu Beginn des Forschungsprozesses die Frage: "Welche Bedürfnisse haben Menschen mit Lernschwierigkeiten in Bezug auf "Beschäftigungsverhältnisse?", so entwickelte sich, begünstigt durch das gewählte Forschungsdesign der "Grounded Theory" die Frage nach der Sozialisation bzw. nach den Sozialisationsperspektiven von Menschen mit Lernschwierigkeiten und nach dem, wie sie die Welt "erschaffen" würden, wenn es ihnen möglich wäre, zum zentralen Forschungsinteresse.

Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über den Aufbau und die Gliederung der Arbeit gegeben, um Orientierung und ein leichteres "Lesen" zu ermöglichen. Im ersten Abschnitt wird der Frage nachgegangen, wer Menschen mit Lernschwierigkeiten sind. Die Beschreibung der Situation der "People First" Bewegung in Österreich und deren Ziele gewährt einen Einblick in die Thematik und rückt den "Forschungsgegenstand" Mensch ins Zentrum. In einem nächsten Schritt werden gängige medizinische wie gesellschaftliche Definitionen von "geistiger Behinderung" diskutiert, die das Definitionsproblem des "Phänomens" verdeutlichen.

In einem kurzen Exkurs werden die beiden zurzeit in der "Sonderpädagogik" am häufigsten verwendete Begriffe "Inklusion" und "Integration" und ihre aktuelle Bedeutung aus Sicht der Soziologie skizziert.

Im Anschluss daran wird der Forschungsverlauf näher beleuchtet. Von der Entwicklung der Forschungsfrage über das angewendete Design der "Grounded Theory" bis hin zu der Auswahl und den kurzen anonymisierten, biografischen Geschichten der fünf InterviewpartnerInnen, bis zum Vorgehen bei der Datenauswertung, wird der Forschungsverlauf beschrieben.

Das dritte Kapitel behandelt die Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Qualitative Befunde in Bezug zur Theorie geben einen Einblick in die Sozialisation der interviewten Menschen.

Im heute allgemein vorherrschenden Verständnis wird mit dem Begriff Sozialisation der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren. (Hurrelmann, 2001, S. 14)

Hurrelmann betont, dass der "subjektive Faktor", beeinflusst durch Durkheim, in der bisherigen Sozialisationsforschung zu wenig Beachtung fand, bzw. ausgeklammert wurde und der Einfluss, den jeder Einzelne auf die Entwicklung der Persönlichkeit hat, ein beträchtlicher ist - Sozialisationsprozesse aber immer nur auf Wechselseitigkeit basieren können (ebd. S. 64f).

Von der familialen Sozialisation über die schulische, in deren Rahmen den Menschen "letztendlich" ihrer Rolle zugewiesen wird, bis hin zur beruflichen Sozialisation, werden die verschiedenen Ebenen beleuchtet. Besonderes Augenmerk wird neben dem Hauptteil "Arbeit und Beruf" dem Bildungswesen gewidmet, für das nach wie vor gilt, dass die Sonderschule die Schule der Armen ist (vgl. Cloerkes, 2007, S. 95). In Bezugnahme auf berufliche Sozialisationsprozesse wird zuerst die Arbeit soweit als möglich definiert. Im Anschluss daran werden die "Sonderbeschäftigungsverhältnisse" von Menschen mit Lernschwierigkeiten dargelegt. Zum einen die Beschäftigungstherapie und deren strukturellen Bedingungen, zum anderen das "Supported Employment" und als "kleiner" Verwandter dessen, das Modell der Teilqualifizierung.

Der nächste Schritt führt noch tiefer in die Materie. An Hand von verschiedenen Kategorien, die der Begriff "Arbeit" bzw. "Beschäftigung" beinhaltet, werden Auswirkungen auf die Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten untersucht und Konsequenzen für das berufliche Handeln sozialer Arbeit diskutiert. Neben der Existenz- bzw. der sozialen Absicherung, sind bei der näheren Analyse die Kategorien Zeit und Institution bzw. deren Proponenten, in diesem Fall die HelferInnen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Zeit im Speziellen, weil sie als gesellschaftliche Institution den Menschen in großem Ausmaß determiniert und Zeit im Besonderen, weil bei den geführten ExpertInneninterviews, die Analyse des Datenmaterials Belege zu Tage förderte, die einen engen Zusammenhang von "Diskreditierung und Zeit" bei Menschen mit Lernschwierigkeiten erwarten lassen.

Wenn er oder sie es nicht lernt[...],das eigene Verhalten und Empfinden selbst entsprechend der sozialen Institution der Zeit zu regulieren, dann wird es für einen solchen Menschen recht schwer [...]sein, in dieser Gesellschaft die Position eines Erwachsenen auszufüllen. (ebd., 1988, S. XVIII)

Die Sozialisationsrelevanz von Institutionen und das Handeln, der in ebendiesen beschäftigten HelferInnen, ist im nächsten Abschnitt der Fokus der Abhandlungen. Die Untersuchungen von Goffman (1989) zur "totalen Institution" und andere Theoriegerüste unterstützten bei der theoretischen Sättigung der Überlegungen. Die Menschen, die ihre Geschichten für diese Überlegungen zur Verfügung stellten, sind "häufig" lebenslang auf Unterstützung angewiesen. Die Strukturen der Institutionen und auch die Qualität der "Betreuung" stehen im Zentrum.

B: Nein, nicht, aber wie gesagt, es wird halt [von den BetreuerInnen] überall herumgebohrt. Wie ich am Anfang schon gesagt habe: "Es ist halt kein Familienleben." Es wird halt überall geschaut, wo man was falsch macht oder nicht ganz richtig oder...

A: Das heißt, da geht`s auch um erwachsen sein und solche Sachen oder?

B: Ja, ja! Oder es wird gesagt, du musst zum Arzt gehen Blutdruck messen, obwohl ich mich eh gut fühl. Und jetzt mit dem neuen Pflegeding - die müssen jetzt alles aufschreiben. (IV5, S. 21, 15-22)

Im nächsten Schritt werden Überlegungen angestellt, welche Konsequenzen soziale Arbeit in Hinblick auf deren Professionalisierung aus den bisherigen Überlegungen ziehen muss. Das Konzept des "Empowerment" und der lebensweltorientierten Sozialarbeit, prägen - neben dem zentralen Stellenwert der Beziehung für das Gelingen von Helferprozessen (vgl. Schmidbauer, 1999, S. 30) - diese Überlegungen. Das "Supported Employment" und das "Peer Counseling" wird in seinen Grundzügen dargelegt. Die Berichte der befragten Menschen prägen die gesamte Arbeit und weisen den Weg in die Zukunft qualitativer professioneller sozialer Arbeit.

W: Ja, weil wir Klienten mit den Betreuern [...] als Partner zusammen sitzen am Tisch, auch mit der Oberleiterin [...] Es wird auf uns gehört, auf was wir vorschlagen, das wird angenommen, und so was von einer Arbeitsbasis wünsch ich mir extrem. (IV1, S. 18, 24-29)

Im nächsten Kapitel wird die Kernkategorie "GEICH=STELLUNG" behandelt. Zentraler Aspekt aller geführten narrativen Interviews war das Element von Ausgrenzung und Diskreditierung durch öffentliche und private Institutionen, sowie durch Wirtschaftsbetriebe und Individuen. Daran knüpft sich die "Forderung" der befragten ExpertInnen an die Gesellschaft nach Gleichstellung und Anerkennung, die, wenn sie erfüllt wird, ein Mehr an Lebensqualität birgt.

Lebensqualität meint Bereicherung unseres Lebens über den materiellen Konsum hinaus. (Noll, 2004, S. 4f. In Doose, 2006, S. 38)

Im Schlusskapitel werden Überlegungen "zur Zukunft der Arbeit" angestellt und als Konsequenz, wird - in Anbetracht der geführten Erhebungen gepaart mit einer realistischen Sicht auf den zukünftigen Arbeitsmarkt und den realen Chancen von Menschen mit aber auch ohne Lernschwierigkeiten - die Etablierung eines "lebenswerten dritten Arbeitsmarktes", der für Alle offen ist, angeregt.

Im Resümee wird ein Blick zurück auf den Forschungsprozess geworfen. Die wesentlichen Ergebnisse werden kurz dargestellt und einer kritischen Prüfung unterzogen.

Ein Ausblick auf die nächsten Schritte, die noch anstehen, um dem Anspruch an die Arbeit "zuerst der Mensch" gerecht zu werden sei hier vorweggenommen. Mit den InterviewpartnerInnen ist vereinbart, dass die Ergebnisse der Arbeit präsentiert und mit ihnen diskutiert werden, wobei auch die anderen TeilnehmerInnen der "People First" - Selbstvertretungsgruppe in Wien eingeladen werden. Weitere Schritte und eine mögliche Suche nach einem "Sponsor" für eine Übersetzung in leichte Sprache könnten sich daraus ergeben.

2 Wer sind Menschen mit Lernschwierigkeiten

Wir sind Menschen, die nicht "geistig behindert" genannt werden wollen. Wir benutzen den Begriff "Menschen mit Lernschwierigkeiten". (people1., 2007)

Die Forderung, als "Menschen mit Lernschwierigkeiten" bezeichnet zu werden ist eines der zentralen Anliegen der "People First" Bewegung, einem weltweit lose organisierten Netzwerk von Selbstvertretungsgruppen, in denen sich Menschen mit so genannter "geistiger Behinderung" für ihre Anliegen und Rechte einsetzen, sowie gemeinsam Freizeit verbringen.

Wenn im Folgenden von "Menschen mit Lernschwierigkeiten" berichtet wird, sind damit Menschen gemeint, die üblicherweise als "geistig behindert" oder als "lernbehindert" bezeichnet werden. Die Abgrenzung dieser beiden, aber auch anderer Begriffe (Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, - mit besonderen Bedürfnissen, - mit Entwicklungsstörungen, ...) verschwimmt im Alltag zur Gänze und ist auch von wissenschaftlicher Seite nicht geklärt. Der Name "geistige Behinderung" für eine "Bevölkerungsgruppe" von Menschen wird nicht nur von Betroffenenseite, Eltern und Angehörigen kritisiert, sondern auch von namhaften ExpertInnen als diskriminierend abgelehnt (Niedecken, 2003, S. 31f; Doose, 2006, S. 60; Feuser, 1995, S. 268; u.a.).

Um ein Verständnis für die Menschen, mit deren (beruflichen) Erfahrungen und Perspektiven sich diese Abhandlung beschäftigt, zu bekommen, wird in einem ersten Schritt das "Netzwerk People First" und dessen Ziele vorgestellt. Dann wird die Frage, wie von "institutioneller" Seite bzw. in einem großen Ausmaß nach wie vor von der Medizin dominiert, das Phänomen "geistige Behinderung" definiert wird, beleuchtet.

2.1 Die People First Bewegung

"People First" - der Begriff verweist auf das Anliegen von Menschen mit geistiger Behinderung, zuerst als Person gesehen zu werden und die eigenen Vorstellungen und Wünsche selbst zu vertreten. (Kniel, Windisch, 2005, S. 9)

Die ersten Selbsthilfegruppen von Menschen mit Lernschwierigkeiten wurden 1974 in den Vereinigten Staaten im Anschluss an eine Tagung von SelbstvertreterInnen gegründet. Mittlerweile gibt es weltweit viele People First Gruppen, die für Selbstbestimmung kämpfen (vgl. people1., 2007). Seit den 1990´er Jahren sind auch im deutschsprachigen Raum mehrere Selbsthilfegruppen gegründet worden.

Wie andere Selbsthilfegruppen verfolgen auch sie die "Ziele, die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung, Information und Aufklärung, gemeinsames Handeln bzw. gegenseitige Unterstützung und soziale Integration umfassen." (Wohlfahrt, Breitkopf, 1995; Dybwad, Bersoni, 1996; in Kniel, Windisch, 2005, S. 29).

Die zentralen Forderungen wurden im "Gleichstellungsbuch" (Wibs, 2005), das von "Selbstbestimmt Leben Innsbruck (Wibs)", einer Beratungsstelle, in der Menschen mit Lernschwierigkeiten mit Hilfe von UnterstützerInnen "Peerberatung" anbieten, wie folgt veröffentlicht:

Nichts über uns ohne uns

Wir wollen ernst genommen werden!

Wir wollen nicht anders behandelt werden als andere!

Wir wollen über uns selbst bestimmen!

Wir wollen nicht geduzt werden!

Wir wollen respektiert werden!

Wir wollen wie Erwachsene behandelt werden!

Nehmen Sie sich für uns Zeit! (Wibs, 2005, S. 7)

Diese Forderungen umfassen in Grobzügen alle Lebensbereiche von Menschen. Die einzelnen Ausschnitte, wie Arbeit, Wohnen, Sozial- und Gesundheitssystem, Gemeinwesen u. a. werden danach näher erörtert.

Neben dem gesellschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen Ziel der "Gleichstellung" haben "People First" Gruppen auch einen wichtigen sozialen Charakter. Eine repräsentative Befragung von "People First" Gruppen in Deutschland (erfasst wurden alle registrierten Gruppen) zeigte aber klar, dass Gruppenereignisse mit externer Ausrichtung wichtiger, als solche mit interner Ausrichtung eingeschätzt wurden. Aktionen zur Selbstbestimmung wurden als das wichtigste Gruppenereignis gesehen (vgl. Kniel, Windisch, 2005, S. 32). Der politische Charakter der Gruppen dürfte nach Einschätzung dieser Bestandsaufnahme für die TeilnehmerInnen im Vordergrund stehen.

Die meisten Selbsthilfegruppen in Deutschland wurden von den Betroffenen gegründet. Jede zweite Gruppe räumt aber ein, dass professionelle "PädagogInnen" die Initiativen gesetzt bzw. die Gründung unterstützt haben (vgl. ebd., S. 27). Viele Gruppen werden von UnterstützerInnen begleitet, die bei Bedarf in Anspruch genommen werden, bzw. als RatgeberInnen zur Seite stehen.

Über die Situation der People First Gruppen und ihren Organisationsgrad in Österreich ist wenig bekannt. Der diesen Herbst stattfindende Kongress "Wir haben Rechte", veranstaltet von "Vienna People First - gemeinsam ans werk" ist ein erstes kräftiges Lebenszeichen des "People First Netzwerks" auch hierzulande. Auf die Ergebnisse des Kongresses darf man schon gespannt sein. Mit Blick auf die Entwicklungen in Europa kann davon ausgegangen werden, dass sich in Zukunft neue Gruppen etablieren werden und damit die Forderung nach "Selbstbestimmung" lauter wird.

2.2 Was oder wer ist "geistige behindert?

In den People First Gruppen organisieren sich Menschen mit einer so genannten "geistigen Behinderung". Dass diese Personengruppe nicht klar zu definieren ist, hat sich bei der Auswahl und Suche der InterviewpartnerInnen gezeigt. Zum einen definierten sich weder jene, die in People First Gruppen aktiv sind, noch diejenigen, die über den beruflichen Background angefragt wurden, als "geistig behindert", noch als "Menschen mit Lernschwierigkeiten".

A: Ich frag jetzt umgekehrt. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind ja eine Gruppe von Menschen, die sagen, wir wollen nicht mehr geistig behindert genannt werden. Sind Sie mal "geistig behindert" genannt worden.

R: Nein

A: Und haben Sie trotzdem das Gefühl, dass Sie Lernschwierigkeiten haben?

R: Vielleicht habe ich das früher gehabt, aber jetzt nimmer. (IV2,S. 17f, 28-1)

Viel mehr stellen diese den Menschen ins Zentrum, also das Prinzip "zuerst der Mensch". Nichtsdestotrotz werden in diesem Abschnitt Quantifizierungs- und Definitionsversuche "geistiger Behinderung" erörtert, wodurch das Abgrenzungsproblem des Begriffs noch klarer zu Tage tritt.

2.3 "Geistige Behinderung" - quantitativ

Orientiert man sich an den Schätzungen der WHO, kann davon ausgegangen werden, dass in Österreich etwa 40 000 - 48 000 Personen (0,4 - 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung) der Personengruppe "Menschen mit einer geistigen Behinderung" zugeordnet werden könnten. Von diesen sind ca. 30 000 - 35 000 Menschen im erwerbsfähigen Alter. Eine genaue Prävalenz wurde noch nicht erhoben. (vgl. POMONA, 2006, S. 125). Andere Zahlen, wie die der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF), der TeilnehmerInnen einer Beschäftigungstherapie oder der AbsolventInnen einer integrativen Berufsausbildung lassen andere Schlüsse zu, bzw. belegen viel mehr, wie unerforscht bzw. undefinierbar das Phänomen "geistige Behinderung" aus quantitativer Sicht ist. Unten stehende Abbildung veranschaulicht, dass verschiedene Zahlen verschiedene Rückschlüsse, oder eben keine zulassen. Die im Verlauf der durchgeführten Erhebungen angestellten Recherchen unterstützen diese Sichtweise. Zum einen ist es schwer nachvollziehbar, wie viele Menschen aktuell in Beschäftigungstherapie "stehen", da die einzelnen Bundesländer verschieden Parameter anlegen. Schätzungen von MitarbeiterInnen des Instituts für Bildungswissenschaft der Uni Wien gehen von etwa 17 000 Personen (König, Pienetz, 2007, S. 2) aus. Auch die Zahlen bezüglich der SchülerInnen mit SPF divergieren von Quelle zu Quelle und die AutorInnen der Studie Qualität in der Sonderpädagogik (Qsp) stellen fest, dass, die letzten diesbezüglich gesicherten Daten aus dem Schuljahr 2002/03 stammen. Die "Gesamt-SPF-Quote" lag damals bei 3,43% aller SchülerInnen (Specht, 2006, S. 1).

Tabelle 1: "Geistige Behinderung" - quantitativ

Zahlenbereich

Anzahl

Quelle

Gesamtprävalenz (Schätzung)

40.000 - 48.000

POMONA 2006, S. 125

Erhöhte Familienbeihillfe (2001)

62 000

POMONA, 2006, S. 126

Sonderpädagogischer Förderbedarf (2005)

28.978

BMSG, 2006, S. 14

Sonderpädagogischer Förderbedarf (2006)

26.333

Statistik Austria (2007)

vorgemerkte Arbeitslose mit Behinderung

29.767

POMONA, 2006, S. 126

Beschäftigungstherapie

17.000

König; Pienetz 2007

Integrative Berufsausbildung (12/2005)

1.940

BMWA, 2006, S. 1

Bei der Betrachtung dieser Zahlen sticht im Besonderen die Anzahl der Jugendlichen mit SPF ins Auge. Diese hohe und stetig steigende Zahl mit Blick auf die statistische Entwicklung der letzten Jahre, der SchülerInnen mit SPF (vgl. Specht, 2006, S. 2; vgl.Cloerkes, S. 21) nähert sich schon beinahe der Zahl, die von der WHO als Gesamtzahl von Menschen mit "geistiger Behinderung" geschätzt wird, wohingegen die Zahl der Menschen, die in Beschäftigungstherapie stehen, nur etwa 50% der Menschen mit "geistiger Behinderung" beträgt, die laut Schätzungen im erwerbsfähigen Alter sind. Andererseits sind nahezu 30 000 Menschen mit Behinderungen als arbeitslos vorgemerkt. Natürlich gelten weder alle Kinder mit SPF, noch alle Erwachsenen in Beschäftigungstherapie, oder alle beim AMS als arbeitslos vorgemerkte Menschen mit Behinderung, sowie alle BezieherInnen von erhöhter Familienbeihilfe als "geistig behindert". Die Zahlen veranschaulichen aber das quantitative Erfassungsproblem der Prävalenz "geistiger Behinderung".

Abseits dessen sind für diese Arbeit nicht harte Fakten von Nöten, die belegen, wie hoch der Anteil von Menschen mit so genannter "geistiger Behinderung" an der Gesamtbevölkerung ist. Viel mehr verdeutlichen diese Zahlen, wie dehnbar der Begriff ist. Wenn er durch den Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten ersetzt wird, umfasst er ein noch ein breiteres Spektrum. Vereinfacht ausgedrückt würden alle Personen mit SPF in jedem Fall dieser Gruppe zuzuordnen sein und auch individuelle Lernschwierigkeiten, wie sie beinahe jeder Mensch aufweist, wären nicht von vornherein ausgegrenzt. Definitionen, wie die von Feuser beschreiben dies in ähnlicher Form:

Jeder Mensch besteht als historisch einmaliges Subjekt mit all seinem Bedarf und seinen Bedürfnissen, und der Unterschied zwischen mir und einem, den man schwerstbehindert nennt, ist nicht mehr oder weniger als unsere jeweils spezifische Individualität in der gesellschaftlichen Gesamtheit. (ebd., 1995, S. 259).

2.4 Definitionsversuche geistiger Behinderung

Wie oben schon angedeutet, ist "geistige Behinderung" ein Phänomen, das kaum definierbar ist bzw. dessen Definition von verschiedenen Seiten auch abgelehnt wird, da es "geistige Behinderung" nicht gibt (vgl. Feuser, 1996, S. 1). Nichtsdestotrotz gibt es unzählige Versuche, das Phänomen Behinderung und im speziellen "geistige Behinderung" zu definieren. Cloerkes stellt in seinem Standardwerk "Soziologie der Behinderten" fest, dass Behinderung immer relativ ist:

Behinderung ist nichts Absolutes, sondern erst als soziale Kategorie begreifbar. Nicht der Defekt "die Schädigung", ist ausschlaggebend, sondern die Folgen für das einzelne Individuum. (ebd., 2007, S. 9).

Diese Relativität bezieht sich zum einen auf den Faktor Zeit (der Mensch kann zeitlich begrenzt als behindert gelten), zum andern auf die subjektive Verarbeitung (manchmal werden leichte Defizite als sehr katastrophal erlebt, wie z.B. der Verlust des kleinen Fingers, wiederum andere Menschen haben trotz großer Einschränkungen nicht das Gefühl, behindert zu sein). Des Weiteren kommt diese Relativität in den verschiedensten Lebensbereichen zum Ausdruck (am Arbeitsplatz völlig integrierte Menschen erleben sich trotz Behinderung in diesem Bereich als nicht behindert). Zu guter Letzt drückt sich diese Relativität auch in kulturspezifischen Reaktionen aus (was in einer Kultur als behindert gilt, muss woanders nicht so gesehen werden und auch umgekehrt), also darin, wie die Gesellschaft auf einen behinderten Menschen reagiert (vgl. ebd., S. 9f). Diese sehr umfassende Sichtweise von Behinderung zeugt davon, dass sich das Bild derselben in den letzten Jahren dramatisch gewandelt hat, und das Augenmerk nicht mehr wie früher nur auf das Defizit gelegt wird, sondern soziale und psychische Faktoren hinzugefügt wurden.

2.4.1 Das medizinische Modell "geistiger Behinderung"

Die klassische Definition "geistiger Behinderung" und somit auch deren Identifikation findet aber nach wie vor mittels Intelligenztests statt, wie dies auch bei der "International Classification of Diseases" (ICD-10) der Fall ist. Im Kapitel 5 "Psychische und Verhaltensstörungen" geht die WHO in den Kategorien "F70-F79" auf Intelligenzminderungen ein. Sie unterscheidet zwischen leichter (IQ von 50 - 69), mittelgradiger (IQ von 35 -49), schwerer (IQ von 20 -34) und schwerster (IQ unter 20) "Intelligenzminderung" (vgl. medaustria, 2007), und bezeichnet diese, zumindest im deutschen Sprachgebrauch, nach wie vor als "geistige Behinderung". In der englischen Version ist von dieser Begrifflichkeit bereits Abstand genommen worden und "mental retardation" wurde durch "mental subnormality" ersetzt. (vgl. WHO, 2007).

In Deutschland hingegen werden Kinder und Jugendliche mit einem IQ von 55 - 85 dem Grenzbereich zugeordnet und gelten als lernbehindert (vgl. Neuhäuser, Steinhausen, 2003, S. 10f). Dadurch, dass einzelne Länder von den WHO Richtlinien abweichen, besteht nicht einmal auf der Ebene der Definition nach dem Grad der "Intelligenzminderung" Einigkeit im Sprachgebrauch.

2.4.2 Das soziale Modell "geistiger Behinderung"

Neuere Definitionen hingegen beschreiben "geistige Behinderung" als das Ergebnis des Zusammenwirkens von vielfältigen sozialen Faktoren und medizinisch beschreibbaren Störungen. Beispielweise beschreitet die WHO bei der neuen "International Classification of Functions (ICF) andere Wege im Vergleich zum ICD 10 und stellt weniger die Störungen, sondern die Möglichkeiten eines behinderten Menschen in den Vordergrund, die Begriffe Activities (Aktivitäten: Tätigkeiten des Alltags: Freizeit, Arbeit, Kommunikation ...), Participation (Partizipation: Einbindung in eine Lebenssituation wie Arbeit, Mobilität, Gemeinschaft ...), Environmental Factors (Umweltfaktoren: Attraktivität der Wohnumgebung, Lebensstandard, ...), prägen die Klassifizierungen (vgl. WHO-ICF, 2007) und zeigen von einem erweiterten Verständnis von Behinderung.

Der ICF ist hier in Teilen den Definitionsversuchen der American Association of Mental Retardation (AAMR) - der weltweit größten Interessensvertretungsgruppe Angehöriger und Freunde von Menschen mit "geistiger Behinderung" - gefolgt, die immer wieder die aktuellsten Definitionen von "geistiger Behinderung" auf ihrer Homepage veröffentlicht. Die Definition der AAMR orientiert sich am individuellen Hilfebedarf zur Bewältigung kulturspezifischer Anforderungen:

Geistige Behinderung ist nicht etwas, was man hat - wie blaue Augen oder ein 'krankes' Herz. Geistige Behinderung ist auch nicht etwas, was man ist - wie etwa klein oder dünn zu sein. Sie ist weder eine gesundheitliche Störung noch eine psychische Krankheit. Sie ist vielmehr ein spezieller Zustand der Funktionsfähigkeit, der in der Kindheit beginnt und durch eine Begrenzung der Intelligenzfunktionen und der Fähigkeit zur Anpassung an die Umgebung gekennzeichnet ist. Geistige Behinderung spiegelt deshalb das 'Passungsverhältnis' zwischen den Möglichkeiten des Individuums und der Struktur und den Erwartungen seiner Umgebung wider. (Lindmaier, 2004, S. 1)

Mental retardation is not something you have, like blue eyes, or a bad heart. Nor is it something you are, like short, or thin. It is not a medical disorder, nor a mental disorder. Mental retardation is a particular state of functioning that begins in childhood and is characterized by limitation in both intelligence and adaptive skills. Mental retardation reflects the "fit" between the capabilities of individuals and the structure and expectations of their environment.

Mental retardation is a disability characterized by significant limitations both in intellectual functioning and in adaptive behavior as expressed in conceptual, social, and practical adaptive skills. This disability originates before age 18.

Five Assumptions Essential to the Application of the Definition

  1. Limitations in present functioning must be considered within the context of community environments typical of the individual's age peers and culture.

  2. Valid assessment considers cultural and linguistic diversity as well as differences in communication, sensory, motor, and behavioral factors.

  3. Within an individual, limitations often coexist with strengths.

  4. An important purpose of describing limitations is to develop a profile of needed supports.

  5. With appropriate personalized supports over a sustained period, the life functioning of the person with mental retardation generally will improve. (AAMR, 2002)

Die AAMR fordert, "geistige Behinderung" nicht über eine Einteilung in leichte mittlere oder schwere Behinderung zu definieren, sondern viel mehr die Definition der Kompetenzen und Ressourcen, sowie des individuellen Hilfebedarfs. Es werden also nicht die kognitiven Fähigkeiten des einzelnen gemessen, sondern es wird erhoben, welche Kompetenzen der einzelne hat und in welcher Form Unterstützung für die Betroffenen bereitgestellt werden muss, um diesen ein möglichst selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen. Zur Ermittlung dieses Kompetenzprofils werden folgende Kategorien herangezogen:

  • Kommunikation

  • Selbstversorgung

  • Wohnen

  • Sozialverhalten

  • Benutzung der Infrastruktur

  • Selbstbestimmung

  • Gesundheit und Sicherheit

  • Lebensbedeutsame Schulbildung

  • Arbeit und Freizeit

Die Hilfeleistungen werden in vier Unterstützungsgrade eingeteilt:

  • Periodische Unterstützung

  • Begrenzte Unterstützung

  • Ausgedehnte Unterstützung

  • Umfassende Unterstützung (vgl. AAMR, 2002)

Diese Definition, die in den USA auch als die "New Definition" (Lindmeier, 2004, S. 2) propagiert wurde, konzentriert sich, im Gegensatz zu den rein an Intelligenz orientierten Methoden, auf die Passung der Möglichkeiten des Individuum und den Anforderungen und Erwartungen seiner Umgebung (vgl. Neuhäuser, Steinhausen, 2003, S. 10).

Die neueren Definitionen entsprechen zweifelsohne mehr den Gegebenheiten, die Betroffene vorfinden, wobei auch hier die Komponenten noch weiter zu differenzieren wären, wie z.B. nach "Capacity" (Vermögen) oder "Performance" (Umsetzung) (vgl. ebd., S. 11). Klar tritt jedenfalls zum Vorschein, dass soziale Aspekte bei der Definition einer so genannten "geistigen Behinderung" im Zentrum stehen müssen, um den derart "genannten" gerecht zu werden.

Die vorangegangenen Ausführungen und Definitionen von so genannter "geistiger Behinderung" haben gezeigt, dass es keine klaren Definitionen gibt und dass eine derartige auch kaum möglich ist. Alleine schon die Tatsache, dass einzelne Staaten in ihren Definitionen von den ICD 10 Vorgaben abweichen, macht es bei der Lektüre von Fachpublikationen in vielen Fällen schwer möglich, klar zu wissen, von wem gesprochen wird, wenn die Bezeichnung "geistige Behinderung" für eine Gruppe von Menschen verwendet wird.

2.4.3 Zur Bezeichnung "geistige Behinderung"

Neben dem Definitionsproblem tritt auch das Problem der Bezeichnung zu Tage, da weder die Begriffe "mental Retardation" und "intellectual disabilitiy", noch der Begriff "Learning Difficulties" oder auch andere Versuche eine geeigneten Bezeichnung für die Personengruppe zu finden, diese aussagekräftig beschreiben - betroffene ExpertInnen, die Sonderpädagogik wie auch die Soziologie sind diesbezüglich uneins. Auf Grund der Forderung des "People First" Netzwerkes, die Bezeichnung Lernschwierigkeiten, statt "geistiger Behinderung" zu verwenden, habe ich mich in dieser Arbeit für diesen Begriff entschieden. Die Diskussion um die Begrifflichkeit sowie Definition von "geistiger Behinderung" wird sicherlich noch ihre Fortsetzung finden. Als Beispiel sei hier angeführt, dass sich in Europa, ausgehend von England, bei den Betroffenen der Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten - "learning difficulties" (peoplefirst.org.uk; et al.) durchgesetzt hat. Im Gegensatz dazu ziert die amerikanischen People First Homepages der Begriff "developmentally disabled" (people1.org; et al.). Die dynamische Entwicklung der Begriffsdiskussion unter Angehörigen, Betroffenen, sowie auch Wissenschaftern wird zwar durch vorliegende Arbeit nicht beendet werden, grundsätzlich aber sollten in einer demokratischen Gesellschaft deren Subsysteme das Recht haben, sich selbst einen Namen zu geben, was, wenn dieses Recht anerkannt wird, zwangsläufig dazu führt, dass Wissenschaft mit diesen Begriffen operieren muss.

2.5 Exkurs: Integration "versus" Inklusion

In der "Behindertenhilfe" werden seit einiger Zeit die Begriffe Integration und Inklusion sehr kontrovers diskutiert. Eine intensive Beschäftigung mit dieser Thematik würde an dieser Stelle den Rahmen der Arbeit sprengen, weshalb nur kurz der Stand der Diskussion dargelegt wird.

Integration ist Ziel und Weg zugleich. Ziel aller integrativen Bemühungen ist die bestmögliche Teilhabe behinderter Menschen an allen gesellschaftlichen und sozialen Prozessen der "Nichtbehinderten". Vollständige Integration in alle Lebensbereiche ist praktisch unmöglich und kann immer nur in Teilbereichen verwirklicht werden. Das Konzept der Inklusion geht von der "Zwei Gruppen - Theorie" ab und spricht von einer untrennbaren heterogenen Gruppe. In diesem Konzept wird nicht mehr von "Behinderten" oder "Nichtbehinderten" gesprochen. Inklusion ist eine Vision von einer Gesellschaft, die es in Anerkennung der Gleichheit und Verschiedenheit der Menschen erst gar nicht zur Ausgrenzung kommen lässt. Das Konzept der Inklusion umfasst alle Formen von Verschiedenheit (Religion, Herkunft, Behinderung ...). Solange aber Aussonderung stattfindet, sind soziale Integrationsbemühungen auf jeden Fall notwendig. Vor übertriebenen Hoffnungen, die das Konzept der Inklusion auslösen, ist zu warnen. Weder neue Wortschöpfungen, noch der Austausch von Etiketten haben je die soziale Wirklichkeit von behinderten Menschen nachhaltig verbessert. Trotz dieser Vorbehalte ist eine Weiterentwicklung integrativen Handelns hin zu integrativem Denken aus der Sicht der "Soziologie der Behinderten" zu begrüßen. Langfristig ist davon auszugehen, dass der Begriff Integration in der Fachsprache unreflektiert vom Begriff Inklusion ersetzt wird. (vgl. Markowetz, 2007, S. 213ff).

3 Von der Forschungsfrage zum Forschungsverlauf

Die Entscheidung, mit der Bezeichnung "Menschen mit Lernschwierigkeiten" im Rahmen dieser Arbeit zu operieren, wurde von deren Geburtsstunde an zu einer der größten Herausforderungen an den Forschungsprozess. Stand eingangs die Frage "Was ist Menschen mit Lernschwierigkeiten wichtig ist und welchen Stellenwert nimmt Arbeit für sie ein?", so entstand im Vorfeld dessen, um sich überhaupt auf die Suche nach möglichen Antworten zu machen, zu allererst die Frage: "Wer sind denn nun Menschen mit Lernschwierigkeiten?". An dieser Stelle würde es in die Irre führen, zu behaupten, dass diese Untersuchungen eine befriedigende Antwort gefunden hätten. Viel mehr zeigen die Erfahrungen aus Theorie und Empirie, dass es nicht möglich und auch nicht notwendig ist, zu einer eindeutigen Definition dieser Gruppe von Menschen zu kommen. Viel mehr steht der Mensch im Zentrum, das was ihn ausmacht, was ihn bewegt, seine Stärken und Schwächen/Lernschwierigkeiten. An dieser Stelle kann nur erneut mit den Worten Feusers festgestellt werden, dass die Unterschiede zwischen einem, der als schwertbehindert gilt und ihm selbst, nur Ausdruck der Individualität jedes einzelnen Menschen sind (vgl. ebd., 1995, S. 259). Dies unterstreicht die oben skizzierte Sichtweise.

Gerade die Auswahl der InterviewpartnerInnen führte sehr eindeutig vor Augen, wie heterogen die Gruppe "Menschen mit Lernschwierigkeiten" ist. Im Laufe der Erhebungen wurden Interviews mit Menschen geführt, die sich selbst in People First Gruppen engagieren - von denen also davon auszugehen wäre, dass sie sich als Menschen mit Lernschwierigkeiten bezeichnen. Auch anderen "Betroffene", die das öffentliche Hilfssystem in Anspruch genommen haben - denen also zugeschrieben wird bzw. denen in diesem Falle ich zugeschrieben habe, dass sie Menschen mit Lernschwierigkeiten sind, sind befragt worden. Das alleine beschreibt schon, dass möglicherweise zwei Gruppen unterschieden werden können, nämlich in diejenige, der dies zugeschrieben wird und in diejenige, die sich selbst mit dem Begriff "Menschen mit Lernschwierigkeiten" identifizieren kann.

3.1 Die Grounded Theory

Um der Frage auf den Grund zu gehen, was Menschen mit Lernschwierigkeiten im Leben wichtig/wertvoll ist und welchen Stellenwert diesbezüglich Arbeit hat, empfahl sich auf Grund des geringen Wissenstandes der Forschung, ein Vorgehen in Anlehnung an die "Grounded Theory".

Die Grounded Theory wurde von den beiden amerikanischen Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss Anfang der 60er Jahre entwickelt. "Das Ziel der Grounded Theory ist das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstand gerecht wird und ihn erhellt." (Corbin, Strauss, 1996, S. 9). Am Anfang steht nicht eine Theorie, aus der Hypothesen hergeleitet werden, die wiederum überprüft werden. Am Anfang des Forschungsprozesses steht viel mehr eine weite Fragestellung, die im Verlauf der Datenerhebung immer mehr eingegrenzt wird. Es ist eine Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte (grounded) Theorie über ein Phänomen zu entwickeln (vgl. ebd., S. 8). Sie entstammt einer Forschungstradition, in der Ergebnisse auch den Laien, bzw. im speziellen der erforschten Gruppe zugänglich gemacht wird. Auch diese Diplomarbeit richtet sich an PraktikerInnen der sozialen Arbeit, wie an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Nur unter Mitwirkung von Betroffenen kann der Forschungsgegenstand weiterentwickelt werden (vgl. ebd., S. 10). Gemäß dieser Tradition wurden für die Beleuchtung der Forschungsfrage ExpertInnen in eigener Sache befragt und nicht WissenschafterInnen oder SozialarbeiterInnen. Auch der noch ausstehende Schritt, der Präsentation der Forschungsergebnisse und die Diskussion dieser auf besagter ExpertInnenebene hat zum Ziel, die bisher generierten Hypothesen zu verdichten.

Die offene Forschungsmethode bot sich nicht nur an, weil die Zielgruppe unklar zu definieren ist sondern auch weil bisher kaum Forschungsergebnisse vorliegen, die sich mit Fragen der (beruflichen) Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeit befassten. Der erste Schritt weg vom Thema "Arbeit" hin zur nicht definierbaren "Zielgruppe" ermöglichte erst einen Blick darauf, dass keine allgemeine Antwort auf die Frage nach den Werten und im besondere auf den Stellenwert von Arbeit im Leben von Betroffenen gefunden werden kann und dass Sozialisationsprozesse eine zentrale Rolle einnehmen. Zu ergründen welche "beruflichen" Faktoren die Persönlichkeitsentwicklung der interviewten Menschen beeinflussen und welche Schwierigkeiten im Kontext von "Arbeit" auftreten bzw. wie diesen in weiterer Folge entgegnet werden kann, entwickelte sich zur tragenden Forschungsfrage.

3.1.1 Das narrative / erzählende Interview

Wie schon erwähnt wurde zur "Erforschung" der offenen Thematik neben dem Literaturstudium die Methode des Interviews gewählt. Mit fünf Menschen wurden narrative Interviews geführt. Das narrative Interview ist eine Spezialform des qualitativen Interviews, in dem der/die Befragte aufgefordert wird, etwas über den im Gespräch benannten Gegenstand zu erzählen, was voraussetzt, dass die Befragten eine entsprechende Kompetenz besitzen (vgl. Lamnek, 2005, S. 357). Dass betroffene Männer und Frauen die kompetentesten AnsprechpartnerInnen sind, um der Frage nachzugehen, "wer sie sind, was sie bewegt, welche Schwierigkeiten sie haben ...?", muss an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Die Orientierung am Prinzip "der Mensch zuerst", das die Selbstvertretungsgruppen postulieren, ist Grundlage dieser Arbeit. Die Sichtweisen von BetreuerInnen, Angehörigen, sowie WissenschafterInnen wurden bewusst nicht miteinbezogen.

Beim Führen der narrativen Interviews standen biografische Elemente im Vordergrund der Erzählung; "das Erzählen beinhaltet implizit eine retrospektive Interpretation des erzählten Handelns. Damit erscheint das narrative Interview besonders prädestiniert, in der Biografie und Lebenslaufforschung als Methode der Datenerhebung eingesetzt zu werden."(ebd., S. 358) Vorliegende Arbeit betreibt nicht konkret Biografieforschung. Es ist trotzdem davon auszugehen, dass der biografische Zugang in einem ersten Schritt ermöglicht, die meisten Informationen zu Fragen der Sozialisation zu generieren.

Ein Problem, dass diese Methode aber implizit zum Vorschein brachte, war die Heterogenität der Untersuchungsgruppe. Es bestehen große Unterschiede im Kommunikationsvermögen der Zielgruppe, wodurch z.B. die Gruppe von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die der Sprache aus verschiedensten Gründen nicht mächtig ist, vorneweg ausschied. Zudem stellte sich während der Interviews heraus, dass die Befragten teilweise Schwierigkeiten hatten, fließend aus ihrem Leben zu erzählen. Diese Tatsache tritt sicherlich auch bei "Menschen ohne Lernschwierigkeiten" zu Tage. Im konkreten Fall wurde ein pragmatischer Zugang gewählt und verstärkt nachgefragt, auch wenn dies den Verlauf der Erzählphase zwangsläufig beeinflusst hat. Diese Interventionen waren notwendig, um überhaupt zu weitest möglich durchgehenden Informationen über die Biografie der InterviewpartnerInnen zu kommen. Üblicherweise sollte beim narrativen Interview der/die GesprächsleiterI in der Erzählphase vermeiden, nachzufragen oder zu kommentieren. Dies sollte erst in der so genannten Nachfragephase vorkommen, in der offene Fragen geklärt werden, wobei auch in dieser besonders auf die narrative Kompetenz der Befragten zurückgegriffen werden muss (vgl. ebd., S. 359). Diese zu stärken und eine Atmosphäre zu erzeugen, in der die Befragten soweit als möglich von sich erzählen, war bei den Erhebungen zentrales Anliegen.

Das narrative Interview geht davon aus, dass schichtunabhängig narrative Kompetenzen existieren, wobei sozialisations- und persönlichkeitsspezifische Unterschiede zu erwarten sind. Dieses allgemeine Erzählvermögen schafft die Möglichkeit, es in einem sehr breiten Spektrum einzusetzen (ebd., S. 360). Inwieweit nicht auch in anderen Situationen beim narrativen Interview die Situation entsteht, dass der Erzählfluss stockt, kann nicht näher beleuchtet werden. In konkreten Fall bot sich dadurch die Möglichkeit, einen Eindruck über die sehr verschieden ausgeprägten Erzählkompetenzen von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu gewinnen, die die Annahme bestärkten, dass keine allgemeinen Regeln dafür aufgestellt werden können, wer sie sind und auch was ihre "Persönlichkeit" ausmacht.

3.1.2 Der biografische Ansatz

Als Zugang zum Forschungsgegenstand wurde der biografische Ansatz gewählt.

Zentrales Merkmal der theoretischen Voraussetzungen der biografischen Methode ist der Versuch zur Integration von subjektiven und objektiven Faktoren, d.h. es wird davon ausgegangen , dass das Soziale nur als Ergebnis einer ständigen Interaktion des individuellen Bewusstseins und der objektiven sozialen Wirklichkeit gesehen werden kann. (ebd., S. 668)

Dass der biografische Ansatz somit für die Sozialisationsforschung von essentieller Bedeutung ist steht fest. Mit Hilfe biografischer Methoden soll das Zusammenspiel von Individuum und Umwelt geklärt werden. Die beiden wesentlichen soziologischen Zugänge, die durch die Biografieforschung ermöglicht werden, sind die Untersuchung der individuellen Lebensgeschichte und das Auffinden von Regelmäßigkeiten in diesen Biografien sowie "die Identifikation individuell ausgeformter sozialer Phänomene, die Lebensgeschichten strukturieren." (ebd., S. 669)

Biografische Methoden werden bei größeren Forschungsprojekten meist gekoppelt mit anderen Methoden eingesetzt, können aber auch für sich stehen und als hauptsächliche Erkenntnisquelle dienen. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um Forschungsprojekte handelt die dazu dienen Hypothesen zu entwickeln (vgl. ebd., S. 673), wie z.B. im vorliegendem Fall.

  • "Die Biografieforschung eröffnet den Sozialwissenschaften einen Zugang zur sozialen Wirklichkeit, bei dem einerseits die Individualität des Akteurs berücksichtigt bleibt und andererseits diese Individualität sozial verursacht und strukturiert gedacht wird." (ebd. S. 691)

  • Es geht um wissenschaftlich kontrollierten Nachvollzug der individuellen Lebensgeschichte als Handlungsfigur, bleibt aber dort nicht stehen.

  • Es wird versucht ein allgemeines Handlungsmuster heraus zu destillieren: "Individualität wird regelhaft vermutet." (ebd., S. 691)

  • Es wird versucht Lebensgeschichten "sozial bedingt" zu erklären.

  • Biografische Erzählungen sind in der Alltagswelt fest verwurzelt, was zwei Vorteile birgt: Sie schließt erstens am schon erlebten an, weshalb das Thema für den Interviewten weder neu, noch ungewohnt ist. Zweitens wird vom Befragten nicht zum ersten Mal erwartet seine Lebensgeschichte chronologisch strukturiert zu erzählen (vgl. ebd., S. 691f).

3.2 Der Forschungsverlauf

Wie schon festgestellt wurde, gibt es keinen "Prototyp" des "Menschen mit Lernschwierigkeiten". Um mich der minimalen Klärung meiner Frage anzunähern, wurde in einem ersten Schritt ein junger Mann um ein Interview gebeten, der seit mehr als einem Jahr von der Einrichtung, in der ich als Sozialarbeiter beschäftigt bin von einer Arbeitskollegin begleitet wird. Bei der Auswahl des ersten Interviewpartners stand im Zentrum, dass eine gewisse Vertrauensbasis als notwendig erachtet wurde und Vorwissen zur Verfügung stand. So war mir bekannt, dass er sich bereits in Selbsthilfegruppen für Menschen mit Lernschwierigkeiten engagiert hatte und großes Interesse an der Thematik hat. Zudem hat er eine ausgeprägte sprachliche Kompetenz. Ein weiterer Grund, mit diesem Mann das erste Gespräch zu führen war, dass er seit längerer Zeit versucht, am allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und dies aus verschiedensten Gründen nicht gelingt. Aus erwähnten Gründen war zu erwarten, dass sehr detaillierte Auskünfte zu den Schwierigkeiten im Leben des Befragten in Erfahrung gebracht werden und dass er auf Grund seines bisherigen Engagements Stellung zu Fragen der Gleichstellung von Menschen mit Lernschwierigkeiten beziehen wird. Zentrale Kategorie dieses ersten Interviews war der Wunsch nach Anerkennung und Respekt, welcher ihm über weite Strecken seines Lebens verweigert wurde. Um die Menschen, die interviewt wurden ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, werden in Anlehnung an die Interviews die Biografien in aller Kürze in anonymisierter Form in diesen Abschnitt eingearbeitet.

3.2.1 Interview 1 (IV1) - Herr Wotruba

Herr Wotruba kam in die Beratungsstelle zum Interview. Die Umgebung dort ist ihm vertraut und er kommt rasch in einen Erzählfluss. Er ist 24 Jahre alt und lebt in einer eigenen Trainingswohnung, die an eine betreute Wohngemeinschaft angeschlossen ist. Er wurde nach der Geburt zu einer Pflegefamilie gegeben, in der insgesamt zwölf Kinder lebten. Es gab schon sehr früh die ersten Schwierigkeiten und er kam nach der Vorschule in seinem Wohnbezirk in eine Sonderschule. An diese Schule ist eine Hauptschule angeschlossen, in die er mit dreizehn überstellt wurde. Mit 16 absolvierte er dort den Hauptschulabschluss. Nach der Schule musste er auf Grund familiärer Differenzen in eine betreute Wohngemeinschaft übersiedeln und begann gleichzeitig in einer geschützten Einrichtung im Reinigungsbereich zu arbeiten. Nach einem halben Jahr wurde ihm das "zuviel" und er fand mit Unterstützung seines Halbbruders eine neue "Beschäftigung". Dies war der Beginn einer Odyssee durch die Maßnahmenlandschaft der Behindertenhilfe, in der Herr Wotruba aus individuellen Gründen biher nicht Fuß fassen konnte, oder wollte. Seit etwa einem Jahr sucht er einen "Arbeitsplatz" zu ihm passt.

Und meine nächste Ansprechperson war dann die [Name] und mit der arbeite ich jetzt schon länger zusammen und wir suchen gemeinsam eine Arbeit für mich - ein Zwischending zwischen Arbeit und Beschäftigungstherapie und ich will im Bereich mit Tieren was machen, aber das gibt's ja leider nicht. (IV1, S. 13, 19-22)

Um den Forschungsgegenstand im weiteren Verlauf zu präzisieren, war geplant mit einem jungen Mann zu sprechen, der ebenfalls seit längerem versucht, einen Arbeitsplatz zu finden. Eine weitere Konsequenz aus dem ersten Interview, war, dass aktive TeilnehmerInnen von "People First" Gruppen angefragt wurden, um den Blick aus der Sicht von Menschen, die sich selbst als Betroffen erleben, zu schärfen. Bei der Suche nach dem/der zweiten InterviewpartnerIn trat ein Phänomen auf, das anfangs überraschte, sich aber dann als logisch erwies. Drei Menschen verweigerten ein Interview zu geben mit dem Hinweis darauf, dass sie sich nicht als betroffen erleben. Schon Feuser hat festgestellt, dass dies auf einen Großteil der Menschen, die wir ohne weiteres als "geistig Behinderte" beschreiben würden, zutrifft und sich die Betroffenen meist nicht als "geistig behindert" wahrnehmen (vgl. ebd., 1996, S. 3). Anzuführen ist, dass bei den Interviewanfragen und Interviews für den Zweck dieser Arbeit, die Bezeichnung "Menschen mit Lernschwierigkeiten" gewählt wurde, was trotzdem dazu führte, dass Angefragte sich nicht mit dieser Kategorisierung identifizieren konnten - auch in den Interviews wurde mehrfach betont, dass sie keine Lernschwierigkeiten haben.

3.2.2 Interview 2 (IV2) - Frau Reiter

Als nächstes kam das geplante Interview mit einer Selbstvertreterin zustande. Frau Reiter empfing mich in ihrem Umfeld im Wintergarten der Wohngemeinschaft in der sie eine Trainingswohnung bezogen hat. Ihr fällt es sehr schwer flüssig zu erzählen und das Nachfragen wird zu einem zentraler Bestandteil des Gesprächs. Sie ist 44 Jahre alt und lebt seit vier Jahren in einer Einrichtung der Behindertenhilfe. Bis zum Tod ihrer Mutter hat sie zu Hause gelebt. Seither wohnt und "arbeitet" sie im Rahmen einer Beschäftigungstherapie beim selben Trägerverein und ist mit der Situation über weite Strecken zufrieden. Auch sie kam wenige Monate nach Schuleintritt in eine Sonderschule. Dies führte dazu dass ihre ganze Familie in den Bezirk übersiedelte in dem die Schule war. Auch ihr gelang es, im Anschluss an die Schulpflicht den Hauptschulabschluss zu absolvieren. Danach begann sie mit einer Lehre im Einzelhandel, die sie auf Grund von Differenzen mit dem Chef beendete. Daraufhin absolvierte sie eine Lehre als Weißnäherin. Im Anschluss daran fand sie keinen regulären Arbeitsplatz und nahm eine "Arbeit" im Rahmen einer Beschäftigungstherapie im Bereich der Industriearbeit an. Nachdem es dort zu Schwierigkeiten mit dem Betreuungsteam kam löste sie dieses Verhältnis auf und ging ab diesem Zeitpunkt mehr als 10 Jahre keiner geregelten "Beschäftigung" nach. Über weite Strecken war diese Zeit für sie erträglich, auch wenn sie berichtet, dass es teilweise langweilig war. Frau Reiter ist zur Fortbewegung seit 10 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Das Schwierigste für sie war, dass ihre Mutter auf ihre Bedürfnisse nicht eingegangen ist und sie immer wieder diskreditierte. Ähnliches widerfuhr ihr auch im beruflichen Alltag.

A: Die Lehre haben Sie beendet weil der Chef einfach so ungut war oder ... Hätte der Chef Sie weiter behalten oder wäre das überhaupt schwierig geworden?

R: Ich glaub dann hätte er noch mehr auf mir herumgehackt. (IV2, S. 6, 24-26)

A: Und wenn Sie selbst eine ganz mächtige Person wären auf der Welt, was würden Sie verändern als allererstes? Ist eine gemeine Frage oder?

R: Dass es keine Behinderten auf der Welt gäbe. [...]. Da hätte keiner Schwierigkeiten. (IV2, S. 17, 6-12)

3.2.3 Interview 3 (IV3) - Herr Maler

Herr Maler ist wie Herr Wotruba 24 Jahre alt und ähnlich wie dieser auf der Suche nach neuen beruflichen Perspektiven. Zum Gespräch kam er in die Beratungsstelle. Auch er wurde ab der 1. Klasse Volksschule nach dem Lehrplan der allgemeinen Sonderschule unterrichtet, besuchte aber im Gegensatz zu den bisherigen GesprächspartnerInnen eine Integrationsklasse. Seine Schulzeit beschreibt er als recht positiv und im Anschluss daran konnte er im Betrieb seines Vaters mit einer Lehre beginnen, die er nach einem halben Jahr aufgeben musste, da er den Anforderungen in der Berufsschule sowie am Arbeitsplatz nicht gewachsen war. Sätze wie "Ich war zu langsam"; "es war zu schwer" und ähnliche prägten das Interview. Im Anschluss daran durchlief auch er verschiedene Stationen der Beschäftigungstherapie und das Ziel wieder am allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt zu sein spornt ihn dazu an, immer wieder neue Versuche zu unternehmen.

Die Angst vor dem Druck der Dienstgeber ist dabei sehr groß und ein Erlebnis, das Herr Maler bei einem Praktikum als Straßenkehrer, seinem Traumberuf machte, schildert er sehr emotional.

Die hat immer mit mir herumgeschrieen [die Arbeitsanleiterin]. (IV3, Memo)

Die Auswertung der ersten drei Interviews bestätigte zum einen, dass die Kategorie Anerkennung und Respekt zu den zentralsten Aspekten der Erhebung zählen werden. Auch wurde der Aspekt der Zeit stark betont. Am offensichtlichsten war aber wiederum in beiden Interviews, dass den Befragten bisher selten Anerkennung und Respekt gezollt wurde.

3.2.4 Interview 4 (IV4) - Herr Seiler

Im Anschluss an die Interviews, die davon zeugten, von welchen Schwierigkeiten die berufliche Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten geprägt ist, galt es in einem nächsten Schritt die Biografie eines Menschen mit Lernschwierigkeiten zu beleuchten, der weitest möglich integriert ist. Durch eine Anfrage bei einer Trägerorganisation der beruflichen Integration in Graz konnte Kontakt zu einem jungen Mann geknüpft werden, der zurzeit eine Teilqualifizierung im Einzelhandel absolviert und ein Interview mit ihm durchgeführt werden. Das Interview fand im Lager, direkt an seinem Arbeitsplatz statt, wo die Möglichkeit bestand sich zurückzuziehen.

Herr Seiler ist 20 Jahre alt und absolviert seine Ausbildung seit beinahe drei Jahren. Ähnlich wie Herr Maler wurde auch er im Schulwesen von Beginn an im Rahmen von Integrationsklassen unterrichtet. Er berichtet davon, dass er dort immer Freunde hatte und sich wohl fühlte. Auch das Verhältnis zu den Eltern, die für ihn nach wie vor sehr wichtig sind, beschreibt Herr Seiler als gut. Nach anfänglichen massiven Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche, die mehr als zwei Jahre dauerte, fand er durch die Unterstützung der Berufsausbildungsassistenz eine Lehrstelle. Er beschreibt sowohl die Situation im Betrieb und auch die Zusammenarbeit mit den UnterstützerInnen als in Ordnung. Am meisten irritiert ihn die Epilepsie, die er als Hauptursache für die Lernschwierigkeiten identifiziert.

A: Was war denn so oder gibt's da irgendwas was dich ärgert, was blöd lauft?

S: Ja dass ich einfach mit meiner Krankheit nicht zusammen komme. Das ärgert mich.

A: Das heißt du kommst selber nicht zusammen oder kommen die anderen Leute nicht damit zusammen?

S: Ja ich komm überhaupt nicht zusammen damit. (IV4, S. 15, 7-15)

Gerade dieses Interview, sowie auch das darauf folgende mit einem weiteren Mitglied einer People First Gruppe, ergänzten die ersten drei Interviews und bestätigten zu einem großen Teil die Vermutung, dass divergente Sozialisationsvoraussetzungen auch zu einer unterschiedlicher Lebensqualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten führen können. Dass dies auch für Menschen ohne so genannte Lernschwierigkeiten zutreffen dürfte, sei nur am Rande erwähnt.

3.2.5 Interview 5 (IV5) - Herr Bauer

Das letzte Interview wurde nochmals mit einem Menschen, der in einer People First Gruppe aktiv ist, geführt, um einen besseren Blick auf die Gruppe zu bekommen, die sich selbst als Menschen mit Lernschwierigkeiten beschreibt.

Herr Bauer ist 56 Jahre alt und lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft, in der seinem Pflegeaufwand Rechnung getragen wird. Auch er kommt zum Gespräch in die Beratungsstelle, da diese behindertengerecht ausgestattet ist. Herr Bauer wurde seit seinem ersten Schultag in einer Sonderschule unterrichtet. Er beschreibt seine Lernschwierigkeiten derart, dass er "einfach" länger Zeit braucht. Die Schulzeit hat er sehr lebhaft in Erinnerung und schon dort dürfte der fröhliche Wesenszug, den er auch jetzt an den Tag legt den Erzählungen nach zu ihm gehört haben. Auch wenn er unter sehr ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, so sind wenig Klagen im Zentrum des Gesprächs gestanden. Viel mehr beschreibt er eine sehr liebevolle Familie, die er seit dem Tod seiner Eltern stark vermisst. Interessant ist, dass er nach der Schule für mehr als 20 Jahre keiner Außenbeschäftigung nachgegangen ist und, bis auf seltene Wochenenden, in einer Wohnung ohne Aufzug leben musste, also de facto eingesperrt war. Erst vor zehn Jahren übersiedelte die Familie in eine behindertengerechte Wohnung, was den Startschuss für das soziale Leben von Herrn Bauer bedeutete. Angefangen von den Einkaufszentren, über die Freizeitpaläste hat Herr Bauer mittlerweile schon verschieden Teile der Welt für sich erobert und war mit Hilfe eines Unterstützers in Spanien, der Türkei und anderen Ländern. Seit beide Eltern von Herrn Bauer verstorben sind lebt er in einer Wohngemeinsaft und geht im Rahmen einer Beschäftigungstherapie einer Arbeit nach. Grundsätzlich ist er mit der Unterstützung zufrieden, artikuliert aber sehr klar seinen Unmut über das System.

B: Man sollte nach drei Jahren oder so immer den Verein [Träger der Behindertenhilfe] wechseln drum bin ich auf der Suche. Es ist zwar so jeder kocht die gleiche Suppe aber das sag ich immer, sie geben andere Gewürze rein. (IV5, S. 24, 33-1)

Interessanterweise - die Kontakte mit beiden SelbstvertreterInnen wurden per Telefon geknüpft - stellte sich heraus, dass beide RollstuhlfahrerInnen waren. Es wurden keine quantitativen Zahlen erhoben, welche Behinderungen die Mitglieder der österreichischen People First Gruppen haben. Es erscheint trotzdem eine interessante Tatsche, dass von zwei Befragten, beides Menschen mit einer Gehbehinderung sind. Im Rahmen dieser Arbeit kann immer nur auf die befragte Personengruppe verwiesen und in keiner Weise eine Aussage über die Gesamtheit von Menschen mit Lernschwierigkeiten getroffen werden. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie schwierig es ist, konkrete Aussagen darüber zu treffen, wer Menschen mit Lernschwierigkeiten sind. Die administrative Zuweisung zum Hilfssystem für "geistig behinderte Menschen" (Sonderkindergarten, - schule, Beschäftigungstherapie, ...), erfolgt ohnedies nicht über einheitliche Definitionskriterien sondern basiert auf Praxisentscheidungen (vgl. Neuhäuser, Steinhausen, 2003, S. 12).

Bei den Interviews stand das Thema Lernschwierigkeiten im biografischen Kontext im Vordergrund. Klar ist trotzdem, dass auf Grund der körperlichen Behinderung andere zusätzlich andere Schwierigkeiten zu Tage treten, als wenn diese nicht vorhanden wäre. Möglicherweise würden sich beide InterviewpartnerInnen, wenn sie nicht offensichtlich "behindert" wären, nicht in einer Betroffenenselbsthilfegruppe engagieren.

3.3 Die Auswertung des Datenmaterials

Wie schon zu Beginn dieses Kapitels dargelegt wurde, lehnt sich das Vorgehen bei der Erhebung der Daten an die "Grounded Theory" an. Alle Verfahren in dieser Theorie zielen auf das Identifizieren, Entwickeln und in Beziehung setzen von Konzepten ab. Die Auswahl der Daten bezieht sich also wiederum auf bestehende Konzepte und wie diese miteinander in Verbindung stehen. Diese muss theoriegeleitet sein (vgl. Corbin, Strauss, 1995, S. 152f). Das bedeutet, dass die Daten nicht irgendwo gefunden werden, sondern nach einem nachvollziehbaren Konzept vorgegangen wird. In diesem Fall galt es Menschen, die eine ähnliche oder auch genau konträre Geschichten erlebt haben zu interviewen um die Theorie zu entwickeln bzw. zu sättigen. Es wurden Daten generiert, diese ausgewertet und erst dann entschieden, welcher Schritt als nächster gegangen wird.

3.3.1 Die Entstehung und Beschaffenheit des Materials

Insgesamt wurden fünf narrative biografische Interviews durchgeführt. Den Befragten wurde freigestellt, an welchem Ort sie sich zum Interview treffen wollten. Wichtig bei der Ortswahl war ein Platz, an dem das Interview in Ruhe und ohne Ablenkungen durchgeführt werden kann. Vier dieser Aufnahmen wurden wörtlich transkribiert. Nonverbale Teile der Gespräche, wie Mimik, Gestik, Pausen, ... wurden in den Transskripten nicht gesondert vermerkt. Um diese in die Auswertung mit einzubeziehen wurden während der Gespräche Memos angelegt. Die Interviews waren von sehr unterschiedlicher Dauer. Die beiden ersten, sowie das letzte dauerten ca. 70 Minuten. Die beiden anderen erstreckten sich über die Dauer von einer halben Stunde. Beim dritten Interview ist leider das Tonband gerissen, weshalb nur das vorhandene "Memo" zur Verfügung steht.

3.3.2 Das Vorgehen bei der inhaltlichen Auswertung

Das Kernstück der "Grounded Theory" ist es, aus den Daten eine Theorie zu entwickeln. Dafür wurde von deren Begründern ein Kodiersystem entworfen. Zentraler Aspekt dabei ist die Gegenstandsverankerung (Dichte, Sensibilität, Integration) dieser zu entwickeln. Die Daten wurden mittels hermeneutischer Interpretationskriterien ausgewertet, wobei sich das Vorgehen an der "Grounded Theory" orientierte, deren Entwickler folgende Schritte vorschlagen:

  1. Suche nach genuinen Kategorien

  2. Verbindungen zwischen den Kategorien suchen

  3. Hauptkategorie herausarbeiten

  4. Unterkategorien mit dieser in Verbindung setzen

  5. Was nicht einzuordnen ist, wegstreichen oder spezifisch auf den Kern der Analyse beziehen

  6. Interpretation der Ergebnisse (vgl. Strauss, S. 122f)

Der Begriff Hermeneutik leitet sich vom griechischen "hermeneuein" (= aussagen, auslegen, übersehen) ab und verweist auf eine Wissenschaft die sich mit der Auslegung (z.B. von Texten) befasst [...]. Hermeneutisches Verstehen bezieht sich auf das Erfassen menschlicher Verhaltensäußerungen und Produkte. (Lamnek, 2005, S. 59)

In der objektiven Hermeneutik ist es Ziel, latente Sinnstrukturen zuerkennen und diese zu interpretieren. Ergebnisse hermeneutischen Verstehens sind falsifizierbar und gelten nur vorübergehend (vgl. ebd., S. 212ff). Bei der Auswertung der vorhandenen Daten wurde die Konzentration das neue im Material gelegt, darauf, was bisher in der Fachliteratur noch wenig besprochen wurde.

4 Die Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Eines der Kernelemente, das im Laufe der Auswertung, sowie in der Literatur immer wieder zu Tage getreten ist, war die Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Auch, wenn, wie in den eingangs erwähnten Definitionsversuchen von Lernschwierigkeiten bzw. "geistiger Behinderung" dargestellt, immer wieder darauf verwiesen wird, dass sowohl soziale wie auch medizinische Komponenten bei der Definition zu berücksichtigen sind, erbrachte die Literaturrecherche kaum Material, in dem sich Wissenschaft intensiv mit der Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten auseinander gesetzt hat. Sowohl die Interviews, Hinweise von Soziologen, als auch Erfahrungen aus dem Alltag, geben aber Hinweise darauf, dass der Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten ein besonderes Augenmerk geschenkt werden muss, um einen veränderten Blickwinkel auf diese Personengruppe zu ermöglichen, und um in weiterer Folge adäquatere Unterstützungsangebote zu entwickeln.

4.1 Der Begriff Sozialisation

Im heute allgemein vorherrschenden Verständnis wird mit dem Begriff Sozialisation der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren." (Hurrelmann, 2001, S. 14).

Der Sozialisationsprozess ist also etwas, das dauerhaft im Leben eines Menschen stattfindet und wird nicht mit dem Erwachsenwerden abgeschlossen. Obwohl während der Kindheit der Prozess des kulturellen Lernens wesentlich intensiver ist als später, finden Lernen und Anpassung während des gesamten Lebenszyklus statt. Sozialisation ist aber keine "kulturelle Programmierung", die einem gleichsam übergestülpt wird, sondern findet von der Geburt an auch aktiv statt, in dem das Kind Bedürfnisse und Wünsche äußert, die das Verhalten der für es Verantwortlichen beeinflussen (vgl. Giddens, 1999, S. 27).

Wenn wir Sozialisation also als einen Prozess des wechselseitigen dauerhaften Lernens verstehen (Anpassung ist per se auch ein sozialer Lernprozess), so drängt sich in Bezug auf vorliegende Arbeit die Frage auf, welche Sozialisationsbedingungen Menschen mit Lernschwierigkeiten vorfinden und welchen Einfluss diese möglicherweise auf die Lebensqualität bzw. die Lebensführung der Betroffenen haben. Dass dieser Prozess kein eindimensionaler ist, zeigen schon die angeführten neueren Definitionen. Hurrelmann verweist darauf, dass der Sozialisationsprozess eine produktive Verarbeitung der äußeren und inneren Realität ist. In diesem Zusammenhang setzt er sich mit den wichtigsten soziologischen und psychologischen Theorien auseinander und stellt diese in Verbindung miteinander. Zusammenfassend stellt er fest, dass sie zwar in ihren zugrunde liegenden Modellvorstellungen sehr unterschiedliche Positionen einnehmen, diese Unterschiede in der gegenstandsbezogenen Theorie aber weitaus weniger deutlich ausfallen. Gerade die aktuellsten Theorievarianten orientieren sich an einem Verständnis der Wechselseitigkeit in den Beziehungen zwischen Person und Umwelt, was er als Indiz dafür sieht, dass die Grundannahme des Modells der "produktiven Realitätsverarbeitung" weiterentwickelt werden muss (vgl. ebd., 2001, S. 63). Wurde in den früheren Sozialisationstheorien der subjektive Faktor, also der Mensch als konstruktiv in seine Umwelt eingreifendes und gestaltendes Individuum höchstens als Randvariable wahrgenommen, so zielt neuere Sozialisationsforschung auf die Verbindung des "objektiven" und des "subjektiven Faktors" ab. Es werden also gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse und intrapsychische Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung aufeinander bezogen und miteinander verbunden (vgl. ebd., S. 64).

In den bisherigen Auseinandersetzungen mit Sozialisation und Lernschwierigkeiten wurde der Fokus zumeist verstärkt auf soziale Faktoren gelegt. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich fast ausschließlich auf gesellschaftliche Komponenten der Sozialisation. Z.B. setzt sich Wolfgang Jantzen in seinem Text "Sozialisation und Behinderung" (1974) mit dieser Thematik auseinander und stellt die Frage, unter welchen gesellschaftlichen (ökonomischen) Rahmenbedingungen Behinderung sichtbar wird. Er sieht die Entwicklung von Betreuungseinrichtungen in engem Zusammenhang mit wirtschaftlichen Komponenten. Durch die Schaffung von Schulen für Menschen mit Lernschwierigkeiten stehen zum Beispiel deren Mütter dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. In einem weiteren zentralen Kapitel befasst er sich mit der Frage von Behinderung und sozialer Herkunft. Er stellt fest, dass mit sinkender sozialer Schicht der relative Anteil an behinderten Menschen steigt. Dies begründet er mit der Zunahme von schädigenden biologischen und sozialen Einwirkungen. Zudem stellt er fest, dass mit dem Eintreten der Behinderung die individuelle Position innerhalb der Sozialstruktur absinkt (vgl. Jantzen 1974, S. 143ff . In Cloerks, 2007, S. 96ff). Der Zusammenhang zwischen sozio - ökonomischen Bedingungen und Lernbehinderung ist besonders eindrucksvoll nachweisbar - etwa 90% aller Sonderschüler stammen aus den unteren sozialen Schichten, wobei nur 10% als lernbehindert (laut Definition IQ 55 - 85) eingestuft werden. Prinzipiell treten aber in den unteren sozialen Schichten alle Formen der Behinderung häufiger auf. Diese Tatsache wurde von zahlreichen Wissenschaftern festgestellt (vgl. Cloerkes, 2007, S. 95) Auch die Zahlen der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Österreich lassen ähnliche Schlüsse zu. Welchen Einfluss all diese und auch andere Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung auf die Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten haben und welche individuellen Ressourcen diese haben, um aktiv auf ihren Sozialisationsprozess Einfluss zu nehmen - dazu wurden in der vorhandenen Literatur keine ausführlichen Hinweise gefunden.

4.2 Familiale Sozialisation

Auch wenn in früheren Sozialisationstheorien den familialen Aspekten derselben vermutlich ein zu hoher Stellenwert eingeräumt wurde, so sind diese, vorausgesetzt ein Kind wächst in einem derartigen Kontext auf, doch unumstößlich in den ersten Jahren das Zentrum der Persönlichkeitsentwicklung. Institutionelle Erziehungseinrichtungen haben sich in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Differenzierung der Sozialstruktur besonders schnell entwickelt und nehmen Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Organisierte Erziehung nimmt ständig zu. Als Beispiel ist hier die Verlängerung der Pflichtschulzeit anzuführen (vgl. ebd., S. 92ff). Die schulische, sowie die institutionelle Sozialisation werden an anderer Stelle noch ausführlich beleuchtet.

Hurrelmann stellt fest, dass die sozialen und materiellen Lebensbedingungen, die die Mitglieder einer Familie vorfinden, als Rahmen für den Erziehungs- und Sozialisationsprozess des Kindes wirken. Die verschiedenen Konstellationen sozialer Lebenslagen stehen in einer engen Beziehung zu den zentralen Dimensionen sozialer Ungleichheit einer Gesellschaft. Er erteilt zwar der reinen schichtspezifischen Sozialisationstheorie eine Absage, merkt aber an, dass der Schichtindikator "Stellung im Beruf" als sehr erklärungskräftiger Einzelfaktor aus den vorliegenden Untersuchungen hervorgeht. Die Familie wird als ein Interaktionssystem von produktiv realitätsverarbeitenden Subjekten verstanden. Persönliche Erfahrungen des Einzelnen übertragen sich nicht direkt auf die Interaktion und Kommunikation der Familienmitglieder. Viel mehr stehen diese in einer Wechselwirkung, aus der dann, die für die jeweilige Familie charakteristische Interaktions- und Kommunikationsstruktur entsteht. Diese Wechselseitigkeit in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung gilt analog auch für Kinder. Persönlichkeitsmerkmale des Kindes wie z.B. soziale Aufgeschlossenheit, haben einen erheblichen Einfluss darauf, welche Anregungen und Angebote der sozialen Umwelt und sozialen Kontaktmöglichkeiten angenommen oder abgelehnt werden. Jede Familie vermittelt in dynamischer und relativ autonomer Form die äußere Realität an ihre Mitglieder. Die Differenziertheit der innerfamiliären Struktur spielt eine erhebliche Rolle bei der Gestaltung des Sozialisationsprozesses aller Familienmitglieder (vgl. ebd., 2001, S. 134ff).

Familien aus allen sozialen Bevölkerungsschichten bereiten ihre Kinder auf diejenigen sozialen, sprachlichen, kognitiven und emotionalen Kompetenzen hin vor, die zum Leben in der subkulturellen Familienwelt notwendig sind. Die lebenslagenspezifischen Rahmenbedingungen für den Sozialisationsprozess, wie sie durch Arbeitsbedingungen, materielle Lebensbedingungen und sozial-ökologische Lebensbedingungen, einschließlich der Familientradition gegeben sind, unterliegen historischen Veränderungen. Andere Sozialisationsinstanzen, wie organisierte Erziehungseinrichtungen, informelle Freundes- und Gleichaltrigengruppen, sowie das enorme Anwachsen der Massenmedien, haben den Einfluss der Familie auf die Sozialisation relativiert (vgl. ebd., S. 132f). Das Strukturmodell von Hurrelmann auf Seite 41 stellt die wechselseitigen Bedingungen der familialen Sozialisation eindrucksvoll dar.

Abbildung1: Strukturmodell familialer Sozialisationsbedingungen

Hurelmann, 2001, S. 137

Dass die familiale Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten immer wieder von Ausgrenzung und Diskkreditierung geprägt sein kann brachten die biografischen Berichte zum Ausdruck. Dies zeigte sich zum einem in schicht-spezifischen Unterschieden, die Einfluss auf die Handlungskompetenzen der Befragten genommen haben. Zum anderen wurde den Befragten schon in ihren Herkunftsfamilien häufig geringer Respekt gezollt und ihnen schon dort ihre Rolle als Außenseiter zugeschrieben. Auf die Frage, weshalb er mit 16 Jahren von zu Hause in eine betreute Wohngemeinschaft zog, antwortete Herr Wotruba:

W: Ich musste. Unter Anführungszeichen. Ich wollt eigentlich in die WG Albertross, im 22. [Bezirk]. Ich bin nur vorübergehend in die andere WG. Es war so, ich hatte mit meinem großen Bruder Markus Probleme, ich konnte mich nicht vertragen. Das war der zweitjüngste von der Familie. (IV1; S. 7, 3-5)

In dem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass er in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, welche wiederum besondere Rahmenbedingungen aufweisen. Zudem hinterlässt es Narben, wenn Menschen nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können:

W: [...] Ich bin die ersten drei Jahre nur in Spitälern herumgekommen. In allen Spitälern Wiens war ich. Also von einem Spital ins andere wurde ich abgeschoben. (IV1, S. 2, 20-27).

Frau Reiter verweist mit folgenden Worten darauf, dass ihr sehr wenig Wertschätzung während der Kindheit entgegengebracht wurde, nachdem sie gefragt wurde, ob sie im Nachhinein an ihrem Leben etwas im speziellen ärgert:

R: Das kann man so nicht sagen, aber das war leider Gottes bei mir so. Na wenn ich mich gefreut habe, dass ich etwas geschafft habe und meiner Mutter war das egal. Und dann hab ich etwas geschafft, und dann hat sie gesagt: nein du schaffst es eh immer erst beim dritten Mal." (IV2, 12, 9-13).

Diese aber auch andere Passagen der Erzählung zeigen, dass Frau Reiter von Seiten ihrer Familie sehr wenige Kompetenzen zugeschrieben wurden. Schlussendlich hat diese Frau den Hauptschulabschluss im 10. Schuljahr nachgeholt und auch eine Lehre abgeschlossen. Die Ablehnung von Seiten der Eltern kommt auch durch folgende Aussage zum Ausdruck:

Zu mir war er [der Vater] immer so - meinen Geschwistern hat er immer schön getan, mit denen hat er immer gespielt, mit mir nie. Da hat er mit meiner Mutter gestritten, aber nur gestritten:" (IV2, S. 12, 21-23).

Im Gegensatz zu diesen Ausschnitten, weisen andere darauf hin, dass eine familiale Sozialisation, in der vorwiegend Wertschätzung im Vordergrund stehend dürfte, möglicherweise andere Entwicklungsmöglichkeiten zulassen könnte. Herr Seiler berichtet z.B. in folgenden Worten von seiner Familie:

M: [...] also ich bin aufgewachsen in meiner Familie, hab zwei Schwestern - die eine ist 17, die andere ist 23, und ich bin genau in der Mitte drinnen. Und wir verstehen uns ganz gut. Ab und zu waren halt ein paar Streitereien dabei, aber das kommt bei den Geschwistern sowieso immer vor und mit meinen Eltern versteh ich mich auch ganz gut, nur gibt's halt auch immer ein paar Streitereien, aber ich helfe sonst meine Vater am liebsten gern im Garten und so.(IV4, S. 1, 13-18).

Auch Herr Bauer legt Zeugnis davon ab, wie wertvoll ihm die Liebe und Anerkennung seiner Familie war:

B: [...] ich bin 1952 in Wien geboren und war eben 40 Jahre im Familienverband, weil meine Eltern haben gesagt, so lange sie mich betreuen können, werd ich in keine Wohngemeinschaft integriert werden. Also wenn sie einmal krank werden, ist das eine Selbstverständlichkeit, weil sie können mich dann auch nicht pflegen und auch nicht die Tagesstruktur mir erhalten, und dann muss ich in eine Tagesstruktur oder in eine Wohngemeinschaft."(IV5, S. 1, 14-19)

An anderer Stelle, nachdem er vom Tod seiner beiden Eltern berichtet hat, unterstreicht er dies noch wie folgt:

B: Ja, ja ich sag, wenn ich das noch sagen darf, ein Behindertenverband ist gut und schön, aber ein Privatleben, eine Privatsphäre ist es keine. Es wird geschaut, dass alles gemacht wird für dich punkto Pflege und das, aber ein Privatleben oder ein Familienverband ist es nicht [...] das werde ich wahrscheinlich nicht mehr erleben können.

A: Ja, ja die Eltern ...

B: ... kann man nicht ersetzen." (IV5, S. 7, 3-11)

Auch wenn diese Textpassagen keine generalisierende Aussage darüber treffen können, welche Auswirkungen unterschiedliche Sozialisationserfahrungen in der Familie für Menschen mit Lernschwierigkeiten haben, so kann doch davon ausgegangen werden, dass diese Erfahrungen die Handlungskompetenzen und somit die Lebensqualität sowie die Entwicklung der Identität der Betroffenen maßgeblich beeinflussen. Die Entfaltung von Handlungskompetenzen basiert auf der Entwicklung von grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es einem Menschen gestatten, sich die soziale und dinglich materielle Umwelt anzueignen und sich mit dieser, mit allen Sinnen auseinanderzusetzen. Zu diesen Basiskompetenzen gehören sensorische und motorische (z.B. Beweglichkeit), interaktive (wie Kontaktbereitschaft, Perspektivübernahmefähigkeit), intellektuelle (Wissensspeicherung und Informationsverarbeitung) und affektive Fähigkeiten (Bildungsfähigkeit, Empathie). Diese Fähigkeiten entwickeln sich in der Regel in den ersten Lebensjahren. Auch Piaget, Goffmann u.a. verweisen in ihren Arbeiten auf diesen Zeitraum (vgl. Hurrelmann 2001, S. 161), weshalb davon ausgegangen werden kann, dass die kindliche Sozialisation, die ja vorwiegend im engsten Familienkreis stattfindet, einen großen Einfluss auf die Entwicklung des "Selbst" hat. Dass die Entwicklung dieser Basiskompetenzen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten möglicherweise langsamer oder anders verläuft, sei hier als Annahme in den Raum gestellt. Auf das Thema Zeit, Tempo, Langsamkeit wird im weiteren Verlauf nochmals eingegangen. Anerkennung, respektvoller Umgang mit dem ihnen eigenen Tempo und nicht das Stigmatisieren leisten gewiss einen konstruktiven Beitrag zur Identitätsentwicklung und führen möglicherweise in späteren Lebensjahren zu verbesserten Möglichkeiten mit Stigmatisierung und Ausgrenzung umzugehen bzw. sich aktiv an der Einbindung in die Umwelt zu beteiligen.

4.2.1 Schicht-, soziale Lebenslagen spezifische Komponenten der familialen Sozialisation

Hurrelmann kritisiert an der schichtspezifischen Sozialisationstheorie, dass sie sich nur auf die soziale Schichtzugehörigkeit fixiert und dass diese meist nur an einem einzigen Indikator - der Stellung des Mannes/Vaters - orientiert ist. Er plädiert für ein erweitertes, an der sozialen Lebenslage orientiertes Verständnis. Eine soziale Lebenslage kennzeichnet sich durch gleichartige soziale und materielle Lebensbedingungen einer Gruppe von Menschen. Bei der Analyse derselben müssen eine Vielzahl von Indikatoren berücksichtigt werden, um Bestimmungsfaktoren zu erhalten. Neben der Erfassung der Berufsposition von Vater und Mutter (also Einkommen, Besitz, Bildung, Macht, Einfluss) müssen auch Indikatoren wie Wohnlage und Infrastruktur des Wohngebietes, Wohnungsausstattung und -größe, soziale Herkunft, kulturelle Tradition der Herkunftsfamilie u.a. berücksichtigt werden. Zudem kritisiert er die Überinterpretation von Untersuchungsergebnissen zum Zusammenhang von Berufsgruppenzugehörigkeit und Erziehungsverhalten der Eltern einerseits und Persönlichkeitsmerkmalen der Kinder andererseits. Eltern tragen zwar die Wertvorstellungen, die sie an ihren Arbeitsplätzen entwickelt haben auch in den familialen Erziehungsprozess hinein, wodurch die Kinder auf die Wertvorstellungen und Lebensstile, denen ihre Eltern anhängen, vorbereitet werden. Aus theoretischer Perspektive muss aber die Familie als soziales System gesehen werden, in dem nicht die Wertvorstellungen der Eltern gleichsam mechanisch auf die Kinder übertragen werden, sondern Kinder mit diesen auch individuell umgehen. Eine befriedigende Erklärung von familialen Sozialisationsvorgängen kann nur durch eine Analyse der Interaktions- und Kommunikationsstrukturen der Familie geleistet werden. (vgl. ebd., S. 111ff).

Dass soziale Lebenslagen bzw. schichtspezifische Komponenten einen erheblichen Einfluss auf das Auftreten von Lernschwierigkeiten haben, ist zu Beginn dieses Kapitels erörtert worden. Sonderschulen sind die Schulen der Armen, was darauf hinweist, dass Benachteiligung auf Grund von Lernschwierigkeiten und neben genetischen Faktoren häufig soziale Ursachen haben (vgl. Cloerkes, 2007, S. 95). Die Tatsache, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten aus sozial "schwächeren" Familien weniger Chancen haben, tritt auch in den geführten Interviews zutage. Indiz dafür ist, dass Herr Seiler, der momentan eine Teilqualifizierungslehre absolviert, von den InterviewpartnerInnen derjenige war, dessen Eltern der "Mittelschicht" zuzurechnen sind. In diesem Zusammenhang kann die Vermutung aufgestellt werden, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten, die auf Grund ihrer sozialen Lebenslagen / schichtspezifischen Merkmale bevorzugt sind, günstigere Voraussetzungen haben, sich in das Sozialsystem zu integrieren. Bei allen anderen InterviewpartnerInnen gehörte Armut zu den prägenden Erlebnissen in der familialen Sozialisation.

R: Nein ich war in keinem Kindergarten.

A: Aha, wie ist das gekommen?

R: Mmh, weil wir drei Kinder waren, und das war meiner Mutter zu teuer für drei. (IV2, S. 2, 7-9).

B: [...] sonst haben wir 30 oder 45 Jahre gehabt nur zu dritt ohne Bad. Der Papa war Installateur, der hat dann einen Warmwasserspeicher eingebaut. Aber wir haben das Clo am Gang gehabt, und Warmwasser haben wir nicht gehabt. Wie wir dann zum Bekannten ins Waldviertel gekommen sind, haben wir das erste mal geduscht, und wir haben uns auch in der Währingerstraße duschen können, wenn alle weg waren. Das war aber auch ein Luxus, da hat uns der Schulwart offen gelassen und hat gesagt: da geht's duschen."(IV5, S. 16f, 33-3)

Auch in den anderen Interviews kommt das Thema Geldmangel immer wieder vor. Es ist aber nicht nur in Bezug auf die familiale Sozialisation ein wesentlicher Aspekt, sondern nimmt auch im Leben der Erwachsenen Menschen mit Lernschwierigkeiten eine zentrale Rolle ein.

Dass fehlende finanzielle Ressourcen, aber auch Lebenslagen spezifische Indikatoren, wie eine schlechtere Bildung der Eltern, beengender Wohnraum u.ä. die individuelle Förderung von Menschen mit Lernschwierigkeiten behindern können, korrespondiert aus dieser Sicht. Dies führt möglicherweise dazu, dass auf Grund der Lebenslage benachteiligte Kinder als Erwachsene möglicherweise weniger Chancen auf eine soziale Integration haben. Ein Entkommen aus dem Teufelskreis Armut und Behinderung für Menschen mit Lernschwierigkeiten scheint unter diesen Voraussetzungen ohne grundlegende Veränderungen in der Sozialstruktur der Gesellschaft kaum möglich.

Ein längeres Verbleiben in einer bestimmten Statuslage prägt das Denken und Verhalten nachdrücklicher, als eine nur kurze Passage. So erzeugt Langzeitarmut wesentlich häufiger Isolation, Entmutigung, Planlosigkeit und fragwürdige Erziehungstechniken, als vorübergehende Armut. (Hradil, 2002, S. 217)

Die Ergebnisse der geführten biografischen Interviews weisen ebenfalls darauf hin, dass dies zutrifft. Angeführte Auszüge aus den Transskripten über die innerfamiliale Kommunikation, aber auch der beengte Wohnraum geben Hinweise auf den Zusammenhang von Lebenslage und ungleiche Chancen. Dass gerade die Eltern des jungen Mannes aus Graz beide pädagogische Ausbildungen absolvierten, unterstreicht die Thesen zu Lebenslagen von Hurrelmann, aber auch die Thesen von Hradil zu Erziehung. Aus qualitativer Perspektive ist es interessant dieses Phänomen auch an Hand der Erhebungen zu diskutieren. In quantitativer Hinsicht können aber diesbezüglich, auf Grund der geringen Anzahl an Interviews, keinerlei Aussagen getroffen werden.

4.3 Schulische Sozialisation

Wie schon aus den vorangehenden Ausführungen hervorgeht, stellt die schulische Sozialisation einen wichtigen Indikator im Leben von Menschen mit Lernschwierigkeiten dar. So können Schulschwierigkeiten als das Resultat einer unzureichenden Passung zwischen lebenslagenspezifischen Lernvoraussetzungen und institutionellen Lernanforderungen interpretiert werden (vgl. Hurrelmann, 2001, S. 142). Zentrales Thema schulischer Sozialisationsforschung ist die Entstehung von Schulversagen und Schulerfolg. Neben Kriterien, die hauptsächlich von der Psychologie erforscht werden, wie mit Schulschwierigkeiten zusammenhängende Entwicklungsstörungen, die intrapersonal betrachtet werden, müssen auch sozioökologische Perspektiven berücksichtigt werden. Schulschwierigkeiten werden somit als Resultat eines komplexen, multifaktoriellen Bedingungsgefüges begriffen. SchülerInnen haben also nicht nur deshalb Schwierigkeiten, weil sie mangelnde Fähigkeiten aufweisen, sondern weil einzelne Bedingungsfaktoren in Interaktion miteinander treten und es von der Situation und der Wechselwirkung mit der Person abhängt, in welchem Ausmaß Lern- und Leistungsstörungen entstehen. Welche Einflüsse nun die "Schulzeit" auf die Persönlichkeitsentwicklung nimmt, lässt sich nur unter konsequenter Umsetzung der "Person - Umwelt Interaktion" analysieren (vgl. ebd., S. 140).

Ein Lern- und Leistungsverhalten, das die Schule als "beeinträchtigt" oder "gestört" definiert, muß im Zusammenhang mit institutionenspezifischen Struktur- und Handlungsbedingungen und den sozialen Beziehungen in der Schule gesehen und analysiert werden. (Arbeitsgruppe Schulforschung, 1980, S. 186. In Hurrelmann, S. 141).

Dies gilt vermutlich auch für das Auftreten von Lernschwierigkeiten und kann keinesfalls nur den individuellen (kognitiven) Fähigkeiten der Person oder der familialen Sozialisation zugeschrieben werden, deren Einflüsse aber unbestritten sind. Die neuere Sozialisationsforschung interessiert, welche Auswirkungen die Interaktionsstruktur auf die Persönlichkeitsentwicklung von LehrerInnen wie SchülerInnen hat. Die Komponenten der inneren Realität müssen ebenso wie die äußere Realität (schulische Struktur- und Handlungsbedingungen) in Überlegungen zur schulischen Sozialisation miteinbezogen werden. Eine weitere Fragestellung die es zu klären gilt ist, welche Auswirkungen schulisches Handeln auf außerschulische Vorgänge hat und auch umgekehrt. Dass hier gegenseitige Beeinflussungen bestehen ist zweifellos (vgl. ebd. S. 142).

So wird häufig der Eintritt in die Volksschule als das Ereignis der Stigmaerfahrung berichtet, wobei die Erfahrung manchmal sehr plötzlich am ersten Schultag kommt mit Spott, Hänseln, Ächtung und Prügeleien. Interessanterweise wird ein Kind, je mehr es "gehandikapt" ist, umso wahrscheinlicher in eine Sonderschule für Seinesgleichen geschickt werden, und umso abrupter wird es seiner Beurteilung durch die Öffentlichkeit in der Gesamtheit ins Gesicht sehen müssen. (Goffman, 1975, S. 46)

Goffman führt in seinen Überlegungen zum, "Stigma" (ebd., 1975) weiter aus, dass dem Kind erklärt wird, dass es, es unter seinesgleichen leichter haben wird und das Kind lernen wird, dass das "Eigene", dass es zu besitzen glaubte falsch war und dass das weniger Eigene wirklich seines ist. Kindlich Stigmatisierte, wenn sie es schaffen mit irgendwelchen Illusionen durch die frühen Schuljahre zu kommen, werden spätestens beim ersten Versuch einen Job zu finden oder eine Verabredung zu vereinbaren den Moment der Wahrheit herbeiführen (ebd., S. 47). Die Annahme, dass die schulische Sozialisation einen gravierenden Einfluss auf Menschen mit Behinderung hat, wird hier von Goffman (er schreibt in diesem Zusammenhang von einer blinden Frau) eindrucksvoll unterstrichen. Dass diese Annahme auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten relevant sein dürfte, demonstrieren folgende Auszüge aus den geführten Interviews.

W: Dann 1989 bin ich in die Schule, in die Hans Radl Schule in der Währinger Straße. Ich kann mich noch an den ersten Schnuppertag da erinnern in der Schule, das war die Hölle, ich hab nur geweint, ich hab geschrieen wie am Spies, das weiß ich noch, das war für mich total schlimm.

A: Hast du auch im 18. Bezirk gewohnt?

W: Nein im 22.

A: Und bist trotzdem in die Hans Radl Schule gekommen?

W: Ja. Ach, nein. Ich hab ja was vergessen. Ich war in der Vorschule in der Schrebergartenschule, da wo ich gewohnt hab. Da haben mich die Kinder alle immer ausgeschlossen bei allem, was sie getan haben. Das heißt, ich war ein Einzelgänger in der Schule. (IV1, S. 3, 17-27)

A: können Sie mir ein bisserl erzählen, wie das war, wie Sie zum ersten Mal in die Schule

gekommen sind?

R: Da bin ich gleich nach einem Jahr zurück gestellt worden.

A: Wissen Sie, warum das gekommen ist?

R: Nein, genau weiß ich das nicht.

A: Das heißt, das war irgendwie vom Lernen her schwieriger für Sie oder...

R: Ja.

A: Sie sind nach einem Jahr zurückgestellt worden, sind Sie da in eine Sonderschule gekommen?

R: Ja, gleich von Anfang an.

A: Wissen Sie wie das war, wie Sie in die Sonderschule gekommen sind?

R: Nein, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass sie nachher gesagt haben, dass es eigentlich ein Fehler war. (IV2, S. 2f, 27-9)

B: Meine Eltern wollten mich nur ein Jahr zurückstellen. Weil ich eben ein bisserl langsamer beim Denken war, wollten sie mich noch ein bisserl also ein Jahr zurückstellen. Aber genau mit sechs oder mit sieben. Und da hat die Psychologin gesagt, wenn man weiß, wo die Semmeln herkommen, und das hab ich gewusst, vom Bäcker, dann kann man in die Schule gehen, im 58´er Jahr war das.

A: Und was war da vom Lehrplan genau das Schwere für Sie?

B: Ich hätte wahrscheinlich am Anfang jemanden gebraucht, der mir ein bisserl was geholfen hätte, mir was gezeigt hätte und so, dann hätte ich das schneller begriffen, das war mein Handicap, ja. (IV5, S. 5, 13-23)

Im Gegensatz dazu ein Auszug aus dem Interview mit Herrn Seiler:

A: Kannst du dich noch an deinen ersten Schultag erinnern?

S: Ja, also ich war sehr nervös und aufgeregt, wieder lauter neue Schüler, die ich überhaupt noch nicht gekannt habe [...].

A: Würdest du sagen, du bist behindert, weil du Integrationskind warst?

S: Nein, nein.

A: Bist du sekkiert worden von den anderen Kindern, weil du Integrationskind warst?

S: Nein, nein.

A: Das heißt, das war für dich wirklich so in der Klasse, du hast Freunde gehabt?

S: Ja, hab ich gehabt.

A: Was war denn so das schwerste für dich in der Schule zu lernen?

S: Beim Rechnen hab ich mich schwer getan. (IV4, S. 2f, 18-25)

Diese Beispiele aus den Interviews und die Ausführungen von Goffman bestätigen die Annahme, dass schulische Sozialisation einen gravierenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Lernschwierigkeiten hat. Die Ausführungen von Bowles und Gintis, aus denen hervorgeht, dass die "Schulen helfen, einige der Schüler zu "Leistung" und "Erfolg" zu motivieren, während andere entmutigt werden und auf schlechten Arbeitsplätzen landen" (ebd., 1978. In Giddens, 1999. S. 450) sowie auch die vom umstrittenen Bildungstheoretiker Illich aufgestellte Behauptung, dass der "verborgene Lehrplan" die Kinder lehrt, dass ihre Rolle im Leben darin besteht, "ihren Platz zu kennen und still dort zu verharren" (ebd., 1972. In Giddens, 1999, S. 451) auf die Giddens in seinem Standardwerk "Soziologie" (1999) verweist (vgl. ebd., S. 450f) unterstreichen diese These.

Anders formuliert leistet das Schulsystem durch seine Differenzierung in Sonderschulen Integrationsklassen, Hauptschulen u.a. einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten "erlernen", die ihnen in der Gesellschaft zugeschriebene Rolle als "Aussenseiter" bzw. "Stigmatisierte" einzunehmen.

4.4 Exkurs: Von der Rolle zum Rollenspieler

Der Begriff des Rollenhandelns ist sozialisationstheoretisch von großer Bedeutung; denn er "verknüpft das Untersystem des Handelnden, als einer "psychologischen", sich in bestimmter Weise verhaltenden Gesamtheit, mit der eigentlichen sozialen Struktur." (Parsons, 1968a, S. 55. In Tilmann, 1999, S. 115) Die Kategorie der Rolle ist unmittelbar am Schnittpunkt zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft angesiedelt. (vgl. Tillmann, 1999, S. 115) Sie "verbindet" das Individuum mit der Gesellschaft und es entstehen "stabile Beziehungsmuster" (ebd., S. 116). Solche stabilen Muster werden vor allem durch Institutionen hergestellt und gestützt, damit deren Mitglieder sich an den vorgegebenen Erwartungen orientieren, damit ihr Handeln kalkulierbaren Charakter erhält. Jeder Mensch nimmt an verschiedenen Plätzen verschiedene Rollen ein und agiert nur mit einem Teil seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten (etwa am Arbeitsplatz) und setzt diese aber anderswo (z.B. in der Familie) wieder ein (vgl. ebd., S. 116). Der Mensch nimmt also seine Rolle ein und lernt diese auch zu spielen.

Das kompetente (und stabilisierende) Rollenspielen ist somit Ziel des Sozialisationsprozesses - und zugleich sind die gesellschaftlichen Rollenmuster die kommunikative Umgebung, in der Sozialisation stattfindet: (ebd., 1999, S. 117)

Die essentielle Bedeutung der Rolle für die Sozialisation im Allgemeinen und für die angestellten Überlegungen in Bezug auf Menschen mit Lernschwierigkeiten steht aus dieser Perspektive fest.

4.5 Die schulische Sozialisation - Fortsetzung

Auch wenn Bildung immer als Mittel zur Erlangung sozialer Gleichheit betrachtet wurde, belegen soziologische Untersuchungen, dass bestehende Ungleichheiten durch Bildung weit mehr zum Ausdruck gebracht und bestätigt werden, als abgebaut werden (vgl. Giddens, 1999, S. 455).

Auch neuere Untersuchungen belegen diese Tatsachen eindrucksvoll. ExpertInnen aus dem Fachbereich der Behindertenpädagogik ziehen daraus vergleichbare Schlüsse:

Zudem selektiert dieses System wie kein anderes im internationalen Vergleich nach sozialer Herkunft. Greift man die einzige Stelle des PISA-Berichtes auf, wo auch von Sonderschulen die Rede ist, so besuchen Schüler, die aus der oberen Dienstleistungsschicht stammen, 46% das Gymnasium, zu 13% die Hauptschule und zu 2% die Sonderschule, bei der untersten Schicht, den Ungelernten sind es 11% Gymnasiasten, 42% Hauptschüler und 7% Sonderschüler. [...] Ich stimme hier völlig mit Hans Eberwein überein, der gerade in der Zeitschrift für Heilpädagogik (August 2003) diese Resultate aus integrationspädagogischer Sicht diskutiert hat und folgert, dass Integrationsschulen - neben einigen Gesamtschulen - als einzige Schulform durch PISA bestätigt worden sind. Und trotzdem: die Bildungspolitiker tun alles, um die Selektion zu verstärken und keinerlei entsprechende Folgerungen im Sinne einer integrativen oder Gesamtschulpädagogik zu ziehen. (Jantzen, 2003, S. 94).

Die Zahlen können zwar nicht direkt auf Österreich übertragen werden, da hierzulande die Integrationsquote aller SchülerInnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf bei immerhin 25% liegt, wohingegen diese in der Bundesrepublik Deutschland nur 5% ausmacht. Insgesamt beträgt der Anteil an SchülerInnen mit SPF in Österreich 3,4% und in Deutschland 6,7% aller SchülerInnen. (vgl. Markowetz, 2007, S. 244).

Der Schlussfolgerung Jantzens, dass integrative bzw. Gesamtschulmodelle ausgebaut werden sollten, ist Beachtung zu schenken, da diese schon in einem anderen Kontext wissenschaftlich belegt wurden. So gibt es im Coleman-Report, einer groß angelegten wissenschaftlichen Studie, die in mehreren Ländern im Jahr 1964 durchgeführt wurde, Hinweise, dass Kinder aus Minderheitengruppen in Klassen, in denen sie gemeinsam mit SchülerInnen aus wohlhabenden Bevölkerungsschichten lernen, bessere schulische Leistungen erbringen (vgl. ebd. In Giddens, 1999, S. 456). Dass also schulische Integration ein Schlüsselfaktor sein dürfte, der einer dauerhaften Ausgrenzung von Menschen mit Lernschwierigkeiten entgegenwirkt, legen wissenschaftliche Studien nahe.

Wenn wir mit Hurrelmanns Ausführungen zu den möglichen Folgen der Interaktion zwischen SchülerInnen und LehrerInnen - an dieser Stelle muss Hurrelmann noch um den internen Interaktionsprozess von SchülerInnen ergänzt werden - in Verbindung mit der Forderung nach integrativen Schulformen betrachten, so liegt es auf der Hand, dass sowohl bei SchülerInnen mit wie auch ohne Lernschwierigkeiten, als auch bei den LehrerInnen durch diesen Interaktionsprozess die Persönlichkeitsbildung beeinflusst wird. Wagen wir ein Bild dieses Prozesses zu skizzieren, so könnte eine dauerhafte Integration im Bildungsbereich dazu führen, dass bestehende Vorurteile in der Gesellschaft abgebaut werden, und dadurch langfristig ein Beitrag zur Vision der Inklusion geleistet wird. Dass dies aber möglicherweise die Wünsche von Träumern sind, und davon ausgegangen werden kann, dass alle Gesellschaften ausgrenzende und stigmatisierende Muster aufweisen, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.

Auch wenn dieses Vision nicht eintritt, so könnte durch integrative Bildungsangebote die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Lernschwierigkeiten durch neue Interaktionsmöglichkeiten beeinflusst werden und ihnen dadurch ermöglicht werden, neue Rollen zu spielen bzw. sich selbst anders wahrzunehmen. Auch wenn nur zwei der InterviewpartnerInnen integrativ beschult wurde, so kann zumindest für diese beiden Fälle festgestellt werden, dass das die schulische Sozialisation im Vergleich als gelungen skizziert wurde (siehe dazu: Auszüge aus den Interviews).

Problematisch an der Integration im Regelschulbereich erscheint die bestehende Differenzierung nach verschiedenen Lehrplänen, wodurch Menschen mit Lernschwierigkeiten nach wie vor im Klassenverband separiert werden. Ein Schulsystem, in dem ein individueller Lehrplan für alle gilt, würde zwar nicht, zur Beendigung von Ausgrenzung führen, könnte diese aber möglicherweise minimieren. Veränderungen in der Selbstwahrnehmung von "individuell" beschulten Menschen mit Lernschwierigkeiten scheinen unter Berücksichtigung der Thesen von Hurrelmann, Luhmann u.a. eine logische Konsequenz zu sein. Die Forderung nach einem individuellen Lehrplan stellt auch Feuser in seiner Theorie des gemeinsamen Gegenstandes. Er fordert offene Curricula, statt per Lehrplan verordnete verbindliche Inhalte. Für ihn ist eine Integration, in der Kinder durch Lehrpläne kategorisiert werden, nur eine verfeinerte Form äußerer Differenzierung und erschöpft sich in einem "segregierendem Nebeneinander in einer räumlichen Einheit" (Feuser 1989, S. 32. In Markowetz, 2007, S. 226). In Feusers Theorie hat der gemeinsame Gegenstand eine wichtige vermittelnde Funktion zwischen den Subjekten und kann als das kleinste gemeinsame Vielfache aufgefasst werden, von dem aus sich alle Subjekte verständigen und individuelle Entwicklungen machen. Bei der methodischen Umsetzung bevorzugt Feuser das Vorgehen in Projekten, da er davon ausgeht, dass dies die Chance bietet, am spezifischen Erfahrungshorizont und der Bedürfnislage der SchülerInnen anzuknüpfen (vgl. ebd., 1989, S. 31ff. In Markowetz, 2007, S. 227f).

Auch die Interviews geben Hinweise darauf, dass die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Lernschwierigkeiten beeinflusst wird, wenn es gelingt, Barrieren, die durch Lehrpläne vorgegeben sind, zu überwinden.

A: Das heißt, das [die Schule] ist für dich nach wie vor ein sehr wichtiger Bezugspunkt?

W: Die Schule schon, ja, weil die haben mir so viel gegeben, was ich sonst nicht erreicht hätte, z.B. den Hauptschulabschluss. Das hätte ich ohne meinen Klassenvorstand in der Sonderschule, der mir oft geholfen hat, nicht geschafft. Die hat immer gesagt, ich kann zu ihr kommen, wenn ich etwas brauche. Das hab ich oft getan. Sie hat mir immer alles erklärt. Und das fand ich urlieb von ihr. (IV1, .S. 6, 16-21)

R: Ich hab nachher den Aufnahmetest für den Hauptschul-Abschluss gemacht und die haben gesagt, dass das ein Fehler war.

A: Wo haben Sie den gemacht?

R: Im 16. hab ich ein freiwilliges 10. Schuljahr gemacht.

A: Und haben Sie da den Hauptschul-Abschluss gemacht?

R: Mmh (IV2, S. 4, 14-19).

Interessanterweise zeugen diese beiden Interviews nicht nur davon, dass schulischer Erfolg einen besonderen Wert im Leben von Menschen, denen dieser nicht zugetraut wurde, hat. Viel mehr zeigen diese beiden Beispiele, dass es auch Menschen mit Lernschwierigkeiten immer wieder möglich ist, einen Pflichtschulabschluss zu absolvieren. Eine vorangehende Differenzierung erscheint schon aus dieser Perspektive nicht Ziel führend, da die Segregation zuerst zu leidvollen Erfahrungen in der Kindheit führt, die zwar durch das "Wettmachen" dieser Differenzen teilweise relativiert werden, die dadurch entstandene Kränkung aber weiterhin bestehen bleibt. Individuelle Beschulung sollte sich aber nicht in falscher "Gleichmacherei" ergehen, sondern zum Ziel haben, die intrapersonellen Potenziale der einzelnen bestmöglich zu fördern (vgl. Feuser, 1989, S. 32. In Markowetz, 2007, S. 226) Die Befunde legen weiters Zeugnis davon, dass nicht Integration das allein selig machende Mittel der Wahl ist, sondern, dass es auch in Sonderschulen möglich ist, einem Individuum soziale Anerkennung zu geben.

A: Gut, das heißt, Schule gehen war einfach recht schwer?

B: Ja, dann bin ich in die Mehrfachbehinderte gekommen, weil ich nicht so mitgekommen bin. Ab der dritten auch in der Währingerstraße. wo dann der Lehrplan eben ein bisserl langsamer gegangen ist, weil sie gesehen haben, ich komme nicht so mit und meine Noten werden immer schlechter, dann haben sie mich eben in die Mehrfachbehinderte gegeben.

A: Waren Sie da froh dass das so war?

B: Ja, schon, weil man hat ein bisserl länger nachfragen können, das und das und das, und dann hat man das eben begriffen.

A: Aber gekränkt waren sie da nicht?

B: Nein, geh bitte, das war ja lustig für mich, weil ich das schon können hab, was die anderen nicht konnten. Da hab ich ein bisserl auftrumpfen können, wissen Sie ja ohnehin wie das ist? Da ist man dann ein bisserl schadenfroh, wenn die anderen das nicht können und ich kann das und ich bin we! Dann hat man quasi das irgendwie lustig gefunden. (IV5, S. 3f, 33-16)

Dies wirft die Frage auf, ob es nicht auch Sondereinrichtungen, wie Sonderschulen Bedingungen herstellen können, die Sozialisationsbedingungen schaffen, die nicht diskreditierend sind. Dass dies unter Bedingungen des integrativen Unterrichts eher möglich erscheint, legen vorhandenen empirischen Untersuchungen aber nahe (vgl. Giddens, 1999, 455ff) Der Erfolg schulischer Integration wird in erster Linie am Kriterium "positive Sozialentwicklung" gemessen, also daran, in welchem Maße "behinderte Kinder" personal und sozial integriert sind und welches Selbstwertkonzept (Identität) sie dabei entfalten. Wocken untersuchte diese Fragestellungen in einem Modellprojekt in Hamburg und kam zu dem Ergebnis, dass behinderte Kinder seltener positiv bewertete Rollen einnehmen, als nicht behinderte. Dass die affektiven Austauschbeziehungen zwischen diesen beiden SchülerInnengruppen in hohem Maße ausgeglichen sind, nicht behinderte SchülerInnen sich aber geringfügig stärker von den behinderten MitschülerInnen abgrenzen (vgl. ebd., 1987b, S. 269ff. In Markowetz, 2007, S. 251f).

Für körperbehinderte und geistigbehinderte Kinder treffen tendenziell alle Rollen der Rollenskala zu, Kindern mit Lernbehinderungen und Verhaltensstörungen werden dagegen eher neutrale und negative Rollen zugeschrieben."(ebd., S. 269ff. In Markowetz, 2007, S. 251)

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass im Jugendalter in der Regel eine schwer korrigierbare Weichenstellung stattfindet, die die Position eines jungen Menschen im sozialstrukturellen Gefüge erheblich beeinflusst. Vom ersten Tag an erbringen Kinder aus wohl situierten Familien bessere Leistungen, als die übrigen (vgl. Hurrelmann, 2003, S. 143). Dies führt uns wieder darauf zurück, dass häufig die Ursachen von Lernschwierigkeiten nicht genau feststellbar sind. Aus sozialisationstheoretischer Sicht drängt sich die Untersuchung der sozialen Netzwerke in Schulen auf, um die Möglichkeit der Schaffung der bestmöglichen Bedingungen für alle SchülerInnen theoretisch zu avisieren. Dies könnte für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu veränderten Sozialisationsbedingungen führen, die es ihnen ermöglichen würden, ein Selbstbild zu entwickeln, das nicht von Ausgrenzung geprägt ist. Möglicherweise würden manche auch keine Lernschwierigkeiten mehr aufweisen. Für wieder andere würden sich die beruflichen Chancen und somit die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Integration erhöhen, wenn ihnen eine individuell angepasste Förderung zuteil werden würde. Besonderes Augenmerk ist auf die veränderten Rollen von Kindern mit und ohne Lernschwierigkeiten zu legen, die nicht nach verschiedenen Lehrplänen unterrichtet werden. Ob dies zu einer weniger segregierenden Schule führen würde, lässt sich auf Grund des Fehlens bisheriger Modellversuche und Untersuchungen nicht vorhersagen.

Die Schule muß sich ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutsamkeit im Jugendalter mehr als bisher bewußt werden und die Konsequenzen ziehen, die sich aus der historisch veränderten Lage und ihrer subjektiven Interpretation und Verarbeitung durch Jugendliche ergeben haben. (Hurrelmann/Wolf, 1986, S. 168. In Hurrelmann, 2003, S. 147)

4.6 Berufliche Sozialisation

Die SchülerInnenrolle hat gesellschaftlich einen vergleichsweise niedrigen Status und ist Inbegriff der "Unfertigkeit". Diese gesellschaftliche Randposition steht im Kontrast zur individuell - lebensgeschichtlichen Bedeutung, die Zeugnissen und Zertifikaten zukommt. Die Schulzeit wird als Durchgangszeit definiert, die auf den Einstieg ins Berufsleben, als Attribut des Erwachsenseins, vorbereitet. Erst dort fallen typischerweise der öffentlich zugesprochene Status und die individuell lebensgeschichtliche Bedeutung zusammen und die Vorbereitung auf "das Leben" ist beendet (vgl. Hurrelmann, 2003, S. 147f). Dass dieser Übertritt von der Schule in den "Beruf", wenn dieser gelingt, für Menschen mit Lernschwierigkeiten einen besonders markanten in deren Sozialisation darstellt, hat schon Goffman in seinem Buch Stigma (1975) erörtert (siehe dazu Kapitel 4.3, S. 46). In den folgenden Ausführungen wird der beruflichen Sozialisation allgemein und im speziellen im Bezug auf die Zielgruppe "Menschen mit Lernschwierigkeiten" Aufmerksamkeit gewidmet.

Der Eintritt ins Berufsleben ist ein Symbol für den Schritt zum Verlassen der Jugendphase in das Erwachsenendasein und stellt den Übergang von einer Erziehungs- in eine Arbeitsorganisation dar. Auch wenn sich die familiale und die schulische Sozialisation als wichtige Erfahrungshintergründe erweisen, so bereiten diese nicht direkt auf die Verhaltensanforderungen im Beruf vor. Die Anforderungen der Erwerbsarbeit bewirken nachweislich einschneidende Veränderungen bei Verhaltensmustern und Persönlichkeitsmerkmalen. Die derart Sozialisierten entwickeln realistische Einschätzungen der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten ihrer beruflichen Karriere und relativieren frühere Zielvorstellungen. Mit dem weiteren Verlauf der Berufsausbildung wird es ständig schwieriger, die berufliche Laufbahn zu modifizieren. Die Jugendlichen müssen also nach einigen Jahren Berufstätigkeit akzeptieren, dass das "eigentliche Leben" sich meist ganz anders darstellt und durch restriktive Arbeitsanforderungen geprägt wird (vgl. ebd., S. 148f).

Der Eintritt in eine berufliche Laufbahn gilt, auch wenn sich die Bedingungen durch den Rückgang der Tages- und Lebensarbeitszeit, verbunden mit einer Ausdehnung der Freizeit, stark verändert haben, in unserer Gesellschaft nach wie vor als das soziale Rückgrat einer Erwachsenenexistenz und stellt die Grundgarantie für eine materiell unabhängige Lebensführung dar. Berufstätige reagieren empfindlich auf Weichenstellungen in der Berufslaufbahn und tasten sie auf ihren materiellen und immateriellen (die öffentliche Wahrnehmung durch die soziale Umwelt) Wert für die Definition der eigenen Person ab (vgl. ebd., S. 149). Wie schon im Abschnitt zur familialen Sozialisation erörtert wurde, muss der beruflichen Sozialisation auch durch ihr strukturierendes Element ein erheblicher Stellenwert eingeräumt werden.

Einstellungen und Erziehungsstile werden durch diese mitgeformt, und sowohl die Berufstätigen, als auch deren Nachkommen, werden dadurch in ihrer gesellschaftlichen Stellung stark geprägt. Das Arbeits- und Betriebsklima stellt über die gesamte Zeit der Erwerbstätigkeit hinweg einen zentralen Bereich der "äußeren Realität dar, mit dem sich ein Individuum auseinanderzusetzen hat. Es geht um die Analyse der Erfahrungen, die im Arbeitsprozess in Bezug auf Betriebshierarchie und Betriebsorganisation gemacht werden, und die im gesamten Lebenszusammenhang bewußtseinsbildende, persönlichkeitsfördernde aber auch persönlichkeitsdeformierende Auswirkungen aufweisen. Ziel der Forschung ist es zu klären, in welcher Beziehung die berufliche Sozialisation zur vorberuflichen bzw. außerberuflichen Sozialisation steht und wie diese auf Bildung und Persönlichkeitsentwicklung einwirkt. Aus sozialisationstheoretischer Perspektive sind dabei die Bezüge der verschiedenen Sozialisationskontexte von Interesse, um den Stellenwert von Berufsarbeit für die Gestaltung von Biografie und Lebenslauf zu bestimmen, gewissermaßen das Verhältnis zwischen "Arbeits-" und "Gesamt-" Persönlichkeit eines Menschen (vgl. ebd., S. 150). Dass sich diese verschiedenen Sozialisationsebenen wechselseitig beeinflussen, steht, wie die bisherigen Ausführungen zeigen, außer Frage. In weiterer Folge werden Aspekte von "Arbeit" und beruflicher Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten erörtert.

5 Arbeit im Kontext der Lebenssituation von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Sicherlich wäre es möglich, hier beinahe unzählige Definitionen von Arbeit anzuführen, da die Diskussion auch um diesen Begriff nach wie vor nicht abgeschlossen ist und ähnlich der über den Begriff "Menschen mit Lernschwierigkeiten" immer wieder in Veränderung begriffen ist.

Arbeit wird in der Regel verstanden als "bewusstes, zielgerichtetes Handeln des Menschen zum Zweck der Existenzsicherung wie der Befriedigung von Einzelbedürfnissen; zugleich wesentliches Moment der Daseinserfüllung" (BROCKHAUS, 1997, S. 235f. In Burtscher, Ginnold, Hömberg, 2001, S. 6)

Diese Definition ist eine verkürzte und lässt einige wesentliche Merkmale von "Arbeit" unberücksichtigt. Giddens erweitert diese Sicht um einige weitere Elemente, die gerade für die im Folgenden zu erörternden Fragestellungen Anhaltspunkte bieten.

Arbeit ist die Verrichtung von Aufgaben unter Aufwendung geistiger und körperlicher Energie, die zum Ziel haben, Güter und Dienstleistungen hervorzubringen, die sich an menschliche Bedürfnisse wenden. (ebd., 1999, S. 363)

Er führt weiter aus, dass viele wichtige Arten von Arbeit - wie Hausarbeit oder freiwillige Aktivitäten - unbezahlt sind. Unter Beschäftigung versteht er Arbeit, die im Austausch gegen einen regelmäßigen Lohn verrichtet wird (vgl. ebd., S. 363f)

Um diese Definitionen abzurunden, bedarf es einer Erörterung, welche Ebenen Arbeit beinhaltet, um in weiterer Folge einen Blick darauf zu werfen, unter welchen Bedingungen Menschen mit Lernschwierigkeiten vorwiegend arbeiten, also auch wie deren "berufliche Sozialisation" aussieht, welche Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang auftreten und welche Möglichkeiten bestehen, diesen entgegenzutreten.

Arbeit beinhaltet, wie die vorangehenden Ausführungen schon teilweise zeigen, verschiedenste Ebenen.

  • Erwerb von Einkommen und dadurch die Möglichkeit zur Selbständigkeit

  • Aktivitätsniveau - Arbeit ist oft Grundlage für den Erwerb und die Ausübung von Fähigkeiten

  • Abwechslung - durch die Verschiedenheit der Tätigkeiten, auch wenn diese teilweise langweilig sind, beziehen Individuen Befriedigung durch die Unterscheidung von den häuslichen Tätigkeiten

  • Zeitstruktur - auch wenn der durch Arbeit vorgegeben Rhythmus manchmal als bedrückend erlebt wird, so schafft dies ein Gefühl der Orientierung im alltäglichen Leben

  • Sozialkontakte - der Arbeitsplatz bietet häufig die Grundlage für Freundschaften und Kontakte, die über den Familienkreis hinausgehen

  • Persönliche Identität - Arbeit verleiht ein Gefühl der stabilen und sozialen Identität (vgl. ebd., S. 334f)

Dass der Faktor Arbeit in unserem Gesellschaftsgefüge nach wie vor von hoher Bedeutung ist, wird durch diese lange Liste eindrucksvoll unterstrichen. Damit geht einher, dass Arbeitslosigkeit das Vertrauen von Personen in ihren eigenen gesellschaftlichen Wert untergraben kann (vgl. ebd., S. 335). Dies gilt aus der Sicht der geführten Erhebungen auch für "Arbeitstätige" die unter Bedingungen arbeiten, die von diesen nicht in ihrer Gesamtheit als "Arbeit" wahrgenommen werden.

Auch wenn es trotz intensiver Recherchen nicht möglich war, konkrete Zahlen zu erheben, wo und wie Menschen mit Lernschwierigkeiten "arbeiten", so kann doch davon ausgegangen werden, dass viele von ihnen keinen regulären Arbeitsplatz gefunden haben. Ein großer Teil dürfte in einer Beschäftigungstherapie tätig sein, wiederum viele von ihnen sind vermutlich arbeitslos. Von den InterviewpartnerInnen besuchten drei aktuell eine Beschäftigungstherapie, einer war zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos, davor jahrelang in einer Beschäftigungstherapie und wieder ein anderer absolvierte eine Teilqualifizierungslehre.

5.1 Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten am zweiten bzw. dritten Arbeitsmarkt

Der institutionelle Arbeitsmarkt hat in den letzten Jahrzehnten verschiedenste Blüten von Beschäftigungsverhältnissen für Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum oder geringe Chancen haben, getrieben. Da drei InterviewpartnerInnen in Form einer Beschäftigungstherapie regelmäßiger Arbeit nachgehen und diese auch als die gesellschaftliche Institution bezeichnet werden könnte, die für sie primär im Bezug auf Arbeit, vorgesehen ist, werden die Grundzüge dieser Beschäftigungsform, im Kontext der Erfahrungen, von denen die qualitativen Erhebungen zeugen, beleuchtet.

5.1.1 Beschäftigungstherapie

Als Beschäftigungstherapie werden Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung bezeichnet, die kurz- oder langfristig nicht in den freien Arbeitsmarkt integriert werden können. Beschäftigungstherapie-Werkstätten sind auf die Bedürfnisse von Menschen mit leichter bis schwerer Behinderung ausgerichtet. Manche Einrichtungen bieten auch Unterstützung für die Stellensuche auf dem freien Markt an. (FSW, 2007)

Beschäftigungstherapieeinrichtungen sind meist ähnlich wie Firmen strukturiert. Die TeilnehmerInnen haben eine fünf - Tage Woche. Sie beziehen für die dort geleisteten Tätigkeiten kein Gehalt, sondern bekommen ein Taschengeld, das meist bei € 30 bis € 100 liegt. Zudem sind sie nicht sozial versichert, was heißt, dass sie weder arbeitslosen-, kranken-, noch pensionsversichert sind (vgl. Wibs, 2006, S. 14). Ihren Lebensunterhalt müssen Sie aus Sozialleistungen bestreiten, deren Bezug nicht an die Tätigkeit in einer Beschäftigungstherapie geknüpft ist. Pro Jahr kann man sich - ähnlich wie an einem Arbeitsplatz - fünf Wochen frei nehmen. Taschengeld wird während dieser Zeit aber keines ausbezahlt. Die ausgeführten Tätigkeiten reichen, je nach Art und Schwere der Behinderungen der TeilnehmerInnen, von basalen Aktivitäten über kreative Angebote, bis hin zu betriebsähnlichen Produktionsvorgängen. Sehr häufig werden nach wie vor Industriearbeiten für Großbetriebe ausgeführt, auch wenn diese Arbeiten auf Grund der billigeren Produktionsmöglichkeiten von den Unternehmen mittlerweile oft ins benachbarte Ausland ausgelagert werden. Eine in den letzten Jahren verstärkt forcierte Form ist die so genannte dislozierte Beschäftigungstherapie, was soviel heißt, wie dass die TeilnehmerInnen, begleitet von BetreuerInnen, direkt in Firmen verschiedene Tätigkeiten ausführen.

5.1.1.1 Sozialisation und Beschäftigungstherapie

Wie die voran gegangenen Ausführungen zeigen, erfüllen Beschäftigungstherapien einen großen Teil der von verschiedenen Soziologen beschriebenen Komponenten von Arbeit. Die von Giddens formulierte Definition schließt unbezahlte Arbeit in den Arbeitsbegriff mit ein. Aus dieser Perspektive können TeilnehmerInnen einer Beschäftigungstherapie aus soziologischer Sicht ruhig als "arbeitende" Menschen bezeichnet werden können. Auffälligster Unterschied zur klassischen Lohnarbeit ist, dass die dort Tätigen weder ein Gehalt beziehen, und ihnen auch sonst übliche Leistungen bzw. Rechte, wie sie klassisch beruftätige Individuen haben, vorenthalten werden. Dass dies einen Einfluss auf das Selbstbild, sowie auch auf die Arbeitsleistungen der derart beschäftigten Menschen haben dürfte, scheint auf der Hand zu liegen. Zilian beschreibt Teile dieser Auswirkungen in seinem Buch "die Zeit der Grille" (1999), in dem er sich mit der sozialen Bedeutung von Arbeit und Arbeitslosigkeit auseinandersetzt, sehr treffend:

Die meisten Menschen würden opus auch unentgeltlich verrichten; zur Übernahme von molestia müssen sie allerdings durch Geld, schöne Worte und andere Gegenleistungen motiviert werden. Wer ohne eine solche Gegenleistung molestia auf sich nimmt, erscheint uns irrational; während wir behaupten opus würde meist freiwillig verrichtet. (ebd., 1999, S. 37)

Zilian erkennt, dass Entlohnung und Anerkennung einen erheblichen Einfluss auf das arbeitende Individuum haben und sich dadurch die Motivation der Menschen verändert. Dass, vor allem finanziellen Anreize, im Rahmen einer Beschäftigungstherapie schon auf Grund der organisatorischen Struktur derselben nicht geboten werden können, steht außer Frage. Die Ergebnisse der Interviews geben Anlass zur Vermutung, dass auch andere Ebenen von "Arbeit" im Rahmen von Beschäftigungstherapie demotivierende und "persönlichkeitsdeformierende" Auswirkungen haben. Sie zeugen aber auch davon, dass es sehr wohl möglich ist Strukturen zu schaffen, die von den Beschäftigten als gleichberechtigt wahrgenommen werden. Somit muss nicht "Arbeit" in Form eines Beschäftigungsverhältnisses per se der alleinige Schlüssel zum Glück sein.

Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen, die in einer Beschäftigungstherapie arbeiten, sind also weder arbeitslos, noch kommt ihnen gesellschaftlich der Status von Erwerbstätigen zu. Diese Tatsache macht es, orientiert man sich an den Transskripten, für die derart Sozialisierten sehr schwer, sich gesellschaftlich "einzuordnen" und dort einen Platz für sich zu finden.

In den geführten Interviews kommt die Tatsache, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten sich durch diese Form der Beschäftigung benachteiligt fühlen, an verschiedensten Stellen zum Ausdruck. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung ist ohnehin einer, der in den Interviews auf allen Sozialisationsebenen eingefordert wird. In Bezug auf das Thema "Arbeit" kommt dies aber am allerdeutlichsten zum Ausdruck. Dies lässt sich möglicherweise dadurch begründen, dass alle zum Zeitpunkt des Interviews im "erwerbsfähigen" Alter waren und aktuell einen Prozess der "beruflichen Sozialisation" durchlaufen. Nachfolgende markante Interviewpassagen vermitteln einen Eindruck, wie die Befragten ihre Arbeit in der Beschäftigungstherapie erleben bzw. erlebt haben. Frau Reiter bevorzugte es nach den ersten Erfahrungen in einer Beschäftigungstherapie "arbeitslos" zu bleiben und nahm erst nach mehr als zehn Jahren wieder eine "Beschäftigung" auf.

A: Da waren Sie dann bei der Lebenshilfe, und was haben Sie dort gemacht?

R: Nur so Industriearbeit, wir haben so Stecker oder irgendwas zusammengesteckt.

A: Und wie war das für Sie bei der Lebenshilfe, ich seh jetzt nur ihr Gesicht von der Erinnerung her. Hat das Freude gemacht?

R: Nein, weniger.

A: Sie haben nämlich ganz verzwirnt geschaut, wenn ich das so sagen darf. Wie war denn das von der Gruppe her, war das eine nette Gruppe oder ...?

R: Ja, am Anfang war's ganz "steil", aber die Betreuer die was da verschwunden sind und immer neue gekommen sind - die letzte, die war so mies, dass es mir immer schlechter gegangen ist, dass ich dann gehen habe müssen.

A: Das heißt, das war eine Betreuerin, mit der Sie sich nicht gut verstanden haben?

R: Da hat meine Mutter dann gesagt, ja wenn´s mir schlechter geht, sie nimmt mich raus und ich kann ruhig eine Zeit zuhause sein, und ich hab gesagt, ich weiß nicht, wie lang das ist, und somit war ich dann zuhause. (IV2, S. 8, 7-23)

R: Bei einer Arbeit da kriegst du dann Urlaubsgeld, was bei denen [in der Beschäftigungstherapie] nicht der Fall ist, im Gegenteil - da kriegst du gar nichts, da wird dir was abgezogen (IV2, S. 16, 21¬22)

Herr Maler, der ebenfalls in einer Beschäftigungstherapie arbeitet, empfindet die Arbeitsbedingungen dort als derart ungerecht, dass er sich zum Ziel gesetzt hat, einen Arbeitsplatz zu finden, um endlich "richtiges Geld für richtige Arbeit" zu bekommen. Dadurch, dass er sich zu den "Besseren" in seiner Werkstätte zählt, hat er den Eindruck, dass er mehr leisten muss als die anderen. Dies wird weder finanziell noch durch andere Möglichkeiten der Anerkennung abgegolten. Die hohen Anforderungen, die trotzdem von Seiten der BetreuerInnen gestellt werden, erlebt er als Zumutung, die wegen der geringen Bezahlung nicht gerechtfertigt ist. Dies führt häufig zu Konflikten in der Werkstätte, da er angeordnete Arbeiten entweder verweigert oder nur sehr unmotiviert ausführt. Der Hauptgrund, eine Arbeitsstelle am allgemeinen Arbeitsmarkt zu suchen, liegt für ihn darin, dass er zum einen mehr Geld verdienen will, zum anderen hofft er dadurch neue soziale Kontakte zu knüpfen (vgl. Memo IV 3).

Herr Bauer beschreibt die Diskreditierung in sehr klaren Worten.

B: Ja, weil icheigentlich unter meiner Würde entlohnt war, weil da hab ich nur das was Taschengeld ist bekommen, das waren 30 Euro oder so. (IV5, S. 14, 4-5)

A: Hätten sie dort gehofft, dass sie dann eine Arbeit bekommen oder warum haben sie das gemacht?

B: Nein, dass ich,... weil das ist mir nämlich auf die Nerven gegangen, die monotone Arbeit in der Beschäftigungstherapie. So eine monotone Arbeit und immer das Gleiche.

B: Was haben sie denn da gemacht?

B: Wir haben so Stickers gemacht (IV5, S. 17, 21-29)

A: Ich wollt von Ihnen wissen, was sie dazu sagen, dass sie da nur Taschengeld bekommen, wenn sie da in der Beschäftigungstherapie sind -40 Stunden in der Woche?

B: Naja, es würde schon anders geregelt gehören, weil du hast ja keinen Pensionsanspruch, du kannst dich abmelden und hast ein Monat Kündigungsfrist, das geht schon aber du hast keinen Pensionsanspruch und gar nichts.

A: Auch keinen Urlaubsanspruch und so?

B: Du hast 5 Wochen, was einem Behinderten zusteht und so, aber wenn du ihn nicht nimmst, hast du ihn eben nicht.

A: Geld bekommt man aber da auch keines.

B: Nein, gar nichts, da muss man wieder ein Angestelltenverhältnis haben. (IV5, S. 22, 13-30)

Herr Wotruba war zum Zeitpunkt des Interviews seit etwa einem Jahr arbeitslos, nachdem er mehrmals in einer Beschäftigungstherapie tätig war und seither versucht, einen Arbeitsplatz am allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden.

A: Vielleicht kannst dich daran noch erinnern, wie dieser Gedanke in dir gereift ist, dass du nicht mehr in BT sein magst?

W: Ja, daran kann ich mich sogar sehr gut erinnern. Ich hab von Anfang an arbeiten wollen, es gab nur nie was. Dann hab ich so nebenbei geschaut, und hab mir gedacht, ja ich bin einfach selbst zu gut für die BT, das haben auch viele gesagt. Und dann hab ich mir gedacht, schauen wir beim Institut [Name: das Institut bietet Ausbildungen für Menschen mit Behinderungen an], ob ich da was krieg. Da nicht, da bin ich auch weiter gewesen, das war schon vor zwei Jahren.

A: Und warum hast du diese Entscheidung dann getroffen? Die wichtigsten drei Gründe, die dir einfallen, dass du nicht mehr in BT sein willst?

W: Weil ich erstens nicht immer die gleiche Arbeit machen möchte, weil ich nicht mehr in der Küche sein wollte, und weil ich mich mit meiner Chefin nicht verstanden habe. (IV1, S. 21, 13-23)

Die angeführten Passagen aus den Interviews und dem Memo zeigen deutlich, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen von Arbeit im Rahmen der Beschäftigungstherapie strukturelle wie auch individuelle Ausgrenzung erleben.

Dass dies nicht nur für die InterviewpartnerInnen gelten dürfte, sondern auch von anderen derart Beschäftigten ähnlich erlebt wird, zeigen zum einen Erfahrungen aus der beruflichen Praxis, zum anderen fordern Selbstvertretungsorganisationen schon seit geraumer Zeit eine soziale Absicherung.

In einer Werkstatt haben wir nichts zu bestimmen. Wir wollen mehr mitbestimmen. Wenn wir in einer Werkstätte arbeiten, bekommen wir zu wenig Geld. Wenn wir nicht mehr in die Werkstätte wollen, bekommen wir kein Arbeitslosengeld und auch keine Pension! (Wibs, 2005, S. 25).

5.2 Sozialisation am allgemeinen Arbeitsmarkt - "Supported Employment"

Im Gegensatz zur Situation in einer Beschäftigungstherapie, stellt sich die Situation für Menschen mit Lernschwierigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt anders dar. Dort sind sie harter Konkurrenz und hohen Anforderungen ausgesetzt. Ohne Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche, sowie am Arbeits-, Ausbildungsplatz selbst, ist die Erlangung, wie die Erhaltung von regulären "Dienstverhältnissen" für viele von ihnen kaum möglich. Im Folgenden wird das "Supported Employment" am Modell der Teilqualifizierung beschrieben, weil zum einen Herr Seiler im Rahmen dieser Form unterstützter Beschäftigung seine Ausbildung absolviert und zum anderen, die Bedingungen, unter denen "gestützte Arbeitsplätze" möglich sind, zum Ausdruck kommen.

Unterstützte Beschäftigung ...

  • ist ein integratives Konzept zur Teilhabe am Arbeitsleben. Sie umfasst die berufliche Vorbereitung, die Arbeitsplatzbeschaffung und Vermittlung, die Ausbildung am Arbeitsplatz (job coaching) und die langfristige Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses.

  • zielt auf dauerhafte und bezahlte Arbeit in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes.

  • orientiert sich an den individuellen Fähigkeiten sowie den konkreten Anforderungen von Arbeitsplätzen.

  • greift auf, dass für eine langfristige Integration, die Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit ganzheitlich zu berücksichtigen sind.

Das Konzept "Unterstützte Beschäftigung" verfolgt das Ziel, die Wahlmöglichkeiten und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu sichern und ihnen damit eine umfassende Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. (BAG UB, 2007)

Diese Definition von "Supported Employment" der "Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung e.v. (BAG UB)" beschreibt den Charakter und auch die Intention derselben prägnant.

Das Modell der Teilqualifizierung, wie es in Teilen Österreichs umgesetzt wird orientiert sich an den Grundsätzen von "Supported Employment", widerspricht diesem aber in einem zentralen Punkt: der zeitlichen Begrenzung der Unterstützung. In vielen Fällen ist aber, durch die Vermittlung eines "Dienstverhältnisses" und durch ambulantes Arbeitstraining, die Etablierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht abgeschlossen. Ein großer Teil der KlientInnen von "Supported-Employment-Programmen" ist zur Ausübung ihrer Arbeit "lebenslang" auf weitere Unterstützung angewiesen. In der Regel reduziert sich aber der Unterstützungsbedarf nach einer intensiven Einarbeitungszeit (vgl. Doose, 2006, S. 117).

5.2.1 Teilqualifizierung

Die "integrative Berufsausbildung" und damit auch die "Teilqualifizierung" ist in Österreich seit dem 01. 09. 2003 im Berufsausbildungsgesetz § 8b BAG verankert (vgl. Lösch, 2006, S. 92), und bietet die Möglichkeit, dass Personen, die auf Grund ihrer Lernschwierigkeiten voraussichtlich nicht der Lage sind, einen vollen Lehrabschluss zu schaffen, einen Ausbildungsvetrag abschließen können.(vgl. WUK/faktori, 2007).

Zur Verbesserung der Eingliederung von benachteiligten Personen mit persönlichen Vermittlungshindernissen in das Berufsleben kann in einem Ausbildungsvertrag die Festlegung einer Teilqualifikation durch Einschränkung auf bestimmte Teile des Berufsbildes eines Lehrberufes, allenfalls unter Ergänzung von Fertigkeiten und Kenntnissen aus Berufsbildern weiterer Lehrberufe, vereinbart werden. In der Vereinbarung sind jedenfalls die zu vermittelnden Fertigkeiten und Kenntnisse und die Dauer der Ausbildung festzulegen. Die Dauer dieser Ausbildung kann zwischen einem und drei Jahren betragen. Ein Ausbildungsvertrag über eine Teilqualifizierung hat Fertigkeiten und Kenntnisse zu umfassen, die im Wirtschaftsleben verwertbar sind. (§8b Abs. 2 BAG, 2003)

Dadurch entstand erstmals die Möglichkeit, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rahmen des Berufsausbildungsgesetzes eine Ausbildung absolvieren können, bei der sie während der Teilqualifizierungslehre rechtlich, in Bezug auf den Lehrlingsschutz, denen, die eine normale Lehre absolvieren, gleichgestellt sind. Auch die Höhe der Mindestentlohnung ist gesetzlich geregelt, divergiert aber in der Regel von Betrieb zu Betrieb. Im Anschluss an die Ausbildung sind Lehrlinge nach Angestelltendienstrecht anzustellen, der Status von Teilqualifikanten - ob diese nun als Hilfsarbeiter oder Angestellte von Betrieben angeheuert werden müssen - ist nach den letzten Informationen aus der Praxis nach wie vor ungeklärt. Üblicherweise werden die AbsolventInnen nach der Ausbildung wie ungelernte ArbeiterInnen entlohnt (vgl. Lösch, 2006, S. 103). Während der Ausbildung begleitet und unterstützt die Berufsausbildungsassistenz die Jugendlichen sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule. Im Fall von Herrn Seiler wird die Berufsausbildungsassistenz vom Land Steiermark finanziert. Auf Grund des hohen "Unterstützungsbedarfs" wird die Finanzierung der "UnterstützerInnen" aus demselben Budgettopf bezahlt wie die Finanzierung einer Beschäftigungstherapie. Diese Praxis ist nicht osterreichweit üblich, sondern eine individuelle Landesregelung. Üblicherweise wird die Berufsausbildungsassistenz aus Bundesmitteln bezahlt. Die derart finanzierte Berufsausbildungsassistenz kann im Durchschnitt pro Lehrling im Rahmen der integrativen Berufsausbildung acht Stunden pro Monat aufwenden - administrative Tätigkeiten eingeschlossen. Menschen, denen Budgets aus Landesmitteln gewährt werden, haben in den meisten Fällen einen höheren Unterstützungsbedarf, als Menschen, deren Unterstützung aus Bundesmitteln finanziert wird. Herrn Seiler wurden aus Landesmitteln etwa 30 direkte und 30 indirekte Unterstützungsstunden pro Monat zuerkannt (Information der Berufsausbildungsassistentin). Das Ausmaß der gewährten Unterstützung wird für jede Person individuell vom Land Steiermark im Rahmen einer Begutachtung festgelegt.

5.2.1.1 Sozialisation und Teilqualifizierung

Herr Seiler selbst beschreibt die Ausbildung und auch die Zusammenarbeit mit den BerufausbildungsassistentInnen als gelungen. Aus qualitativer Sicht hat die Ausbildung im Rahmen der Teilqualifizierung für Herrn Seiler zu einer Integration in wesentlichen Bereichen einen Beitrag geleistet. Auch die die Ergebnisse der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in Auftrag gegebenen Evaluierung der integrativen Berufsausbildung stellen dieser Ausbildungsform ein überwiegend positives Zeugnis aus. Es wird aber festgehalten, dass der vorliegende Endbericht aber nur eine vorläufige Bilanz sein kann und zur Beurteilung der integrativen Berufsausbildung als arbeitsmarktpolitisches Instrument in Bezug auf ihre Wirkung und Nachhaltigkeit einer weiteren Begleitevalution bedarf. Sie stellt diesbezüglich zwei zentrale Fragen in den Raum: Zum einen, ob es gelingt, die integrativen Lehrlinge im Anschluss an die Ausbildung am Arbeitsmarkt zu platzieren; zum anderen bedarf es, um schwerer behinderten Jugendliche den Weg in eine integrative Berufasausbildung zu ermöglichen, ausreichender Unterstützungsangebote, wie Job Coaching und Persönliche Assistenz sowie einer weiteren Flexibilisierung der Teilqualifizierung (vgl. BMWA, 2006, 116).

Dass diese Ausbildungsform zumindest Herrn Seiler gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht hat, davon erzählt er immer wieder und die folgenden Ausschnitte aus dem biografischen Interview zeigen dies in aller Deutlichkeit.

S: Ich bin dann, dann hab ich mir gedacht Möbel, Einrichtungsberater, das wäre irgendwas für mich. Dann bin ich dahergekommen, dann hab ich da Praktikum gehabt, zuerst einmal eine Woche und dann war die Woche so schnell vorbei, und dann hat der Chef gesagt ich war so brav, er verlängert mein Praktikum für eine Woche noch. Und dann war ich noch eine Woche da, und dann hat er gesagt, ja OK er darf noch 2 Wochen länger bleiben. Und dann so früher oder später ist er zu mir gekommen und hat gesagt: Sie Herr Seiler, Sie können mit 01.12.2004 da anfangen. (IV3, S. 8, 1-7)

A: Und in der Berufsschule, bist du da auch Integrationskind? Hast du da einen zweiten Lehrer?

S: Ja, hab ich schon zur Unterstützung.

A: Mmh, und der ist immer da?

S: Ja, nicht immer. Die holen mich z.B. in Rechnen, z.B. holen sie mich aus der Klasse raus, und dann gehen sie in einen anderen Raum mit mir, wo wir eine Ruhe haben, und da lernen sie dann mit mir.

A: Und das ist für dich OK, oder denkst du dir da manchmal, du möchtest da dabei sein?

S: Nein, das ist schon OK für mich. (IV3, S. 10f, 24-5)

A: [...] nein, erzähl noch ganz kurz wie ist das mit der Unterstützung da in der Arbeit, wer hilft dir da?

S: Ja, auch meine Arbeitskollegen und [Name] kommt auch zwei bis dreimal Mal pro Woche vorbei und hilft mir so für zwei bis drei Stunden.

A: Und was macht [Name] z.B. da?

S: Der hilft mir z.B. da im Lager oder Lernen mit mir. (IV3, S. 11f, 29-5)

6 Überlegungen zu den Schwierigkeiten der "beruflichen Sozialisation"

Die in Kapitel 5 eingangs angeführten Sozialisationsebenen von Arbeit charakterisieren den Begriff dieser nicht hinreichend, sondern verstellen den Blick auf die Begrifflichkeit und Empirie derselben eher, da dadurch der Eindruck entsteht, es handle sich bei ebendieser um eine Vermischung von Arbeit und Vergnügen. Bestenfalls lernen wir etwas darüber, was viele Menschen in der Arbeit - aber auch im Leben überhaupt - suchen, aber selten finden (vgl. Zilian, 1999, S. 24). Die von zahlreichen Soziologen, wie Jahoda, Giddens u.a. herausgearbeiteten "Sozialisationsebenen" von Arbeit bieten dennoch eine Möglichkeit, an denen die Auswirkungen von Arbeits- bzw. Beschäftigungslosigkeit beschrieben werden können. Zilian schlägt zur Lösung dieses Problems vor, zwischen Arbeit als Einwirkung auf die Natur und Arbeit als Einwirkung auf Personen zu unterscheiden. Diese beiden Einwirkungen stehen wiederum in einer Wechselseitigkeit zueinander. Der Gedankengang der wechselseitigen Beziehung könnte, vereinfacht gesagt, damit umschrieben werden, dass z.B. der Mensch durch die Produktion eines Gutes auf die Natur einwirkt. Je höher der Wert dieses Gutes ist, desto nutzvoller scheint es für den Menschen und über diesen Nutzen wird auch der Status des Menschen mitdefiniert (vgl. ebd., S. 24). Mit diesen Überlegungen schließt Zilian direkt an den Thesen der lebenslagenspezifischen Sozialisation an und setzt diese in Verbindung zur Natur.

Für Überlegungen zu den "Schwierigkeiten" der "beruflichen Sozialisation" von Menschen mit Lernschwierigkeiten" bieten diese Ebenen dennoch geeignete Anhaltspunkte zur näheren Untersuchung derselben. Vorwiegend liegt in diesem Abschnitt der Fokus auf der Einwirkung der Arbeit auf den Menschen; die eben skizzierten Überlegungen werden aber soweit als möglich integriert.

6.1 Existenzsicherung

Arbeit stellt wie vorhin angeführt für die meisten Menschen den Schlüssel für eine sichere Existenz dar. Dass dies für Menschen, die in einer Beschäftigungstherapie stehen, nicht zutrifft, wurde schon dargestellt. Menschen mit Lernschwierigkeiten müssen in den meisten Fällen mit den für sie vorgesehenen Sozialleistungen (Sozialhilfe, Invaliditätspension, erhöhte Familienbeihilfe, Pflegegeld, ...) das Auskommen finden. Dass sie dadurch zu den ärmeren Bevölkerungsgruppen zählen, ist unbestrittenes Fakt (vgl. Schenk, 2007, S. 3f). An dieser Stelle muss bedacht werden, dass sie auch durch ein reguläres Beschäftigungsverhältnis kaum die Chance haben, einen finanziellen Zugewinn zu verbuchen. Das Lohnniveau in Österreich liegt bei den Arbeiten, die Menschen mit Lernschwierigkeiten "zugemutet" werden, meist unter dem Betrag, den sie durch Sozialleistungen beziehen können. Um diese Differenz auszugleichen, wurde - initiiert durch das Bundessozialamt Landesstelle Wien - eine Möglichkeit der Rückversicherung ausgearbeitet, die versucht sicherzustellen, dass Anspruchsberechtigte weiterhin ihren Lebensstandard beibehalten können, wenn sie ein Beschäftigungsverhältnis aufnehmen. Eine österreichweite Regelung wurde bisher für die erhöhte Familienbeihilfe und die Invaliditätspension getroffen. Auf Landesebene bestehen diesbezüglich nur Vereinbarungen mit der regionalen Landesgeschäftsstelle des AMS Wien und dem der Magistratsabteilung 15, die in Wien für die Auszahlung der sozialen Dauerleistung und der Sozialhilfe verantwortlich zeichnet (vgl. WUK/faktori, 2006). Eine Regelung zur Rückversicherung mit den einzelnen Sozialhilfeabteilungen der Bundesländern in Bezug auf die Übernahme von "Einkommenseinbußen", die durch den Eintritt in ein Arbeitsverhältnis von als durch medizinische Gutachten "dauerhaft erwerbsunfähig" eingestuften Personen entstehen können, gibt es bis dato nicht. Die Sonderform der "sozialen Dauerleistung", die über dem Sozialhilferichtsatz in Wien liegt, wird in den anderen Bundesländern ohnedies nicht gewährt. Dass das nach wie vor bestehende Risiko, bei Aufnahme einer regulären Beschäftigung möglicherweise finanzielle Einbußen hinnehmen zu müssen, nicht motivierend ist, einen "Job" am allgemeinen Arbeitsmarkt anzustreben, scheint auf der Hand zu liegen. Dieses Risiko entsteht im Besonderen, wenn es auf Grund einer besonderen Lebenslage nicht möglich ist, eine Vollzeitarbeit aufzunehmen. Von Zilian wird diese demotivierende Situation durch seine Ausführungen über "opus" und "molestia" unterstrichen. Die Befunde aus den geführten Untersuchungen zeigen, dass zum einen bei den Betroffenen große Ängste bestehen, noch ärmer zu werden, wenn sie eine Arbeit aufnehmen, zum anderen ist ein erhebliches Informationsdefizit zu konstatieren.

W: [...] Nur ich kann es einfach nicht, ich darf es nicht, wenn ich normal arbeiten würde, 40 Stunden in der Woche, so wie du, verlier ich alle meine Ansprüche von der Gemeinde Wien, Dauerleistung, das Pflegegeld und die Kinderbeihilfe. (IV1, S. 19, 4-6)

A: Wieso verliert ihr da Alles?

B: Ja, wenndu zusammenziehst, verlierst du alles Pflegegeld und weil nach dem Gesetz musst du, wenn du heiratest, die Frau dann erhalten und ich weiß nicht, wie das geht - vielleicht ist es jetzt schon besser. (IV5, S. 20, 6-12)

Arbeitslosigkeit, die Aufnahme einer "Beschäftigung", sowie auch die "Arbeit" in einer Beschäftigungstherapie steht für Menschen mit Lernschwierigkeiten also sehr selten in Verbindung damit, dass sich ihre finanzielle Situation verändert. Viel mehr müssen diese akzeptieren, dass sie ihr gesamtes Leben kaum die Möglichkeit haben, durch ihre "Arbeitskraft" ihre finanzielle Situation erheblich zu verbessern. Die Zugehörigkeit zu einer "sozialen Schicht" wird dadurch manifestiert und ein Entkommen aus dieser Spirale der "Armut" bzw. dem "Bedroht-sein-von-Armut" ist augenscheinlich kaum möglich. Anders formuliert könnte behauptet werden, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen, denen von öffentlicher Hand "lebenslängliche Arbeitsunfähigkeit" attestiert wird, die einzige Bevölkerungsgruppe ist, die frei zwischen verschiedenen Lebensformen wählen kann, da weder Arbeit noch Arbeitslosigkeit sowie die Tätigkeit in einer Beschäftigungstherapie zu einer wesentlichen Veränderung der finanziellen Situation führt. Diese Freiheit ist aber nach oben hin eine beschränkte und weist den Betroffenen das "untere Ende der gesellschaftlichen Schichten" zu. Somit führt sie zu einem gesellschaftlich verordneten Status, aus dem es kaum einen Ausweg gibt.

6.2 Soziale Sicherheit

Neben der finanziellen Absicherung bieten "reguläre Beschäftigungsverhältnisse" auch noch andere Sicherheiten, die durch Arbeitsverträge und Gesetze geregelt werden. Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche, das Recht einen Betriebsrat zu gründen, sowie die Möglichkeit der Vertretung durch eine Gewerkschaft, die Arbeitslosen- und die Pensionsversicherung seien an dieser Stelle beispielhaft erwähnt.

Personen in Beschäftigungstherapie weisen nach traditionellem Verständnis keine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Arbeitsrechts auf. Liegt kein Arbeitsverhältnis vor, so ist Arbeitsrecht nicht anzuwenden. Zu prüfen ist, ob diese Ausgangslage aus der Sicht der Arbeitsrechtstheorie zu differenzieren ist, ob also Personen in Beschäftigungstherapie nicht doch zumindest in bestimmten Bereichen als "normale" Arbeitnehmer anzusehen sind. (Reissner, 2005, S. 1)

Menschen in Beschäftigungstherapie kommen, obwohl diese Tatsache von namhaften ExpertInnen aus rechtlicher Sicht bezweifelt wird, nicht in den Genuss dieser Sicherheiten. Dass auch BezieherInnen von Arbeitslosenunterstützung in gewisser Hinsicht entrechtet sind, sei an dieser Stelle kurz erwähnt. Auf Grund dessen, dass die InterviewpartnerInnen nicht in den Genuss derselben kommen, wird auf diese Thematik nicht konkreter eingegangen. In Zusammenhang mit den geführten Erhebungen kann nur berücksichtigt werden, welche Auswirkungen der "rechtlose Status" auf die Entwicklung der Persönlichkeit von Menschen, die in Beschäftigungstherapieangeboten "arbeiten", haben könnte. Dieser Status hat entmündigenden Charakter und kategorisiert diese Personen als "Menschen zweiter bzw. dritter Klasse". Für das Selbstbild der Betroffenen kann dies langfristig nur einen weiteren Beitrag dazu leisten, dass diese sich als stigmatisierte und gesellschaftlich nicht anerkannte Menschen wahrnehmen, die durch diese Praxis zu "rechtlosen BürgerInnen" werden. Die Situation erinnert an Beispiele aus der Geschichte. Die Armen waren unter miserablen Bedingungen eingespannt in Erwerbsarbeit und zugleich ausgeschlossen von allen sozialen Rechten. Heutzutage treffen wir üblicherweise auf Staatsbürger, die mit allen Rechten ausgestattet sind und dennoch vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind (vgl. Kronauer, 2004, S. 37).

An dieser Stelle knüpft diese Arbeit an den Erkenntnissen der Sozialwissenschaften über Armut und Arbeitslosigkeit an und nimmt deren Befund, dass anhaltende Arbeitslosigkeit zu Machtlosigkeit und damit auch zu minimierten Widerstandsmöglichkeiten führt (vgl., ebd., 37f), ernst. In Bezug auf die erhobenen Daten kann nur vermutet werden, dass sich diese Ohnmacht durch die Entrechtung und der damit verbundenen Entmündigung von Menschen mit Lernschwierigkeiten potenziert, und diese dadurch dazu angehalten werden, sich selbst als machtlos zu erleben. Die Wechselseitigkeit von innerer und äußerer Realität wird hier besonders evident. Frau Reiter beschreibt diese Ohnmacht gegenüber Behörden z.B. so:

A: Was genau ist da das wichtigste bei der Selbsthilfegruppe für Sie? Lernen Sie da was oder möchten Sie da etwas verändern?

R: Dass wir ernst genommen werden.

A: Das heißt, dass Sie ernst genommen werden. Haben Sie das Gefühl dass Sie nicht ernst

genommen werden?

R: Ja. Dieses Gefühl haben wir alle miteinander, die ganze Gruppe, schon lange.

A: Dass sie nicht ernst genommen werden von wem?

R: Vom [Name], mit denen streiten wir die ganze Zeit (IV2, S. 14, 14-21)

Besonders auffällig an diesem Auszug ist die Beschreibung des kollektiven Gefühls der Ohnmacht und des Nicht-ernst-genommen-Werdens durch öffentliche Institutionen. Es unterstreicht die Annahme, dass die Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rahmen von Beschäftigungstherapie nicht nur zu einer offensichtlichen Machtlosigkeit führt, sondern die Betroffenen sich auch derart erleben. Herr Bauer, der sich ebenfalls in einer "People First" Gruppe engagiert, berichtet ähnliches.

Dass die "arbeitsrechtlichen Bedingungen" in Beschäftigungstherapieeinrichtungen nicht denen von Angestellten entsprechen, ist Fakt. Dass dies Auswirkungen auf die Sozialisation hat, steht damit außer Frage. Die Form derselben und inwieweit diese z.B. von den Auswirkungen auf "LangzeitbezieherInnen" der Arbeitslosenunterstützung differieren, müsste im Rahmen von Studien geklärt werden.

6.3 Aktivität

Wenn Arbeit häufig Grundlage für den Erwerb und die Ausübung von Fähigkeiten ist, so muss in Bezug auf Menschen mit Lernschwierigkeiten die Frage gestellt werden, inwieweit dies auch auf TeilnehmerInnen einer Beschäftigungstherapie zutrifft.

Dass mit zunehmender Dauer von Arbeitslosigkeit fachliche Qualifikationen, Arbeitsroutinen, Schlüsselqualifikationen und Erfahrungen verloren gehen sowie Kenntnisse veraltern, ist den Sozialwissenschaften bekannt. Zudem führt längere Erwerbslosigkeit in vielen Fällen zu einer Reduzierung des Aktivitätsniveaus. Viele resignieren mit der Zeit, werden passiv und geben die Erwerbsoption endgültig auf (vgl. Doose, 2007, S. 69).

Dass diese Überlegungen auf die Beschäftigungstherapie nicht direkt zu übertragen sind, liegt auf der Hand. Bei den beiden InterviewpartnerInnen, die einen großen Teil ihres bisherigen Lebens ohne Beschäftigung verbracht haben, hat sie in jedem Fall zu einer Zunahme des Aktivitätsniveaus geführt.

A: ... und dann waren Sie zuhause - wie lange?

R: Ungefähr 5 Jahre.

A: Naja, das ist ohnehin lange, und haben Sie es ausgehalten ohne viel zu streiten mit ihrer Mutter? Und das waren schöne Jahre? Versuchen Sie, ein bisserl zu erzählen.

R: Nachher war's ein bisserl fad.

A: Weil?

R: Ja, das nur herum sitzen und die Wände anstarren. (IV2, S. 9, 4-11)

Im Gegensatz dazu machte Frau Reiter in der Beschäftigungstherapie folgende

Erfahrung:

A: Was ist das für eine WS? Was ist da genau ihre Aufgabe?

R: Textilgruppe.

A: Mmh. In der Textilgruppe. Gewand oder was macht man denn da?

R: Ich nähe meistens mit der Nähmaschine und einen 2. Raum haben wir auch dazu, einen Filzraum.

A: Das heißt, Sie machen Sachen auf der Nähmaschine?

R: Ja, da kann ich sitzen. [...].

A: Macht Ihnen das Spaß in der Werkstätte?

R: Ja.

A: Vorhin haben Sie kurz erzählt, am Montag machen Sie immer was mit Tanz oder?

R: Ja, jetzt ist ein Monat Pause im Sommer. Erst dann geht's wieder los. Da wird dann jede Woche einen ganzen Tag geprobt und dann eine ganze Woche.

A: Was ist denn da geplant?

R: Wir machen so etwas wie Ausdruckstanz.

A: Nein, weil ihr da eine ganze Woche lang trainiert und gibt es da eine Aufführung oder so?

R: Wir sollen es am 29. Oktober aufführen in der Fockygasse. (IV2, S. 9f, 33-18)

A: Sie waren ja dann über 25 Jahre nach der Schule oder 20 Jahre heraußen und waren nur zuhause. War das nicht auch fad?

B: Nein ich hab viel Musik gehört, habe selber meine Kassetten aufgenommen [...]

A: Das heißt, sie waren da wirklich den ganzen Tag zuhause?

B: Ja, ich war zuhause, hab Zeitung gelesen, telefoniert, und dann ist auch immer eine Tante zu mir gekommen, jeden Donnerstag oder Mittwoch, die war dann den ganzen Tag bei mir, da haben wir Karten gespielt oder Briefe geschrieben - geh schreiben wir der Tante oder so etwas, damit halt die Zeit vergeht. (IV5, S. 7f, 16-3)

Gerade für Herrn Bauer veränderte sich durch die Beschäftigungstherapie seine Aktivität erheblich. Im folgenden Beispiel beschreibt er seine "Entdeckung" als Telefonist. Diese Begabung konnte er dann auch in der Beschäftigungstherapie einsetzen und beschreibt sie nach wie vor als seinen Traumjob.

B: [...], ja das wollt ich auch noch sagen, wie ich angefangen habe beim Institut [Name] zu wohnen, sind sie draufgekommen, dass ich gut telefonieren kann, und dann war ich noch Telefonist auch in der Leitermeiergasse im Büro, und dann bin ich mit ihnen noch übersiedelt in die Bergsteiggasse. (IV5, S. 12, 8-11)

An diesen Veränderungen ist zu erkennen, dass durch die Beschäftigungstherapie beide InterviewpartnerInnen eine Zunahme von Aktivität erfahren haben. Dass dies auch mit dem Zugewinn an Fähigkeiten einhergeht und Talente entdeckt werden, die ansonsten verborgen bleiben, beschreiben diese beiden Geschichten an Hand der Beispiele von Tanz und Kommunikation. Aber nicht nur diese beiden Interviews zeigen, dass Beschäftigungstherapie auf Grund der dort ausgeübten Aktivitäten Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung haben kann. In den beiden anderen Interviews finden sich weitere Belege für diese Annahme.

Wir haben auch im Rathaus gearbeitet, und da hab ich sogar mitgeholfen. Da haben wir ein Buffet aufgebaut, da hab ich sogar mitgearbeitet. Da war ich dabei, da bin ich erst um halb 2 in der Früh heimgekommen. Da hab ich dann am nächsten Tag frei gekriegt. Das war total cool, und so. (IV1, S. 9, 30-33).

Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass Beschäftigung nicht per se zu einem Mehr an Aktivität - orientiert an Giddens die Grundlage für den Erwerb und die Ausübung von Fähigkeiten - führt. Diese Annahme kann im Übrigen auch nicht für alle Bereiche von Erwerbsarbeit geteilt werden.

Die Teilnahme an einer Beschäftigungstherapie mag zwar in vielen Fällen zu einer Befriedigung durch die Unterscheidung von den sonstigen häuslichen Tätigkeiten führen. "Vorstrukturierte Abwechslung" bieten Arbeit sowie Beschäftigungstherapie im Gegensatz zu Arbeitslosigkeit in jeden Fall an.

6.3.1 Hilfstätigkeiten als einzige "berufliche Chance"

Der Annahme, dass monotone Arbeiten, oder andere "Tätigkeiten", die im gesellschaftlichen Ansehen eher am unteren Ende der Statusleiter angesiedelt sind, sozusagen beinahe lustvoll erlebt werden (vgl. Zilian, 1999, S. 24), kann aus Sicht dieser Erhebungen, in Anlehnung an Zilian eine Absage erteilt werden. Die Befunde zeugen davon, dass Arbeit nicht gleich Arbeit ist und verschiedenste Tätigkeiten - das können auch Einfache sein - zu Arbeitszufriedenheit führen, wenn sie ein Mindestmaß an Herausforderung bedeuten. Tätigkeiten, die mühselig erlebt werden, oder in den Augen der Ausführenden als so genannte "schlechte Arbeiten" gesehen werden, führen nicht geradewegs zum Erwerb von Fähigkeiten, sondern lösen viel mehr Unzufriedenheit aus. Dies führt möglicherweise zu einem Abnehmen von Aktivität.

Menschen mit Lernschwierigkeiten sind auf allen Ebenen des allgemeinen wie "geschützten" Arbeitsmarktes davon betroffen, dass sie häufig eher die "niedrigen Dienste" verrichten müssen. In vielen Beschäftigungstherapieeinrichtungen werden z.B. Industriearbeiten ausgeführt. Zudem werden Betroffene, denen sozusagen "zugetraut" wird, in Zukunft auf dem "regulären Arbeitsmarkt" unterzukommen, in Bereichen wie Reinigung und Küchenhilfe qualifiziert, die nur geringe Qualifikationen voraussetzen. Dass aber nicht alle Menschen mit Lernschwierigkeiten diese Tätigkeiten gerne ausführen, liegt in der Individualität des Menschen begründet. Bei den Interviewten führte dies zu großer Unzufriedenheit:

Weil die einzige Möglichkeit in einer BT für mich ist immer die Haushaltsgruppe und das mag ich einfach nicht mehr." (IV1, S. 21, 29-30)

Auf Unzufriedenheit in Zusammenhang mit monotoner Arbeit weisen schon die Passagen in Kapitel 5.1.1.1 hin. Zumindest für die interviewten Personen gilt, dass die Zufriedenheit mit "Arbeit" sehr stark mit der Art der Tätigkeit zusammenhängt. In Verbindung damit kann auch konstatiert werden, dass herausfordernde Tätigkeiten nicht nur zu einer höheren Zufriedenheit geführt haben, sondern diese sich auch auf die Entwicklung und das Lernen positiv auswirken. So zeigen einige schon erwähnte Beispiele, dass dadurch neue Fähigkeiten entdeckt und ausgebaut werden konnten. Überforderung kann im Gegenzuzug aber wieder zur Beendigung von Beschäftigung führen. Herr Maler wollte auf Grund dessen im Anschluss an ein Praktikum beinahe seine Arbeitssuche beenden (vgl. Memo IV3). Herr Wotruba hat auf Grund von Überbelastung mehrere "Beschäftigungsverhältnisse" beendet.

Dass Hilfstätigkeiten von Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch am allgemeinen Arbeitsmarkt gemeinhin zu den ihnen zugewiesenen Tätigkeiten gehören, ist die Kehrseite der Medaille. Qualifikationen im Bereich der Reinigung, Küchenhilfe und andere Hilfstätigkeiten sind die Bereiche, in denen Betriebe Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschäftigen bzw. sich vorstellen können, diese zu beschäftigen (Wendelberger, 2006. S. 39). "In einer grausamen und leistungsorientierten Welt sind Behinderte mit größerer Wahrscheinlichkeit unter den Hilfskräften anzutreffen als auf den höheren Ebenen des Statusgebildes" (Verhovsek, Zilian, 1998, S. 66). Dass dies möglicherweise für Menschen mit Lernschwierigkeiten im Besonderen zutreffen dürfte, kann hier nur vermutet werden. Die InterviewpartnerInnen, die in ihrer Biografie in einem regulären Arbeitsverhältnis standen, machten derartige Erfahrungen am Arbeitsmarkt und fühlten sich dadurch diskriminiert.

R: Ich hab immer die Sachen gekriegt, die normal keiner hat machen wollen. Das Eisen Putzen und lauter so Sachen. (IV2, S. 6, 15-16)

Festgehalten werden kann, dass Menschen mit Behinderungen und, die Vermutung liegt nahe, im Besonderen mit Lernschwierigkeiten, nicht selten dankbar sein müssen, "wenn sie irgendeine Arbeit finden; sie gehören zu jenen Menschen, für die manchmal ein paar Brocken von einem reich gedeckten Tisch abfallen." (Verhovsek, Zilian, 1998, S. 66).

[...] und er hat gesagt du machst bei mir Portier du schaust du bekommst von mir eine Liste, du schaust wer zu mir rauf kommt ins Büro oder zur [Name] und das verbindest und hakelst es ab und schreibst das Datum dazu und du wirst wahrscheinlich 300 Euro bekommen [...] er hat ja gewusst, dass ich telefonieren kann und ein bisserl lesen kann und wie es dann drauf angekommen ist und wie ich ihn dann drauf angeredet hab hat er gesagt - Nein. (IV5, 12f, S. 27, 27-9).

Am allgemeinen Arbeitsmarkt haben Betroffene bei hoher Arbeitslosigkeit und ständiger Konkurrenz mit Nicht-Behinderten wenig Chancen. Damit sind sie an die Mechanismen der öffentlichen Hand verwiesen (vgl. Verhovsek, Zilian, 1998, S. 67), die neben der Stigmatisierung durch den Bezug von öffentlichen Geldern, der Entrechtung in Beschäftigungsverhältnissen zudem häufig nicht einmal den Vorteil bieten, dass an derart finanzierten "Beschäftigungsplätzen" "gesellschaftlich anerkannte bzw. interessante" Tätigkeiten ausgeführt werden. Viel mehr wird auch auf dieser Ebene das Bestmögliche getan, um Menschen mit Behinderungen auf die unterste Stufe zu quetschen (vgl. ebd., S. 66).

"Beschäftigung" im Kontext der beruflichen Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten führt nicht in jedem Fall zu Aktivität und ist damit Grundlage für den Erwerb und die Ausübung von Fähigkeiten. Die Art der Tätigkeit, und ob diese auf ein Mindestmaß an persönlichem Interesse stößt, korreliert mit den aktivierenden Elementen derselben.

6.4 Zeit und (Zeit)struktur

Dass Arbeitslosigkeit zu einer Verlangsamung des Tempos und damit zu einer Verringerung von Aktivität führt, haben schon die AutorInnen der Studie "Die Arbeitslosen vom Marienthal" eindrucksvoll belegt. Sie stellten fest, dass die männlichen Bewohner dieses Dorfes, das auf Grund der Schließung einer Fabrik von Massenarbeitslosigkeit betroffen war, sogar ihre Schrittgeschwindigkeit verringerten. "Nichts mehr muß schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen." (Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel, 1975, S. 83). Ein Zeitzerfall, wie er bei den Männern festgestellt wurde, ließ sich bei den Frauen nicht nachweisen. Diese wollten zwar auch wieder - nicht nur aus materiellen Gründen - zurück in die Fabrik, da diese ihren Lebensraum erweitert und soziale Kontakte ermöglicht hat (vgl. ebd., S. 92). Der geschlechtsspezifische Unterschied wird in dieser Studie durch die damals wie heute überwiegend von den Frauen geleistete Hausarbeit erklärt, die es den Frauen ermöglichte, eine als sinnvoll erlebte Tagesstruktur beizubehalten.

Inwieweit dieses den Tag strukturierende Element von Arbeit auch auf Menschen mit Lernschwierigkeiten übertragen werden kann, ist zu hinterfragen. Auch wenn die Interviewten davon berichten, dass ihnen während langer Phasen von Arbeitslosigkeit häufig langweilig war, so fällt doch auf, dass die Befragten in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit eine Tagesstruktur aufrechterhalten konnten (sieh dazu auch Auszüge in Kapitel 6.3).

S: Ja ich bin immer zuhause gewesen, dann hab ich nie gewusst was soll ich jetzt tun. Ich habs daheim gar nimmer ausgehalten, und dann hab ich mir gedacht irgendwas muss ich jetzt tun, und dann bin ich halt immer aufgestanden in der Früh und hab meinen Schulwart von der Hauptschule angerufen, und hab gefragt: "Du Andi, brauchst du Hilfe? Ich hab noch keinen Job, ich komme rauf und helfe dir." Und dann hab ich die ganzen zweieinhalb Jahre am Vormittag immer meinem Schulwart geholfen dort oben. Sessel reparieren alles Mögliche. (IV3, S. 6, 7-12)

Viel mehr gibt es in den Interviews, als auch in der einschlägigen Fachdiskussion teilweise Hinweise darauf, dass dem Thema Zeit und Zeitstruktur in Bezug auf Arbeit (und auch auf andere Lebensbereiche) von Menschen mit Lernschwierigkeiten verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet werden muss.

Bezogen auf Menschen mit schweren Behinderungen müssen wir unsere Sichtweise erweitern: Menschen mit Behinderungen arbeiten tagtäglich durch ihr zielgerichtetes Handeln. Meist jedoch erkennen wir, die HelferInnen und professionellen UnterstützerInnen, nicht die Bedeutung solcher Handlungen. (Burtscher, Ginnold, Hömberg, 2001, S. 6)

Die AutorInnen des hier zitierten Beitrags zur beruflichen Integration erweitern an dieser Stelle die Sichtweise von "Arbeit" bezogen auf Menschen mit Behinderungen. Dabei beziehen sie sich auf Überlegungen von Maria Jahoda, die folgende Ebenen von Arbeit identifizierte und von den VerfasserInnen derart gereiht werden:

  • Sie gibt dem wach erlebten Tag eine Zeitstruktur;

  • sie erweitert die Bandbreite der sozialen Beziehungen über die oft stark emotional besetzten Beziehungen zur Familie und zur unmittelbaren Nachbarschaft hinaus;

  • mittels Arbeitsleistungen demonstriert sie, dass die Ziele und Leistungen eines Kollektivs diejenigen des Individuums transzendieren;

  • sie weist einen sozialen Status zu und klärt die persönliche Identität;

  • sie verlangt eine regelmäßige Aktivität" (Jahoda, 1986, S. 136. In ebd., S. 6)

Giddens, der eine ähnliche Liste anführte, erweitert die Definition von Arbeit um die der unbezahlten Arbeit (wie z.B. der Hausarbeit, des Ehrenamtes u.a.). Bei Menschen mit Lernschwierigkeiten kann davon ausgegangen werden, dass sie im Alltag für die Verrichtung anstehender unbezahlter Arbeit viel Zeit aufwenden müssen. Diese Überlegungen bestärken die Vermutung, dass sich das destrukturierende Moment von Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten in einem geringeren Ausmaß auswirkt, als dies bei den arbeitlosen Männern aus Marienthal der Fall war.

Viel mehr liegt die Vermutung nahe, dass auf Grund des erhöhten "Arbeitsaufwandes" für Menschen mit Lernschwierigkeiten zeitliche Strukturen, wie sie in einer Beschäftigungstherapie oder bei denen einer Vollzeitanstellung bestehen, das Zeitbudget der Betroffenen zu stark einengen. Es könnte sein, dass sie durch diesen intensiven Zeitaufwand für "Arbeit" an der Führung eines selbständigen Lebens gehindert werden, da sie dadurch im Privatleben mehr Unterstützung brauchen, als notwendig wäre, wenn genügend Zeit (für Haushalt, Freizeit, Gesundheit, ...) zur Verfügung stünde. Wenn im Rahmen von "Beschäftigungsverhältnissen" auf die individuelle Zeitspanne, in der Arbeit geleistet werden kann, sowie auf das Arbeits- und Lerntempo Rücksicht genommen wird, würde dies möglicherweise den Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen mit Lernschwierigkeiten entgegenkommen. Hinweise darauf finden sich in den geführten Interviews an verschiedensten Stellen.

W: Also, so, ich würde das mal so sehn, dass ich in der Früh so um 10 anfange, dass ich dann mit den Pferden oder mit den Tieren oder das was ich mache einfach mit Freude mach, dass es mir gut geht, dass ich z.B. wenn ich während der Arbeitszeit z.B. einen Psychotherapie-Termin habe, dass ich hin kann, dass das kein Problem ist. Und dass ich um zwei oder drei oder so aufhören kann. Oder um zwei und dann einfach heimgehen kann. So Halbtagsarbeit einfach. (IV1, S. 15, 3-8)

"Ja, sagen wir 5 oder 6 Stunden, kommt drauf an wie die Arbeit ist, wie viele Telefonate man führen muss." (IV5, S. 27, 6-7) antwortet Herr Bauer auf die Frage nach der idealen täglichen Arbeitszeit. Auch Herr Maler berichtet davon, dass er kaum Zeit findet, seine alltäglichen Tätigkeiten zu erledigen. Aus diesem Grund steht er häufig schon sehr früh auf und fühlt sich ständig müde (vgl. Memo IV3). Herr Wotruba berichtet trotz derzeitiger Arbeitslosigkeit davon, wie viel Stress er hat. Auf die Frage: "Das heißt, du hast so viel Stress?" gibt er zur Antwort: "Ja, schon, vor allem jetzt wo ich umzieh, ich bereit mich darauf total vor, und das ist mir zu viel - teilweise." (IV1, S. 16, 21-33)

Wenn wir an dieser Stelle zusätzlich erkennen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten auch im Arbeitsprozess (oder in der Schule) mehr Zeit aufwenden müssen, um Arbeiten zu erledigen oder Prozesse zu verstehen, als üblicherweise erwartet wird, unterstützt dies die vorhin erörterte Annahme, dass der notwendige Zeitbedarf für anfallende "Arbeiten" im Alltag bei einer Vollzeitbeschäftigung kaum ausreichend ist. Die Tätigkeiten können vom Management der meist knappen Haushaltskasse, über die Wohnungsreinigung, bis hin zur Gesundheitsvorsorge - oben angeführte Psychotherapie eingeschlossen - reichen.

Für eine hinreichende Strukturierung und weitest möglich selbständige Organisation des Alltags muss aus dieser Perspektive ein anderes Ausmaß an "wöchentlich üblicher Normalarbeitszeit" nahe gelegt werden, das sich an den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen orientiert. Menschen mit Lernschwierigkeiten haben dann noch immer, wie eben dargelegt, genug an Arbeit zu leisten.

6.4.1 Die Zeit - oder von der Entdeckung der Langsamkeit

Bevor im Folgendem das Wort "Zeit" weiterhin im Zentrum der Abhandlungen steht, sei vorangestellt, dass die durchgeführten qualitativen Interviews, wenige theoretische Arbeiten sowie zahlreiche Berichte von PraktikerInnen der sozialen Arbeit Hinweise darauf geben, dass eine Herausforderungen der Zukunft darin liegt, Arbeits- und Beschäftigungsplätze, sowie auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht aus der Gesellschaft und dem Arbeitsprozess ausgeschlossen werden, sondern die Möglichkeit haben, in dem ihnen entsprechenden Tempo zu lernen.

"Ich weiß, ich schaff es [...] Schritt für Schritt einfach."(IV1, S. 19, 11)

Das Auftreten (sichtbar werden) von Lernschwierigkeiten dürfte in einem engen Zusammenhang mit Zeit stehen. Alle InterviewpartnerInnen waren im Laufe ihrer Biografie mit Situationen konfrontiert, in denen sie auf Grund eines anderen Zeitbezuges diskreditiert wurden. Das Thema wurde aber in der bisherigen Fachliteratur in Bezug auf Menschen mit Lernschwierigkeiten kaum diskutiert. Auch wenn die Zeit längst von PhilosophInnen, SozialwissenschafterInnen, u. a. als eine zentrale gesellschaftliche Dimension erkannt wurde, so muss sich die soziale Arbeit den Herausforderungen der "Zeit" erst stellen.

W: Der Stress [im Schulungsrestaurant], war mir teilweise auch zu viel. Ich wollt auch wechseln, freiwillig. (IV1, S10, 1)

W: [...] Hab's [die Beschäftigungstherapie] aber dann geschmissen, im August letzten Jahres. Und weil ich einfach psychisch total fertig war, und mir es extrem scheiße gegangen ist und mir das zu viel war leider auch, ich hätte es nicht gedacht, aber es war so. (IV1, S. 13, 15-18)

R: Dann hab ich mit einer Lehre im Einzelhandel angefangen - [sehr emotional], mich ist das so auf den Hammer gegangen von dem Chef, weil er immer "gematschkert" hat "einmal geht's und einmal geht's nicht mit mir".

A: Was heißt das genau, einmal geht's und einmal geht's nicht?

R: Ja, ich hab ja damals noch die Epilepsie gehabt, und damals war's noch schlechter und drum hat er das gesagt, einmal geht's und einmal nicht. [...] irgendwas war da, entweder war ich zu langsam oder sonst irgendwas. (IV2, S. 5, 21-30)

A: Erzählen Sie mir das ein bisserl genauer?

R: [Verärgert] Na auf Grund, weil die Epilepsie gekommen ist, haben's mich in Pension geschickt, frühzeitig. (IV2, S. 7, 10-14)

S: Die [epileptische Anfälle] hauen mich komplett um, das heißt ich brich weg, bin zwei bis drei Minuten komplett weg, dann komm ich wieder zu mir, und dann weiß ich nicht, was ist passiert, wo bin ich, wie heiße ich, das ist alles komplett weg. Also das komplette Kurzzeitgedächtnis und dann schlaf ich zwei, drei Stunden und dann weiß ich wieder alles genau. (IV4, S. 13, 24-27)

A: Was ist dir dann [im Anschluss an ein dreimonatiges Betriebspraktikum] so passiert?

S: Ja, ich hab mich dann so geärgert, dass mich die nicht genommen haben und da war ich ziemlich sauer. (IV4, S. 7, 17-20)

B: Naja, es ist so. Ich brauch halt bei vielen Sachen auch Unterstützung, ich kann langsam schreiben, ich kann aber gut formulieren und diktieren. (IV5, S. 24, 13-14)

B: Unddann ist mir das alles zu langsam gegangen, weil dann wollt ich das Erleben, was ich sozusagen die ganzen 32 Jahre versäumt hab, weil wir ja im 80er Jahr die Behindertenwohnung gekriegt und da sind wir dann täglich fort gegangen in die Einkaufszentren und so. (IV5, S. 15, 21¬23)

Die angeführten Beispiele aus dem erhobenen Material, in denen Bezug auf verschiedene Dimensionen von Zeit genommen wird, führen deutlich vor Augen, dass die Befragten in verschiedenen Formen mit der Zeit und den Herausforderungen, die diese im Zusammenspiel "Gesellschaft - Individuum - Natur " für den Menschen bedeuten, konfrontiert wurden. Das reicht vom Abweichen der gesellschaftlichen "Norm" des Lern- und Arbeitstempos über geringere als übliche Konzentrations- und Leistungsspannen (einmal geht´s und einmal nicht) bis hin zur Dauer der Merkfähigkeit.

Neben den hier aufgezählten Dimensionen spielt Zeit gewiss auch eine Rolle in Bezug auf den gesellschaftlichen Status - eine frühzeitige Pensionierung, eine verlängerte Lehrzeit, ... An dieser Stelle die Dimensionen der Zeit vollständig zu erarbeiten, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, den das Kapitel in "Zeit" birgt. Gerade dann, wenn wir in Betracht ziehen, dass der Zeit als Institution bei beinahe allen gesellschaftlichen Vorgängen in unserem "Zeitabschnitt" eine wesentliche Rolle zukommt. Schlagworte wie "Zeit ist Geld" oder "Zeit ist Macht" bestimmen in vielen Bereichen das Wesen der "Postmoderne". Einzig die langsam erstarkenden Rufe nach "Entschleunigung" deuten auf eine (Wieder)"Entdeckung der Langsamkeit" (Nadolny, 2006) hin. Die rasante Entwicklung der Gesellschaft wird, begünstigt durch den Boom der modernen Kommunikationstechnologien, wohl noch auf unbestimmte Zeit voranschreiten und vom "Scheffeln" nach Geld und Macht und somit nach Zeit geprägt sein.

Eine wesentliche Dimension, die Zeit in jedem Fall birgt, ist die Ebene der "Selbst- und Fremdwahrnehmung". Wenn wir, wie Elias in seinen Ausführungen "Über die Zeit" (1988) davon ausgehen, dass es eine "physikalische" und eine "gesellschaftliche" Zeit gibt (vgl. ebd. 1988), dann muss auch das Phänomen der individuellen Zeit diskutiert werden. Im Verständnis dieses Textes ist die individuelle Zeit das Ergebnis des Zusammenspiels von physikalischer und gesellschaftlicher Zeit. Dazu gehört auch die Zeitspanne, um mit dem Gegenüber in Beziehung zu treten und die damit verbundene Möglichkeit, die eigene wie die Zeit der Anderen anzuerkennen.

W: [...] und dass ich überall, wo ich hinkomme mit dem gleichen Respekt behandelt werde, wie jeder normale andere Mensch auch. Das ist für mich sehr, sehr wichtig. (IV1, S. 23, 16-20)

Gelingt es nicht, die Zeit des Anderen anzuerkennen, führt dies voraussichtlich zu Kommunikationsschwierigkeiten. Elias beschreibt das individuelle Abweichen von der "gesellschaftlichen Zeit", also der Zeit als Symbol für eine "soziale Institution", durch die "Fremdzwang" ausgeübt wird (vgl. ebd., 1988, S. XVIII) und die damit verbundenen Schwierigkeiten treffend:

Wenn er oder sie es nicht lernt, während der ersten zehn Jahre des Lebens eine dieser Institution gemäße Selbstzwangapparatur zu entwickeln, wenn, mit anderen Worten, ein heranwachsender Mensch in einer solchen Gesellschaft nicht frühzeitig lernt, das eigene Verhalten und Empfinden selbst entsprechend der sozialen Institution der Zeit zu regulieren, dann wird es für einen solchen Menschen recht schwer, wenn nicht unmöglich sein, in dieser Gesellschaft die Position eines Erwachsenen auszufüllen. (ebd., 1988, S. XVIII)

Eindrucksvoll belegen diese Zeilen die Macht der "Zeit" als Institution über den Menschen. Sie ist zentrales Element der Anerkennung in unserer Gesellschaft und Schlüssel zum Eintritt in die Position als Erwachsener. In einer Gesellschaft, in der die "Macht der Zeit" voraussichtlich weiter wächst, lässt dies, wenn nicht beachtet wird, dass die Zeit auch eine "individuelle" ist und diese der Menschheit nicht nur als gesellschaftliche Institution zur Strukturierung des Alltags dient und damit ihr Leben bestimmt, befürchten, dass immer mehr Menschen mit Lernschwierigkeiten von gesellschaftlichen Teilhabeprozessen ausgeschlossen werden. Die ständige Ausdehnung der menschlicher Gesellschaften innerhalb des "nicht-menschlichen", des natürlichen (physikalischen) Sektors der Welt, hat dazu geführt, dass der Eindruck entstanden ist, als würden Natur und Gesellschaft in getrennten Abteilungen existieren. Redewendungen, wie die Zeit könnte unter bestimmten Umständen schrumpfen oder sich ausdehnen unterstützten den Mythos der dinghaften Zeit, die von Newton, Einstein und anderen postuliert wurde. Eine kritische Überprüfung des Zeitbegriffs verlangt ein Verständnis für die Beziehung zwischen physikalischer und sozialer Zeit (vgl. ebd., 1988, S. 9).

Vom strukturierenden Element von Zeit ist der Weg zur strukturierenden Dimension von Raum nicht weit. Giddens geht in seiner "Theorie der Strukturierung" davon aus, dass jede "soziale Interaktion" von "Raum - Zeit Grenzen" bestimmt wird. Er beschreibt diese Grenzen als die besondere Bedingung von Interaktion, und auch als die Bedingungen für die flüchtigsten Formen sozialer Begegnung und Unterhaltung (vgl. Giddens, 1988, S. 389). Der Einfluss von Raum und Zeit auf alle gesellschaftlichen Ereignisse steht damit fest und untermauert deren Macht.

Die vielen schon skizzierten Beschränkungen, die Menschen mit Lernschwierigkeiten erleben, wenn sie es nicht schaffen, sich der gesellschaftlichen Institution Zeit anzupassen, erscheinen in Anbetracht der Macht des "Raum und Zeit Kontinuums" verständlicher. Die Diskreditierung von erwachsenen Menschen scheint sich teilweise in einer Divergenz zwischen dem allgemeinen Zeitverständnis und der in der Person gelegenen individuellen Zeit, die der gesellschaftlichen Ordnung nicht entspricht, zu begründen. Vielleicht wird es eine Auseinandersetzung mit der Beziehung von sozialer und natürlicher Zeit "den Mitgliedern hochdifferenzierter Staatsgesellschaften leichter machen, ihre eigene Erfahrung der Zeit und damit sich selbst zu verstehen." (Elias, 1988, S. 190). Der Versuch, "gesellschaftliche" und "natürliche" Zeit wieder zu koppeln, würde möglicherweise Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten wieder die Möglichkeit geben, nicht an einem festgelegten Tag im Kalenderjahr das Korn zu säen, sondern den günstigen Zeitpunkt dafür zu wählen. Gelingt es diese Herausforderung zu bewerkstelligen, wie sie Elisas beschreibt, würden wieder mehr Menschen als gleichberechtigte und erwachsene Bürger an der Gesellschaft teilhaben können und könnten sich in Raum und Zeit möglicherweise ein Stück freier bewegen.

Viel bleibt noch zu tun. Aber vielleicht wird man sich daran erinnern, dass der Mond als Mittel der Zeitbestimmung aus dem Leben der urbanisierten Bürger industrieller Nationalstaaten, die unter dem Druck der Zeit leiden, ohne ihn zu verstehen, so gut wie verschwunden ist, einstmals Bote war, der den Menschen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen erlaubte, Einschnitte in ihrem sozialen Leben zu setzen. (ebd., 1988, S. 190)

6.5 Soziale Kontakte

Wie schon der kurze Bericht über die "Hausfrauen" aus Marienthal dokumentiert, ist ein weiteres Motiv einer "Arbeit" nachzugehen darin begründet, dass dadurch der Kreis der sozialen Kontakte erweitert wird. Dieser eher positiv bewertete Charakter von Arbeit trifft naturgemäß auch für die Beschäftigungsformen von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu. Diese Ausführungen konzentrieren sich auf die Besonderheiten, die im Lauf der beruflichen Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten auftreten.

6.5.1 Diskriminierung unter Gleichgestellten

Aus sozialisationstheoretischer Perspektive erscheint folgendes Beispiel höchst interessant, da es eine Form von Diskriminierung zeigt, mit der Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rahmen ihrer "beruflichen" aber auch allgemeinen Sozialisation konfrontiert werden können:

A: Was haben Sie denn da gerne gemacht?

R: Ich hab immer die Sachen gekriegt, die normal keiner hat machen wollen. Das Eisen putzen und lauter so Sachen.

A: Und Sie haben sozusagen die schlechte Arbeit bekommen? Das ist öfter so bei Lehrlingen, glaub ich.

R: Selbst die haben sich von der Arbeit gedrückt und haben es gern mir gegeben.

A: Die anderen Lehrlinge? Waren da mehrere Lehrlinge in ihrem Alter?

R: Ja. (IV 2, S. 6, 14-21)

Frau Reiter beschreibt hier ein Phänomen, das zu einer besonderen Form der Stigmatisierung führt. Nämlich zum Erlebnis, dass sie unter Ihresgleichen ausgegrenzt wurde. Nicht nur der Chef hat ihr die "Drecksarbeit" zugeteilt, viel mehr haben ihre KollegInnen (die anderen Lehrlinge) noch einmal differenziert und ihr die schlechte Arbeit zugewiesen. Diese Situation erinnert an das Aristotelische Prinzip, das etwas umformuliert lautet: "Die Gerechtigkeit wird verletzt, wenn entweder Gleiche Ungleiches bekommen und Ungleiche Gleiches bekommen." (Jarre, 2006, S. 15) Die Auswirkungen von Stigmatisierung, wenn Menschen unter Gleichen benachteiligt werden und nicht alle (MitarbeiterInnen) die gleich schlechten oder guten Arbeiten in gleichem Ausmaß verteilt verrichten müssen, erscheinen vor diesem Hintergrund weitaus gravierender, als wenn in einer Firma alle FließbandarbeiterInnen dasselbe tun müssen.

Die Vermutung, dass diese Interviewpassage, abseits der Macht der Institution Zeit, auf die Krux des Inklusions- bzw. Integrationsgedankens hinweist, drängt sich an dieser Stelle auf. Menschen, deren Lernschwierigkeiten von der Außenwelt als "sichtbar" wahrgenommen werden, also für Außenstehende evident sind, müssen davon ausgehen, aller Voraussicht mit Stigmatisierung konfrontiert zu werden. Goffman charakterisiert "Visibilität" nicht als etwas, das nur mit den Augen wahrgenommen werden kann, sondern meint damit die Tatsache, dass ein Stigma von Außenstehenden als solches leicht erkannt wird. Je "visibler" ein Stigma ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Stigmatisierung (vgl. Goffman, 1975, S. 64). Es ist leider nicht davon auszugehen, dass die Menschen ihre grausigen Riten, andere auszugrenzen, Kriege zu führen oder ihresgleichen auf die eine oder andere Weise zu verletzen, in naher Zukunft aufgeben werden. Da auch nicht davon auszugehen ist, dass die moderne Medizin, Psychologie oder eine andere Wissenschaften dem Auftreten von Lernschwierigkeiten derart vorbeugen können, sodass diese aus unserem Gesellschaftssystem entschwinden, wird sich Segregation und Exklusion weiterhin fortsetzen. Aufgabe der Sozialwissenschaften muss sein, der Frage nachzugehen, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssten, um die günstigsten Voraussetzungen für eine möglichst gelungene Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu schaffen.

Es gehört zum eigenartigen Zauber dieser Welt, daß sie Außenstehende entweder zermalmt oder vereinnahmt; dieses Merkmal teilt sie mit totalitären und religiösen Bewegungen. (Zilian, 1999, S. 118)

Dieser Hinweis Zilians auf die Unerbittlichkeit der Welt und damit des Menschen bietet zwar die Möglichkeit "vereinnahmt" zu werden, wie im Fall des Rikschafahrers, der es schafft, dass 100 andere seine Rikschas fahren (vgl. ebd., S. 118), Dies wird aber genauso wie in Indien, auch in der Welt von Menschen mit Lernschwierigkeiten eher selten vorkommen. Dass es die Möglichkeit dazu gibt, steht außer Frage.

6.5.2 Soziale Isolation: Einsamkeit und Peer-Gruppe(nzwang)

Ein wesentlicher Aspekt, der sowohl auf Arbeitslose als auch auf Menschen zutrifft, die in Beschäftigungstherapie stehen, ist, dass Ausgrenzung zunehmend die Gefahr bedeutet, einer sozialen Isolation ausgesetzt zu sein. Langzeitarbeitslose, arme und behinderte Menschen leben häufiger allein als Erwerbstätige. Ihre Kontakte beschränken sich oft auf Menschen in ähnlicher, benachteiligter Lage. Dadurch wird der Zugang zu Informationen und materiellen Hilfeleistungen, die aus der Lage herausführen könnten, weiter eingeschränkt. (vgl. Kronauer, S. 39; Schenk, 2005, S. 2).

Menschen mit Lernschwierigkeiten erleben diese Ausgrenzung aus der Vielfältigkeit von Sozialkontakten tagtäglich durch die Grenzen der von der Gesellschaft für sie vorgesehenen Institutionen. Das Arbeiten in einer Beschäftigungstherapie, das Wohnen in betreuten Wohngemeinschaften oder Wohnheimen, sowie die meisten Freizeitangeboten beschränken sich meist ausschließlich auf die Zielgruppe. Dass die Betroffenen selbst ihre Isolation manifestieren, indem sie kaum nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten, um ihre sozialen Kontakte auszuweiten, lassen die Erhebungen vermuten. Auch die Auswirkungen dieser sozialen Verarmung, wie z.B. Informationsdefizite über zentrale Belange, werden sichtbar.

Ob die Ursache der sozialen Isolation von Menschen mit Lernschwierigkeiten nun eher darin liegt, weil ihnen die Möglichkeiten, an der Gesellschaft zu partizipieren, von Seiten derselben vorenthalten werden, oder ob Menschen mit Lernschwierigkeiten einfach grundsätzlich bevorzugen "unter sich" zu bleiben, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein wesentlicher Faktor sind, der die Isolation begünstigt, wurde schon erläutert. Dass aber Ausgrenzung mit sich bringt, dass die Betroffenen es teilweise bevorzugen, sich von der Außenwelt zu distanzieren, scheint nachvollziehbar. Dieser Umstand wurde aber von den InterviewpartnerInnen nicht thematisiert. Viel mehr gibt es Hinweise darauf, dass die sozialen Kontakte und das Umfeld sehr stark davon geprägt sind, dass auf Grund der Strukturen, in denen sie leben müssen, kaum Möglichkeiten bestehen, abseits der vom Wohlfahrtssystem vorgesehenen Angebote Beziehungen zu knüpfen.

A: Aus welchem Grund wolltest du eigentlich unbedingt in die WG [Name]?

W: Weil ich dort Freunde hatte. Die waren mit mir im Haas-Bus, mit dem bin ich gefahren und da hab ich die kennen gelernt. Die haben am Himmel gearbeitet, am Heim oben.

A: Du hast dort Freunde gehabt? Die hast du kennen gelernt über die Hans-Radl-Schule?

W: Nein, die hab ich kennen gelernt, da war ich noch in der Hans-Radl-Schule, da bin ich mit dem Haas-Bus gefahren. (IV1, S. 9, 6-11).

Von Kindheit an ist es für Menschen mit Lernschwierigkeiten Usus, in Sonderinstitutionen sozialisiert zu werden. Von der Sonderschule über den Fahrtendienst bis hin zur Beschäftigungstherapie ist immer klar, wo ihnen die Gesellschaft ihren Platz zuweist. Die Möglichkeit, neue, andere Menschen kennen zu lernen, wird schon alleine durch die Institutionalisierung des "Problems" nahezu verunmöglicht. Dass es nachvollziehbarer Weise auch ein starkes Interesse von Betroffenen gibt, untereinander befreundet zu sein liegt auf der Hand, da sie Interessen, Erfahrungen, aber auch Probleme miteinander verbinden. Dass nur "integrative Kontakte" als gelungen anzusehen sind, ist aus Sicht der Erhebungen nicht anzunehmen.

A: [...] haben Sie außerdem noch Freunde, die Sie regelmäßig treffen, außerhalb der Werkstätte und der WG?

R: Ja, das ist der Pepi und der Jürgen, der arbeitet auch bei der [Name der Institution] und wohnt bei [Name der Institution]. Aber ganz woanders als ich.(IV2, S. 11, 30-33)

Frau Reiter meint damit KollegInnen aus der Selbstvertretungsgruppe. Diese bietet eine Möglichkeit sich auszutauschen, Zeit zu verbringen und auch seine Interessen als Gemeinschaft nach außen zu vertreten.

Aus Sicht der Erhebungen sind für die Entwicklung der Persönlichkeit beide "Kontaktformen" anzustreben. Der Kontakt und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft können langfristig dazu führen, dass das Stigma irgendwann einfach nicht mehr da ist. Das Stigma besteht nur so lange, bis dieses nicht mehr als solches erlebt wird (vgl. Cloerkes, 2007, S 203). Der soziale Kontakt ermöglicht es, dieses irrelevant werden zu lassen und nachdem Stigma eine besondere Form des Vorurteils ist, besteht selbiges nicht mehr, wenn es unwesentlich wird. Der Umgang mit Stigmatisierungserlebnissen kann aber nicht nur in Bezug auf die Gesellschaft gesehen werden und, dass diese einen Beitrag zur sozialen Integration leisten muss, viel mehr ist es notwendig, dass die "Stigmatisierten" darauf achten, ,,dass sie Abwehrstrategien entwickeln um der drohenden Beschädigung der Identität, die Stigmatisierung birgt, entgegenzutreten" (Cloerkes, 2007, S. 198). Das Verfolgen von gemeinsamen Zielen in einer Gruppe von Gleichgesinnten ist sicherlich eine Möglichkeit, die sich Menschen mit Lernschwierigkeiten bietet, um für ihre Identitätsentwicklung als Individuum, sowie als gesellschaftliche Gruppe Sorge zu tragen und einen gemeinsamen Schritt zu setzen.

A: Und darf ich fragen welche Ziele haben sie denn von People First aus?

B: Ja, es heißt Mensch zuerst, also der Mensch steht im Mittelpunkt.

A: Und gibt es da Ziele, wo sie sich denken, da gehört etwas verändert für Menschen mit Lernschwierigkeiten?

B: Ja ja, jetzt sind sie eh schon soweit, dass sie eben angefangen haben. Sie müssen diese Leichter Lesen Sachen machen und sie denken schon mehr mit, was der Behinderte braucht und so, und man wird auch jetzt eingeladen zu Kongressen und so.

A: Waren sie beim LOK Kongress?

B: Ja, war ich auch und jetzt hat Jugend am Werk so eine Zufriedenheitsbefragung gemacht, da war ich im Austria Center, waren sie da? (IV5, S. 23, 25-5)

Abschließend kann in diesem Abschnitt festgestellt werden, dass die soziale Isolation am Arbeitsplatz, aber auch im Wohnumfeld von Menschen mit Lernschwierigkeiten - also das Leben in der für sie "vorgesehen Welt" - es erschwert, Außenkontakte zu erleben, dieser aber auch oft nicht offensiv gesucht werden. Eine Störung der Identität ist nicht zwangsläufig Folge von Separation.

Viel mehr - und darauf deuten nicht nur die Interviews hin - haben Menschen mit Lernschwierigkeiten ein positives Selbstbild, was die Prognose einer durch den Stigmatisierungsprozess hervorgerufenen beschädigten Identität widerlegt. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind sich aber sehr wohl Tatsache bewusst, dass negative Fremdbilder über sie bestehen (vgl. Wocken, 1983b, S. 480. In Cloerkes, 2007, S. 196). Damit aber soziale Ausgrenzung zu rechtfertigen wäre ein irreführender Gedanke.

Goffman verdeutlicht die Relevanz von Exklusion, wenn er schreibt, "die Natur eines Individuums, wie es sie sich und wir sie ihm zuschreiben, wird durch die Natur seiner Gruppenanschlüsse erzeugt." (ebd, 1975, S. 141). Der Mensch definiert sich also über seine Gruppenzugehörigkeit und wird über diese definiert. Ähnlich wie Cloerkes, Markowetz, Wocken und viele andere bin auch ich der dezidierten Ansicht, dass "jeder Versuch eines Ausschlusses behinderter Menschen aus den für andere üblichen gesellschaftlichen Bezügen nicht den ethischen und rechtlichen Grundsätzen unseres Gemeinwesens entspricht." (Cloerkes, 2007, S. 197).

6.5.3 Dauernde Betreuung

Die Institutionen, in denen Menschen mit Lernschwierigkeiten vorwiegend ihre "Lebenszeit" verbringen (müssen), fördern ein weiteres Phänomen zu Tage, dem bisher sehr wenig Beachtung in der Literatur geschenkt wurde. Die Interviews geben durchgängig Zeugnis davon, dass den Befragten, sobald sie aus dem Schoß der Familie einen Schritt in die Welt setzen, eigentlich kaum eine andere Möglichkeit offen steht, außer auf das institutionelle Angebot zurückzugreifen. Im institutionellen Kontext werden Menschen mit Lernschwierigkeiten Zeit ihres Lebens pädagogisiert. Sofern sie bei der Führung eines "selbständigen Lebens" Unterstützung brauchen, bleibt ihnen keine andere Wahl, als diese bei Institutionen der Behindertenhilfe in Anspruch zu nehmen. Im Gegensatz zu Menschen mit Körper- oder Mehrfachbehinderungen, denen ab der Pflegestufe vier persönliche Assistenz am Arbeitsplatz (ein persönliches Budget bei dem die Betroffenen die Unterstützungsleistung selbst verwalten) finanziert wird (WAG, 2007), können Menschen mit Lernschwierigkeiten mit "weniger Pflegeaufwand", denen Leistungen der jeweiligen Landessozialhilfeträger oder des Bundessozialamts zuerkannt werden, die Form der Unterstützung nur bei von diesen anerkannten Institutionen konsumieren und nicht selbst über die Person des/der UnterstützerIn entscheiden.

Diese Formen der Dauerpädagogik treiben seltene Blüten und führen bei den Betroffenen dazu, dass sie unzufrieden sind und sich in ihrer Selbständigkeit eingeschränkt fühlen. Teilweise zeigen die qualitativen Ergebnisse, dass Abhängigkeitsverhältnisse entstanden sind, die für den Außenstehenden überraschend anmuten. Natürlich gibt es auch die Situation, dass die derart Sozialisierten mit der Unterstützung der PädagogInnen höchst zufrieden sind. Vorweggenommen kann aber werden, dass die Befunde darauf hinweisen, dass Pädagogik bei Erwachsenen Menschen mit Lernschwierigkeiten von diesen selbst nicht als das beste Mittel der Wahl empfunden wird.

Um sich dem Themenkomplex "Betreuung" zu nähern, bedarf es vorerst eines näheren Verständnisses von "institutionaler Sozialisation", der der nächsten Abschnitt gewidmet ist. Im Anschluss daran werden Überlegungen angestellt, welche Auswirkungen die individuelle Lebenslage, "lebenslang" von PädagogInnen "erzogen" zu werden, auf die Persönlichkeitsentwicklung haben könnte.

6.5.3.1 Die institutionale, organisationale Sozialisation

Jeder Mensch ist alltäglich und lebenslänglich mit einer Vielzahl von Organisationen und Institutionen konfrontiert und muss sich mit deren Handlungsanforderungen arrangieren. Die Sozialisationsrelevanz dieser ist schwer einzuschätzen. Das Kriterium in welcher Dauer und Intensität Menschen in Teilsysteme eingebunden sind, scheint von hoher Relevanz zu sein. Der Einfluss von Organisationen ist zweifelsohne in Einrichtungen sehr hoch, die Menschen als "KlientInnen" oder "Insassen" mit dem Ziel der Beeinflussung der Persönlichkeit für längere Zeit aufnehmen, dazu gehören Beratungsstellen, Wohnheime, Kliniken, Gefängnisse, u.a. (vgl. Hurrelmann, 2003, S. 95) Dies trifft auch für die Organisationen der Behindertenhilfe in den meisten Fällen zu. Institutionelle Angebote der persönlichen Assistenz, bei denen der/die AssistenznehmerIn selbst entscheiden kann, wer sie unterstützt und die Betroffenen AuftraggeberInnen und DienstgeberInnen der AssitentInnen sind, zählen aus dieser Warte nicht zu diesen Organisationen. Dieses Konzept ermöglicht nicht nur Scheinselbständigkeit, sondern übergibt den behinderten Menschen direkt die Definitonsmacht über die benötigte Unterstützungsleistung.

In der Regel ist der Zweck von Organisationen, die von KlientInnen oder Insassen sprechen, die Bearbeitung sozialer oder psychischer Probleme, die Kontrolle abweichenden Verhaltens und der Ausgleich von Entwicklungsdefiziten. Die Arbeit selbst wird üblicherweise im direkten Kontakt zwischen professionellem Personal und den KlientInnen vollzogen. Sowohl die KlientInnen, als auch die Öffentlichkeit nehmen diese Einrichtungen in dem Licht wahr, dass der Hauptzweck der Organisation die Einflussnahme auf die Persönlichkeit der KlientInnen ist (vgl. ebd., S. 95).

Wie schon im Abschnitt zur familiale Sozialisation angedeutet wurde, leben wir in einer hoch institutionalisierten Gesellschaft. In den letzten Jahrzehnten gab es ein rapides Wachstum von staatlichen wie privaten Institutionen, die dem Zerfall familialer Strukturen entgegengesetzt wurden. Die Zunahme von organisierter Erziehung gegenüber früheren Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung (vgl. ebd., S. 98) trifft auch auf Einrichtungen der Behindertenhilfe zu. Ziel von Sozialisationsforschung ist nicht eine längst verschwundene Welt der Nachbarschafts- und Selbsthilfe zu beschwören, sondern die Frage zu erörtern, worin die Stärken und Schwächen dieser "Problemslösungsversuche" liegen. Menschen mit Lernschwierigkeiten bleibt auf Grund des Zerfalls kleinräumlicher Strukturen nichts anderes übrig, als sich auf dem anonymen Massenmarkt für Arbeitskraft anzubieten, wo sie auf Grund hoher Arbeitslosigkeit und hoher Konkurrenz wenig Chancen haben; damit sind sie an die Mechanismen der öffentlichen Hand verwiesen. Die Zeiten, in denen sie im Gewerbebetrieb des Vaters, am Bauernhof des Nachbarn, o.ä. Beschäftigung fanden, sind vorbei (vgl. Verhovsek; Zilian, 1998, S. 67). Damit scheint klar zu sein, dass es Institutionen geben muss, die nicht nur dem Zerfall familialer Strukturen entgegenwirken. Die breite Angebotspalette, die der so genannte zweite Arbeitsmarkt offeriert, ist ein Spiegel dieser gesellschaftlichen Entwicklung.

Durch Sozialisation in "speziellen Organisationen" wird eine neue Identität konstruiert. Dass dadurch ein wesentlicher Beitrag zur Stigmatisierung geleistet wird, ist den Sozialwissenschaften bekannt. Bei diesen Einrichtungen handelt es sich um Instanzen sozialer Kontrolle (vgl. Cloerkes, 2007, S. 172). Ob diese Definition auch für private Träger der Behindertenhilfe gilt, die Betreuungs- und Begleitungs- sowie Beratungstätigkeiten für Menschen mit Lernschwierigkeiten anbieten, ist zu hinterfragen. In Einrichtungen, deren Ziel es primär ist, für eine möglichst effiziente Rehabilitation bzw. Resozialisierung der Betroffene innerhalb eines zweckbestimmten, formalisierten und bürokratisierten (meist handelt es sich um Einrichtungen, die für finanzielle Mittel zuständig sind) Rahmens zu sorgen, sind Menschen mit Lernschwierigkeiten zweifelsohne dieser Stigmatisierung ausgesetzt (vgl. ebd. S. 172). Diese begründet sich zum einen durch die Organisationsstruktur der Institutionen selbst, zum anderen durch die Interaktion der dort eingesetzten "ExpertInnen" mit den Betroffenen, die vom Einzelfall notwendigerweise abstrahieren müssen, um den Zielen der Organisation gerecht zu werden. Menschen mit Lernschwierigkeiten können der Definitionsmacht der Organisationen meist sehr wenig entgegensetzen. Diese Ohnmacht wird durch ihren meist niedrigen sozioökonomischen Status unterstrichen (vgl. ebd., S. 172).

Interaktion dürfte im Rahmen von Sozialisationsprozessen zentraler Aspekt von Ausgrenzung sein (ebd., S. 172) - darauf weisen auch die erhobenen Befunde hin. Im Folgenden werden organisationale Strukturen immer in Verbindung ihrer Auswirkungen auf Interaktionsprozesse beleuchtet. Hauptaugenmerk wird auf die Kommunikationsebene von Menschen mit Lernschwierigkeiten und deren professionellen HelferInnen gelegt. Dies führt zweifelsohne wieder zurück zu strukturellen Bedingungen, die auch Einfluss auf die Sozialisation der ProfessonistInnen nehmen. Dass veränderte Rahmenbedingungen neue Beziehungen zu den "HelferInnen" ermöglichen würden, erscheint unter diesem Aspekt logische Konsequenz zu sein. Das Ineinandergreifen aller Ebenen, die jeweils Einfluss auf die Sozialisation aller in den Sozialisationsprozess involvierten Menschen haben, wurde in Anlehnung an Hurrelmanns Ausführungen zur Sozialisation schon erläutert.

6.5.4 Die Rolle der HelferInnen in der Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Herr Bauer beschreibt sein Erleben der Sozialisation durch Organisationen sehr beeindruckend und gibt Hinweise auf den Zusammenhang von organisationaler Struktur und der Rolle der helfenden Personen:

B: Jaja, ich sag, wenn ich das noch sagen darf, ein Behindertenverband ist gut und schön, aber ein Privatleben, eine Privatsphäre ist es keine. Es wird geschaut, dass alles gemacht wird für dich punkto Pflege und das, aber ein Privatleben oder ein Familienverband ist es nicht. Egal ob du jetzt beim [Name der Institution] bist, wo ich als erster war oder jetzt bei der [Name], das werde ich wahrscheinlich nicht mehr erleben können. (IV5, S. 7, 3-7)

B: Nein, nicht. Aber wie gesagt, es wird halt überall herumgebohrt, wie ich am Anfang schon gesagt habe, es ist halt kein Familienleben, es wird halt überall geschaut wo man was falsch macht oder nicht ganz richtig oder. (IV5, S. 21, 15-17)

Die professionellen HelferInnen in den "Betreuungsstätten" für Menschen mit Lernschwierigkeiten stehen - im Gegensatz zu "Beamten" in "speziellen Organisationen" - in einer Doppelrolle. Zum einen sollten sie den "Betreuten" "Familienersatz" bieten, zum anderen müssen sie den Auftrag der Trägerorganisationen erfüllen, die wiederum unter dem ständig wachsenden Druck von FördergeberInnen stehen. Die "Ökonomisierung der sozialen Arbeit" (Plaute, Theunissen, 2002, S. 315) erhöht den Druck auf die in diesem Feld Beschäftigten enorm, was diese mehr oder minder dazu zwingt, den Druck weiterzugeben. Schon die Tatsache, dass sie kein objektiv nachvollziehbares persönliches Motiv haben, mit den zu Betreuenden in einem derartigen Naheverhältnis zu stehen, sondern diese Beziehung nur aus rein beruflicher Natur entstanden ist, für die weder die eine noch die andere Seite üblicherweise verantwortlich zeichnet, birgt per se ein Ungleichgewicht in der Konstellation "KlientIn - HelferIn". Neben diesem in der Natur von Helferbeziehungen liegendem Faktor sind die mit "Betreuungsaufgaben" Betrauten, aber auch mit "erzieherischen" sowie mit "kontrollierenden" Aufträgen ausgestattet. Diese Tatsache führt zu einem noch stärkeren Ungleichgewicht in diesem Beziehungsgeflecht. Die BehindertenpädagogInnen - egal ob im Wohn- oder Beschäftigungsbereich - haben in der Regel die Macht in die Privatsphäre der "KlientInnen" einzugreifen; sie kontrollieren Kleiderkästen, besprechen in Fallsupervisionen und Teambesprechungen weitere pädagogische Maßnahmen, kurzum sie haben eine sehr große Macht über ihre "Schutzbefohlenen", die zweifelsohne Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der "Betreuten" nimmt. Diese Situation, also "unter pädagogischer Aufsicht" zu stehen, besteht für Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig "lebenslänglich", speziell dann, wenn sie sowohl beim Wohnen als auch am "Arbeitsplatz" auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Zusammenfassend mündet diese Form der "Dauerpädagogisierung" darin, dass es Menschen mit Lernschwierigkeiten vorenthalten wird, erwachsene mündige Bürger zu sein. Viel mehr werden sie als "ewige Kinder" in Sonderkonstellationen sozialisiert, in denen sie über ihre individuellen Bedürfnisse nur bedingt entscheiden dürfen. Dies weist ihnen eine machtlose Rolle zu, die sie - bis zu einem gewissen Maß möglicherweise als Überlebensstrategie - durch den Sozialisationsprozess verursacht beibehalten müssen.

Auf der Ebene der Sozialisationstheorie bedarf es, um diese Thesen näher zu beleuchten, einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Rolle der HelferInnen im Allgemeinen. Die Profession per se bringt schon einige Schwierigkeiten mit sich und die Qualität der "Hilfe" hängt sehr stark von der Persönlichkeit des Helfers/der Helferin ab. Die Berichte der InterviewpartnerInnen zeugen eindeutig davon, dass BetreuerInnen einen sehr großen Einfluss auf ihr Leben und damit auch auf ihre Sozialisation haben und die Qualität der Betreuung sehr unterschiedlich sein kann, was von Fall zu Fall zu verschiedenen Auswirkungen führt.

In einem Beitrag zum Thema "Disability Studies" skizziert ein Mensch mit Lernschwierigkeiten die Anliegen der Betroffenen an die Wissenschaft mit dem Hinweis darauf, dass es viele Anfragen von Universitäten gäbe, diese aber in der jeweiligen Fachsprache formuliert sind:

Viele Studierende wissen nicht, wie gute Unterstützung für uns aussieht. Zu denen sagen wir, wir brauchen keine pädagogische Erziehung. Sie sollen lieber auf die Sprache, die Wörter und die Schrift achten. Das wollen wir den Studierenden beibringen. Sie sollen es nicht nur von den Professorinnen und Professoren erzählt bekommen. Bei Forschung wollen wir auch gefragt werden. Die Forschung meint es ja nur gut mit uns! (Ströbl, 2006, S. 48)

Die Forderung nach Mitsprache in der Forschung, aber auch nach einem Ende der pädagogischen Erziehung hin zu einem am Integrations-, Unterstützungsbedarf orientierten System (als Beispiel wird hier die Verwendung leichter Sprache angeführt), ist eine zentrale Forderung des People First Netzwerkes. Sie unterstreicht die Annahme, dass den HelferInnen eine zentrale Position in der Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten zukommt. In den folgenden Ausführungen wird der Fokus, auch wenn die Ebenen schwer zu trennen sind, vornehmlich auf die Rolle der HelferInnen in Bezug auf die berufliche Sozialisation gelegt, da diese einige Besonderheiten aufweist.

S: Ja, und nach der Schule da war ich beinahe zweieinhalb Jahre daheim, bis ich den Job bekommen

habe, und das hab ich Alles [Name] zu verdanken, dass die mir da geholfen hat.

A:[ ...] Hast du am Anfang versucht alleine eine Arbeit zu finden?

S: Ja, hab ich schon probiert, aber ich hab's dann irgendwie nicht geschafft und dann hab ich das probiert, und dann hab ich das von - ich weiß nicht wie ich zu dem gekommen bin. Beim AMS haben sie mir nicht geholfen und dann hab ich gesagt: OK, dann lass ich das Ganze bleiben und dann bin ich irgendwie zu [Name der Organisation] gekommen, durch einen Freund von mir, und dann hat mich die [Name] übernommen und die hat mir geholfen, eine Arbeit zu finden. (IV3, S. 5f, 32-23).

Zumindest im Rahmen dieses Interviews berichtet Herr Seiler durchgängig von Hilfsangeboten, in denen er durch die HelferInnen die Unterstützungsleistungen erfuhr, die für seine persönliche Entwicklung förderlich waren. Dass die gelungene Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche den Selbstwert von Herrn Seiler maßgeblich geprägt hat, ist, speziell mit Blick auf den hohen Stellenwert von Arbeit für Männer (vgl. Giddens; 1999, S. 343), anzunehmen. Interessant ist, auch wenn er der einzige der Befragten war, der einer regulären Beschäftigung nachging, in diesem Fall der skizzierte Unterschied in der Beziehung "KlientIn - HelderIn". Die Rollen der ArbeitsbegleiterInnen sind möglicherweise gänzlich andere, wenn jemand einen Arbeitsplatz findet, und das Machtgefälle ist nicht mehr derart groß wie in rein "institutionellen" Zusammenhängen.

Die veränderte Konstellation, die entsteht, wenn zur "Klient - Helfer" Beziehung ein dritter "Vertragspartner" in Form einer Firma hinzukommt, unterstreicht diese Annahme aus systemischer Perspektive. Dass das Selbstbild durch die derzeitige Wertigkeit von "Arbeit" in unserer Gesellschaft positiv gestärkt wird, geht aus den Ausführungen zum Thema hervor. Dieses wiederum beeinflusst in weiterer Konsequenz den/die HelferIn in ihrem Bild von den "betrreuten Menschen". Hurrelmanns Überlegungen zu den Zusammenhängen aller Interaktionsebenen auf denen Sozialisation stattfindet, lassen ähnliches vermuten. Dass trotz alledem auch derartige Helferbeziehungen scheitern können, steht außer Frage, da das Machtgefälle - auch wenn geringer als in rein institutionellen Zusammenhängen - weiterhin bestehen bleibt.

6.5.4.1 Über "Creaming the Poor" und andere Besonderheiten des Helferberufes

Eine Umkehrung dieser Konstellation kann z.B. während der Zeit der Arbeitslosigkeit des "Hilfesuchenden" angenommen werden. Die Integrationsfachdienste stehen seitens der FördergeberInnen unter einem Quotendruck, der durch vorgegebene Vermittlungszahlen pro MitarbeiterIn und Jahr hervorgerufen wird. Dieser führt dazu, dass die AnbieterInnen derartiger Dienste dazu tendieren, Menschen mit einem möglichst geringen Unterstützungsbedarf in Dienstverhältnisse zu vermitteln (vgl. Doose, 2006, 168; Markowetz, 2007, S. 276). Der ökonomische Druck macht aber auch vor spezialisierten Einrichtungen nicht halt. Die Werkstätten müssen nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen arbeiten, weshalb ihnen produktive Arbeitskräfte willkommen sind. Menschen, die durchaus die Anforderungen der Arbeit "draußen" erfüllen könnten, werden dequalifiziert und isoliert, und diejenigen, die Ausbildung und Training brauchen würden, werden hinausgedrängt. Dadurch verkehren sich "Fördermaßnahmen" in Mechanismen der "Aussonderung" und lebenslänglichen Stigmatisierung (vgl. Verhovsek, Zilian, 1999, S. 68). Die Akteure dieses Aussonderungsprozesses sind wiederum die "HelferInnen". In der Interaktion mit den Betroffenen wird auf "schonende" Weise denen, die ohnehin schon wenig Chancen haben, erneut ihre Unzulänglichkeit und ihr Versagen mit den gesellschaftlichen Prozessen mit zu halten, vor Augen geführt - nicht einmal die HelferInnen können helfen, sondern leisten einen weiteren Beitrag zur sozialen Ausgrenzung.

Die folgenden Erfahrungsberichte zeigen, dass dieses "Aussieben" auf verschiedensten Ebenen den InterviewpartnerInnen ebenso bekannt ist und diese Kränkung sehr eng in Verbindung mit den "HelferInnen" erlebt wird.

A: Und da bist du reingekommen mit 16? Kannst du mir das erzählen, wie das so war, wie du da am ersten Tag so reingekommen bist?

W: Ah, ja, wie war das? Natürlich die einzige Gruppe, die ich machen konnte war die Reinigungsgruppe, weil in der Küche ich es nicht geschafft habe, die Aufnahmeprüfung und die anderen alle. (IV1, S. 7, 16-20)

Herr Bauer musste erkennen, dass seine Möglichkeiten auch im Rahmen einer "geschützten Organisation" eingeschränkt sind. Die KommunikatorInnen sowie die DurchführerInnen des Auswahlverfahrens waren zwangsläufig die dort in der sozialen Arbeit tätigen Personen. Der Frust über die Machtbefugnisse, aber auch die Abhängigkeit von BetreuerInnen, hinterlässt im Interview mit Herrn Wotruba einen bleibenden Eindruck. Dies lässt auf eine starke Sozialisationsrelevanz dieser Beziehungsgeflechte schließen.

Ich wollt vom Anfang an in die Werkstätte von der Frau [Name], im 2. Bezirk, wo ich wohne. Ich bin aber dort rausgeflogen wegen dem, dann bin ich in die Braunhuber-Gasse gekommen, im 11. [Bezirk], dort war ich in der Metall-Schlosser-Elektriker-Werkstätte. Und da gab's den Cousin, also den Schwager von der [Name], der hat dort gearbeitet in der Gruppe, den kannte ich sehr gut, und auch die Leitung dort. (IV1, S. 10, 2-6)

A: Und was war das spezielle an der Beschäftigungstherapie von der Frau [Name]?

W: Weil ich die [Name] so gut kannte. Und auch weil die Leute dort, die kenn ich auch sehr gut - ganz liebe Leute. Die kenn ich auch sehr gut. (IV1, S. 10, 28-30)

Ironischerweise wurde Herr Wotruba aus dieser Beschäftigungstherapie "entlassen", die er aus dem Grund gewählt hat, weil er den "HelferInnen" in dieser Einrichtung vertraut war. Die Machtdivergenz, die durch ein derartiges Vertrauensverhältnis in Verbindung mit der Definitionsmacht von Organisationen entsteht, deren Proponenten "SozialpädagogInnen" sind, sowie auch die sozialisationsrelevanten Faktoren dieser Beziehung für "KlientIn" wie "HelferIn", lassen sich im Licht dieser Schilderungen nur erahnen. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind dieser Situation häufig lebenslänglich - im Fall von Herrn Wotruba trifft dies jedenfalls zu - ausgesetzt und haben zudem eine geringere Wahlfreiheit als ihre BetreuerInnen. Es ist eindeutig leichter für PädagogInnen einen Job zu wechseln, als für einen Menschen mit Lernschwierigkeiten eine individuelle Lebenslage.

Im Bezug auf "Creaming - Tendenzen" zeugen diese Zeilen von der hohen Definitionsmacht der Einrichtungen gegenüber deren "Insassen", in denen PädagogInnen das Recht zugestanden wird, über Verbleib oder Entlassung zu entscheiden. In betriebswirtschaftlichen Strukturen ist dies üblicherweise der oder die Personalverantwortliche.

Dass der skizzierte "Creaming" Effekt aber auch aus rein "betriebswirtschaftlichen Gründen" in Einrichtungen der Behindertenhilfe stattfindet, darauf gibt die im Folgenden zitierte Passage aus dem Gespräch mit Herrn Bauer Hinweise. Das Ziel der skizzierten Organisation ist es, Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Dass es bei den dort herrschenden rauen Bedingungen eher möglich ist, einen Vermittlungserfolg vorzuweisen, der das Fortbestehen der Einrichtungen sichert, wenn die Person möglichst geringe "visible Vermittlungshemmnisse" aufweist, liegt in der Natur des Arbeitsmarktes.

B: Nein, und das wollt ich sagen [Name der Organisation], die früheren Standortleiterinnen, die haben Leute mit Behinderung gesucht, und die sind zu unserer Freizeitgruppe und haben das Projekt vorgestellt. Und dann sind wir dort eingeladen worden, ob man gut schätzen kann oder wie der Raum ist, da haben wir so eine zweistündige Testung oder so, da haben wir müssen was ausfüllen, ob wir das können und dann haben sie gesagt, ja wir rufen euch an, wenn ... und sie haben das Projekt im Freizeitclub vorgestellt. (IV5, S. 16f, 30-1)

Herr Bauer managte in diesem Fall die Anforderungen des "Assessment - Centers" und absolvierte die Schulung. Die Ausbildung erfolgte unter den organisatorischen Rahmenbedingungen einer Beschäftigungstherapie. Zweistündige "Assessment-Center-Situationen" dokumentieren die selektierenden Maßnahmen, denen Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rahmen ihrer beruflichen Sozialisation ausgesetzt sind. Die Erniedrigung, die dadurch erlebt wird, dass eigens für die Zielgruppe geschaffene "Fördereinrichtungen" die Mechanismen "der Aussonderung" fördern und damit einen Beitrag zu lebenslänglicher Stigmatisierung leisten, werden durch die oben angeführten Ausführungen von Verhovsek und Zilian unterstrichen. Wenig überraschend ist im Licht der wachsenden "Ökonomisierung sozialer Arbeit", dass die qualitativen Befunde auf allen Ebenen der "beruflichen" Behindertenhilfe auf "Creaming Tendenzen" hinweisen. Inwieweit diese in Österreich eine Rolle für die Karriereplanung von Menschen mit Lernschwierigkeiten einnehmen bzw. in welchem Ausmaß diese Tendenzen auftreten, ist bislang im Gegensatz zu Untersuchungen in Deutschland nicht bekannt. "Während das BMSG nicht davon ausgeht, dass ein "Creaming Effekt" in Österreich eingetreten ist, sprechen die anderen Ebenen [VertreterInnen von Einrichtungen der beruflichen Integration] von einer schrittweisen Verschiebung der Zielgruppe bedingt durch den Vermittlungsdruck." (König, 2005, S. 182) Auch wenn quantitativ noch nicht belegt, so besteht Grund zur Annahme, dass "Creaming - Tendenzen" auch in Österreich im Vormarsch sind, wenn sowohl Betroffene als auch - wie in diesem Fall - ArbeitsassistentInnen diese Situation beschreiben.

Aus der Warte der beruflichen Sozialisation ist zu hinterfragen, welche Auswirkungen diese ökonomischen Zwänge, denen Institutionen der sozialen Arbeit ausgesetzt sind, auf die Haltung der "BetreuerInnen" haben, die durch die Interaktion wiederum die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Lernschwierigkeiten beeinflussen.

Mit großer Sorge ist aus behindertensoziologischer Sicht zu beobachten, dass sich die Integrationsbewegung offensichtlich stillschweigend auf bestimmte Behinderungsarten moderater Ausprägung [...] oder anderen peripheren Syndromen und speziellen "needs" als eine bevorzugt zu integrierende [...] Personengruppe verständigt hat. (Markowetz, 2007, S. 276)

Das Faktum der "Ökonomisierung der sozialen" Arbeit dürfte gerade an den Schnittstellen zur Privatwirtschaft, aber auch auf allen anderen Ebenen Auswirkungen haben. Es erscheint im Hinblick auf die Qualitätsdiskussion und der Suche nach Methoden, den Erfolg von sozialer Arbeit messbar zu machen, erheblichen Einfluss auf die Organisationskultur der Institutionen und die Haltung der "HelferInnen" zu haben.

Umfragen in Deutschland haben ergeben, dass Angestellte der Werkstätten für Behinderte (in gewisser weise analog der österreichischen Beschäftigungstherapie) Menschen mit Lernschwierigkeiten wenig zutrauen und ihnen die Fähigkeit zur Mitbestimmung absprechen. Zudem wird das Ziel der wirtschaftlichen Rentabilität in den Vordergrund gestellt und eventuelle Beeinträchtigungen dieser Ziele durch Mitbestimmungsrechte nicht akzeptiert (vgl. Plaute, Theunissen, 2002, S. 325). Ähnliches dürfte auf Grund vergleichbarer gesellschaftlicher Strukturen für Österreich zutreffen. Dadurch wird die Annahme untermauert, dass die bestehenden Rahmenbedingungen in sozialen Organisationen die Haltung und das Verhalten der "HelferInnen" beeinflussen. Somit wird maßgeblich auf die berufliche Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten und damit auf deren Identität eingewirkt. Wenn es dann, wie in unserem Beispiel Herrn Bauer, gelingt, an der "Hürde" der "HelferInnen" vorbeizukommen, werden die Hoffnungen bei der realen Arbeitsplatzsuche häufig erst recht wieder zerstört.

B: Ja, sie haben eben gesagt, wenn du die Ausbildung machst, kannst du wieder einen Telefonjob bekommen. So ungefähr, wird es dir leichter fallen irgendeine Arbeit kriegen, und wo ich mich da beim Haus der [Name], da beim Herrn [Name] beworben hab, der hat wieder gesagt: nein, das kann man nicht, weil das Magistrat gibt ihnen nicht mehr so viele Tagsätze her, und er kann sich das nicht leisten, dass er wieder einen Behinderten einstellt, das war dann irgendwie ein bisserl blöd.

A: Haben Sie sich da dann recht geärgert?

B: Das ist dann ärgerlich, ja, weil sie eben gesagt haben mit dem Zertifikat was du dann hast, kannst du dich eben bewerben, und daraus ist eigentlich nichts geworden.

A: Schade.

B: Aber sehn's eh, ich bin ein Froher und red gleich frei von der Leber weg. (IV5, S. 18, 10-23)

In diesem Fall wurde die Manifestation der Selektion nicht durch das System der sozialen Institutionen festgelegt, sondern erst durch die "natürlichen" Marktmechanismen.

6.5.4.2 Machtdifferenz auf Grund der Rollenverteilung "Pädagoge - Klient"

Nichts desto trotz bedarf die geschilderte Situation einer Beleuchtung der "KlientIn - HelferIn - Beziehung". Durch diese Interaktion wurden beim Betroffenen Hoffnungen geweckt, dass er einen regulären Arbeitsplatz findet, was zur erneuten Ausgrenzung geführt hat, auch wenn die Auswirkungen dieser eher als harmlos geschildert werden.

Auf der Ebene der Interaktion nimmt dies möglicherweise Einfluss auf das Vertrauen in das Hilfeangebot.

In einem Beruf, in dem die Beziehung zu den KlientInnen ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Instrument der Arbeit ist (vgl. Schmidbauer, 1999, S. 30), stellt ein Vertrauensbruch eine enorme Bedrohung für ein Gelingen der Interaktion und somit des Hilfeprozesses dar. Die weitere Persönlichkeitsentwicklung des zu Betreuenden ist vom Gelingen dieser Interaktion häufig in hohem Maße abhängig. Die KlientInnen haben üblicherweise einen geringen Einfluss darauf, von wem sie Hilfe bekommen. Deren Lebensqualität wird von einer gelungenen Beziehung zu den HelferInnen nachhaltig beeinflusst, da die PädagogInnen in ihrem privaten sowie beruflichen Umfeld ständig auf sie einwirken. Ist diese Beziehung konfliktbehaftet, so ist der derart "Betreute" den "PädagogInnen" mehr oder weniger hilflos ausgeliefert.

Das Problem im pädagogischen Feld ist, dass die Aufgabe der PädagogInnen nicht nur das Anwenden von Fachwissen auf persönliche Probleme, sondern auch Normenvermittlung ist (vgl. Müller. 2001, S. 1201). Das Interessante an der Sondersituation von Menschen mit Lernschwierigkeiten ist, dass von vornherein davon ausgegangen wird, dass sie pädagogischer Maßnahmen bedürfen und für ihre Persönlichkeitsentwicklung nicht selbst Sorge tragen können. Das "Recht", diesen Menschen Normen aufzuzwingen, die sie möglicherweise auf Grund von in der Persönlichkeit liegenden Ursachen nicht "einhalten" können, wurde den "HelferInnen", nicht von den "KlientInnen" zugesprochen, wie der oben angeführte Beitrag zu den Disability Studies zeigt. Ganz im Gegenteil, die Legitimation für dieses Handeln wurde von staatlichen Strukturen erteilt, die das Problem als ein zu "Lösendes" erkannt haben. Dass sich die Betroffenen aber Respekt, Menschenwürde und Achtung von den "HelferInnen" erwarten und nicht Erziehung von "Erwachsenen für Erwachsene", war den Berichten, die im Laufe dieser Erhebungen eingeholt wurden, zu entnehmen.

W: [...] Die Frage lautet, wie kannst du mich das irgendwie so fragen, dass ich sie [die Frage] versteh?

A: OK, ich probiere es. Woran würdest du erkennen, dass du ganz selbständig und gleichberechtigt bist?

W: Selbständig ist leicht zu erklären. Wenn ich keinen Sachwalter mehr habe, und wenn ich keine Betreuer mehr habe, und wenn ich mit dem Geld allein und alles selbst machen kann. Und dass ich von der Gesellschaft aufgenommen werde, wie ich bin. (IV1, S. 24f, 32-5)

Wie dieser Auszug aus dem Gespräch mit Herrn Wotruba verdeutlicht, sieht er sich durch die Situation "ständig betreut" zu werden in seiner Selbständigkeit eingeschränkt.

6.5.4.3 HelferInnen und die "totale Institution"

Die Strukturen in denen Menschen mit Lernschwierigkeiten arbeiten und leben müssen, sind in Teilen "totalen Institutionen" ähnlich. Zu diesen gehören Sanatorien, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Klöster, u.v.a. und "jene Anstalten, die zur Fürsorge für Menschen eingerichtet wurden, die als unselbständig und harmlos gelten; hierzu gehören die Blinden- und Altersheime, die Waisenhäuser und die Armenasyle" (Goffman, 1981, S. 16). Auch wenn die Einrichtungen, in denen bzw. durch die die (berufliche) Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten ausgeführt wird, nicht auf allen Ebenen die von Goffman festgestellten Kennzeichen einer totalen Organisation erfüllen, wie die, dass das "ganze Leben" unter "einem Dach" und unter ein und derselben Autorität stattfindet - besser würde meines Erachtens in diesem Zusammenhang wohl "Dachorganisation" passen - so kann doch festgestellt werden, dass Teile dieser Kriterien eindeutig erfüllt sind. So werden z.B. die Tätigkeiten, die dort auszuführen sind, in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen. Weiters besteht eine fundamentale Trennung zwischen einer großen gemanagten Gruppe auf der einen Seite, "Insassen" genannt, und dem weniger zahlreichen "Aufsichtspersonal" auf der anderen. Für den "Insassen" gilt, dass er in der Institution lebt (und arbeitet) und beschränkten Kontakt mit der Außenwelt hat. Das Personal arbeitet häufig auf der Basis des 8-Stundentages und ist sozial in die Außenwelt integriert. Totale Institutionen sind soziale Zwitter, einerseits Wohn- und (Arbeits-) Lebensgemeinschaft, andererseits formale Organisationen. In totalen Institutionen wird die individuelle Freiheit eingeschränkt, die Würde eines Einzelnen verletzt, die individuellen Präferenzen vernachlässigt und Anpassung an die Regeln der Organisation erzwungen (vgl. ebd., 1981, S. 17ff). Dass die skizzierten Ausprägungen totaler Institutionen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in verschiedenster Ausprägung auftreten und schon allein auf Grund der Verschiedenheit der Organisationsstrukturen, des Personals, sowie der "Insassen" dieser Einrichtungen enorme Unterschiede bestehen können, ist offensichtlich. Auch Goffman weist darauf hin, dass sich keines der Merkmale ausschließlich in totalen Institutionen findet, noch keines allen gemeinsam ist (vgl. ebd., 1981, S. 17) und differenziert somit die Ausprägungen und damit auch die Auswirkungen dieser Organisationen auf die Persönlichkeitsentwicklung.

Auch im Modell von Goffman kommt den "BetreuerInnen" eine zentrale Rolle zu, die durch den Unterschied "Insasse" - "Aufsichtsperson" am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Sie sind mehr oder minder die "Schergen" des Systems, das Freiheit einschränkt, Menschenwürde verletzt, Einzelbedürfnisse vernachlässigt und Anpassung an die Regeln der Organisation erzwingt. Institutionen der Behindertenhilfe, insbesondere Beschäftigungstherapieeinrichtungen, weisen in Teilen Merkmale von totalen Institutionen auf. Dass die dort beschäftigten HelferInnen aber diesen Kontrollauftrag, der ihnen durch staatliche Instanzen verliehen wurde, überwiegend nicht in der Nähe von totalen Institutionen ansiedeln, kann angenommen werden.

Viel mehr stehen die "HelferInnen" im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle (doppeltes Mandat). Soziale Arbeit ist eingebettet in staatliche Gewährungs- und Kontrollkontexte, wodurch sie im Vergleich zu anderen Professionen an Autonomie einbüßt. Wenn wir soziale Arbeit als Instrument staatlicher Sozialpolitik verstehen, das zur Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung beiträgt, so erfüllt soziale Arbeit Kontrollaufgaben. Den HelferInnen fällt diese Einsicht meist schwer, da sie doch gemäß ihrem Selbstverständnis helfen wollen, aber nicht kontrollieren. Tatsächlich aber handelt soziale Arbeit aber im Gegensatz zu anderen Professionen fast nie allein im Auftrag der KlientInnen, sondern meist auch im Horizont staatlicher Funktionszuschreibungen (vgl. Galluschke, Müller, 2005, S. 490).

Das Machtgefälle zwischen "BehindertenpädagogInnen" und "Menschen mit Lernschwierigkeiten drückt sich am eindeutigsten in der Möglichkeit aus, dass die "HelferInnen" über Verbleib oder Verlust eines Angebots entscheiden zu können. Die unterschiedlichen Rollen sind daran zu erkennen, dass sich die professionellen HelferInnen auf die Position "Operation gelungen, Patient tot" (Schmidbauer, 1999, S. 32) zurückziehen können. Wenn also ein Hilfeprozess nicht optimal verläuft, kann dieser jederzeit abgebrochen werden, da eine erlernte Technik der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen ausgeübt wurde und das Scheitern am ungünstigen Material liegt. (vgl. Schmidbauer, 1999, S. 32f).

Ob nun Diskreditierung durch den "Creaming - Effekt" verursacht wird oder auf einer gescheiterten "KlientIn - HelferIn" Beziehung basiert, scheint im Wesentlichen zweitrangig in Bezug auf die Sozialisationsrelevanz der Ausgrenzungserlebnisse zu sein. Dass die Interaktionsebene "KlientIn - HelferIn" aber aus dieser Perspektive eine nähere Betrachtung verdient, kann in Anbetracht der bisherigen Ausführungen angenommen werden.

Dass klarerweise nicht alle "KlientIn - HelferIn" Beziehungen derart schwierig verlaufen und es trotz komplexer Rahmenbedingungen sicherlich zahlreiche Beispiele gibt, die auf gelungene "Hilfeprozesse" hinweisen, muss an dieser Stelle dokumentiert werden. So fühlen sich Frau Reiter und Herr Bauer in der Beschäftigungstherapie momentan sehr gut aufgehoben.

B: Jetzt bin ich in der [Name] in der Textilwerkstätte.

A: Und wie ist das dort? Ist das nicht so monoton?

B: Das gefällt mir super dort, man versteht sich mit den Betreuern und mit den anderen Klienten dort, wie ich gesagt hab. (IV5, S. 18, 25-30)

A: Macht Ihnen das Spaß in der Werkstätte?

R: Ja.

A: Vorhin haben Sie kurz erzählt, am Montag machen Sie immer was mit Tanz, oder?

R: Ja, jetzt ist ein Monat Pause im Sommer. Erst dann geht's wieder los. Da wird dann jede Woche einen ganzen Tag geprobt und dann eine ganze Woche.

A: Was ist denn da leicht geplant?

R: Wir machen so etwas wie Ausdruckstanz.

Diese Berichte geben einen Einblick, wie die Ausgestaltung des Hilfeangebotes in Einrichtungen der beruflichen Behindertenhilfe mit den Ansprüchen der "Betreuten" korrespondieren können. Gelungene Interaktion / Kommunikation und kreatives Engagement angeregt von KlientInnen oder BetreuerInnen sind zwei Beispiele von vielen, die auf die reale Möglichkeit, der Schaffung adäquater Rahmenbedingungen, hinweisen.

6.5.4.4 Exkurs - Selbstbild oder allen Unkenrufen zum Trotz

Zudem unterstützen sie die Annahme, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in vielen Fällen ein positives Selbstbild haben (vgl. Cloerkes, 2007, S.190) und nicht, wie vielleicht auf Grund der Ausführungen zur "totalen Institution" angenommen werden könnte, in den meisten Fällen von beschädigten Identitäten auszugehen ist. Dies unterstützt die Thesen Hurrelmanns, sowie die von Giddens, dass Sozialisation ein aktiver Prozess ist, auf den alle InteraktionspartnerInnen einen wesentlichen Einfluss nehmen. Wie Diskreditierte mit Ausgrenzungserfahrungen umgehen, ist also ausschlaggebend für die Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung.

Dass es derart viele wissenschaftliche Belege (Wocken, 1983b, S. 478, S. 177ff; Dönhoff-Kracht, 1980a, S. 108ff u.a. In Cloerkes, 2007, S. 190ff) dafür gibt, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten einen gesunden Selbstwert aufweisen, relativiert die "Alltagstheorie" vom behinderten Menschen als "Mängelwesen", hin zu einem Bild von einem Menschen mit hoher sozialer Kompetenz, der trotz gesellschaftlicher Ausgrenzung ein gesundes Selbstbild aufweist.

6.6 Weiterführende Überlegungen zur Sonderrolle "sozialer Arbeit" im Kontext von "Beschäftigung"

Nichts desto trotz bedarf es Überlegungen, wie professionelle "berufliche" Hilfe für Menschen mit Lernschwierigkeiten gestaltet werden kann, da bisher verschiedene Anhaltspunkte aufgezeigt wurden, die einer "gelungenen Sozialisation" abträglich sind. Dass dafür nicht ein Rezept vorgelegt werden kann, das per se als ideal angesehen werden kann, unterstreichen die Überlegungen von Galuske und Müller.

Soziale Arbeit ist gekennzeichnet durch ihre Nähe zum Alltag der Klienten und ihren Alltagsproblemen. Wenn soziale Arbeit dem klassischen Anspruch der "Hilfe zur Selbsthilfe" genügen will, so muss sich ihr methodisches Handeln am Kriterium der Alltagsnähe bewähren und messen lassen. Der Vielfalt des Alltags kann nicht Rechnung getragen werden, indem man Methoden als starres Instrument versteht. (ebd., 2005, S. 490)

Die Befunde aus den geführten Interviews weisen darauf hin, dass die derzeitigen Rahmenbedingungen die Gefahr bergen, dass die Beziehung "KlientIn - HelferIn" die Ausgrenzung der Betroffenen manifestieren könnte und dadurch möglicherweise die Entwicklung devianten Verhaltens begünstigt wird.

Die Entwicklung von abweichendem und auffälligem Verhalten beruht auf einer Nichtübereinstimmung von individuellen Handlungskompetenzen und organisations- und institutionsspezifisch geprägten situativen Handlungsanforderungen (vgl. Hurrelmann, 2001, S. 182). ProfessionistInnen der sozialen Arbeit stützen dieses System in Teilen, womit sie zur Erhaltung ihrer Profession, aber auch zu verstärkter Segregation von Menschen mit Lernschwierigkeiten einen wesentlichen Beitrag leisten. Aus der Perspektive der beruflichen Sozialisation erscheint der "Creaming - Effekt" ein wesentlicher Faktor zu sein, der Ausgrenzung zusätzlich verschärft. Den anderen Elementen sozialer Kontrolle des "Helfens", aber auch den Ambitionen der ProfessionistInnen gute Arbeit zu leisten, hier verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen und zudem wird das Thema in der einschlägigen Fachliteratur abgehandelt (Schmidbauer 1999; Otto, Thiersch, 2001; u.a.).

Für soziale Dienstleistungen, die auf Grund der notwendigen Zusammenarbeit mit marktwirtschaftlich orientierten Betrieben oder aus anderen Gründen betriebswirtschaftliche Maßstäbe bei der Auswahl ihrer Klientel anwenden müssen, um ein "Produktivitätsziel" zu erreichen, kann festgehalten werden, dass rein an der Passung "Arbeit - Arbeitskraft" orientierte Maßnahmen der Behindertenhilfe stärker dazu gezwungen sein dürften, ihr Klientel zu selektieren als andere Hilfsangebote, die "nur" den staatlichen Kontrollauftrag (doppeltes Mandat) erfüllen müssen. Überlegungen bei der Ausgestaltung des Hilfsangebotes aber auch zur Rolle der "BegleiterInnen" werden von betriebswirtschaftlichen Faktoren mitgeprägt. Die Situation in Wirtschaftsbetrieben zwingt die soziale Arbeit dazu, differenzierte Arbeitsmodelle, die einer Normalisierung, Integration und Gleichberechtigung teilweise widersprechen, zu akzeptieren (vgl. Plaute, Theunissen, 2002, S. 316).

Zusätzlich zum Kontrollauftrag erfüllen HelferInnen auch einen wirtschaftlichen Auftrag, der in den arbeitsmarktpolitischen Angeboten sozialer Dienste seine stärkste Ausprägung findet. Dass soziale Arbeit diesem Aspekt vermehrt Aufmerksamkeit schenken sollte, erscheint unumgängliche, da Forderungen nach Wirtschaftlichkeit und Rentabilität sozialer Dienstleistungen gewiss im Steigen begriffen sind. Auch wenn empfohlen wird, marktwirtschaftliche Elemente in die öffentliche Nachfrage von Arbeitsassistenzen aufzunehmen, so wird auf zwei Gefahren explizit hingewiesen - auf die eines möglichen Qualitätsverlustes sowie die des "Creaming - Effektes", die damit Hand in Hand gehen könnten (vgl. König, 2005, S. 64).

Möglichkeiten, die soziale Arbeit diesem ökonomischen Druck entgegenzusetzen hat, der auf sie selbst und im Besonderen auf ihre KlientInnen einwirkt, müssen von der (Sozialarbeits)wissenschaft sowie von den PraktikerInnen sozialer Arbeit diskutiert und entwickelt werden. Ansonsten kann Sozialarbeit dem Anspruch der "Hilfe zur Selbsthilfe" nicht mehr gerecht werden, sondern muss viel mehr anerkennen, dass sie durch ihre Position in der Dreierkonstellation "Klient - Staat - Wirtschaft" einen weiteren Beitrag zur Ausgrenzung von Menschen mit Lernschwierigkeiten leistet. Dass die Betroffenen in diesem Interessenskonflikt wohl am wenigsten Macht haben, wird durch die "Sonderrolle", die ihnen gesellschaftlich zugeschrieben wird, erklärt.

Eine Entflechtung des Systems "Klient - Helfer" könnte in der Beschäftigungstherapie z.B. dadurch umgesetzt werden, dass dieses um eine dritte "Komponente" erweitert wird - als Beispiel sei hier an den Arbeitgeber von Herrn Seiler erinnert. Dies könnte aus systemtheoretischer Sicht möglicherweise eine überlegenswerte Variante sein, die dazu führt, das Machtgefälle "KlientIn - HelferIn" zu verringern. Die tatsächliche Umsetzung von derartigen "Dreierkonstellationen" müsste sich schlussendlich in der Praxis bewähren. An dieser Stelle die Konzeption derartiger Angebote zu entwickeln, erscheint aus sozialisationstheoretischer Sicht schlüssig, aber auf Grund der bisherigen Befunde und Überlegungen allzu euphorisch zu sein. Viel mehr müsste genauer erforscht und beleuchtet werden, welche Auswirkungen eine derart strukturierte Offenheit auf den Hilfeprozess sowie in weiterer Folge auf die berufliche Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten hat.

6.6.1 Konsequenzen für die "KlientIn - HelferIn" Beziehungen

Dass die Beziehung "KlientIn - HelferIn" nicht nur von der Persönlichkeit der jeweiligen Menschen abhängig ist, sondern auch strukturelle Rahmenbedingungen ein erheblicher Faktor sind, die Lebensqualität, Teilhabemöglichkeiten, aber auch Ausgrenzung beeinflussen, ist an Hand der bisherigen Ausführungen zu erkennen. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass eine Umsetzung von demokratischen Strukturen für Menschen mit geistiger Behinderung nur dann sinnvoll geschehen kann, wenn auch die professionellen Helfer unter selbstbestimmten und demokratischen Bedingungen leben und arbeiten können. Dieser Aspekt findet in den meisten Behindertenorganisationen noch viel zu wenig Beachtung. Es gehört somit zu den vorrangigen Zielen der Empowerment-Philosophie, alle Bereiche, in denen Menschen mit geistiger Behinderung leben, zu demokratisieren. (Plaute, Theunissen, 2002, S. 325)

Die möglichen Effekte organisationaler Strukturen auf die Sozialisation wurden schon an verschiedenen Stellen diskutiert. Die notwendigen Konsequenzen, die zu einem mehr an "Gerechtigkeit" in der "Arbeitsgesellschaft" führen würden, liegen zum Teil auf der Hand. Im folgendem Abschnitt werden weniger strukturelle Momente, auch wenn diese gewiss einen Einfluss auf die "Beziehungsebene" haben, beleuchtet, viel mehr werden die Vorschläge, die von den InterviewpartnerInnnen implizit unterbreitet wurden aufgenommen und in Verbindung zu bestehenden Professionalisierungstendenzen sozialer Arbeit gesetzt.

A: Und in welchen Situationen deines Lebens hast du erlebt, dass das [die Lernschwierigkeiten] plötzlich nicht mehr wichtig war, [Name]?

W: Nicht mehr wichtig war...

A: Dass du sozusagen nicht mehr behindert gemacht worden bist?

W: Inder Steuerungsgruppe, wo ich jetzt mitarbeite, in der Selbstvertretungsgruppe [...]

A: Diese Steuerungsgruppe, vielleicht erzählst du noch kurz...

W: ... was wir da machen?

A: Nein, das ist mir jetzt weniger wichtig, sondern eher so, was das genau heißt, dass du da plötzlich das Gefühl hast, du bist dort ...

W: [unterbricht] So wie ihr?

A: ... gleichwertig?

W: Ja, weil wir Klienten mit den Betreuern und dem Wohnverbundleiter als Partner zusammen sitzen am Tisch, auch mit der Oberleiterin mit der Frau [Name] zusammen sitzen, und einen Fragebogen erstellen, und wir einfach alle unsere Bedenken dazu geben können. [...] Es wird auf uns gehört, auf was wir vorschlagen, das wird angenommen und so was von einer Arbeitsbasis wünsch ich mir extrem. (IV1, S. 18, 10-29)

Diese eindrucksvolle Beschreibung einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten mit deren BetreuerInnen zeugt von einer Qualität des Helfens, in der partnerschaftliche Denkmodelle das Grundmodell des Handelns sozialer Arbeit bestimmen. Am "Empowerment" orientierte "Hilfe" hat zum Ziel Menschen in marginaler Position zur Entdeckung und (Wieder-)Aneignung eigener Fähigkeiten, Selbstverfügungskräfte und Stärken anzuregen [...], sodass "eine Lebensform in Selbstorganisation" (Keup 1990, 118) (wieder) statthaben kann. [...] Ausgangspunkt der Formulierung eines neuen fachlichen Selbstverständnisses und handlungsbezogenen Professionalitätsprofils ist die unmissverständliche Absage an die bisherige Gepflogenheit, im Lichte einer "paternalistischen Denkweise" (paternalistic mode) eine Praxis für Menschen in gesellschaftlich marginaler Position "ohne deren Zustimmung" (Simon, 1994, 7) zu inszenieren. (Plaute, Theunissen, 2002, S. 32)

Empowerment darf in diesen Zusammenhang nicht mit einem falsch verstandenen "Laissez Faire" Prinzip verwechselt werden, das dazu führt, dass Menschen mit Mehrfachbehinderungen und/oder Lernschwierigkeiten vereinsamt und verwahrlost, ohne die notwendigen Unterstützungsleistungen in ihren Wohnungen leben.

Ein Mensch mit sog. geistiger Behinderung, der sich seiner Schwächen (z. B. im Bereich der Kulturtechniken) bewusst ist und damit souverän umzugehen weiß ("ich kann nicht lesen, aber ich verlaufe mich nicht in der Stadt"), wäre demnach eine "empowered person". (Theunissen, 2003, S. 46)

Dass "Empowerment" als professionelles Modell in seinen Grundzügen unter den momentanen strukturellen Bedingungen von sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe nur schwer umgesetzt werden kann, wird auf Grund des vordefinierten Machtunterschieds "HelferIn - KlientIn" erschwert bzw. ist kaum möglich. Trotzdem gibt es in der Behindertenhilfe im deutschsprachigen Raum Bemühungen, Mitbestimmung in Form von WerkstättenrätInnen, BewohnerInnenvertretung und ähnlichen Modellen, die an Teilhabe und Mitbestimmung orientiert sind, umzusetzen. Zahlreiche Publikationen setzen sich mit der Frage der Weiterentwicklung von Unterstützungskonzepten auseinander. Zentrales Element der Mitbestimmungsmöglichkeiten ist sicherlich die Interaktionsebene, auf der das Recht auf Mitsprache, auch wenn dieses jeder Rechtsgrundlage entbehrt, suggeriert werden kann. Im besten Fall, wenn die Wünsche der KlientInnen mit denen der Organisation in Einklang gebracht werden können, werden diese umgesetzt. Die Forderung nach Einbindung in die Art wie Hilfe geleistet wird, hängt aber nicht nur von strukturellen Bedingungen ab. Methoden, die in die professionelle Soziale Arbeit in den letzten Jahren Einzug gehalten haben, wie z.B. die der "Sozialen Diagnostik" (Pantucek, 2005) und andere Standardisierungsinstrumente, müssen weiterentwickelt werden, um den Standard der "Hilfe zur Selbsthilfe" weiterhin zu verbessern. Das Instrument der Beziehung bleibt aber im Wesentlichen das zentrale der Helferberufe (vgl. Schmidbauer, 1999, S. 30). Das trifft auch oder gerade für die Orientierung an den Prinzipien des "Empowerment" zu. Ein partnerschaftlicher Helferprozess kann nur unter den Bedingungen gegenseitiger Mitsprache stattfinden.

In welcher Form nun "Empowerment - Prinzipien" in der sozialen Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten umgesetzt werden könnten, wurde zum Teil ohne direkte Nachfrage meinerseits, von den befragten ExpertInnen diskutiert.

6.6.1.1 "Persönliches Budget"

B: Naja, da gibt es ja eh die WAG, wenn man es sich leisten kann, und die Wiener Sozialdienste [AnbieterInnen persönlicher Assistenz] und solche Sachen.

A: Das heißt, sie würden sich einen persönlichen Assistenten suchen, wäre Ihnen das lieber als so?

B: Ja sicher, weil da kann ich mir dann das Niederlegen aussuchen und da kann ich sagen: komm heute einmal später oder komme gar nicht, weil meine Frau macht das eh und solche Sachen. (IV5, .S. 20f, 33-7)

Grundsätzlich versteht man unter persönlichen Budget Direktzahlungen an behinderte Menschen, mit denen diese sich selbst ihren individuellen Hilfebedarf finanzieren können. Die behinderten Menschen können dadurch eigenverantwortlich, selbständig und selbstbestimmt den Einkauf der Leistungen regeln, die sie brauchen, und die dafür nötigen Gelder auch selbst verwalten. Die Finanzierung kann grundsätzlich alle Lebensbereiche (Freizeit, Wohnen ...) umfassen und ist nicht nur auf Pflege oder Arbeit eingeschränkt (vgl., BMAS, 2007, S. 14).

Persönliche Budgets werden in Europa schon seit geraumer Zeit diskutiert und finden immer mehr Eingang in die Hilfeplanung verschiedenster Länder. Der allgemeine Trend in Europa scheint in diese Richtung zu weisen (vgl. Halloran, 1997, S. 3). Probleme bei der Umsetzung zeigten sich vor allem im Kontext der Lebenslagen von Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Die meisten sind der Meinung, daß direkte Zahlungen für körperlich behinderte Personen, die im Stande sind, ihre eigene Pflege zu verwalten, gut geeignet sind. Man zweifelt aber, ob dieser Service für Personen mit beträchtlichen Problemen ihr eigenes Lebens in den Griff zu bekommen, geeignet sind. (ebd., 1997, S. 3).

Die bisherigen Erfahrungen in Schweden, wo seit 1984 Modellversuche laufen und das persönliche Budget seit 1997 gesetzlich verankert ist, sind positiv, bis auf die Umsetzung bei Menschen mit so genannter "geistiger Behinderung". Diese Gruppe nahm die Unterstützung seltener in Anspruch und auch die Behörden haben Schwierigkeiten im Umgang mit der Personengruppe (vgl. Ratzka, 2007, S. 1).

Deutschland geht in Sachen des persönlichen Budgets einen anderen Weg und hält, trotz heftiger Kritik von Seiten der Selbstvertretungsorganisationen, am Abschluss einer Zielvereinbarung fest, an die die Gewährung der Leistung gekoppelt ist.

Sobald der jeweilige Bedarf von dem oder den jeweiligen Leistungsträgern festgestellt ist, schließen die leistungsberechtigte Person und der "Beauftragte" eine Zielvereinbarung. [...]Diese Zielvereinbarungen müssen individuell auf die jeweilige Person und die mit dem Persönlichen Budget abgedeckten Leistungen angepasst werden." (BMAS, 2006).

Folgendes muss in diesen geregelt sein:

  • die Ausrichtung der individuellen Förder- und Leistungsziele

  • die Erforderlichkeit eines Nachweises für die Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs sowie

  • die Qualitätssicherung; (vgl. BMAS, 2006)

Es erscheint unter dem Gesichtspunkt nachvollziehbar, dass viele Menschen mit Lernschwierigkeiten, die Schwächen im Bereich der Kulturtechniken, der Sprache oder in anderen Bereichen haben, die zur Verwaltung und Selbstorganisation des persönliche Budgets notwendig sind, sodass die Umsetzung dieses Modells von vielen von ihnen nicht in der Form genützt werden kann. Die Idee, diese Schwierigkeiten mit Hilfe von Zielvereinbarungen zu lösen, wie es in Deutschland ab dem 1. Jänner 2008 gesetzlich (vgl. BMAS, 2006) verankert ist, stellt einen Weg dar, der bei der Entwicklung von Modellen des persönlichen Budgets in Anlehnung an demokratische Grundprinzipien, sowie unter Einbeziehung wissenschaftlicher Kriterien berücksichtigt werden muss. Zentrales Element dieser Entwicklung muss die Einbeziehung der Menschen mit Behinderungen sein. Dass viele von ihnen den persönlichen "Hilfebedarf" ohne Unterstützung organisieren und verwalten können, zeigen die gelungenen Praxisbeispiele. Andere wiederum hätten sicherlich (zumindest anfänglich) Schwierigkeiten bei der Abwicklung dieser Aufgaben, könnten die notwendigen Fähigkeiten aber langsam und mit anfänglicher Unterstützung erlernen. Wieder andere Menschen können dies, auf Grund nicht vorhandener persönlicher Ressourcen oder auch mangelnden Kommunikationskompetenzen voraussichtlich niemals erlernen.

A: Wer hat Ihnen da geholfen, dass sie das organisiert haben?

B: Das war eine Bekannte von mir, eine Physiotherapeutin, die ist jetzt auch schon in Pension und ich bin jetzt noch mit deren Söhnen in Kontakt, und die hat mir viel geholfen. Die hat am Anfang das finanzielle für mich verwaltet, wo ich noch Hilfe gebraucht hab. Jetzt mach ich mir das ohnehin selber. (IV5, S. 9, 26-31)

Die unterschiedlichen Bedürfnisse zeigen ganz klar, dass bei der Weiterentwicklung von Modellen des persönlichen Budgets am Arbeitsplatz aber auch im Privatbereich der divergente "Hilfe- und Unterstützungsbedarf" von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden muss. Dass die "Verpflichtung" zu einer Zielvereinbarung für die Inanspruchnahme eines persönlichen Budgets für viele, die persönliche Assistenz zur Bewältigung ihres Alltags benötigen, eine Bevormundung und Diskreditierung darstellt scheint aus der Perspektive der "Selbständigkeit und Gleichstellung" von Menschen mit Behinderungen auf der Hand zu liegen. Im Fall von Menschen mit Lernschwierigkeiten muss aber überlegt werden, wie das persönliche Budget verwaltet und organisiert wird bzw. welche Aufgaben persönliche AssistentInnen in welcher Form übernehmen. Ob die hier diskutierte Unterstützungsform für alle Menschen mit Lernschwierigkeiten Sinn macht, erscheint eher fraglich, wenn vom individuellen Hilfebedarf des Einzelnen ausgegangen wird. Nichts desto trotz birgt dieses Modell eine wesentliche Änderung im hierarchischen Verhältnis "HelferIn - KlientIn". Der Mensch mit Behinderung wird nicht mehr nur "einseitig" zum/zur EmpfängerIn von Hilfe, sondern ist zugleich auch Arbeit- und AuftraggeberIn der persönlichen AssistentInnen.

Im internationalen Vergleich hinkt in Österreich die Entwicklung des persönlichen Budgets noch hinterher. Einzig die persönliche Assistenz am Arbeitsplatz wird für Menschen mit Behinderungen ab der Pflegestufe vier finanziert. Einzelne Modellprojekte in den Bundesländern stellen Versuche dar, die mehr oder weniger "Macht" in die Hände der "KonsumentInnen" des "ermittelten Unterstützungsbedarfs" übergeben. Auf Grund der internationalen Entwicklungen ist davon auszugehen, dass diese Unterstützungsmodelle auch hierzulande im Wachsen begriffen sind. Die "Selbstbestimmt Leben" - Bewegung fordert auch in Österreich die Weiterentwicklung der bestehenden Konzepte, z.B. durch das Abhalten von Tagungen ein (vgl. Ladstätter, 2007). Für Menschen mit Lernschwierigkeiten, die nicht mindestens die Pflegestufe vier zuerkannt bekommen (in Ausnahmefällen auch Pflegestufe drei) (vgl. Wibs, 2006, S. 29), gibt es in Österreich keine Möglichkeit, ein persönliches Budget am Arbeitsplatz in Anspruch zu nehmen. Für die Weiterentwicklung von Modellen hierzulande bietet dies den Vorteil, dass - in Kooperation mit denen, die diese Dienstleistung zur Führung eines möglichst unabhängigen und selbstbestimmten Lebens benötigen - ein Unterstützungsangebot entwickelt werden kann, das dem individuellen Bedarf der NutzerInnen weitest möglich entspricht. Zentral scheint, dass die Verschiedenheiten der Menschen an deren Lebenswelt angepasste Unterstützungsleistungen erfordern. Dass das persönliche Budget nicht in jedem Fall das erste Mittel der Wahl sein muss, ist aus dieser Perspektive wiederum nachvollziehbar.

6.6.1.2 "Peer Counseling"

Ein weiteres Beratungs- bzw. Unterstützungsmodell, das bei den geführten qualitativen Erhebungen zur Diskussion stand, war das "Peer Counseling", das in den letzten Jahren in das "Setting" der sozialen Arbeit mit und von Menschen mit Behinderungen für Menschen mit Behinderungen verstärkt Einzug hielt.

Weil ich eben die Ausbildung zum Wohnhausexperten gemacht habe, sehe ich gleich, wenn ich in ein Hotel rein fahre, wo es krankt. Dass man mit dem Elektrowagerl eben nicht reinkann oder - was mich auch kränkt ein bisserl, dass die Architekten, wenn sie wo Häuser bauen oder umbauen nicht einen Behinderten mit einem normalen und einen mit einem E-Rolli befragen, was man wirklich braucht oder nicht. (IV5, S. 19, 9-13)

Im Rahmen verschiedener Bildungsangebote können Menschen mit Lernschwierigkeiten Beratungs - "Know - How" erwerben. Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten bieten in von ihnen "autonom" geleiteten (Berufs-) Beratungsstellen Unterstützungsleistungen von Betroffenen für Betroffene an. Dass Menschen mit Lernschwierigkeiten zum Teil ein großes Potenzial mitbringen, das im Beratungs- und Hilfeprozess unabdingbar ist, berichten die Menschen, mit denen im Laufe der Erhebungen Interviews geführt wurden.

S: [...] und dann hab ich von der 1. bis zur 4. HS, also durch von der VS bis zur HS ein schwerstbehindertes Kind gehabt, ja und um den hab ich mich gekümmert auch.

A: Das heißt, du hast dich um das Kind gekümmert. Welche Behinderung hat denn das Kind gehabt?

S: Der war gehbehindert und hat fast nicht reden können, und ich hab mich halt immer gekümmert um ihn und hab halt auch geschaut, dass in der Pause, dass er ein bisserl herumkommt, und ich war immer bei ihm. (IV4, S. 2, 22-31)

Was mir einfach jetzt wichtig ist, ist einfach, dass die Leute, die arbeiten gehen, wir unter Anführungszeichen wir Behinderte, dass wir nicht überall behindert werden und überall als schwach bezeichnet werden. Das ist das, was mich so ärgert. Weißt du? Dass unsere Fähigkeiten in Frage gestellt werden. Verstehst du, was ich meine? Weil manchmal haben wir Behinderten bessere Fähigkeiten in Situationen, was ihr nicht so gut könnt, unter Anführungszeichen jetzt. (IV1, S. 17f, 30-2)

Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten haben ein in unterschiedlicher Weise ausgeprägtes Verständnis von sozialen Zusammenhängen. Die Sicht auf die individuelle Lebenslage des Individuums aus der Perspektive der eigenen Betroffenheit begünstigt möglicherweise einen realistischen Blick auf die Situation des zu Beratenden. Dadurch kann ein "effizienter" Beitrag zu einer realistischen Planung des Hilfebedarfs am Arbeitsplatz oder in anderen Lebensbereichen geleistet werden. Das "Know-How" der betroffenen ExpertInnen aus dem Helfersystem auszugrenzen, widerspricht aus diesem Blickwinkel der Weiterentwicklung professioneller sozialer Arbeit.

Im Folgenden werden die zentralen Bestandteile der Methode des "Peer Counseling" skizziert:

  • Grundannahme ist, dass Menschen in der Regel selbst dazu in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen.

  • Die BeraterIn ist mit den Ratsuchenden gleichgestellt. Dies ermöglicht eine Kontaktbasis, die durch Erklärungen unmöglich erreicht wird.

  • Der Hintergrund der gemeinsamen Lebenserfahrung begünstigt den Beziehungsaufbau.

  • Es gilt, wie für alle HelferInnenbeziehungen, die Vertraulichkeit.

  • Die Gleichberechtigung wird durch Gruppensitzungen, an denen Ratsuchende, wie BeraterInnen als Gleichberechtigte teilnehmen, gefördert.

  • "Peer" kann sein, wer gleich alt ist, denselben (kulturellen) Hintergrund hat, oder in einer ähnlichen/derselben Situation, wie der/die Ratsuchende ist. In Bezug auf Behinderung sind "Peers" Menschen, die zu ihrer Behinderung, ihren Lernschwierigkeiten stehen und somit bewusst auf eine gemeinsame Lebenserfahrung zurückgreifen können.

  • Die eingesetzten Techniken zielen darauf ab, das Gegenüber beim Prozess, sich selbst besser kennen zulernen, zu unterstützen.

  • Der gemeinsame Hintergrund eröffnet eine politische und gesellschaftliche Perspektive auf das scheinbar persönliche Problem.

  • Die Bühne gehört den Ratsuchenden. Sie entscheiden über Dauer und Zielrichtung des Prozesses. Somit trägt der Ratsuchende die Verantwortung dafür, das Beste aus der "Peer Counseling" Beratung zu machen (vgl. Doose, Kan, 2000, S. 23f).

Das "Peer Counseling" ist eine Methode sozialer Arbeit, die eine enorme Bereicherung derselben darstellt. Gewiss können aber nicht alle sozialen Probleme, die im Zusammenhang von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten entstehen, mit Hilfe dieses "Settings" gelöst werden, bzw. können auch nicht alle Unterstützungsleistungen von Peers angeboten werden, wie z.B. die Verwaltung des persönlichen Budgets oder die persönliche Assistenz am Arbeitsplatz. Einen Faktor, der im Bezug auf Peers im Zusammenhang mit dieser Arbeit erwähnenswert ist, stellt der arbeitsmarktpolitische Aspekt dar. Durch professionelle Qualifizierungsangebote für PeerberaterInnen, entsteht ein neuer Arbeitsmarkt für Menschen mit Lernschwierigkeiten.

6.6.1.3 Zusammenfassung der Konsequenzen für die soziale Arbeit

Im vorhergehenden Kapitel wurden Methoden und Konzepte vorgestellt, die Einzug in die Behindertenhilfe gehalten haben. Keiner der vorgestellten Möglichkeiten kann attestiert werden, dass sie das beste Mittel der Wahl sei. Orientiert an den Grundsätzen von "Empowerment" und lebensweltorientierter sozialer Arbeit kann aus Sicht der geführten Erhebungen nur unterstrichen werden, dass die Professionalisierung derselben gerade durch ihre Methodenvielfalt gewährleistet und weiterentwickelt werden kann. Dadurch besteht die Möglichkeit, die "Methoden" der Wahl einzusetzen - orientiert an den individuellen Bedürfnissen oder lebenslagenspezifischen Sozialisationsbedingungen der "KlientInnen" in Absprache mit den Betroffenen. In der Zusammenarbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten sind dem Faktor "gleichberechtigte Kommunikation" und dem Eingehen und Respektieren auf den unterschiedlichen "Zeitbedarf" und das verschiedene "Zeiterleben" besondere Aufmerksamkeit zu schenken. In der sozialen Arbeit muss in Bezug auf die Unterstützung von Menschen mit Lernschwierigkeiten der verbalen wie nonverbalen Kommunikation besondere Beachtung geschenkt werden. Das "Erlernen" der (häufig auch nonverbalen) Sprache von Mitmenschen mit Lernschwierigkeiten stellt gewiss eine große Herausforderung für die HelferInnen dar. Die Planung möglichst adäquater Hilfeleistungen kann aber nur durch eine bestmögliche (unterstützte) Kommunikation mit den zu Unterstützenden entwickelt werden.

Die Pointe des Gefangenendilemmas besteht darin, dass der Versuch, den jeweils eigenen Nutzen zu maximieren, zu einem schlechteren Ergebnis führt, als die Beteiligten hätten erreichen können, wenn sie ihre Entscheidungen abgesprochen oder sonst irgendwie koordiniert hätten. Neue Konventionen bedürfen einer vertraglichen Absicherung, um die Gefahr des Verrats zu minimieren, der nahe liegt, da er dem Verräter eine Maximierung des Gewinns verspricht. Was ergibt sich daraus, wenn wir der Gesprächssituation, an der Klient und Sozialarbeiter teilhaben, dieses Modell und nicht das übliche aufklärerisch-autoritäre supponieren? Zunächst bedeutet es, dass sich Sozialarbeiter mit den gleichen Problemen konfrontiert sehen ihre Klienten und mit diesen Lösungen für das gemeinsame Dilemma suchen müssen. Die Überwindung von Konventionen ist dann eine für beide Seiten riskante Angelegenheit. (Posch, 2006, S. 14)

Aktuelle Professionalisierungstendenzen in Österreich, die speziell auf die Erfordernisse von Menschen mit Lernschwierigkeiten eingehen, sind an der verstärkten Auseinandersetzung mit "Leichter Sprache", der Einbeziehung von "SelbstvertreterInnen" in den Wohn- und Arbeitsbereich und an der verstärkten Diskussion über Unterstützungsmodelle wie dem "persönlichem Budget" oder dem "Supported Employment" festzustellen. Einer Weiterentwicklung der Methoden sozialer Arbeit bedarf in Anbetracht der geführten Erhebungen sowohl Konsequenzen auf organisationaler wie auf Beziehungs- Ebene, um einen Beitrag zu möglichst hoher Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu leisten.

6.7 Die "Arbeitssituation" von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rückblick

In der Gesamtschau zeigen Empirie und Theorie, dass die Bedingungen, unter denen Menschen mit Lernschwierigkeiten "arbeiten", als diskriminierend erlebt werden. Zusammenfassend stellen sich die Ergebnisse wie folgt dar:

  • Existenzsicherung - Der allgemeine Arbeitsmarkt für Menschen mit Lernschwierigkeiten beschränkt sich im "günstigsten" Fall meist auf Hilfstätigkeiten. In den überwiegenden Fällen sind sie aber auf Sozialleistungen angewiesen. Häufig reichen die Mittel schwer zum täglichen Überleben.

  • Soziale Sicherheit - Das System der Beschäftigungstherapie bietet im Vergleich zum regulären Dienstverhältnis keine ausreichende soziale Absicherung (Sozialversicherung, Arbeitsrecht, Sozialhilferecht). Dies führt bei den InterviewpartnerInnen zu Zukunftsängsten und wird als offene Diskriminierung wahrgenommen.

  • Aktivität - Beschäftigung ist in vielen Fällen aktivierend und häufig Grundlage für den Erwerb und die Ausübung von Fähigkeiten. Je eher die Tätigkeit den Möglichkeiten und Interessen der Ausführenden entspricht, desto aktivierender ist "Beschäftigung".

  • Zeit(struktur) - Arbeit gibt dem wach erlebten Tag eine Struktur: Menschen mit Lernschwierigkeiten setzt die Vorstrukturierung durch eine "Vollzeitbeschäftigung" häufig unter Druck, da sie auf Grund ihrer Behinderungen und Benachteiligungen oft einen erhöhten Zeitaufwand für die Tätigkeiten des Alltags aufwenden müssen. Die "individuelle Zeit" steht häufig im Gegensatz zu den Anforderungen der "gesellschaftlichen Institution" Zeit und nimmt Einfluss auf die Anerkennung als erwachsener Mensch.

  • Soziale Kontakte - Arbeit erweitert das soziale Netz.

  • Diskriminierung unter Gleichen: Menschen mit Lernschwierigkeiten sind am ersten Arbeitsmarkt auf Grund ihres "Anders Seins" von Diskriminierungen im persönlichen Kontakt betroffen, teilweise auch, wenn sie mit diesen rechtlich gleichgestellt sind.

  • Exklusion durch die Beschränkung auf "Peer-Group-Ebene": Menschen mit Lernschwierigkeiten haben oft kaum die Chance, andere Menschen außerhalb der ihnen von der öffentlichen Hand als "Lebensraum" zugewiesenen Möglichkeiten kennenzulernen - diese soziale Isolation führt zu Informationsdefiziten und einem geringeren Zugang zu materiellen Hilfeleistungen.

  • Diskriminierung durch ungleiche Machtverhältnisse "KlientIn - HelferIn" - Das Machtverhältnis wird in der "beruflichen Sozialisation" von Menschen mit Lernschwierigkeiten durch den Faktor "Betriebswirtschaft" zu ungunsten der "KlientInnen" verschoben, solange diese rechtlich nicht auf gleicher Ebene sind. Dadurch wird der "Creaming the Poor" - Effekt verstärkt. Die Ökonomisierung der sozialen Arbeit leistet einen Beitrag zu verstärkter Ausgrenzung von Benachteiligten.

  • Menschen mit Lernschwierigkeiten haben trotz eher schwieriger Sozialisationsvoraussetzungen überwiegend ein positives Selbstbild.

7 Die Kernkategorie - "GLEICH=STELLUNG"

...weil Anerkennung ist das allerwichtigste im Leben, weil wenn du keine Anerkennung bekommst von jemanden, dann würd sich`s auch nicht bringen, dass du etwas arbeitest (IV1, S. 24, 25-27).

Unabhängig vom zentralen Bereich der beruflichen Sozialisation, der in dieser Arbeit beleuchtet wird, erlaubt ein Gesamtblick auf das erhobene Material, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Gesellschaft als gleichberechtigte Individuen anerkannt werden wollen. Die Kernkategorie kann mit einem Wort skizziert werden - "Gleichstellung".

An dieser Stelle wird darauf verzichtet aus den Menschenrechten zu zitieren, andere Schriften anführen oder gar die Bibel zur Hand nehmen, um festzuhalten, dass jeder Mensch in seiner Würde unantastbar ist, um dieser Werte zu belegen. Viel mehr werden die Menschen, mit denen gesprochen wurde erzählen.

Sie erzählten ihre Geschichten und beim Zuhören konnte feststellt werden, dass sie immer wieder erleben mussten, wie sie abgelehnt, ausgegrenzt und als "minderwertig abgestempelt" wurden. Menschen, die derart oft ausgegrenzt wurden und im Laufe ihrer Biografie erlernt haben, kaum eine Chance zu haben, jemals ein unabhängiges selbstbestimmtes Leben zu führen, sind nachvollziehbar von diesen Erlebnissen geprägt und haben Sehnsucht nach Gleichstellung. Diese findet nicht nur auf der rechtlichen Ebene, sondern auf allen Sozialisationsebenen statt, und wird nur durch die Interaktion sichtbar. Gleichstellung drückt sich also durch Respekt, Anerkennung, Akzeptanz, Chancengleichheit und vieles mehr aus.

A: Was würde denn für Sie heißen, wenn sie ernst genommen werden? Jetzt nur Sie als Frau Reiter und gar nicht so als Gruppe.

R: Man wird mit allen Fehlern akzeptiert. So, genauso wie man ist.

A: Mit allen Fehlern akzeptiert, OK. Haben sie das Gefühl, dass Sie behindert sind, Frau Reiter?

R: Nein, hab ich nicht.

A: Also, obwohl Sie jetzt im Rollstuhl sind und in einer Gruppe für Menschen mit

Lernschwierigkeiten sitzen, haben sie selber nicht das Gefühl ...

R: Ich merk schon, dass ich Schwierigkeiten habe bei gewissen Dingen, wo z.B. andere hinkommen komme ich nicht hin. (IV2, S. 14, 22-33)

Herr Seiler erzählt davon, wie soziale Anerkennung und Gleichberechtigung erlebt werden kann, und dass das sehr wohl auch in einer "Firma" möglich ist.

A: Und da in der Firma wie ist das so, was ist da das Schwerste? Es gibt ja immer Sachen in der Firma, die nicht so leicht sind, bei mir gibt's die auch.

S: Ja, also mir gefällt eigentlich alles!

A: Was gefällt dir am besten?

S: Meine Kollegen verarschen, das mach ich am liebsten.

A: Verarscht ihr euch da gegenseitig?

S: Der eine fängt an, dann macht der 2. mit, und auf einmal streiten wir alle miteinander.

A: Und das ist eine Gaudi?

S: Ja, das ist eine Gaudi.

A: Wie viele Leute sei's ihr da?

S: Wir sind 6 oder 7 Leute und dann wechseln wir uns immer ab, einmal sekkiert der den und hört man den, und dann denkt man sich ah die reden eh nur irgendwas da vorne machen wir gleich mit, und dann bin ich auch gleich zwischen drinnen (IV4, S. 8f, 21-12)

Im Gegensatz dazu manifestiert sich das Phänomen der Ablehnung und eventueller

Vorurteile, die die ungleiche Chancenverteilung sichtbar machen und den Wunsch

Anerkennung ins Zentrum rücken, in anderen Lebensbereichen.

S: Das wichtigste in meinem Leben? Das ist, dass ich so bald wie möglich eine Freundin finde. [...]

A: Gehst du viel weg?

S: Nein, nicht so.

A: Ist es recht schwierig Freundinnen zum finden?

S: Ja, schon.

A: Wie tun denn die Mädels leicht, wenn du sie anredest?

S: Sie sind schüchtern!

A: Mmh, was glaubst, macht es denn so schwierig für dich?

S: Ich weiß es nicht, kann ich schwer sagen. (IV4, S. 17, 14-11)

Herr Bauer schildert mehrmals, welchen Unterschied es für ihn bedeuten würde, wenn

er gleichberechtigt wäre.

A: Das heißt, sie würden sich einen persönlichen Assistenten suchen, wäre Ihnen das lieber als so?

B: Ja, sicher, weil da kann ich mir dann das niederlegen aussuchen und da kann ich sagen: komm heute einmal später oder komme gar nicht, weil meine Frau macht das eh und solche Sachen.

A: Das heißt, da hätten sie einfach mehr Freiheiten? (IV5, S. 21, 2-11)

Er verbindet mit Chancengleichheit sehr traditionelle in der Gesellschaft verwurzelte

Bilder.

Mein Traum wäre, mit einer Frau in einer Privatwohnung zu leben - also ein normales Leben führen zu können. (IV5, S. 19, 32-33)

In Anbetracht dessen, dass Sozialisationstheorie davon ausgeht, dass Exklusion eine zentrale Erfahrung in der Persönlichkeitsbildung ist und alle InterviewpartnerInnen von prägenden Ausgrenzungserfahrungen berichten, ist die Kernkategorie "Gleichstellung" wenig überraschend. Viel mehr ist sie als Anliegen von Menschen, die nahezu täglich Ausgrenzung erleben, kaum überraschend und deckt sich mit der These von Hurrelmann, dass Dauer und Intensität die Sozialisationsrelevanz stark beeinflussen dürften. Damit geht auch der Wunsch nach einer Veränderung dieser sozialisationsrelevanten "Ausgrenzungsfaktoren" einher, die hier unter dem Schlagwort Gleichstellung subsumiert werden. Anders ausgedrückt könnte diese zentrale Kategorie auch mit dem Begriff "Lebensqualität" erfasst werden.

Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Lebensqualität setzt Freiheit voraus, auch Freiheit von Angst. Sie ist Sicherheit durch menschliche Solidarität, die Chance zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, zu Mitbestimmung und Mitverantwortung, zum sinnvollen Gebrauch der Kräfte in Arbeit, zu Spiel und Zusammenleben, zu Teilhabe an der Natur und den Werten der Kultur, die Chance gesund zu bleiben oder zu werden. Lebensqualität meint Bereicherung unseres Lebens über den materiellen Konsum hinaus. (Noll, 2004, S. 4f. In Doose, 2006, S. 38)

Für die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates bietet diese Definition von Lebensqualität, die sich an der Qualität von Teilhabeprozessen orientiert, die Möglichkeit, einerseits Zieldimensionen festzulegen und andererseits die Entwicklung der objektiven wie subjektiven Wohlfahrt einzelner Bevölkerungsgruppen zu überprüfen (vgl. Doose, 2006, S. 38f). Die Sozialisationsrelevanz dieser "Teilhabeindikatoren" wurde in den bisherigen Ausführungen diskutiert. Durch die Analyse wurde klar, dass die Institutionen sozialer Arbeit, wenn sie einen Beitrag zur "Gleichstellung" von Menschen mit Lernschwierigkeiten leisten wollen, ihr Angebot an den Bedürfnissen dieser Personengruppe orientieren und sich zudem mit den speziellen Problemlagen, die diese mitbringen, auseinandersetzen müssen.

B: Die Behindertengruppen, ob die jetzt von Jugend am Werk oder einem kleineren Verein ist, sollten mehr Gehör bekommen bei den Politikern, das wäre mein Anliegen. (IV5, S. 25, 27-28)

8 Die Zukunft der Arbeit von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten

Obwohl von der Zukunftsforschung das Ende der Arbeit prophezeit wird, bleibt Erwerbsarbeit ein zentraler Faktor für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Teilhabe; diese und auch Berufsausbildung sind nach wie vor identitäts- und sinnstiftende Elemente (vgl. Susman, 2006, S. 1). Setzt sich aber der Trend in Richtung Massenarbeitslosigkeit fort, sollten wir das Wesen der bezahlten Arbeit überdenken, vor allem den zentralen Aspekt, den sie im Leben von Menschen einnimmt. (vgl. Giddens, 1999; S. 361). Von verschiedenen Seiten werden Modelle der "Umverteilung" von Arbeit diskutiert. In Bezug auf Menschen mit Behinderungen "werden wir uns in Zukunft wohl mehr mit der "Umverteilung der Arbeitslosigkeit" als mit der "Verteilung der Arbeit" auseinandersetzen müssen." (Plaute, Theunissen, 2002, S. 315). Giddens stellte Überlegungen dazu an, wie der Begriff "Arbeitslosigkeit" aus der Sprache wieder verschwinden könnte. Er fragt sich, ob man nicht - wie einige Beobachter vorschlagen - alle Arbeitslosen als Selbständige klassifizieren und die Bedürftigen unter ihnen unterstützen sollte, damit sie den Aufgaben, die sie gewählt haben, nachgehen können (vgl. ebd., 1999, S. 361).

Die zentrale Frage des Stellenwerts von Arbeit wird sehr kontrovers diskutiert. Es scheint festzustehen, dass das Recht auf Arbeit, wie es in der der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für Jedermann verbrieft wird, ein unrealistisches Ziel geworden ist. Im Gegensatz zum Zukunftsforscher André Gorz, der schreibt, dass nichts anderes mehr in Betracht kommen kann, "als die Befreiung von der Arbeit [...]" (ebd., 1980, S. 62. In Giddens, 1999, S. 363), stellt Giddens - auch wenn er es begrüßenswert fände, wenn Arbeitslosigkeit nicht ausschließlich negativ gesehen wird - fest, dass bis zum heutigen Zeitpunkt in diese Richtung nur wenig Fortschritte erzielt worden sind (vgl. ebd. 1999, S. 363). Die Situation scheint auch im angehenden 21. Jahrhundert nach wie vor vergleichbar zu sein und der "Verdrängungswettbewerb" um bezahlte Arbeit hat sich weiter zugespitzt. Durch die Auslagerung von Hilfstätigkeiten und die Verlagerung der Produktion in Schwellen- und Entwicklungsländer sind Arbeitsplätze, die unkritisches Wissen fordern, immer rarer (vgl. Susman, 2006, S. 2).

Die Auslagerung der Produktion und die Orientierung an Gewinnmaximierung leistet neben anderen marktwirtschaftlichen "Erfordernissen" einen Beitrag zur Etablierung der "Zwei Drittel Gesellschaft" (oder in welche Teile man diese auch teilen mag) und führen zu einer Dienstleistungsgesellschaft in der reiche Anwälte und Berater ihre Dienstleistungen den GroßunternehmerInnen verhökern. Demgegenüber stehen Kohorten von Reinigungskräften, GärtnerInnnen, Angestellte der Nahrungsmittelindustrie und viele andere, die viele Stunden arbeiten müssen damit sie ein vernünftiges Gesamteinkommen haben. (vgl. Zilian, 1999, S. 205),

Die Zunahme des Dienstleistungssektors verursacht eine weitere Verschärfung der Ungleichheiten zwischen Ärmeren und ökonomisch Bessergestellten (vgl. ebd., 1999, S. 206). Gorz stellt zu diesem Phänomen - wenn er über eine "professionelle Elite" aus ökonomisch "hyperaktiven Klassen" schreibt - fest, dass diese es nicht zulassen wird, ihre Vorrechte und Machtpositionen abzugeben.

Sie kann daher ihre eigene Freizeit nur dadurch vergrößern, daß sie Dritte anstellt, um ihr verfügbarer Zeit zu verschaffen. Sie wird darum von dieser dritten Personengruppe die Erledigung all jener Dienstleitungen verlangen, die ein jeder - unabhängig von seiner beruflichen Qualifikation - erbringen kann: vor allem die gesamte sogenannte "Reproduktionsarbeit". (Gorz, 1994, S. 19. In Zilian, 1999, S. 206)

Im Zuge von Fordismus und Taylerismus wurde die Produktivität der "Arbeit" phänomenal gesteigert. Damit ging die Entwicklung in Richtung der skizzierten Probleme (vgl. Zilian, 1999, S. 209). Die Nachfrage nach hoch qualifizierten Männern und Frauen mit hohem Bildungsniveau stieg rapide und die Kluft zwischen jenen, die im Zentrum und denen, die am Rand des Arbeitsmarktes stehen, vergrößerte sich (vgl. Susman, 2006, S. 2).

Die Tatsache, dass der Ausschluss aus der Arbeitswelt zutiefst erniedrigend ist (vgl. Zilian, 1999, S. 209), wurde in den bisherigen Ausführungen dargelegt und trifft sowohl für Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten zu. Auch wenn z.B. Doose (2006) eine außerordentlich positive Bilanz von unterstützter Beschäftigung zeigt und belegt, dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Menschen mit Lernschwierigkeiten unter den Rahmenbedingungen des "Supported Employments" Dienstverhältnisse erlangen und erhalten können, so scheint doch die Entwicklung von Arbeit darauf hinzudeuten, dass dies nur in Ausnahmefällen möglich sein wird, und die Tendenz, dass es nur noch für gesellschaftliche Eliten stabile Arbeitsverhältnisse gibt, voranzuschreiten (vgl. Giddens, 1999, 362; Zilian, 1999, S. 209). Auch wenn sich die Beschäftigung von Menschen mit Lernschwierigkeiten soweit bewährt hat, dass beträchtliche Auswirkungen für das gesamte System erwartet werden (vgl. Barlsen, Hohmeier, 1997, S. 58. In Markowetz, 2007. S. 271), ist eine grundlegende Veränderung des Rehabilitationssystems auf Grund der Situation am Arbeitsmarkt nicht zu erwarten (vgl. Markowetz, 2007, S. 271).

Menschen mit Lernschwierigkeiten, psychischen Problemen, Behinderungen, oder in anderen von der "Normalität" abweichenden Lebenslagen sind von diesen Mechanismen des allgemeinen Arbeitsmarktes besonders stark betroffen. Übrig bleiben die, die den hohen Anforderungen nicht gewachsen sind (vgl. Zilian, 1999, S. 206). Zilian fragt sich, ob es nicht an der Zeit wäre "zu zeigen, dass bei großem Bedarf an Arbeitskräfteflexibilität eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen nicht nur moralisch richtig, sondern auch effizient wäre." (ebd., 1999, S. 209) In Anbetracht der verschiedenen Sozialisationsebenen von "Arbeit" kann festgehalten werden, dass der Stellenwert derselben, wenn man ihn auf die alleinige Notwendigkeit der existentiellen Absicherung reduziert, verkannt wird. Die Frage nach dem "Tun" selbst ist trotz finanzieller (Mindest)Absicherung durch Sozialleistungen noch immer nicht gelöst.

Die Aufgabe einer anständigen Gesellschaft ist es, das Ausmaß, in dem ihre Mitglieder durch institutionelle Arrangements erniedrigt werden, so gering wie möglich zu halten. Nicht die Enteignung der "Großgrundbesitzer" wird alle Probleme lösen, auch wenn dieser einfache Gedankengang praktisch erscheint. In einer Welt, in der die "Aktionäre" die einzigen Profiteure der dargestellten Entwicklungen sind, scheint alles viel schwieriger zu sein. Es ist ein Mysterium, warum sich weltweit eine Politik durchzusetzen scheint, die nicht den Menschen nutzt, sondern den BesitzerInnen von Wertpapieren, also von "Personen", denen politische Identität und Organisationsfähigkeit fehlt oder zu fehlen scheint. Die Gesellschaft muss, um mit den Folgeproblemen der "technologischen und organisatorischen Erfolge" fertig zu werden, eine soziale Intelligenz entwickeln (vgl. Zilian, 1999, S. 210).

Die Adressaten dieser Entwicklung sind zweifelsohne alle Mitglieder der Gesellschaft. Dass dem Staat eine zentrale Bedeutung zukommt, erscheint implizit. An die Verantwortung der "Wirtschaft" - wer oder was auch immer dieses Konglomerat an Aktionären, Großindustriellen auch sein mag - zu appellieren, scheint mangels einer klaren Identifikation der Adressaten besonders erschwert. Auch die anonyme Masse der Armen und Arbeitslosen kann diesen Entwicklungen nichts entgegensetzen, da das bestehende Machtgefälle ihnen kaum gestaltende Möglichkeiten einräumt und die Reichen diese Macht nicht freiwillig abgeben werden, wie Gorz feststellte (vgl. Gorz, 1994, S. 19. In Zilian, 1999, S. 206). Dass hier die Politik gefordert ist, mit den ihr zustehenden gestalterischen Möglichkeiten einzugreifen, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die den "ModernisierungsverliererInnen" ein Leben im Zentrum und nicht am Rande der Gesellschaft sichern, liegt auf der Hand. Ansonsten tritt das Szenario ein, das Zilian als vorprogrammiert erkennt und schlussendlich der "Wiederaufstieg der Gewalt" dazu führt, dass letztlich alle mit "leeren Händen" dastehen (vgl. ebd., 1999, S. 205). Die aktuellen Konflikte in einigen industrialisierten Ländern, sowie der seit "Nine Eleven" offen zu Tage getretene "Krieg", der zumindest in weiten Teilen auf das Armutsgefälle zurückgeführt werden kann, könnten möglicherweise erste Vorboten dieser von Zilian prognostizierten Entwicklung sein. Inwieweit es gelingen kann, in einer derart anonymisierten und individualisierten Welt gegenzusteuern und diesem Aufflammen der Gewalt entgegenzutreten, wird die Zukunft weisen. Das Entwickeln von angemessenen Strategien erscheint unter globalisierten Rahmenbedingungen äußerst schwierig zu sein (vgl. ebd. 1999, S. 31).

Die Befunde der Zukunftsforschung weisen eindeutig darauf hin, dass neben der "finanziellen Grundsicherung" auch Modelle diskutiert werden müssen, die es Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten, die zu den Verlierern der rasanten Entwicklung gehören, ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen. Dass hier nicht nur "Freizeitmodelle" zu einer adäquaten Lösung einen Beitrag leisten, sondern auch "Beschäftigungsmodelle" geschaffen werden müssen, ist in Anbetracht des nach wie vor enorm hohen Stellenwerts von "Arbeit" in der "postindustriellen" Gesellschaft nicht von der Hand zu weisen. Zudem - und an dieser Stelle sei wieder an die "langsamen" Arbeitslosen aus Marienthal erinnert - erscheint die Idee absurd, "Arbeitslose" unter ökonomisch schwierigen Rahmenbedingungen als "neue Selbständige" zu betrachten, die in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit ihren Interessen nachgehen oder in Eigenregie "Lohnarbeit" anbieten. Mangelnde finanzielle Ressourcen verunmöglichen die Teilnahme an Freizeit- und Bildungsaktivitäten und leisten einen Beitrag zur voranschreitenden sozialen Isolation. Arbeitslose sind ihrer "Freizeit" geradezu dazu gezwungen auf den Konsum von Massenmedien zurückzugreifen, die in ihrem Angebot an die römische Machtphilosophie "panem et circenses" erinnern. Die Auswirkungen des modernen Medienkonsums auf die Sozialisation der Menschen lassen sich aus derzeitiger Sicht aber noch schwer abschätzen. Allgemein wird ihnen aber von den modernen Sozialwissenschaften eine hohe Sozialisationsrelevanz zugestanden (vgl. Giddens, 1999, S. 463 - 467; Hurrelmann, 2001, S. 247ff).

Wenn verhindert werden soll, dass in Zukunft eine "gesellschaftliche Elite" auf der einen Seite steht, die auf Kosten der DienstleisterInnen einen Zugewinn an frei verfügbarer Zeit "erwirtschaftet" und sich zumindest in finanzieller Hinsicht all ihre Freizeitbedürfnisse erfüllen kann, und demgegenüber eine "große anonyme Masse von Arbeitslosen" steht, die mangels finanzieller und häufig auch persönlicher Ressourcen ("Deprivation durch Arbeitslosigkeit") aus der Konsum- und Freizeitgesellschaft weitgehend ausgeschlossen bleibt, dann müssen auch Möglichkeiten diskutiert werden, in denen Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten ihre "Lebenszeit" sinnvoll gestalten können.

Dem sog. 2. (oder 3.) Arbeitsmarkt und dem "3. Sektor" (den NPO's) kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu: Weil Personen, die aus dem Erwerbsarbeitskontext fallen - oder Personen, denen diese "gesellschaftlich Eintrittskarte" von vorneherein verwehrt wird, weil sie als "unbrauchbar" stigmatisiert werden - eine persönliche Perspektive benötigen und nicht nur eine historische. (Susman, 2006, S. 3)

Den bestehenden Angeboten der Behindertenhilfe könnte in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommen. Beschäftigungstherapieeinrichtungen hätten durchaus die Chance, eine Antwort auf das gesellschaftliche Dilemma der "Arbeits- und Freizeitgesellschaft" anzubieten, indem sie sich unter den bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu "Werkstätten" für Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten weiterentwickeln (vgl. Markowetz, 2007, S. 269). Dass dafür von Seiten der Politik und in Folge dessen von der sozialen Arbeit die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um nicht wiederum der Diskreditierung von "arbeitslosen" Menschen Vorschub zu leisten, scheint in Hinblick auf die bestehenden Strukturen am "zweiten Arbeitsmarkt" evident.

Wenn es gelingt, denjenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, durch das Bereitstellen von entsprechenden finanziellen Ressourcen, sowie von Möglichkeiten eine persönliche Perspektive zu entwickeln, wieder im Zentrum derselben einen Platz zu geben, könnte den düsteren Prognosen der Zukunftsforschung (vgl. Zilian, 1999; Giddens, 1999; Susman, 2006) "Lots of intelligence and no brains" (ebd., 1999, S. 210) möglicherweise zumindest in Teilbereichen entgegengewirkt werden. Dass der Fluss der Zeit anderes befürchten lässt, legen die bisherigen Ausführungen nahe.

Aus gesellschaftspolitischer Perspektive, und diese gehört trotz oder vielleicht gerade auch wegen des Auftrags von "Hilfe und Kontrolle" zum Wesen sozialer Arbeit, muss der so genannte dritte Sektor (NPO´s) in Zusammenarbeit mit Politik und "Wirtschaft" Zukunftsperspektiven entwickeln, die ein menschenwürdiges Leben ohne bzw. mit wenig "Arbeit" ermöglichen. Dies wird sich angesichts des Abstraktums, das die "Wirtschaft", deren Einfluss auf die Politik enorm ist, darstellt, als schwierig erweisen. In Anbetracht der diskreditierenden Folgen, die der Ausschluss von "Arbeit" in der momentanen und voraussichtlich auch zukünftigen Welt für ein Individuum bedeutet, darf der Ausschluss aus der Erwerbsarbeit nicht länger als ein "individualisiertes Problem" von Einzelpersonen betrachtet werden, deren Lösung durch die Teilnahme an unzähligen Maßnahmen und Trainings, in denen "Schlüsselqualifikationen" vermittelt werden, erreicht wird (vgl. Susman, 2006, S. 2). Eine Entkoppelung von "Arbeit" und finanzieller "Absicherung" könnte, wenn gelungene Modelle der "Beschäftigung" entwickelt werden, die allen Menschen offen stehen, einen Beitrag zur Vision der Inklusion leisten. Die Öffnung der (Beschäftigungs)einrichtungen der Behindertenhilfe für alle Menschen - von der sich nach "Entschleunigung" sehnenden Managerin, über den vom "Burn Out" geplagten Helfer und seine Klientin, bis hin zum von Depressionen geplagten Politiker - stellt eine Vision dar, die in Teilbereichen eine Antwort auf die skizzierten Probleme bieten könnte. Die Wohlstandsgeplagten hätten dann, ebenso wie die ModernisierungsverliererInnen die Möglichkeit, Orte zu frequentieren, an denen nicht "Zeit und Geld", sondern "Entschleunigung" und Persönlichkeitsentwicklung zentrale Elemente der "Beschäftigung" sind.

Kreative Ansätze der Umstrukturierung von "Beschäftigungstherapieeinrichtungen" sowie die Weiterentwicklung der skizzierten Modelle von "Empowerment", "Peer Counseling" und gleichberechtigter Unterstützungs-, wie Assistenzangebote in diesen Einrichtungen, lassen auf ein Weiterentwicklungspotenzial derselben schließen. Es ist davon auszugehen, dass die Ausgrenzung nicht von den derzeit dort beschäftigten Menschen mit mehr oder weniger Lernschwierigkeiten vorangetrieben wird. Exklusion und damit der Fortbestand von Machtdivergenzen, geht nicht von den Diskreditierten aus, sondern liegt in den ureigensten Interessen der Mächtigen (vgl. Gorz, 1994, S. 19. In Zilian, 1999, S. 206).

W: Es können auch Schwerstbehinderte sein, es können Leute mit Lernbehinderung sein, es können auch normale Leute sein, normal unter Anführungszeichen normal. Wer oder was ist normal? Ah, also ich würde mit jedem Menschen zusammen arbeiten, man muss sich irgendwie vertragen. (IV1, .S. 15, 14-17)

Um nicht ähnlich pessimistisch wie Zilian in seinem Buch "Die Zeit der Grille?" "Lots of intelligence and no brains." (ebd., 1999, S. 210) zu enden, und der Weiterentwicklung der Gesellschaft nicht jede Berechtigung abzusprechen, stelle ich an den Schluss dieser Ausführungen eine hoffnungsvollere Perspektive, die positive Veränderung zumindest implizit ermöglicht - den Titel von Klaus Dörner's Buch: "Irren ist menschlich." (2002)

9 Resumee

Wie das abschließende Zitat der vorangehenden Überlegungen in einfachen Worten beschreibt, gibt es für den Menschen keinen "Königsweg", und nur durch das Irren wird er einen Schritt weiterkommen. Somit steht auch außer Frage, dass die Schlüsse, die im Rahmen dieser Arbeit gezogen wurden, wissenschaftlich weiterentwickelt werden müssen und auch Irrwege nicht ausgeschlossen sind.

Ob nun "kreative Ansätze der Umstrukturierung von Beschäftigungstherapie-Einrichtungen" und eine Öffnung für alle der Diskreditierung von Menschen mit Lernschwierigkeiten entgegenwirken oder gar vorbeugen würden, kann nur die Praxis zeigen. Der Vision einer inklusiven Gesellschaft würde es in jedem Fall näher kommen. Dass die Gesellschaft aber derart beschaffen ist, dass sie per se ausgrenzt, gibt Anlass dazu an dieser Stelle eine eher nüchterne Bilanz zu ziehen.

Es gehört zum eigenartigen Zauber dieser Welt, daß sie Außenstehende entweder zermalmt oder vereinnahmt; dieses Merkmal teilt sie mit totalitären und religiösen Bewegungen. (Zilian, 1999, S. 118)

Viel mehr bleibt zu befürchten, dass derart offene Angebote wiederum nur "Verwahrungsstätten" für diejenigen werden bzw. bleiben, die mit den Anforderungen der "Zeit" nicht (mehr) mithalten können. Ob dies nun Männer oder Frauen mit Lernschwierigkeiten, langzeitarbeitslose Jugendliche oder an Depression erkrankte Menschen sind, sei dahingestellt.

Aus gesellschaftspolitischer Sicht würde die Etablierung des "dritten Sektors" aus der Warte der geführten Erhebungen einen Beitrag zur "Entschleunigung" leisten, der Menschen mit Lernschwierigkeiten in jedem Fall entgegenkommen würde. Zum einen zeigen dies die Befunde der geführten Erhebungen, zum anderen unterstreicht Elias mit seiner Annahme über den Zusammenhang von Erwachsensein und Zeit diese Annahme eindrucksvoll. Die Grundannahme liegt darin, dass eine "entschleunigte" Welt den Menschen ermöglichen würde, aufeinander in ihrem Zeiterleben zuzugehen und sich gegenseitig zu respektieren - die Frage des Erwachsen Seins müsste dann nicht weiter hinterfragt werden.

Dies führt umgehend zur Kernkategorie GLEICH=STELLUNG, die das Bild der Erhebungen prägt. Der berechtigte Wunsch nach Anerkennung auf der einen Seite, und die Vielzahl an diskreditierenden Sozialisationserfahrungen auf der anderen Seite, dominieren die Ergebnisse der Analyse. Das vorhandene Material wurde daraufhin untersucht, in welchen Bereichen Schwierigkeiten auftreten. Die festgestellte Diskrepanz von individueller und gesellschaftlicher Zeit ermöglichte es in Ansätzen die geschilderten Ausgrenzungserfahrungen zu erklären. Diese führt wiederum zurück zu Anerkennung und Gleichstellung, womit der Zirkel zurück zum Individuum und damit zur Interaktionsebene, auf der Anerkennung und Diskreditierung vorwiegend stattfindet, geschlossen wird.

Im Kontext der untersuchten Gruppe, die - darauf weisen auch die Erhebungen hin - in vielen Fällen "dauerhaft" mit HelferInnen agieren muss, wurde die Interaktionsebene "KlientIn - HelferIn" beleuchtet. Die professionellen HelferInnen sind somit auch diejenigen, die in vielen Fällen Anerkennung und Achtung geben, oder eben nicht. Ihre zentrale Rolle im Sozialisationsprozess wurde eindeutig unterstrichen. Anerkennung und Ausgrenzung findet durch Kommunikation statt. Trotz der zentralen Erfahrungen von Ausgrenzung kann, mit Blick auf die geführten Untersuchungen, angenommen werden, dass das Selbstbild von Menschen mit Lernschwierigkeiten in den meisten Fällen ein positives ist. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in vielen Fällen von der Gesellschaft ausgegrenzt werden.

In Anlehnung an die Entwicklungsperspektiven von sozialer Arbeit aus der Sicht des ausgewerteten Materials, aber auch in deren eigenem Interesse ist der professionellen Sozialarbeit nahe zu legen, sich mit Konzepten der Zukunft auseinanderzusetzen und diese politisch voranzutreiben. Keine halbherzige, sondern eine "echte" Etablierung des zweiten Arbeitsmarktes würde neue Perspektiven und Sicherheiten für verschiedene Menschen eröffnen. Sie würde aber auch dem Ansehen von sozialer Arbeit dienen und damit den gesellschaftlichen Stellenwert derselben beeinflussen, da sie dann nicht mehr nur Arbeit im "Grenzbereich" von Anerkennung und Diskreditierung (Hilfe und Kontrolle) tätig wäre.

Auf inhaltlicher Ebene ist die Sozialarbeit, wenn sie den individuellen Lebenslagen von Menschen und deren verständlichen Wunsch nach Anerkennung Rechnung tragen will, dazu angehalten, die Konzepte des Empowerment und der Lebensweltorientierung weiter umzusetzen und auszubauen. Die Methodenvielfalt zeichnet die Profession aus. Den wohl zentralsten Bereich, der für das "Gelingen" sozialer Arbeit in einem hohen Maße ausschlaggebend sein dürfte, bildet die Beziehungsebene. Abseits von Standardisierungsprozessen und der sich möglicherweise abzeichnenden "Taylorisierung" sozialer Arbeit (vgl. Schmidbauer, S. 27, 1999), muss sich diese verstärkt ihrer Sozialisationsrelevanz bewusst werden und sich reflexiv mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Die individuelle Situation eines jungen Menschen, dem bewusst wird, dass er mit der Zeit nicht mithalten kann, erscheint im Bewusstsein der Sozialisationsrelevanz, die der Rolle der HelferInnen zukommt, verändert und ermöglicht eine erweiterte Sicht auf die Lebenslage dieses Menschen, im Speziellen dann, wenn es die Aufgabe von SozialarbeiterInnen ist, diesen "Ausschluss" aus der Gesellschaft mehr oder weniger auf Grund des rauen Arbeitsmarktes zu vermitteln.

Für weitere Erhebungen, die auf Basis dieser Befunde durchgeführt werden, kann aus Sicht der gesammelten Erfahrungen nochmals festgehalten werden, dass die Zeit im Zusammenhang mit der Anerkennung und Diskreditierung von Menschen von besonderer Bedeutung sein dürfte. Für weitere Untersuchungen wäre zu empfehlen, sich dieser Frage näher zu widmen und den Fokus auf diesen wesentlichen Ausschnitt zu legen. Als Ergänzung zu qualitativen Interviews und anderen Beobachtungs-, wie Erhebungsmethoden, die von SozialwissenschafterInnen geleistet werden können, ist für zukünftige Sozialisationsforschung die Selbstbeobachtung als weitere Methode zu empfehlen, um Zugang zu den erwünschten Informationen zu bekommen (vgl. Hurrelmann, 2001, S. 87). Die aktive Einbeziehung der untersuchten Personengruppe kann einen Blick auf die individuellen Zeit- und Rollenkompetenzen ermöglichen, um aus diesem weitere Forschungsschritte abzuleiten. Besondere Beachtung sollte aus dieser Warte auch dem positiven Selbstbild der überwiegenden Mehrheit von Menschen mit Lernschwierigkeiten gewidmet werden, das die Fähigkeit zu kompetenten Rollenspielen unterstreicht und in weiterer Folge eine neue Sicht auf die Fragen von Zeit und Lernschwierigkeiten ermöglichen könnte. Da Forschungen über die Zeit nie ein Ende nehmen und die Fragen derselben aller Voraussicht nach nicht restlos geklärt werden können, bieten sich an dieser Stelle die Zeilen von Elias erneut an.

Viel bleibt noch zu tun. Aber vielleicht wird man sich daran erinnern, dass der Mond als Mittel der Zeitbestimmung aus dem Leben der urbanisierten Bürger industrieller Nationalstaaten, die unter dem Druck der Zeit leiden, ohne ihn zu verstehen, so gut wie verschwunden ist, einstmals Bote war, der den Menschen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen erlaubte, Einschnitte in ihrem sozialen Leben zu setzen. (ebd., 1988, S. 190)

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Abkürzungsverzeichnis

AAMR

American Association of Mental Retardation

Abs.

Absatz

AMS

Arbeitsmarktservice

BAG

Berufsausbildungsgesetz

BAG UB

Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung

BGBl

Bundesgesetzbuch

BMAS

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

BMSG

Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz

BMWA

Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit

BT

Beschäftigungstherapie

bzw.

beziehungsweise

d.h.

das heißt

ebd.

ebendieser

et al.

und andere

europ.

europäische

FSW

Fonds Soziales Wien

Hrsg.

HerausgeberIn

HS

Hauptschule

ICD 10

International Classification of Diseases

ICF

International Classification of Functions

IQ

Intelligenzquotient

IV

Interview

NPO's

Non Profit Organisationen

S.

Seite

sog.

sogenannten

SPF

Sonderpädagogischer Förderbedarf

u.a.

und andere

u.ä.

und ähnliche/s

u.v.a.

und viele andere

usw.

und so weiter

vgl.

vergleiche

VS

Volksschule

WAG

Wiener Assistenz Genossenschaft

WG

Wohngemeinschaft

WHO

Weltgesundheitsorganisation

z.B.

zum Beispiel

Eidesstattliche Erklärung

"Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe; die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken sind als solche kenntlich gemacht.

Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungskommission vorgelegt und auch nicht veröffentlicht." Wien, am 10. September 2007

Quelle:

Andreas Keplinger: Anerkennung und Diskreditierung im Grenzbereich

Überlegungen zur beruflichen Sozialisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Diplomarbeit am Studiengang Sozialarbeit/Sozialmanagement FH JOANNEUM Graz 2007. Fachbetreuung: Rainer Loidl - Keil

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.06.2008

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