"Koi Wunder!"

Erste Erfahrungen in einer integrativen, lebensweltorientierten Wohngemeinschaft

Autor:in - Jo Jerg
Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: erschienen in: Bericht der wissenschaftlichen Begleitung
Copyright: © Jo Jerg 1998

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

"Koi Wunder!" Diesen Titel hat Björn, ein Bewohner der WG-Jurastraße, für diese "Veröffentlichung" vorgeschlagen!!

Wir freuen uns, Ihnen den Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über die erste Phase des Praxisprojekts: Integrative, lebensweltorientierte Wohngemeinschaft vorlegen zu können. Das WG-Projekt, das jetzt schon zwei Jahre existiert, wurde von der Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen und dem Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen über eine lange Vorbereitungsphase entwickelt und in die Praxis umgesetzt.

Die Mütter und die Fachleute in der AGI brachten dabei ihre aus der Selbsthilfeperspektive entwickelten integrativen Positionen und Erfahrungen ein, die in einem Wohnprojekt für ihre Töchter/Söhne und andere Reutlinger Männer und Frauen mit und ohne Behinderungen genutzt werden sollten. Der Wohngruppenverbund repräsentierte die Professionalität und die institutionellen Ressourcen der Großeinrichtung, ohne die eine Realisierung des Vorhabens auch aus der Rückschau nicht möglich gewesen wäre.

Die Gustav Werner Stiftung finanziert vier Wohnplätze für Männer und Frauen mit Behinderung, in Absprache mit dem Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern, über den zwischen beiden vereinbarten Tagessatz. Der Wohngruppenverbund stellt in Absprache mit der AGI die hauptamtlichen MitarbeiterInnen ein und sichert den betrieblichen Ablauf des Wohnprojekts.

Weil die beiden Träger aus unterschiedlichen Motiven ein Interesse an einer wissenschaftlichen Dokumentation der Erfahrungen und Ergebnisse hatten, entwickelte die Evangelische Fachhochschule für Sozialwesen schon frühzeitig eine Konzeption für ein Forschungsprojekt (vgl. Anlage), das sich dann allerdings aus finanziellen Gründen nur in eingeschränkter Form verwirklichen ließ.

Der vorliegende Bericht macht deutlich, daß es bei der Umsetzung der erarbeiteten Konzeption (vgl.Anlage) in zwei Jahren WG-Praxis viele Fragen zu klären gab, daß dabei aber auch alle Beteiligten erfreuliche Erfahrungen miteinander machten. Die Menschen mit und ohne Behinderungen in der WG haben zusammen mit dem hauptamtlichen Koordinator und dem Zivildienstleistenden selbstverständliche Formen des Zusammenlebens und der Alltagsbewältigung entwickelt. Aber auch die Beteiligung der Eltern am WG-Leben und die Zusammenarbeit zwischen der AGI und dem WGV auf Trägerebene gestaltete sich bisher äußerst positiv.

Jo Jerg hat mit den unterschiedlichen Gruppen Gespräche geführt, die diese Prozesse rekonstruieren und die Einschätzung der Beteiligten zu den Entwicklungen auf individueller und WG - Ebene berücksichtigen. Dabei entsprach die angewandte Rekonstruktionsmethode den Voraussetzungen des Projekts, weil die Intimität des Alltagslebens in der Wohngemeinschaft weitgehend gewahrt blieb und es mit einem überschaubaren Aufwand gelungen ist, die zentralen Fragestellungen herauszuarbeiten und in den Feedbackrunden mit den Beteiligten auch Lösungsperspektiven anzubahnen. Der Berichterstatter wurde in dieser Phase der internen Auswertung in zunehmendem Maß auch als Begleiter und wissenschaftlicher Berater in diesen Prozessen angefragt.

Der Bericht spiegelt diese Entwicklung wider. Im ersten Teil werden Geschichte, Entwicklung und der gegenwärtige Stand des Projekts dargestellt. Im Hauptteil beschreibt der Berichterstatter u.a. die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven und die Wahrnehmung des Alltags aus der Sicht der Beteiligten im Prozeßverlauf. Wichtige Themen, die Handlungsbedarf signalisieren, Wünsche und Perspektiven werden zusammengefaßt und geschlechtsspezifische Verarbeitungsmuster aufgezeigt. Die Verortung des Projekts in der gegenwärtigen Angebotsstruktur und der Blick in die Zukunft aus der Sicht der beteiligten Gruppen versucht das bisher Erreichte zu sichern und neue Perspektiven für das Zusammenleben und die Weiterentwicklung des Projekts eröffnen.

Aus unserer Sicht sollten in der nächsten Runde der Begleitforschung nochmal verstärkt die Bedingungen für das Gelingen und mögliche Ansätze des Scheiterns eines solchen Projekts untersucht werden. Handelt es sich bei der gegenwärtigen, bei allen Höhen und Tiefen des WG-Alltags, äußerst erfreulichen Konstellation um einen "einmaligen Glücksfall" oder lassen sich diese Erfahrungen auch auf andere Situationen übertragen?

Die InitiatorInnen des Projekts sind mit den BewohnerInnen der Meinung, daß die WG Jurastraße "koi Wunder" ist, sondern ein gelungenes Alltagsleben ermöglicht, das alle bereichert.

Wir würden uns freuen, wenn wir die hier dokumentierten Erfahrungen mit Ihnen diskutieren könnten und dieses Beispiel für "Inclusion" in Reutlingen und an anderen Orten "Schule machen" würde.

Wir bedanken uns bei den BewohnerInnen der WG, die den Spagat zwischen dem Anspruch auf Privatheit des Wohnens und dem wissenschaftlichen und öffentlichem Interesse eines "Modellprojekts" aushalten mußten und aktiv mitgestaltet haben.

Helga Platen, Winnie Dürr

Arbeitsgemeinschaft Integration

Helmut Sikeler

Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung

Prof. Dr. Werner Schumann, Prof. Dr. Peter Seiberth

Wissenschaftliche Leitung

Einleitung

"Jede Konstruktion ist sozusagen unvollständig, da sie

nur ein Stückchen des vergessenen Geschehens erfaßt"

(Zygmunt Bauman)

Der vorliegende Bericht umfaßt die ersten Erfahrungen der BewohnerInnen, Mitarbeiter und Eltern der integrativen, lebensweltorientierten Wohngemeinschaft in Reutlingen. In ver-schiedenen Gruppengesprächen wurde der Versuch unternommen, die Erlebnisse und Prozesse der ersten acht Monate Wohngemeinschaftsleben zu rekonstruieren. Die zentralen Themen der Gespräche sind in den neun folgenden Kapiteln dargestellt. Berichtet wird über neue Erfahrungsfelder, Veränderungen und Kontinuitätslinien, die sich ergeben, wenn Menschen, die "normalerweise" nicht zusammenleben, sich alltäglich begegnen. Dies soll an einigen Bespielen verdeutlicht werden.

Eine Bewohnerin, die aus sonderpädagogischer/medizinischer Sicht als "schwer geistig behindert" diagnostiziert und in der Regel dadurch als "Pflegefall" empfunden wird, übernimmt in der Wohngemeinschaft eine wichtige Integrationsfunktion. Ihr Dasein schafft und fördert gemeinsames Leben. Immer dann, wenn sie durch Krankheit längere Zeit fehlt, wird dies sichtbar. Das Leben in dieser Wohngemeinschaft fördert Kompetenzen und Interessen, die sich bei einzelnen BewohnerInnen unter den bisherigen Lebensbedingungen nicht entwickelt haben. Während von ihnen in der Herkunftsfamilie das Telefon selten benutzt wurde, zeigen sie im Wohngemeinschaftsalltag Interesse, Gespräche anzunehmen, zu vermitteln und Nachrichten weiterzuleiten. Mit der Zeit entwickelte sich somit für alle BewohnerInnen ein selbstverständlicher und kompetenter Umgang mit diesem Medium. Auf der Kommunikationsebene greifen bisher gewohnte Verständigungsformen nicht mehr und machen neue Spielregeln erforderlich: Nonverbale, körperliche Ausdrucksformen müssen erlernt werden, um eine gemeinsame Kommunikationsform zu gewährleisten.

Das Zusammenleben stellt immer auch Anforderungen, mit den eigenen und anderen Erwartungen umzugehen. Eine besondere Herausforderung bei dieser Wohnform ist es, die eigenen Grenzen wahrnehmen und Grenzen setzen zu lernen in einem Interaktionsfeld, das, aufgrund des sozialisierten Weltbilds von Behinderung, "falsche" Rücksichtnahme nahegelegt hat. Es gibt aber auch Prozesse, die bisherige Bilder nicht so leicht auflösen lassen: Alte Differenzierungsformen zwischen "normal" und "behindert" erscheinen in neuer Verkleidung in Unterscheidungsformen von Betreute und Betreuende. Bei all dem "Besonderen" erinnern viele Probleme, die im Alltag entstehen und zu bewältigen sind, wie z. B. Sauberkeit und Zuständigkeiten, an allzu bekannte Erfahrungen aus Wohngemeinschaften und Familien. Tendenziell setzen sich hier in der Wohngemeinschaft die klassischen Geschlechterverhältnisse fort.

Die aufgeführten Beispiele spiegeln unterschiedliche Bereiche und Ebenen wider, die sich allerdings erst über die Positionen und Sichtweisen der Beteiligten erschließen lassen.

Wie die angedeuteten Bilder zeigen, verschwimmt und bröckelt im Wohngemeinschaftsleben die gesellschaftliche Ordnungssystematik von NORMalität und Behinderung, obwohl sie auch hier immer wieder hindurchscheint. Deswegen waren wir uns in der Diskussion über Unterscheidungsformen einig, daß mit der Verwendung der Begriffe "Menschen mit Behinderung" oder "Menschen mit geistiger Behinderung", nicht nur die herrschende Ordnungsvorstellungen aufrechterhalten und Etikettierungen von außen vorgenommen werden, sondern die betroffenen Personen und das Zusammenleben in der Wohngemeinschaft nicht angemessen widergespiegelt wird. Im Bericht wird deshalb bei der manchmal notwendigen Differenzierung des Personenkreises mit dem Begriff BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf gearbeitet. Neben die erforderliche Assistenz, die diese Menschen benötigen, um am Alltag der Wohngemeinschaft aktiv teilhaben zu können, wird hier bewußt gesetzt, daß es sich nicht um etwas "Besonderes" handelt. Um nicht im traditionellen sonderpädagogischen Denken verhaftet zu bleiben, soll vielmehr mit der Zuschreibung "mit Unterstützungsbedarf" deutlich werden, daß jedes einzelne Gesellschaftsmitglied, um leben zu können, auf andere angewiesen ist - der eine mehr, der andere weniger. Deshalb ist es auch schwierig, von BewohnerInnen "ohne Unterstützungsbedarf" zu reden, weil auch dieser Entwurf noch im Bild und in der Formulierung in einer Trennung und in einem Gegensatzdenken verhaftet.

Die Schwierigkeit ist es, eine Sprache zu finden, die einer Gleichwertigkeit der Vielfalt von Menschen entspricht. Es bleibt somit das Zugeständnis, daß auch die Bezeichnung "mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf" die Wirklichkeit in der Wohngemeinschaft nur unzureichend beschreibt.

An dieser Stelle möchte ich allen GesprächsteilnehmerInnen danken für die offene Aufnahme und die Bereitstellung ihrer Erfahrungen und für die Geduld und Zeit, die sie aufgebracht haben. Ohne sie hätte dieser Bericht nicht erstellt werden können. Ich danke der Projektleitung, die immer Zeit fand, mich begleitend und beratend in den verschiedenen Forschungsphasen zu unterstützen. Im weiteren gilt mein Dank dem Leiter des Wohngruppenverbunds und den Vertreterinnen der AGI, die mich bei anstehenden Fragen hilfreich unterstützten.

Jo Jerg

Reutlingen, im Juli 1998

1. Einführung in das Projekt und in die wissenschaftliche Begleitung

1.1 Zur Geschichte und Entwicklung des Projekts[1]

In der "Arbeitsgemeinschaft Integration e.V. Reutlingen" (kurz: AGI)[2] gab es anfangs der 90er Jahre Überlegungen, ihre Vorstellung von Nichtaussonderung von Personen mit Unterstützungsbedarf, auch im Bereich Wohnen in Reutlingen umzusetzen. Eltern der AGI, die sich für ihre Kinder eine alternative Wohn- und Lebensform zu den stationären Betreuungsformen wünschten, begannen 1993, ein Modellprojekt einer integrativen Wohnform zu entwickeln. Die zu gründende Wohngemeinschaft sollte in die regionale Angebotsstruktur eingebunden sein. Deshalb wurden zu einem frühen Zeitpunkt alle Träger vor Ort zu einem Arbeitstreffen eingeladen, bei dem die konzeptionellen Vorüberlegungen dargestellt wurden.

Aus den Kontakten zu Trägern und Einrichtungen im Vorfeld ergab sich eine enge Kooperation mit dem Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung, weil Leitung und MitarbeiterInnen sich dem Vorhaben gegenüber besonders offen zeigten und bereit waren, ihre fachlichen Kompetenzen zur Verfügung zu stellen. In Kooperationsgesprächen wurde die gemeinsame Basis erarbeitet und somit die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Idee geschaffen. Ein wichtiger Meilenstein zur Realisierung des Vorhabens war dabei die Bereitschaft des Wohngruppenverbunds, aus seinem Kontingent vier Plätze für Personen mit Unterstützungsbedarf zur Verfügung zu stellen.

Das gemeinsame Vorhaben konkretisierte sich in der Projektbeschreibung (April 1995), in der die gemeinsame Zielsetzung für das Vorhaben folgend formuliert wurde:

"Ziel ist es, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen, die bisher in der Familie leben, eine Wohn-/Lebenssituation zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, im Zusammenleben mit nichtbehinderten BewohnerInnen ein möglichst hohes Maß an Autonomie in ihrer Lebensbewältigung zu erreichen. Dies soll aber nicht in erster Linie über eine Weiterführung des Erziehungs- und Rehabilitationsanspruchs angestrebt werden, sondern sich im Zusammenleben und der gemeinsamen Gestaltung des Alltags herstellen.

Mit der Verselbständigung der Heranwachsenden soll ein Prozeß der Ablösung vom Elternhaus einhergehen, der es den Eltern ermöglicht, ihr "Kind" loszulassen und die Beziehung zu ihm als erwachsener Person neu zu definieren" (Forschungsprojekt 1995 :3, siehe Anhang).

Die Kooperation und Aufgabenverteilung zwischen den beiden Vertragspartnern basiert auf den unterschiedlichen Ressourcen, die beide in das Projekt mit einbringen.

Der Wohngruppenverbund bringt seine institutionellen Ressourcen ein. Er finanziert die Personal- und Sachkosten für vier Wohnplätze, stellt in Absprache mit der AGI die hauptamtlichen MitarbeiterInnen und organisiert die Umsetzung und Durchführung des Vorhabens. Ziel ist es, für Menschen mit Unterstützungsbedarf eine Wohnform bereitzustellen, die eine Alternative zu den vorhandenen Angebotsformen bietet.

Die AGI sieht ihren Anteil darin, das Projekt initiiert zu haben und es weiterhin durch die konkrete Zusammenarbeit mit Mitarbeitern und Leitung der Wohngemeinschaft zu begleiten. Ihr Ziel ist es, aus der Selbsthilfeperspektive integrative Positionen und Erfahrungen einzubringen und weiterzuentwickeln, die Forderung nach Selbstbestimmung von Menschen mit Unterstützungsbedarf und ihren Familien umzusetzen und sich in der Öffentlichkeit für die Belange des Projekts einzusetzen .

Eltern sowie der zukünftige Mitarbeiter waren bei der Konkretisierung des Projekts beteiligt. Darüber hinaus wurden, so früh wie möglich, die BewohnerInnen in den Planungs- und Umsetzungsprozeß mit einbezogen. Rückblickend kann diese Basisbeteiligung an den Planungsprozessen als ein wichtiger Beitrag zum bisherigen Gelingen des Projekts bewertet werden, da diese Mitwirkungsmöglichkeiten konkrete Beiträge für die praktische Umsetzung erbrachten und die Verantwortungsbereitschaft und Identifikation gefördert haben.

1.2 Kurzbeschreibung der Wohngemeinschaft

Im Reutlinger Stadtbezirk Betzingen wurde ein dreistöckiges Haus mit Garten angemietet. Hier leben seit Sommer 1996 acht Personen, davon vier mit Unterstützungsbedarf. Zur Zeit setzt sich die Wohngemeinschaft aus jeweils drei Frauen mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf sowie jeweils einem Mann mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf zusammen.

Im Unterschied zu den konventionellen Wohngruppen wurde bei der Auswahl der Personen mit Unterstützungsbedarf der Grad der Selbständigkeit nicht als zentraler Maßstab zugrunde gelegt, um eine hierarchische Differenzierung von Behinderungsformen bewußt zu vermeiden. So kann auch eine Frau, die eine Assistenz in Form einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung benötigt, in der Wohngemeinschaft leben.

Die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf sind zwischen 24 und 30 Jahre alt und arbeiten alle ganztags in der "Werkstatt für Behinderte" in Reutlingen. Sie haben bisher zu Hause gelebt - mit Ausnahme einer Frau, die seither in einer Institution wohnte.

Der Personenkreis von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf ist in der Alters-struktur und Lebensbiographie heterogen. Zwei Frauen sind Anfang 20, eine Frau und ein Mann 40 bzw. 45 Jahre. Sie sind alle in Teilzeit-Beschäftigungsverhältnissen, überwiegend auf 75% - Stellen. Dies ermöglicht, die zeitlichen Ressourcen für die Wohngemeinschaft bereitstellen zu können. Zwei BewohnerInnen arbeiten in einem Kneipenkollektiv, eine Bewohnerin im pädagogischen Arbeitsfeld und eine andere im Verkauf. Interessant hinsichtlich der Besetzung ist, daß im Vorfeld der Wohngemeinschaft hauptsächlich an Studierende gedacht wurde. In der konkreten Bewerbungssituation gab es aber keine Studierenden, die die Anforderungen der Wohngemeinschaft mit ihren Studien- und Lebenssituationen vereinbaren konnten.

Voraussetzung für den Einzug in die Wohngemeinschaft ist für Personen ohne Unterstützungsbedarf neben der grundsätzlichen Offenheit bezüglich integrativer Lebensformen die Bereitschaft, 15 Stunden Assistenzleistungen zu erbringen. Als Gegenleistung dafür werden keine Mietkosten berechnet.

Zur Unterstützung, Begleitung und Koordination im Alltag stehen ein hauptamtlicher Mitarbeiter und ein Zivildienstleistender zur Verfügung. Die Mitarbeiter werden vom Wohngruppenverbund angestellt und sind in dessen Strukturen eingebunden. Neben Klein- und Gesamtteamsitzungen sind hier auch Bereitschaftsdienste im Büro und Bereitschaftdienste/ Notdienste für andere Gruppen im WGV zu leisten.

Die Mitarbeit der Eltern hat im Projekt einen besonderen Stellenwert. Die Eltern interessieren sich für die Situation ihrer Kinder in der Wohngemeinschaft und sind auch bereit, Hilfestellungen zu geben und Unterstützung zu leisten. Außer einer Bewohnerin verbringen die Personen mit besonderem Unterstützungsbedarf das Wochenende in der Regel zu Hause. Einerseits ergibt sich dies aus dem Bedürfnis des Familienkontakts, andererseits sind die Betreuungskapazitäten bisher am Wochenende oder bei längeren Krankheiten beschränkt, so daß hier das Projekt auf die Mitarbeit und Ressourcen der Familien angewiesen ist.

Im Wohnprojekt gibt es unterschiedliche Organisationsstrukturen. Innerhalb der Wohngemeinschaft findet wöchentlich eine Wohngemeinschaftsbesprechung statt, in der die Alltagsorganisation, inhaltliche Themenstellungen sowie die Außenkontakte und Öffentlichkeitsarbeit besprochen werden. Die Mitarbeiter sind in die Strukturen des Wohngruppenverbunds eingebunden. Darüber hinaus besteht ein monatliches Kooperationstreffen, an dem die verantwortlichen Mitarbeiterinnen der AGI, der Leiter des WGVs, der hauptamtliche Mitarbeiter des Wohnprojekts, der Mitarbeiter der wissenschaftlichen Begleitung und die Projektleiter der Ev. Fachhochschule teilnehmen. Der Kreis ist offen auch für die Bewohner- Innen und Eltern. Bisher wurde dies ganz selten in Anspruch genommen. Gesprächsgegenstand sind vor allem der gegenseitige Austausch über aktuelle Fragestellungen und Entwicklungen des Projekts sowie Kooperationsabsprachen und weitergehende Perspektiven.

1.3 Konzeption und Realisierung der wissenschaftlichen Begleitung

In den Vorüberlegungen zur Realisierung des Projekts war eine wissenschaftliche Begleitung mit eingeplant, um den Verlauf des Projekts kontinuierlich zu erheben und zu dokumentieren.[3] Leider fanden sich im Vorfeld dafür keine Finanzierungsmöglichkeiten. Nachdem das Praxisprojekt schon begonnen hatte, wurden nochmals einen Anlauf genommen und verschiedene Anträge an Drittmittelgeber gestellt. So wurde ein Antrag im Programm "Förderung anwendungsorientierter Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen" beim BMBF als äußerst förderungswürdig bewertet, leider aber nicht in die Finanzierung aufgenommen. Den Vorrang erhielten hier Projekte aus der Wirtschaft und Technik. (In dieser Antragsphase begann meine Einbindung als wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Projekt).

Um die Erfahrungen und Ergebnisse nach einer Laufzeit des Praxisprojekts von sechs Monaten doch noch dokumentieren und das Projekt im Sinne von Praxisforschung weiterhin unterstützen und begleiten zu können, wurde für 1997 ein Minimalkonzept entwickelt. Eine erste Untersuchungsphase konnte aufgrund interner Bemühungen doch acht Monate nach Beginn des Projekts mit Hilfe von Spendengeldern des Freundeskreises der Gustav-Werner-Stiftung und einer Anschubfinanzierung der Ev. Fachhochschule für Sozialwesen finanziert und im Sommer 1997 verwirklicht werden. Inzwischen steht für eine weitere Phase der wissenschaftlichen Begleitung ein begrenzter Etat zur Verfügung, der von der Südwest AG[4] bereitgestellt wurde.

Ziel des Vorhabens ist es, für die Einrichtungsträger, die regionale Angebotsstruktur und die in der Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaft "Gemeinsam leben, gemeinsam lernen" organisierten Eltern, ein Modell einer integrativen Wohnform im Gemeinwesen zu entwickeln. Damit sollen in bezug auf Standards und Qualität in der Behindertenhilfe neue Wege aufzeigt werden. Zunächst besteht der Auftrag der wissenschaftlichen Begleitung zu untersuchen, inwieweit unter den Bedingungen dieser Wohn- und Lebensform für die Beteiligten neue Handlungs- und Erlebnisoptionen eröffnet werden können, wie sie ihren Alltag gestalten und in welchem Maß für Personen mit Unterstützungsbedarf im Zusammenwirken von Selbsthilfe und professioneller Unterstützung eine Normalisierung der Lebensbedingungen und die Selbstbestimmung bzw. Autonomie erreicht werden können.

Forschungsschwerpunkte / -fragestellungen

Was wir als "Behinderung" verstehen und welche Teilhabe wir Menschen mit Unter-stützungsbedarf am gemeinschaftlichen Leben ermöglichen, ist historisch geprägt und dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Die aktuelle Debatte um die Bio-Ethik-Konvention sei hier beispielhaft angeführt. Wir gehen davon aus, daß die Modernisierungs-prozesse, wie sie u.a. Z. Bauman (1992) mit dem Umgang mit Ambivalenzen bzw. mit dem Fremden beschreibt, einen Hintergrund für die Analyse von Autonomie und Selbstbestimmung in integrativen Lebensgemeinschaften bieten.

Wir beziehen uns desweiteren im wesentlichen auf die folgenden theoretischen und praktischen Ansätze: das Konzept der Lebensqualität, das Konzept der gemeinde-orientierten Hilfe (W. Thimm) und das Konzept der Teilhabe am Gemeindeleben (K. v. Lüpke), die in der Konzeption des Forschungsvorhabens ausgeführt sind (vgl. Kapitel 2.2 im Anhang).

Die ausgewiesenen Untersuchungsschwerpunkte im Forschungskonzept mußten aufgrund der eingeschränkten finanziellen Mittel auf zentrale Fragestellungen reduziert werden. Folgende Fragestellungen ergaben sich aus den jeweiligen Untersuchungsschwerpunkten:

  • Der Stand und die Entwicklung der individuellen Befindlichkeiten und Kompetenzen bei den einzelnen jungen Frauen und Männern und ihr jeweiliger Beitrag zur Gestaltung des Alltags in der Wohngemeinschaft. - Was bedeutet den BewohnerInnen diese integrative Lebensform, und worin sehen sie Ansätze und Perspektiven für Autonomie und Selbstbestimmung?

  • Die Entwicklung der Beziehungs- und Handlungsmuster in ausgewählten alltäglichen Interaktionssituationen. - Welche Entscheidungs- und Machtstrukturen werden in den Interaktionssituationen sichtbar? Wie definieren die BewohnerInnen die Beziehungs- und Kooperationsstrukturen und ihre Stellung in der Gemeinschaft?

  • Die Möglichkeiten der Unterstützung von Selbstbestimmung und Verselbständigung der BewohnerInnen durch die hauptamtliche Begleitung/Zurückhaltung. - Welche Aufgaben und Anforderungen ergeben sich für den hauptamtlichen Mitarbeiter in den verschiedenen Phasen des Interaktionsprozesses?

  • Der Zusammenhang zwischen der Ablösung von Eltern und die Erweiterung der Autonomie durch die Möglichkeit selbstbestimmten Lebens/Wohnens. - Wie erleben die Eltern den Verselbständigungsprozeß ihres Kindes und worin bestehen ihre Unter-stützungsmöglichkeiten?

  • Entwicklungsprozesse in anderen Lebensbereichen, insbesondere freizeitorientierte Aktivitäten im Wohnumfeld und Möglichkeiten der Teilhabe am (öffentlichen) Leben des Gemeinwesens. - Wie erfahren/bewerten die BewohnerInnen nachbarschaftliche Beziehungen und die Teilhabemöglichkeiten am Gemeinwesen/Stadtteilleben?

Aufgabe und Inhalt der ersten Erhebungsphase war es, die bisherigen Projekterfahrungen auf dem Hintergrund dieser Fragestellungen aus Sicht der Beteiligten zu rekonstruieren und die Prozeßverläufe sichtbar zu machen.

Methoden

Im Vordergrund unserer Forschung steht das Interesse, nah an die Lebenswelten der BewohnerInnen/Beteiligten heranzukommen und darauf einzugehen. Vor allem soll herausgearbeitet werden, wie sie ihre neue Lebenssituation beurteilen, welche Möglichkeiten und Konflikte sich daraus ergeben, welche Bewältigungsstrategien sie als adäquat erleben und welche Wünsche und Sehnsüchte sie haben. Unser Bemühen ist es, aus der Sicht und Äußerungen der BewohnerInnen/Beteiligten selbst ihre Lebenswelt zu entschlüsseln.

Ausgangspunkt und Grundlage des zugrunde liegenden Forschungsverständnisses ist, daß die BewohnerInnen und die anderen Beteiligten auch im Forschungsprozeß als aktiv Handelnde in Erscheinung treten, in die Interpretation und Auswertung der Daten mit einbezogen werden und somit ihre Geschichte und die Geschichte des Projekts "mitschreiben". Deshalb kamen nur qualitative Verfahren in Frage, die auch Raum für die eigenen Themen bereitstellen. Entscheidend war dabei, eine geeignete Gesprächsform auszuwählen, die den eingeschränkten verbalen Fähigkeiten von Personen mit Unter-stützungsbedarf entsprechen.

Bei der Auswahl der Methoden konnte auf ein bewährtes Instrumentarium zur Re-konstruktion von Prozeßverläufen aus dem Projekt "Kinderalltag und Lebensqualität" zurückgegriffen werden. Diese Methode wurde von Elke Schön[5] in das damalige Projekt eingebracht und in modifizierter Form hier zugrunde gelegt. Unsere Fragestellungen zur Reflexion des bisherigen Projektverlaufs sollten im Spannungsfeld von möglichen und veränderbaren Wegen und vorhandenen Barrieren/Widerständen beleuchtet werden. Wir gingen davon aus, daß in dem zur Verfügung stehenden Rahmen die Aufnahme von positiven Erfahrungen und die Konfliktthemen für die Weiterentwicklung des Projekts und des Zusammenlebens die höchste Effizienz erbringen.

Wesentliche Aspekte für die Anwendung der Gruppengesprächsmethode liegen in der Möglichkeit, daß hier die beteiligten Personen in einen Austausch, gegenseitigen Verstehensprozeß sowie Diskurs eintreten können. Weiterhin gehen wir davon aus, daß die Form von Gruppengesprächen über das Ziel einer Erhebung hinaus weiterführende Prozesse in Gang setzen können. Neben dem Sichtbarwerden von inhaltlichen Positionen ermöglicht diese Gesprächsform für alle auch Einsichten in die praktizierten Kommunikationsstrukturen.

Auswahl und Zusammenstellung der Gruppen

Aufgrund der beschränkten finanziellen Ressourcen wurden Gespräche auf die unmittelbar beteiligten BewohnerInnen, Mitarbeiter und Eltern begrenzt. Die Erfahrungen der Träger (WGV und AGI) konnten somit nicht aufgenommen werden. Die Folge ist, daß diese Perspektiven und Erfahrungen in den Bericht nicht eingegangen sind und damit die behandelten Themen und Prozeßverläufe nicht von allen Seiten beleuchtet werden konnten.

Die Aufteilung der Gesprächsgruppen erfolgte zunächst nach funktionalen Aspekten, d.h. die Gesprächsgruppen sollten nach den unterschiedlichen Positionen im Projekt gebildet werden. Dabei ergaben sich drei Gruppen: Die BewohnerInnen, die Mitarbeiter und die Eltern. Aufgrund der Größe der BewohnerInnengruppe war eine Teilung notwendig, damit jede Person Raum zur Selbstdarstellung hatte. Die Zusammensetzung sollte nicht mit einer klassischen, behinderungsspezifischen Sichtweise die BewohnerInnen-Gruppe in BewohnerInnen mit und ohne Unterstützungsbedarf trennen, sondern einen Kommunikations- und Diskussionsprozeß in einer "gemischten" Gruppe ermöglichen. Die Einteilung der BewohnerInnen-Gesprächsgruppen wurden nach geschlechtsbezogenen Kriterien vorgenommen. Da sich die Lebenswelten von Frauen und Männern nach geschlechtsrelevanten Aspekten strukturieren und unterscheiden, schien das Geschlechtskriterium zur Bildung der Gruppen am geeignetsten.

Durchführung

Konzept und Vorgehen der wissenschaftlichen Begleitung wurde mit der Koordinationsgruppe abgestimmt. Die Kontaktaufnahme zu den BewohnerInnen über den hauptamtlichen Mitarbeiter gestaltete sich zunächst sehr schwierig. Aufgrund eines anstehenden Wechsels des Mitarbeiters fiel der Beginn der Erhebung in eine Umbruchphase. Weiterhin bestanden von seiten der BewohnerInnen Unsicherheiten, was auf sie zukommen wird. Nach zwei Monaten bekam ich einen Gesprächstermin in der Wohngemeinschaft, bei dem ich die Vorstellungen der wissenschaftlichen Begleitung, die methodische Vorgehensweise und inhaltliche Themen darlegen konnte. Das zentrale Thema der BewohnerInnen im Gespräch war vor allem der zeitliche Aufwand, der aus ihrer Sicht nicht allzu hoch sein durfte. Somit fand die Vorgehensweise, die Erhebung auf maximal zwei Gruppengespräche zu konzentrieren, breite Zustimmung. Weitergehende Möglichkeiten der Projektdokumentation z.B. in Form eines WG-Tagebuchs, fand bei den BewohnerInnen keinen Zuspruch.

Die Gruppengespräche dauerten zwischen drei und vier Stunden, so daß nach zwei Stunden Gesprächszeit ein zweiter Termin zur Fortsetzung anberaumt wurde. Ausnahme dabei war das Elterngespräch, das an einem Abend durchgeführt wurde. Die Gespräche mit den BewohnerInnen fanden in der Wohngemeinschaft statt, während die Gespräche mit Eltern und Mitarbeitern außerhalb durchgeführt wurden.

Die Resonanz auf die Gespräche war sehr positiv. Sie wurden als eine Reflexionsmöglichkeit empfunden, die bisher in dieser Form nicht stattgefunden hatte. In die Gespräche wurden auch Erfahrungen von einzelnen BewohnerInnen eingebracht, die für die anderen TeilnehmerInnen neu waren. Darüber hinaus wurden Überlegungen und Perspektiven entwickelt, die konkrete Anregungen für den Alltag ergaben.

Abgesehen von den zum Teil schwierigen Terminvereinbarungen, fand ich in den Gesprächen die TeilnehmerInnen sehr offen und die Vielfalt und Intensität der Beiträge interessant.

Schwierig erwies sich jedoch, alle Betroffenen an den Gesprächen zu beteiligen. Vor allem die Männer mit Unterstützungsbedarf wollten nicht ohne weiteres am Gespräch teilnehmen. Während einer der Männer nach der wiederholten Zusicherung, daß alle Aussagen anonymisiert werden an den Gesprächen teilnahm, konnte der andere Bewohner nicht für die Gespräche gewonnen werden. Dies war schon im Vorfeld ein Thema, da sich dieser Bewohner auch den regelmäßigen Wohngemeinschaftsbesprechungen entzog bzw. seine Teilnahme auf kurze Kontaktaufnahme unter dem Türrahmen beschränkte. An dem Gespräch mit den Eltern nahmen zwei Mütter teil. Zwei andere Mütter sind trotz Zusage nicht erschienen. Zwei Väter, die sich für das Gespräch interessierten, konnten aufgrund von Arbeitsterminen nicht teilnehmen.

Auswertung

Die auf Tonband aufgenommenen Gespräche wurden zunächst transkribiert und nach den zugrunde liegenden Ausgangsfragestellungen ausgewertet. Dabei mußten aufgrund der zeitlichen Ressourcen die Themenauswahl beschränkt und eine vertiefende Diskussion vernachlässigt werden. Auf allseitigen Wunsch sollte der Bericht im Umfang überschaubar und in der Sprache leicht verständlich sein und weiterführende, praxisrelevante Fragen und Vorgehensweisen beinhalten. In dem vorliegenden Bericht sind deshalb einige Ideen und Fragen aufgeführt, die als mögliche Wege (nicht als Rezepte) auf ihre Praxistauglichkeit überprüft werden können. Diese Überlegungen sind mit dem Symbol gekennzeichnet. Eine Rückbindung an den theoretischen Bezugsrahmen und ein Vergleich mit anderen Untersuchungsergebnissen wurde aus finanziellen Gründen zurückgestellt und soll in der zweiten Phase erfolgen.

In dem vorliegenden Bericht sind die Themen dargestellt, die in den Gesprächen breiten Raum eingenommen haben und von allen beteiligten Gruppen immer wieder angesprochen wurden. Im Vordergrund der Auswertung standen dabei die Suche nach Situationen und das Herausfiltern von Prozessen, die sich auf folgende Fragestellungen bezogen:

  • Wo ergeben sich Wege, Möglichkeiten und positive Erfahrungen im Wohnprojekt?

  • Wo zeigen sind Grenzen und Widerstände im Alltag?

  • Wo entstehen Konflikte im Wohnprojekt und in seinem Umfeld?

Feedbackrunden

Die Ergebnisse der Rekonstruktionsgespräche wurden zunächst mündlich an die GesprächsteilnehmerInnen zurückgegeben. Dazu wurden aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen zwei Rückmeldungsgruppen gebildet: die BewohnerInnen/Mitarbeiter und die Eltern. Diese Gespräche sollten dazu dienen, als erstes den Teilnehmenden die Ergebnisse der Gespräche zu präsentieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, die Darstellungen und Interpretationen zu überprüfen und eventuelle Veränderungswünsche zu artikulieren. Anschließend erhielten alle Beteiligten und die Träger des Wohnprojekts eine Kopie des Berichts zur Einsicht für weitere Rückmeldungen.

Die Feedbackrunden wurden gut angenommen. Aus den Gesprächen haben sich keine wesentlichen Differenzen zur inhaltlichen Darstellung ergeben, die eine Veränderung bzw. Ergänzung des Berichts erfordert hätten. Ein besonderes Interesse bestand darin, die Themen, Aussagen und Ergebnisse der anderen Gruppen zu erfahren. Dies ergab sich auch aus der Präsentation und Rückspiegelung der gesamten Auswertungsergebnisse in den Feedbackgesprächen. Unter anderen finanziellen und zeitlichen Bedingungen wäre ein stufenweises Vorgehen bei der Rückspiegelung der Ergebnisse sinnvoll gewesen und hätte die Chance einer differenzierten Rückmeldung erhöht. In einem ersten Schritt hätten so den einzelnen Gruppen ihre eigenen Aussagen widergespiegelt können und der Focus auf die anderen Gruppenergebnisse erst bei einer anschließenden gemeinsamen Zusammenschau erfolgen können.

Die Rückmeldungen auf die schriftliche Verteilung des Berichts wurden unterschiedlich aufgenommen bzw. angenommen. Für die Seite der Träger bestand die Möglichkeit, einen Einblick in Verlauf, Diskussionen und Themen der Gespräche zu erhalten und mit den eigenen Bildern zu vergleichen; für den Mitarbeiter diente der Bericht zur Klärung und Veränderung angesprochener Problemstellungen; für den Großteil der Bewohnerinnen erwies sich diese Form und dieser Zugang als weniger interessant.

Ein Vorschlag zur Lesbarkeit des Berichts wurde aufgenommen. Aus einigen Gesprächszitate, die durch viele Teilsätze und umgangssprachliche Wiederholungen den Lesefluß schwierig machen, wurden - soweit keine inhaltlichen Veränderungen damit verbunden waren - einzelne Teile gestrichen.

In den Rekonstruktions- und Feedbackgesprächen bestand von seiten der Beteiligten ein praxisbezogener Umgang mit dem Forschungsvorhaben. Im Vordergrund und Zentrum für die Beteiligten standen bei den aktuellen Themen immer auch die weiterführenden Fragen, wie die positiven Prozesse bzw. die Konflikt- und Problemfelder weiter bearbeitet und konkret für die Alltagsgestaltung nutzbar gemacht werden können.



[1] Die wissenschaftliche Begleitung konnte erst nach dem Bestehen der Wohngemeinschaft etabliert werden und mußte sich in der Rekonstruktion des Verlaufs auf den konkreten Alltag beschränken. Infolgedessen wird die geschichtliche Entwicklung nur in groben Zügen dargestellt. Dokumentiert findet sich die geschichtliche und inhaltliche Diskussion der Konzeptionsphase in der ursprünglichen Fassung des Forschungsprojekts, die deshalb in den Anhang aufgenommen wurde.

[2] Die AGI ist eine Elterninitiative in Reutlingen, die 1971 gegründet wurde und sich seither in fachlichen und politischen Strukturen für die Integration von Menschen mit Behinderungen in Regelschulen auf dem ersten Arbeitsmarkt einsetzt und konkrete Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern und deren Kindern anbietet bzw. organisiert.

[3] Die ursprüngliche, umfassende Konzeption für die wissenschaftliche Begleitung ist im Anhang innerhalb der Beschreibung des Forschungsprojekts nachzulesen.

[4] Die Südwest AG ist ein Zusammenschluß der Ev. Fachhochschulen in Baden-Württemberg, die Forschungsprojekte an ihren Fachhochschulen unterstützt.

[5] Vgl. Beschreibung des Rekonstruktionsverfahrens in den Berichten des Projekts "Kinderalltag und Lebensqualität".

2. Offenheit als Weg - Erfahrungen aus der Vorbereitungsphase des Projekts

Dem Wohnprojekt ging eine längere Vorbereitungs- und Umsetzungsphase voraus, die in dem Gespräch mit den Mitarbeitern kurz reflektiert wurde. Diese Phase wurde als ein Prozeß erlebt, in dem sich eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen den VertreterInnen der AGI und den Mitarbeitern des WGV entwickelte. Die beteiligten Gruppen hatten zwar - aus der jeweiligen Geschichte heraus - unterschiedliche Standpunkte und Vorstellungen, aber die Wahrnehmung und Berücksichtigung dieses unterschiedlichen Erfahrungswissens hat einen Prozeß der gegenseitigen Annäherung in Gang gebracht.

Ich möchte eine Situation aus dem Vorbereitungsprozeß herausgreifen, die aus meiner Sicht eine Türöffnerfunktion widerspiegelt, die das Auf-sich-zu-bewegen der beteiligten Gruppen ermöglichte, die Positionen in Bewegung brachte und als eine positive Erfahrung für die heutige Situation hilfreich sein kann[6]:

A: Ich denke, nochmal so ein anderer zentraler Punkt war zum einen auch diese Überraschung vom AK Integration, wo wir gesagt haben, eigentlich haben wir gar kein festes Konzept, sagt uns mal, was ihr wollt. Also ich denke, das war sicherlich etwas, wo beim AK Integration sehr gut angekommen ist, das war keine Taktik von uns, sondern wir haben schlichtweg auch nicht gewußt, wie soll denn das eigentlich wirklich konkret aussehen. Ich denke, das hat nochmal so einen Schub dazu hingegeben. (Mitarbeiter :7)

Diese Erfahrung zeigt, daß es sich lohnt, den Mut aufzubringen und zu sagen: `hier wissen bzw. kommen wir nicht mehr weiter´ und die Diskussion dahingehend zu öffnen, was können andere mit ihren Erfahrungen an Hilfestellung geben.

Mein Eindruck aus den Gesprächen ist, daß es zwar unterschiedliche Gruppen gibt, in denen ein Austausch über Problemstellungen stattfindet. Aber es fehlt ein Forum für gemeinsame Gespräche mit allen beteiligten Menschen, in denen auch nach gemeinsamen Bewältigungsmöglichkeiten gesucht und gemeinsam Verantwortung entwickelt bzw. übernommen wird.

Eine Möglichkeit, in der die in der Praxis bestehenden Probleme angesprochen und mit allen Beteiligten bearbeitet werden könnten, wäre ein gemeinsamer Austausch in Form eines Konzeptionstages (im halbjährigen/jährlichen Turnus) oder in regelmäßigen Abständen die Kooperationstreffen zwischen AGI, WGV und Ev. FHS als gemeinsames Forum für alle Beteiligten zu nutzen. (Inzwischen hat ein Konzeptionstag stattgefunden, siehe Kapitel 11)



[6] Alle Namen der TeilnehmerInnen wurden in den Gesprächsauszügen aus Datenschutzgründen geändert.

3 .Menschen mit unterschiedlichen Motiven und Perspektiven

Das Wohnprojekt ist ein Zusammentreffen, Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Abhängigkeiten, Standpunkten und Perspektiven. Diese unterschiedlichen Gegebenheiten wirken in den Alltag hinein und haben Einfluß auf die Interaktionen. Anhand der unterschiedlichen Beweggründe (Motivation) der Beteiligten, in das Wohnprojekt einzuziehen bzw. mitzuarbeiten, sollen die verschiedenen Standpunkte/Perspektiven verdeutlicht werden.

3.1 BewohnerInnenperspektive

Die Gesprächen zeigten, daß zwischen den BewohnerInnen unterschiedliche und verbindende Motivationen für den Einzug in die Wohngemeinschaft zum Vorschein kommen. Der Vergleich zwischen Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf brachte folgende Differenzierungen:

In Bezug auf unterschiedliche Beweggründe von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf für den Einzug in das Projekt ergaben sich folgende Aspekte:

  • BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ist es wichtig, ein eigenes Zimmer zu bewohnen bzw. mehr Selbständigkeit und Freiheit zu erlangen.

  • BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf wollen Verantwortung übernehmen (auch im Bewußtsein, mehr Pflichten zu übernehmen als in einer anderen WG), ein lebendiges Wohnen praktizieren oder sich durch den materiellen Ausgleich (keine Mietkosten) ein eigenständiges Wohnen ermöglichen.

  • Von seiten der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf wurde eine Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf darin gesehen, daß für Menschen ohne Unterstützungsbedarf der Einzug aus freier Wahl erfolgt und somit die Wohngemeinschaft den Charakter einer Wahl-WG hat, während Menschen mit Unterstützungsbedarf diese Wahlfreiheit nicht haben. Diese Unterscheidung ist aus Sicht der Menschen mit Unterstützungsbedarf nicht so scharf zu ziehen bzw. weniger relevant. Sie sehen den Einzug in die Wohngemeinschaft - auch wenn sie von nahestehenden Personen dazu angeregt wurden - als eine eigene Entscheidung:

C: "...am Anfang wo ich gekommen bin, da hab' ich bloß die zwei, Gerd und Brigitte von der Werkstatt gekannt, bloß Daniel, Andrea und ... (BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf - JJ) habe ich nicht gekannt und die hab ich erst mal hier kennengelernt- und das war auch nicht nur von meiner Schwester, es war auch meine Idee, dass die Bewohner nett sind, ... aber dann mache ich halt mal eine Wohnprobe, habe ich auch gedacht - das hat dann auch gut geklappt." (Männergespräch :4)

Verbindende Beweggründe von BewohnerInnen mit und ohne Unterstützungsbedarf für den Einzug in das Projekt ergeben sich, wenn die Perspektiven, die jede/r einzelne mit der Wohngemeinschaft verbindet, mit einbezogen werden. So entsteht eine Vielfältigkeit, die die Trennungslinien zwischen Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf zum Teil auflöst. Hierzu zwei Beispiele:

Ein gemeinsamer Beweggrund von Menschen mit bzw. ohne Unterstützungsbedarf (jeweils eine Person) für den Einzug in die Wohngemeinschaft bestand in der Möglichkeit, aus der Abhängigkeit vom Elternhaus heraustreten zu können:

A: "Ja klar, weil ich auch nicht abhängig sein wollte von meinen Eltern, das war mir auch wichtig." (Frauen :8)

C: "Ja, und vor allem, wenn ich so abends weggehe, dass ich auch so meistens nachts komme, hier so oder um eins, weil das durfte ich daheim nicht, weil meine Mutter hatte eine Zeitregel, weil sie wäre sonst nicht ins Bett gegangen, bevor ich nicht gekommen bin - bis elf oder zwanzig nach elf mußte ich daheim sein - da habe ich mich immer gefühlt so wie ein kleines Kind." (Männer :3)

Die Mehrzahl der BewohnnerInnen mit und ohne Unterstützungsbedarf sieht die Wohngemeinschaft als eine Übergangslebensform. Für einzelne Menschen mit Unterstützungsbedarf ist das Wohnprojekt auch ein Lebensabschnitt, in dem die selbständige Bewältigung des Alltags erlernt werden kann, um später den Wunsch zu realisieren, alleine oder in der eigenen Familie leben zu können.

Unterschiedlich bewertet wurden in diesem Zusammenhang die formalen Bedingungen.

BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf sehen in der formalen Beschränkung[7] der Verweildauer in der Wohngemeinschaft eine Entlastung und einen Lebensabschnitt, in dem neue Erfahrungen gesammelt werden können. Es gibt aber auch Stimmen, die die zeitliche Begrenzung als grundsätzlich einschränkend erleben, da sie die Entwicklungsperspektiven beschneidet:

"Wenn ich hier daheim sein soll, dann kann ich doch nicht sagen, jetzt bin ich daheim für zwei Jahre, dann kann ich mich innerlich ja gar nicht niederlassen." (Frauen :4)

Diese unterschiedlichen und verbindenden Perspektiven sind wichtig aufzuführen, da der Wunsch nach mehr Freiheit, Selbständigkeit oder Sozialem Engagement sich auch in den Rollendefinitionen der einzelnen BewohnerInnen widerspiegelt. Vorherrschend ist die Rollenunterscheidung in: BetreuerIn und zu Betreuende (vgl. Kapitel 4 und 8).

Aus meiner Sicht tritt diese Definitionsunterscheidung in BetreuerIn - Betreuende immer wieder auf. Sie ist auch Alltagsrealität, alltagsrelevant und somit eine Wirklichkeitskonstruktion, an der weiter in Richtung auf ein gleichwertiges Wohnen aller BewohnerInnen zu arbeiten lohnend ist. Was kann aus dieser Perspektivendarstellung an Überlegungen entwickelt werden? Zum einem können die Zielvorstellungen einzelner Menschen mit Unterstützungsbedarf im Wohnprojekt eine Selbständigkeit zu erlangen, als Ausgangspunkt für gemeinsame Gespräche dienen, in denen Zielvorgaben erarbeitet werden. Zum anderen kann die unterschiedliche zeitliche Begrenzung des Wohnens für Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf einer kritischen Betrachtung unterzogen werden (dazu mehr im Abschnitt Dienst- und Mietverträge in Kapitel 4)

3.2 Elternperspektive

Mütter thematisieren aus ihrer Perspektive "das Besondere" - das Teilhaben-können ihrer Söhne/Töchter an einem "normalen" Leben - in dem Wohnprojekt. Für sie selbst wird ein "Traum", ein "Glücksfall" wahr.

B: "... und ich hab' gesagt, und auch mein Mann, wir können die Franziska nicht anmelden, der geht's so schlecht, das ist unmöglich für die nichtbehinderten Mitbewohner, so jemanden zu betreuen, das ist einfach zu aufwendig. ... Dann haben wir eines Tages gesagt, ja wir probieren's einfach. Wir haben dann gesagt, für uns sieht das so aus, andere haben einen Auslandsaufenthalt, das ist die Wohngemeinschaft für die Franziska. Wenn es je nicht ginge und sie dann in die Schwerbehindertenabteilung muß oder so was, dann hat sie eben auch mal was Schönes gehabt. Und dann haben wir's probiert. Wir haben gesagt, wir machen das mit der Einrichtung (des Zimmers - JJ), das hat natürlich der Franziska prima gefallen, da überall hinzufahren und zu gucken, was man da alles kauft dafür und das hat ihr unheimlich gut gefallen ...so gefühlsmäßig kriegt sie das alles doch mit. Oder wenn, ja, in unserem Haushalt ist halt auch nicht so viel los und wenn das jemand anders macht, dann ist das toll und wenn da Action ist mit jüngeren Leuten und die ...(Mitarbeiterin) putzt, dann ist das einfach so für die Franziska traumhaft, für sie ist einfach das Dasein, wo andere irgend etwas machen, dabei sein, wenn möglich irgendwo noch mitmachen, dann ist die Franziska glücklich, das ist eigentlich ihr Leben. Und das hätte sie zum Beispiel in einer Heimsituation auch nicht so, die kochen ja dann auch nicht, die kriegen das Essen vorgesetzt und da kann sie ja nicht dasitzen und da mitschnippeln."

A: "Ja, das ist schon eine ganz tolle Sache und ich hoffe im stillen auch, dass das Projekt auch lange bestehen bleibt - dass es sicher nicht das Leben ist, das ist mir auch klar, es wird immer wieder Änderungen geben." ... "Also ich sehe das auch nach wie vor als Glücksfall, dass Gerd dort einziehen durfte, unbedingt." ... "Die Überlegung bestand schon lange, dass ich mal dachte, es muß ja irgendwann mal was geschehen. ... Gerd ist 28 Jahre und dann ich hatte immer die große Sorge, was ist, wenn mein Mann und ich vielleicht mal einen Unfall haben und wir kommen nicht wieder - was ist mit Gerd und dann wird er plötzlich in eine Gruppe gedrängt, er muß dann dort leben und ich denke, das ist ein Schock dann, wenn er plötzlich da rein müßte, so wie ich ihn auch kenne." (Mütter :16 - 19)

Die Perspektive der Mütter steht in dem Spannungsverhältnis zwischen der Verwirklichung eines Traumes und der Abhängigkeit von dem Wohnprojekt. Anders ausgedrückt, ist ihre Perspektive immer wieder mit der Frage verbunden: Wie lange währt der Traum oder wie lange existiert wohl das Projekt? Neben diesem Unsicherheitsfaktor ist mit dem Projekt auch konkret eine Entlastung im Alltag verbunden, d.h. die Möglichkeit, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen nachgehen zu können.

Die Existenz des Wohnprojekts ist aus der Sicht der Eltern ein "Glücksfall". Diese Begriffswahl und Einschätzung der Eltern macht auf zwei wesentliche Bedingungszusammenhänge aufmerksam. Zum einen wird hier deutlich, das eine lebensweltorientierte und integrative Wohnform den Eltern eine zwar unsichere, aber doch sehr bedürfnisorientierte Perspektive eröffnet; zum anderen ist diesem Glück, das diese Eltern erfahren, ein langjähriges Bemühen der Elterninitiative (AGI) vorausgegangen.

Die Beweggründe und Perspektivensicht der hauptamtlichen Mitarbeiter sind an den Beginn des folgenden Abschnitts gestellt, da sie inhaltlich sehr eng mit dieser Thematik verknüpft sind.



[7] Damit ist keine Übereinstimmung mit der Zweijahresregelung, die vertraglich vereinbart wurde, verbunden.

4. Wege zur Teilhabe und Mitgestaltung - Zur Konstruktion von Behinderung im Kontext der Wohngemeinschaft

4.1 Perspektiven der hauptamtlichen Mitarbeiter

Die Perspektiven der hauptamtlichen Mitarbeiter zeigen auf, daß Behinderung eine Konstruktion ist, die auch vom Institutionalisierungsgrad bzw. vom Kontext abhängig ist.

A: "...ich hab' vorhin gesagt gehabt, mir hat diese Arbeit höchstwahrscheinlich das Überleben gerettet insoweit, dass ich wieder Mut gefasst habe, wieder pädagogisch sinnvoll zu arbeiten, im Sinne von Respekt, ich glaube, ich habe in den eineinhalb Jahre nochmal wirklich neuen Respekt gelernt vor Menschen mit Behinderungen, ich kann's nicht anders sagen. Ich möchte es an einem Beispiel klarmachen: Ich glaube, für die Leute ohne Behinderung ist es schwierig, in dieser Wohnform zu leben, manches Mal, aber ich glaube, ich habe noch mehr Respekt zum Beispiel vor einer Frau, die mit ihrer Behinderung da einzieht und von einem Herrn .. oder - es ist eigentlich egal -, wenn ich mir die mal angeschaut habe, mit welchem Mut und mit welchem Engagement und mit welcher Vehemenz die Leute eigentlich da wohnen und da reingehen, dann muß ich sagen, das war schon etwas, wo ich selber viel viel mehr profitiert habe von den Menschen mit Behinderungen als wie sie von mir, ich habe wirklich diesen Respekt vor diesen Leuten wieder erlebt, ich muß wirklich sagen, in einer Institution besteht die Gefahr, dass man ihn verliert und ich glaube nicht, dass ich jemand war, der mit dem Rasenmäher überall gelaufen ist, also ich glaube, dass ich ein sehr emotionaler Mensch bin und trotzdem ist mir's im nachhinein so gegangen, dass viele Sachen, die ich stationär voll vertreten habe, heute wahnsinnig in Frage stelle. Und wenn ich mir meinen Job jetzt anschaue, dann denke ich natürlich nochmal an ganz andere Situationen, wo's noch viel viel stationärer zugeht und wo ich wahnsinnig davon profitiere, was in der Jurastraße war."

I: "Woran liegt das denn, also warum wächst da der Respekt vor den Personen in dem Rahmen mehr ? Ist es rein die Institution ... oder gibt's noch andere Momente, die da eine Rolle spielen ? Wißt Ihr, was ich meine ?"

A: "Für mich war's so, dass die Behinderung an Wichtigkeit verliert, sie dominiert nicht mehr so den Tagesablauf, also das war so mein Eindruck. Sie dominiert ihn in dem Sinne auch nicht, wie Du's beschrieben hast, dass sie ständig Gesprächsthema ist, sie wirkt in einem anderen Kontext." (Mitarbeiter :16/17)

Dieser Gesprächsauszug verdeutlicht sehr anschaulich anhand von konkreten Erfahrungen, daß Behinderung kontextabhängig ist und institutionell und strukturell mitkonstruiert wird. Die Behinderung tritt im Wohnprojekt in den Hintergrund bzw. Menschen mit Unterstützungsbedarf werden anders wahrgenommen und respektiert.

Dies ist keine neue Erkenntnis, sondern eine Erfahrung, die in vielen (internationalen) Berichten gesammelt und theoretisch aufgearbeitet sind. Aber es ist immer noch notwendig, dies in der Öffentlichkeit zu thematisieren, um auf die nötigen Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen hinzuwirken.

Für das Wohnprojekt stellt sich die Frage: Wo sind im Wohnprojekt Strukturen und Rahmenbedingungen, die Behinderung konstruieren, und welche Möglichkeiten bzw. Ideen können behilflich sein, die Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf zu erleichtern bzw. behindernde Faktoren abzubauen?

In den Gesprächen wurden in unterschiedlichen Zusammenhängen Bedingungen und Strukturen angesprochen, die die Teilhabe erschweren und Behinderung konstruieren. Die folgenden Beispiele bilden nicht die Gesamtheit der behindernden Strukturen, sondern spiegeln nur die Aspekte, die in den Gesprächen genannt wurden, wider.

4.2 Sprache als Träger von "Weltbilder" und Ordnungsstrukturen

Im Rahmen der Gespräche werden Sprachregelungen gebraucht, die Fremd- und Selbstbilder entwerfen, die im klassischen Behinderungsbild, in Behinderungskategorien wie auch dem professionellen Denken verhaftet bleiben:

  • Mütter sprechen von "Betreuern" und meinen damit die BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf. Hier taucht wieder die Aufteilung von Betreuern und in Folge und in Abgrenzung von Betreuten auf.

  • Der Mitarbeiter wird u.a. von den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf als Chef bezeichnet, obwohl konzeptionell der Mitarbeiter vor allem eine beratende Funktion ausüben soll.

  • Die Einführung einer "Dienstbesprechung" (bisher WG-Besprechung) von seiten des Mitarbeiters mag zwar auf dem Hintergrund der fehlenden Verbindlichkeit von Bewoh-nerInnen einen gewissen Verpflichtungscharakter symbolisieren. Der professionalisierte Sprachgebrauch verträgt sich aber schlecht mit einer wenig institutionalisierten und gleichberechtigten Lebensform.

  • Ein Bewohner mit Unterstützungsbedarf ist sich nicht ganz sicher, ob er die Betreuungsbegriffe richtig anwendet, sieht aber sich und die anderen MitbewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf in der Betreuungssituation:

C: "Ja, die braucht man zum Beispiel ... die sind auch da, um zu gucken, dass wir mal selbständig werden. Zum Beispiel es gibt welche, die bis jetzt noch ein bißchen Betreuung brauchen, ... die Franziska und der Gerd und die Brigitte (BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf - JJ) - aber ab und zu brauchen wir halt noch Betreuung. Zum Beispiel der Daniel und die Andrea und die Elisa (BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf - JJ), die sind ja fast schon selbständig, also die sind hier so auch fast so wie Erzieher - sage ich das richtig ?"

D: "Ja, vielleicht, ja."

I: "Denkst Du das so, dass sie so sind ? Weißt Du's nicht so richtig ?"

C: "Nein. Aber es ist auch gut, wenn die Mitarbeiter da sind, das ist klar." (Männer :23)

Sprache ist ein Ausdruck der Denkweise und der Gefühlslagen. Mit diesen Beispielen soll aufmerksam gemacht werden auf die Verwendung von Begriffen für bestimmte Personen und Gruppen im Wohnprojekt. Ob ich andere als Chef oder Betreuer bezeichne, ob ich einer Besprechung den Dienstsiegel aufsetze, bringt Zuschreibungen und Ordnungsregelungen zum Ausdruck.

Die Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch regt an zu Diskussionen über Grundsatzthemen, wie z.B. das Selbstverständnis der einzelnen im Wohnprojekt. Wie sehe ich mich selbst, in welcher Funktion und wie möchte ich von anderen gesehen werden? Sprache ist ein Mittel zur Verständigung. Worin liegt der Unterschied - nicht nur in der Sprache sondern auch im Alltagshandeln -, wenn z. B. Personen, die Unterstützung leisten, als AssistentInnen und nicht BetreuerInnen bezeichnet werden etc.

4.3 Besprechungskultur

Die bisherige Besprechungskultur behindert eine gleichwertige Teilhabe von BewohnerIn-

nen mit Unterstützungsbedarf. "Dienst"-Besprechungen sind vor allem ein Forum, um organisatorische Fragen zu klären. Wer ist von den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf zu welchen Zeiten im Haus, wer übernimmt den Kochdienst, den Frühdienst etc.? Dies betrifft in der Regel BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf. Die Menschen mit Unterstützungsbedarf haben dabei die Rolle der zu Betreuenden. Ein Bewohner mit Unterstützungsbedarf begründet seine Abwesenheit mit der fehlenden Relevanz der Themen für seinen Lebensalltag:

C: "Meistens bin ich nicht so oft bei der Besprechung dabei." ... "Bloß ab und zu, wenn's wichtige Sachen sind, zum Beispiel vor ein paar Wochen, so im letzten Monat, da kam's zur Besprechung des Urlaubs, da war ich dabei." (Männer :13)

Vielleicht entsteht durch dieses Arbeitsverständnis ein Mitarbeiter/ MitbewohnerIn - Klient - Verhältnis?

Zu klären wäre: Welche Gemeinschaftsaufgaben können BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf übernehmen, und wie können ihre Gemeinschaftsleistungen sichtbar gemacht werden (d.h. auch in Wochenplänen aufgenommen werden)? Der Hintergrund dieser Fragestellungen ist folgender: Verantwortungsübernahme kann nur entstehen, wenn alle BewohnerInnen nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten in den Gemeinschaftsdienst eingebunden sind. Das bisherige Desinteresse an den Besprechungen könnte auch darin liegen, daß sie mit ihrer Person nicht betroffen sind. Mit den Menschen mit Unterstützungsbedarf könnte in einem gemeinsamen Gespräch ausgehandelt werden, welche Gemeinschaftsaufgaben jeder einzelne übernehmen und bewältigen möchte. Vermutlich könnte dies einen Anreiz bieten, an den Besprechungen teilzunehmen bzw. eine Notwendigkeit werden, um die zu übernehmenden Aufgaben abzusprechen.

Dieses Thema wurde direkt nach der Feedbackrunde auf einer Wohngemeinschaftsbesprechung angesprochen und mit konkreten Veränderungsschritten angegangen.

4.4 Zur Konstruktion von Behinderung am Beispiel von unterschiedlichen Dienst- und Mietverträgen

Die unterschiedlichen vertraglichen Vereinbarungen zwischen dem Träger und den Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf haben Auswirkungen auf den Status der BewohnerInnen im Wohnprojekt und sollen deshalb mit folgenden Fragen kritisch beleuchtet werden. Was heißt es, wenn Menschen mit Unterstützungsbedarf als zu Betreuende definiert werden, Menschen ohne Unterstützungsbedarf als BetreuerInnen? Wird das Teilhabeprinzip nicht schon dadurch unterlaufen, indem sich die Denkweise und Praxis der Vertragsunterscheidung an den Normalitäts-Normen orientieren und die "Weltsicht" bzw. Definitionsmacht von Menschen ohne Unterstützungsbedarf in den Vordergrund stellen? Menschen mit Unterstützungsbedarf erhalten hier ein spezielles Setting, aber werden nicht primär als Personen gesehen, die unter Assistenz die gleichen Perspektiven entwickeln können. Menschen mit Unterstützungsbedarf werden auch nicht ernstgenommen, wenn mit ihnen im Mietvertrag keine Aufgaben ausgehandelt werden und ihnen keine Verantwortung übertragen wird.

Was bedeutet es, wenn Menschen ohne Unterstützungsbedarf einen Dienstvertrag mit einem zeitlichen Limit erhalten, Menschen mit Unterstützungsbedarf einen unbefristeten Mietvertrag? Ausgehend davon, daß eine zeitliche Befristung dazu dienen soll, den bisherigen Entwicklungsverlauf und die Perspektiven der einzelnen BewohnerInnen gemeinsam auszuloten, besteht kein Grund, Menschen mit Unterstützungsbedarf davon auszuschließen.

Es stellt sich die Frage, weshalb nicht die gleichen Dienst- und Mietverträge vereinbart werden können? Diese grundsätzliche Infragestellung der bisherigen Dienst- und Mietverträge erscheint mir wichtig. Diese formale Unterscheidung schafft Realitäten, die sich im Alltag durchschlagen und zu Konflikten führen, die in dieser Schärfe zu verhindern wären. Um keine Mißverständnisse zu erzeugen, möchte ich hier klarstellen, daß die Frage von Assistenzleistungen nicht tabuisiert und gedeckelt werden soll. Im Sinne einer gleichwertigen Behandlung müßten die Assistenzleistungen der Menschen ohne Unterstützungsbedarf festgelegt und der Assistenzbedarf von Menschen mit Unterstützungsbedarf gemeinsam mit ihnen ausgehandelt und fortgeschrieben werden. Ich meine dies im Sinne von gleiche Rechte und Pflichten für alle unter Berücksichtigung der persönlichen Möglichkeiten!

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den Rahmenbedingungen im Wohnprojekt für ein Modell von Assistenzleistungen. Was bieten die bisherigen Rahmenbedingungen? Schaffen die Rahmenbedingungen eine Behinderten-Konstruktion? Was ist notwendig, um die Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß die Teilhabe erhöht werden kann?

4.5 Bauliche Gegebenheiten und personenbezogene Hilfsmittel

Der Altbau der Jurastraße bietet ein gemütliches Ambiente, ist aber gleichzeitig eine Herausforderung an Menschen mit Unterstützungsbedarf. Einige Aspekte, die in den Gesprächen angesprochen worden sind, wie z.B. der Eingangsbereich oder die Türschwellen, sind inzwischen in Bearbeitung, wobei für das Letztere - die Stolperfallen - im Nachhinein bisher keine Möglichkeit der Korrektur in Aussicht ist.

Nicht nachzuvollziehen ist für die BewohnerInnen die Anordnung bzw. Gestaltung der Küche. Hier wurden Fakten geschaffen, die nicht dem Anspruch einer Bauweise entsprechen, die die Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf berücksichtigen und somit einzelne dieser BewohnerInnen in ihrer Selbständigkeit behindern. Konkretisieren möchte ich dies an zwei Beispielen, die hierzu von BewohnerInnen genannt wurden: Für zwei BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf sind die Hängeschränke zu hoch, so daß sie die Tassen nicht aus den Schränken holen können. Außerdem gibt es keinen Arbeitsplatz in der Küche, der eine Mitarbeit aus Sitzhöhe ermöglicht.

Diese Fakten könnten einen Anlaß bieten, gemeinsam mit allen BewohnerInnen nach anderen Lösungsmöglichkeiten im Bereich der baulichen Gegebenheiten zu suchen.

Personenbezogene Hilfsmittel: Zum Abschluß dieses Kapitels möchte ich eine Alltagssituation darstellen, die eine bisher "behinderungs-anfällige" Tätigkeit durch angemessene Arbeitsmittel aus der Behinderungskategorie in die Praxis der Teilhabe geführt hat: Eine BewohnerIn mit Unterstützungsbedarf konnte ihre Wäsche mit dem Wäschekorb nicht alleine in den Keller tragen, da dabei beide Hände gebunden waren und das Treppenlaufen eine Gefahr darstellte. In der Zwischenzeit hat sie ihre Wäsche in einen Rucksack getan und somit beide Hände frei. Dieses "neue" Arbeitsmittel ermöglicht ein selbständiges Bewältigen und räumt behindernde Faktoren aus dem Weg. Die betroffene Frau war ganz stolz darauf, daß sie jetzt endlich diese Tätigkeit ganz alleine bewältigen konnte.

In den Gesprächen wurde auch sichtbar, daß hier noch andere Alltagsprobleme auf gerechte Arbeitsmittel / Hilfsmittel überprüft werden könnten und eine qualifizierte Beratung eine Hilfestellung bieten könnte.

5 Wege im Projektverlauf

Im folgenden Kapitel werden die Wege und Grenzen im Alltag dargestellt. Allgemein läßt sich anhand der Gesprächsverläufe folgende Feststellung treffen: Grenzen und Konflikte sind tendenziell präsenter als positive Entwicklungen. In den Gesprächen mit den BewohnerInnen wird sichtbar, daß positive Entwicklungen im Alltag relativ schnell zu alltäglichen Selbstverständlichkeiten werden und erst durch längeres Nachdenken mehr und mehr zum Vorschein kommen.

Wie können positive Entwicklungen stärker im Bewußtsein verankert werden? Eine Möglichkeit besteht darin, Entwicklungsverläufe festzuhalten.

5.1 Kompetenzzuwachs von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf

Die positiven Entwicklungen in bezug auf den Kompetenzzuwachs von Menschen mit Unterstützungsbedarf ergaben sich aus folgenden Fragestellungen: Welche neuen Aktivitäten konnten sie erschließen, wie konnten sie in ihrer Selbständigkeit wachsen, welche Erfahrungen ermöglichten ihnen eine Bereicherung im kommunikativen und kognitiven Bereich, im Sozialverhalten? Allgemein formuliert: Welche Integrationsleistungen und Möglichkeiten der Teilhabe konnten geschaffen werden?

Die folgenden Beispiele sind als Mosaiksteine zu betrachten. Ein Gesamtbild würde eine differenzierte Erhebung erfordern, auch auf dem Hintergrund, daß sich positive Entwicklungen schnell verselbständigen in alltägliche und selbstverständliche Gegebenheiten.

Als erstes müssen wir festhalten, daß der Schritt in eine neue "Welt" - in das Wohnprojekt - nicht als eine Selbstverständlichkeit angesehen werden kann. Für BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf, die bisher zu Hause wohnten, ist die Verselbständigung, d.h. ohne die Eltern zurechtzukommen, zum Teil ein mühsamer Prozeß und eine ganz neue Erfahrung. Hier gilt zu berücksichtigen, daß die räumliche Nähe zu den Eltern auch Fluchtmöglichkeiten bieten. Im Einzelfall war zu Beginn auch eine ablehnende Haltung gegenüber der Wohngemeinschaft vorhanden, die sich inzwischen legte:

A: Ja, dann kam das ganz plötzlich, zwei sagten ab und dann rief mich Herr ....(Mitarbeiter) an und sagte, ja, wir haben einen Platz frei, und das war für mich schon mal erst ein Schock irgendwo, ich denke, mein Gott, wie bringe ich das bloß meinem Kind so schnell bei, ich wünschte mir das ja, aber nicht Gerd und der sagte dann, da gehe ich nicht hin, ihr wollt mich nur loshaben, und dann wurde die Jurastraße, das Haus, umgebaut und ich habe gedacht, jetzt gehen wir immer hin und gucken uns das an, wie das entsteht und gucken uns die Zimmer an und er schimpfte immer, immer darauf, diese Bruchbude, da ziehe ich doch nicht ein ... in diesen Puff gehe ich nicht. Ich sage, Gerd, das ist doch noch im Rohbau, ... das sieht immer so wüst aus" ...." und dann habe ich gesagt Gerd, dann gehen wir mal nachmittags hin, dann sind wir mal nachmittags und mal zum Abendessen hingegangen, nur ein paar Stunden und immer weiter und irgendwann hat er mal eine Nacht dort geschlafen. Das heißt, dann wurden ja erst mal die Zimmer eingerichtet, dann kamen da die Möbel rein, und er war schon dabei und sagte, er hat sich dann von seinem Geld so ein Korbsofa gekauft, dann denke ich gut, der will schon mal was selbst anschaffen dafür. Ja, und dann fingen wir ganz langsam an, mit wenigen Tagen, mal eine Nacht und dann mal zwei Nächte und von dort aus zur Arbeit, bis wir's dann so weit hatten, dass wir sagten, von Montag bis Freitag und dabei sind wir bisher geblieben."

(Mütter :12)

Inzwischen ist die Wohngemeinschaft für diesen Bewohner mit Unterstützungsbedarf ein Stück Heimat geworden, ein Lebensabschnitt und ein Ort, der Entwicklungsperspektiven für die Verselbständigung bietet.

Blicken wir auf die Erweiterung von Alltagskompetenzen, so lassen sich folgende Aktivitäten, die neu erschlossen wurden und in den Gesprächen erwähnt werden, aufführen:

  • Selbständiges Busfahren zur Arbeit und in die Stadt,

  • alleine einkaufen im Stadtteil,

  • Wäsche waschen,

  • selbständig Brot streichen,

  • kochen lernen,

  • alleine Kaffee kochen,

  • alleine Geld auf der Bank holen und Geld einzuteilen,

  • selbstverständlich telefonieren,

  • Gartenarbeit verrichten dürfen,

  • mit den Mitbewohnerinnen in die Disco gehen.

Die neuen Aktivitäten erweitern den Kompetenzbereich von den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf und ermöglichen ihnen einen höheren Grad der Selbständigkeit. Die eigenständige Bewältigung und die damit verbundene Unabhängigkeit wird von ihnen sehr positiv eingeschätzt.

Dabei ist auffällig, daß ein Teil der neu erarbeiteten Kompetenzen im Gespräch aufgedeckt bzw. durch die anderen TeilnehmerInnen ins Gespräch gebracht werden müssen. Was hierbei offen bleibt, ist, ob das Tempo des Gruppengesprächs vielleicht zu schnell ist, um das Erfahrungswissen zu entwickeln (ein Effekt des Gesprächs) oder die Schritte der Kompetenzerweiterung im Alltag bei den vielen Anforderungen untergehen und deshalb verstärkt vermittelt werden müssen.

Die Eltern hatten viel zu der Kompetenzerweiterung ihrer Töchter/Söhne zu berichten. Sie sind diejenigen, die seit dem Einzug ihrer Kinder in die Wohngemeinschaft die Entwicklung etwas von außen mit verfolgen und sie auch am besten kennen. In den folgenden Passagen sollen hier nochmals vier Beispiele aus dem Elterngespräch angeführt werden. Alle Beispiele stehen im Zusammenhang mit der neuen Wohnumgebung und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten.

Zum Aspekt der Verselbständigung:

A: "... ja - solange er zu Hause lebte, da hat man die Wege meist gemeinsam gemacht, ..., dass er heute abend im Kaffeehäusle Dienst macht ... ohne mich, das finde ich sehr schön, sonst hat er immer alles mit mir gemacht. Das sind alles so kleine Fortschritte, Zeichen der Ablösung." (Mütter :24)

  • Zum Aspekt der Kommunikation:

A: "Ich habe das Gefühl, Gerd wird dadurch, dass er ein neues Umfeld hat, auch freier, er kommt auch mit ganz neuen Redewendungen, und wenn ich in der WG anrufe, das ist auch schön, er rast ja dann immer ans Telefon, Gerd bei WG ... Jurastraße 3. Zu Hause tut er das ja nicht, da ist er ja zu faul, aufzustehen und ans Telefon zu gehen, aber das ist schön, da rast er hin, auch wenn ich dann mal da zu Gesprächen war und das Telefon ging, dann geht er hin - Elisa (Bewohnerin) für dich, Andrea (Bewohnerin) für dich, und das finde ich schön, sonst hätte er sich da immer so zurückgezogen."

B: "Ja, das sieht man eigentlich auch, dass das ein Zuwachs an Selbstbewußtsein ist."

(Mütter :23)

  • Zum Aspekt der kognitiven Fähigkeiten:

B: "Also Veränderungen, ...ich hab' gemerkt, dass sie Sachen nachmacht, die in der WG gemacht werden, ... die haben da Elfer-raus gespielt in der Gruppe am Anfang, und die Franziska hat dann daheim sich das Elfer-raus-Spiel geholt, da fing sie an, das zu sortieren nach Farben und ich mußte dann auch ... mit ihr Elfer-raus spielen, das war ihr also wichtig und das hätte sie also bestimmt, davor hätte sie nicht im Leben irgendwas nach Farben sortiert, sie hat ja gar nicht die Anregung gehabt in der Werkstatt, und das hätte sie auch nicht gemacht, sie läßt sich da schon anregen, solche Sachen zu machen ... es fällt mir nicht mehr ein, es war mal irgendwas Spektakuläres, was sie gemacht hat, für Franziskas Verhältnisse spektakulär, auch wo sie sich hat anregen lassen von der WG, das war eindeutig." (Mütter :22)

Jedes dieser hier angeführten Beispiele zeigt, wie die neue Lebenswelt ein Anregungsmilieu bietet, das in unterschiedlichen Lebensbereichen neue Bewältigungsqualitäten erschließen läßt und jedem einzelnen, auf dem Hintergrund seines derzeitigen Leistungsvermögen, neue Wege eröffnet.

  • Zum Aspekt von epileptischen Anfällen:

B: "Es ging eigentlich relativ gut, ich war überrascht, es hat sich verschoben, ihre Epilepsie, kein Mensch weiß, warum, aber es ist mehr in den Morgen gegangen und vorher war's vielfach auch sehr früh am Morgen, so ab vier Uhr schon, das ist natürlich stressig. Und das hat sich verschoben und war dann schon, also morgens relativ bald vorbei ... Werkstatt-Zeiten und das ist dann wieder günstig." (Mütter : 39)

Die Anfälle von Franziska haben sich von den frühen Morgenstunden vor allem auf die Zeiten in der Werkstatt und auf das Wochenende bei den Eltern verlagert. Der Rahmen des Wohnprojekts und der konkrete Wohngemeinschaftsalltag wirken positiv auf die Entwicklung von Franziska und reduzieren bisherige Anfallhäufigkeit in der Wohngemeinschaft.

Dies ist doch eine erstaunliche Entwicklung - berücksichtigt man die hohen Anforderungen und Flexibilität im Wohngemeinschaftsalltag. Diese Bewältigungsform ist als ein Zeichen des Wohlbefindens zu werten. Dies gilt nicht uneingeschränkt, weil zwischenzeitlich auch immer wieder Phasen auftreten, in denen die Anfallshäufigkeit zunimmt. Hier fehlen im Moment Möglichkeiten, die Ursachen- und Wirkungszusammenhänge analysieren zu können - sofern sich dies überhaupt operationalisieren läßt.

  • Zum Aspekt des Sozialverhaltens:

Im Unterschied zu den bisherigen Bereichen sind positive Veränderungen in Sozialkompetenzen kaum genannt wurden. In den Gesprächen wird hier die Verantwortungsübernahme von Brigitte (Bewohnerin mit Unterstützungsbedarf) hervorgehoben, die z.B. fehlende Lebensmittel für das Abendbrot von sich aus besorgt. Vielleicht liegt es daran, daß ansonsten das Sozialverhalten eher ein Knackpunkt ist (siehe Kapitel 9, Anspruch und Wirklichkeit). Wie schon in der Einleitung des Bericht angeführt wird, müssen in diesem Bereich fest eingefahrene und eingeübte Verhaltensmuster überwunden werden, die in jeder gemeinsamen Wohnform konfliktbeladen sein können.

Die hier vorgestellten Entwicklungsprozesse sind auch Ergebnisse, die mit sehr unterschiedlich intensiven Assistenzleistungen verbunden sind. In den Gesprächen wird von allen beteiligten Personen ohne Unterstützungsbedarf der mühsame, schwierige und nur langsam zu bewegende Entwicklungsprozeß thematisiert. Vor diesem Hintergrund sind dieser Kompetenzzuwachs und die Erhöhung der Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf, die konkret auf das Wohnprojekt zurückzuführen sind, nicht hoch genug einzuschätzen.

Im Grunde zeigen diese Beispiele Entwicklungs-, Ablösungs- und Verselbständigungsprozesse, die mit dem Auszug aus dem Elternhaus und den Eintritt in eine selbständigere Wohnform potentiell verbunden sind. Von daher liegt das Besondere der hier angeführten Beispielen in der Normalität der Ereignisse.

5.2 Neue Erfahrungen von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf

Das Wohnprojekt bietet BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf Möglichkeiten, den eigenen Kompetenzbereich zu erweitern. Ein Beispiel für neue Erfahrungen aus Sicht der BewohnerInnen sei hier angeführt:

D: "Ach, die ganze WG, die ganze neue Form ist ein Lernprozess, ich hab's ja schon gesagt, aber was konkret lernbar ist, ist mit Unerwartetem umzugehen, mit anderen Sachen, mit anderen Spielregeln, das sind einfach schon besondere Leute, wo einfach alte Spielregeln nicht gelten so ohne weiteres. Man muß flexibler sein, man muß irgendwie - es ist schwierig, das in Worte zu kriegen."

I: "Vielleicht fällt Dir auch ein Beispiel ein, woran Du's konkret machen kannst."

D: "Gerd zum Beispiel, es hat lang gedauert, mich mit ihm anzufreunden, er ist mir lang aus dem Weg gegangen, ...da geht auch nichts über Sprache oder über diskutieren, das muß einfach anders gehen, weißt Du, eine andere Art von Austausch."

I: "Und was hast Du das Gefühl, was geht, also was sind so Punkte, wo Du merkst, ja, darüber kommt Kommunikation oder so eine Art von Beziehung zustande, woran macht sich das dann fest ?"

D: "Ja, also jetzt konkret bei Gerd war's schon auch über Körper, rumbubeln, also der Gerd hat einen am Anfang immer so arg gekitzelt, da habe ich den Eindruck gehabt, dass er darüber einfach auch Nähe sucht, wie gehe ich damit um - inzwischen bin ich gar nicht mehr kitzelig, aber jetzt können wir uns einfach in den Arm nehmen und uns freuen." (Männer: 16/17)

Dieser Gesprächsauszug zeigt auf, wie ein Sich-einlassen auf bisher ungewohnte Kommunikationsformen neue Beziehungsebenen ermöglicht. Die bisher typisch männlichen Kommunikationsformen, zu denen auch das "rumbubeln" zählt, werden durch andere körperlichen Kommunikationsformen angereichert und erweitert, wie es der Gesprächsauszug mit dem "einfach in den Arm nehmen" verdeutlicht.

5.3 Positive Erfahrungen von Eltern

Der Ablösungsprozeß vom Elternhaus kann durch die räumliche Nähe und Offenheit der BewohnerInnen/Mitarbeiter langsam und bedürfnisgerecht gestaltet werden und wird von seiten der Eltern sehr positiv bewertet:

B: "Ja, das fand ich auch gut, das war auch ein Punkt unserer Konzeption, diese Ablösung der Eltern von den Kindern, dass das eben nicht so abrupt geschieht, sondern immer allmählich und normal, nicht dass man, wie zum Beispiel in anthroposophischen Heimen, sich nicht mehr sehen darf über Wochen, sondern dass das einfach allmählich geht und das halten wir für, also so vom Gefühl her auch, wir halten das einfach für sinnvoll. Wenn ich auch an meine eigene Zeit denke, ich hab' mich auch allmählich abgelöst, nicht mit einem Schlag." ...

A: "das ist wie bei jedem normalen Menschen auch in der WG, die ziehen aus und sind dann doch wieder ein bißchen zu Hause, man besucht sich, also ich finde das sehr schön so."

(Mütter :21)

Die bisherigen dargestellten positiven Erfahrungen liegen im Bereich des persönlichen Kompetenzgewinns. Außerdem erhalten aber auch neue Vereinbarungen, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden, eine positive Wertschätzung.

5.4 Positive Bewertung von Strukturhilfen:

Die Einführung eines Putzplanes als Ordnungs- und Strukturhilfe wurde als hilfreich bewertet. Dadurch wurden Strukturen geschaffen, die Regeln festlegen, wann und wer an welchem Tag einen Putzdienst übernimmt. Der Putzplan wird von allen BewohnerInnen/ Mitarbeitern als Erleichterung und Entlastung empfunden. Die BewohnerInnen beschreiben diese positive Veränderung folgendermaßen:

E: "...das finde ich, ist jetzt auch einfacher, weil wir jetzt gewisse Regeln haben. Zum Beispiel, was weiß ich, dass am Dienstag das Zimmer gemacht wird oder das Klo geputzt, dann muß man einen auch nicht immer drauf ansprechen, dann ist ganz klar, da ist der Tag, da macht man's." ... "natürlich, das kostet ein bißchen Kraft, um das dann einzuhalten, aber das ist was anderes, ob man jedes Mal die Kraft aufbringen, um zu sagen, das muß jetzt gemacht werden, als wenn einfach mal klar ist, das wird gemacht." (Frauen: 26)

D: "Am Anfang nicht, da haben wir gedacht, das läuft so, aber ...weil was Ordnung anbelangt, da sind die Leute ja auch verschieden vom Geschmack her, von der Schmerzgrenze, ich bin ein Schlamper, die Elisa ist furchtbar ordentlich, weißt Du, dann muß man sich da schon absprechen, sonst hat ein Mensch das Gefühl, er putzt alles - das alte WG-Reden, das alte WG-Thema. Ja, und Pläne sind da gar nicht schlecht und, wie gesagt, es ist ruckzuck gemacht dann, wenn man's miteinander macht." (Männer :6)

Im Anschluß an diese positive Entwicklung kann auch der Wunsch (wie er im Anschluß der Feedbackrunde auf der Wohngemeinschaftsbesprechung geäußert wurde) verstanden werden, Klarheit über Verantwortlichkeiten der Arbeitsaufteilung und Assistenzleistungen herzustellen, um Überforderung zu vermeiden und Begrenzung der Aufgaben zu erreichen.

Eine Aufstellung der regelmäßig anfallenden Aufgaben im Wohnprojekt könnte zum einen sichtbar machen, was alles bewältigt werden muß. Zum anderen könnten mit jedem/jeder Bewohner/Bewohnerin die Aufgaben für einen bestimmten Zeitraum verhandelt werden. Ein Effekt dieser Arbeitsteilung besteht in positivem Sinne neben der Klarheit von Zuständigkeiten auch in dem Einsparen von ständigen Aushandlungsprozessen wer-was-wann macht.

Die Einführung und Durchführung von regelmäßigen Eltern-Mitarbeiter-Gesprächen wird von den Müttern sehr positiv bewertet: A: "Wirklich sehr gut sind die Elterngespräche, also der Herr ... (Mitarbeiter) macht das ja immer, das finde ich sehr schön, da kann man das, was grade ansteht, sehr gut besprechen, das ist eine gute Sache, also da bin ich zufrieden."

(Mütter :27)

6 Grenzerfahrungen und Konflikte

Das Zusammenleben mit anderen erfordert von jedem einzelnen, daß er seine Bedürfnisse und Grenzen vermittelt und die dabei entstehenden Konflikte regelt. Welche Grenzerfahrungen und Konflikte in den ersten Monaten innerhalb der Wohngemeinschaft entstanden sind, wird in den folgenden Abschnitten dargestellt.

6.1 Energieverlust - von der Euphorie zu Alltagsproblemen und Grenzen

Übereinstimmung bei allen Beteiligten des Wohnprojekts besteht darin, daß im Laufe der Zeit der "drive" etwas verlorenging, der Schwung nachließ und die anfängliche Begeisterung einer Unterscheidung und Grenzwahrnehmung wichen (Eltern, Mitarbeiter, Bewoh-nerInnen ohne Unterstützungsbedarf). BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf thematisieren nicht solche Veränderungsprozesse.

Typische Einschätzungen zum Prozeßverlauf der WG:

E: "ich denke, am Anfang haben wir da viel mehr reingebuttert" (Frauen :65)

B: "Also ich fand sie (BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf - JJ) ungeheuer gut, ich fand's erstaunlich gut, wie sie mit den Leuten umgegangen sind, mit hat das gefallen, mir hat die Atmosphäre gefallen, mir hat die Art gefallen und ich hab' bloß gedacht, hoffentlich übernehmen sie sich nicht, denn ich kenne das, dass wenn man sich gleich zu stark reinstürzt, dass man's dann vielleicht ganz hinschmeißt, als wenn man noch ein bißchen versucht, auch einen Freiraum zu haben, das war meine Befürchtung irgendwo."

A: "Aber verändert hat es sich doch auch, im Gegensatz zum Anfang, ich denke, anfangs war da noch mehr Schwung drin, also gut, es war alles neu, oder meine ich das nur, das kann auch sein, ich weiß es nicht, aber irgendwie - ja, es war noch mehr Schwung drin damals."

B: "Das kann ich nicht so beurteilen."

I: "Können Sie sagen, woran Sie zum Beispiel so was merken, woran sieht man das, dass der Schwung nicht mehr da ist ?"

A: "Wenn ich hinkomme, ich sehe, dass Gerd meistens für sich ist oder jetzt, wenn ich da war - ich bin ja nicht dauernd da, vielleicht mache ich's an den Beobachtungen fest. Und wenn ich anfangs da war, dann sah ich, dass er da mit beim Kochen war oder hier oder da irgendwas machte, daran mache ich's wahrscheinlich fest. Aber ich kann mich auch total irren, dass es gar nicht so ist und nur ich nicht im richtigen Moment da bin, das kann auch sein. Es kann auch an Gerd liegen, dass er sich mehr isoliert, das weiß ich nicht, obwohl ich eigentlich das Gefühl hatte, er hat sich jetzt immer mehr geöffnet, anfangs hat er sich sehr zurückgezogen und dann wurde er offener und aus der Entfernung heraus kann ich's natürlich auch nicht so beurteilen. Und das waren die Dinge, ich fand das anfangs so schön, dass er immer da mit gekocht hat, mit der ...(ehemaligen Mitarbeiterin) - die beiden, das ging halt auch besonders gut, ich weiß es nicht." (Mütter :30)

Diese Schilderungen können als ein typischer Prozeß einer Gruppenbildung verstanden werden. Zu anfang vieler Wohngemeinschaften stehen Offenheit, Großzügigkeit, Gelassenheit und Zeitressourcen, die sich im Laufe der Zeit verändern. Verhaltensweisen von BewohnerInnen werden z. B. auf einmal unerträglich. Die bisherige Akzeptanz wendet sich bezüglich wiederkehrender Situationen und Verhaltensweisen in Distanz. Situationen, die bisher zwar unangenehm aber auszuhalten waren, werden nicht mehr mitgetragen. Dieser Prozeß ist gewissermaßen Normalität. Der ersten euphorischen Phase folgt eine kritische, grenzwahrnehmende Phase, in der die eigenen Grenzen zugelassen werden. Dies ist auch als ein Prozeß der Normalisierung von Beziehungen zu verstehen.

Wen betrifft dieser Prozeß, was passiert im Prozeß und wie werden solche Situationen bewältigt?

Diesen Prozeß in seiner ganzen Breite zu erfassen, erfordert zunächst die Anfangsphase des Wohnprojekts zu deuten. Erst auf diesem Hintergrund werden die Grenzziehungen verständlich. Wie wird die Anfangssituation für die einzelnen Gruppen definiert?

6.2 Kennenlernen als Aufgabenstellung der Anfangsphase (Gruppenbildungsprozesse)

Alle Gruppen haben in den Gesprächen geäußert, daß sie für die Anfangsphase das gegenseitige Kennenlernen in den Mittelpunkt gestellt haben. Andere Bedürfnisse und Problemstellungen etc. wurden und mußten hintenangestellt werden.

D: "Wo wollten wir hin? Ich weiß gar nicht, ob wir uns das jemals so gefragt haben, es war schon so ein halbes Jahr oder länger, um sich überhaupt mal kennenzulernen oder richtig kennenzulernen, das hat schon eine Zeit gedauert, weißt Du, auch dass man so ein vertrautes Gefühl kriegt, dass man das Gefühl hat, man kommt heim, man wohnt hier, man lebt hier, das ist meine WG, meine Familie, das dauert ein bißchen, weißt Du, bis man im Wohnzimmer zusammensitzt und einfach ganz entspannt zusammensitzen kann, ohne zu meinen, man müßte jetzt mords sich erklären und abends was erzählen. Ich meine, das war ein ziemlicher Prozeß schon, und da haben wir auch ziemlich lang - ich glaube, da hat das eigentlich völlig ausgereicht, was hier so passiert ist." (Männer :9)

Oder:

B: " ...ich hab' überhaupt nicht bewußt irgendwas angesprochen, weil ich gedacht habe, für mich ist der Gradmesser, fühlt sich die Franziska wohl dort einigermaßen und klappt das überhaupt, und das war ja mein größter Wunsch, dass sie dort überhaupt hingeht und dass sie da bleibt, weil ich denke, das ist wirklich eine optimale Möglichkeit für sie, aber dann, wenn sie tatsächlich hier länger bleiben könnte, dann wäre es mir schon eine Frage, dass ich mal Bescheid wüßte, wenn sie dann nicht zum Beispiel jedes Wochenende daheim ist, wo sie auf jeden Fall gebadet wird,..."

A: "So geht's mir auch. In der ersten Phase war's mir ganz wichtig, dass Gerd erst mal da bleibt, er war ja recht schwierig, er wollte ja gar nicht bleiben, und das war das einzige wichtige, dass er blieb und dass er sich langsam an die Betreuer gewöhnte und dass da ein nettes Verhältnis entstand." (Mütter :9)

Im Laufe der Zeit rückten die eigenen Bedürfnisse und Grenzen in den Vordergrund. In dem folgenden Abschnitt werden Wahrnehmung und Umgang mit den eigenen Grenzen dargestellt.

6.3 Wahrnehmung der eigenen Grenzen - Die Kluft zwischen den Bedürfnissen und ihren Befriedigungsmöglichkeiten

Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf äußern sich aus der Perspektive der Menschen ohne Unterstützungsbedarf direkter und vehementer. Mit dem "im jetzt leben" der Menschen mit Unterstützungsbedarf klarzukommen, erweist sich vor allem in alltäglichen Situationen für die BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf als schwierig. Wie das die Menschen mit Unterstützungsbedarf selbst erleben, bleibt dabei offen. Ich vermute, daß im Alltag dabei gleichzeitig Bedürfnisse von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf, die nicht direkt sichtbar werden, im Verborgenen bleiben. Die problematischen Gesichtspunkte ihrer Bedürfnisäußerungen rücken deshalb an dieser Stelle in den Vordergrund.

Eine zentrale Aufgabe für eine vertiefende Bearbeitung des Themas Wahrnehmung der eigenen Grenzen liegt nach meiner Einschätzung in der Herausarbeitung und Entdeckung von Grenzerlebnissen der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf. Konkret heißt dies, den Blick schärfer darauf richten, in welchen Situationen BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ihre Bedürfnisse nicht artikulieren können bzw. sich fremdbestimmt erleben. Die wenigen Beispiele, die von den BewohnerInnen in den Gesprächen genannt werden, beziehen sich vor allem auf Kontrollfunktionen von Mitarbeitern und auf Bevormundung der Menschen ohne Unterstützungsbedarf. Konkret erwähnt wird z. B. das ständige Nachfragen über Freizeitaktivitäten außerhalb des Hauses in den Anfangszeiten des Wohnprojekts oder das Hinweisen auf das äußerliche Aussehen.

Ein Unterschied zeigt sich jedoch innerhalb der Gruppe der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf in der Direktheit der Grenzziehung. Männliche Bewohner mit Unterstützungsbedarf signalisieren aus der Sicht der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf / Mitarbeiter "selbstverständlicher" Grenzen, während bei den Frauen mit Unterstützungsbedarf die Grenzen nicht so sichtbar werden. Sie nehmen selbstverständlich an den Besprechungen teil, während sich die Männer mit Unterstützungsbedarf nicht daran beteiligen und auch in anderen alltäglichen Situationen ihre Wege gehen. Das schafft ein Konfliktpotential, auch Aggressionen, weil sie das leben, was sich BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf nicht ohne weiteres leisten können. (Inzwischen scheint mir dieser Gegensatz nicht mehr so augenfällig, da auch BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf zum Teil ihre eigenen Grenzen setzen und Besprechungstermine etc. nicht wahrnehmen.)

A: "Der Charly macht das schon, ob wir jetzt die Grenzen nachvollziehen können, ist was anderes, und ob wir die Grenzen als sinnvoll ansehen, ist was anderes, aber er zieht da die Grenzen, er zieht's ja, ganz klar, indem er sagt, du hast mir nichts zu sagen, meine Mutter - aber du nicht. Und wenn deine Anforderungen zu hoch sind, dann komme ich nicht mal zum putzen und wenn's mir überhaupt nicht gefällt, dann ziehe ich hier aus, also ich denke, er zieht - so habe ich zumindest das Gefühl - er zieht die Grenzen und sagt das auch oder er macht's nonverbal, indem er einfach nicht da ist oder indem er die Mutter arrangiert oder die Schwester in Position bringt oder je nachdem, aber er bringt die Grenzen schon."

B: "Der Gerd zum Beispiel genauso, der sagt auch, nein das will ich nicht, ich bin jetzt nicht dabei bei der Besprechung, oder zum Beispiel habe ich ihn neulich mal oben besucht in seinem Zimmer, hab' angeklopft und hab' gesagt, du Gerd, hast du ein bißchen Lust, mit mir zu schwätzen oder so, dann sagt er nein, ich hab' jetzt keine Lust, ich will Fernsehen gucken, raus hier - dann hab' ich gesagt, also okay, du weißt, ich bin im Haus, das ist okay, das gefällt mir auch, also die können schon ihre Grenzen aufweisen und Sachen artikulieren." (Mitarbeiter :42)

Veränderungen für die BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf ergaben sich im Laufe des ersten Jahres dadurch, daß sie ihre Grenzen wahrnahmen:

E: "Ja, also von dem her und das war für mich dann auch ein Punkt, warum ich ganz arg lang, ich will nicht sagen, mich nicht gewehrt habe oder so, aber ich hab' oft gedacht, ja ich muß das irgendwie so erdulden. Bis dann irgendwann der Punkt war, ... der (Mitarbeiter) hat dann auch gesagt, natürlich ist das dein Recht, dass du ein sauberes Klo hast oder so. Jeder von uns will's ja gemütlich haben und ... ich finde, das ist auch das, was man vielleicht lernen muß, zu sagen nein und jetzt will ich wirklich nicht, jetzt ist mir's zuviel und ich will auch ich sein und nicht bloß für die anderen da sein. Und das zu lernen, da finde ich schon, ich denke, am Anfang haben wir da viel mehr irgendwie reingebuttert ...." (Frauen :64)

Eine wichtige Erfahrung in diesem Prozeß liegt darin, daß die eigenen Grenzen - hier die Grenzen der Menschen ohne Unterstützungsbedarf - auf den Tisch kommen bzw. offengelegt werden. Nur so kann ein Aushandlungsprozeß in Gang gebracht werden und können Entwicklungschancen für das gemeinsame Leben entstehen. Ein Mitarbeiter hat dies im Gespräch auf den Punkt gebracht:

B: "Aber was ich denke, was für mich klar ist, ist dass die Leute, egal wie sozial engagiert sie sind oder auch nicht, dass sie wirklich - sie brauchen Supervision, also das war so mein Eindruck, die suchen danach, irgendwann mal Luft holen zu können. Sie haben's ja auch plastisch beschrieben, in einer normalen WG - viele haben ja das Beispiel mit einer normalen WG gebracht, in einer normalen WG bringe ich das hin, auch wenn's mich Mühe kostet, einmal allein im Wohnzimmer zu sitzen, aber grade die Situation mit der Brigitte zum Beispiel, da ist es zeitweise nicht möglich gewesen. Mit welchem Recht sage ich zur Brigitte, sie muß das Wohnzimmer verlassen? Und dann ist sie aber behindert, sie versteht das ja nicht, vielleicht tu ich ihr auch weh und das will ich ja nicht, ich bin ja unter diesem Vorsatz eingezogen, ich nehme die behinderten Menschen ernst und ich muß den Bewohnern ohne Behinderung erst mal sagen, mein Gott, vielleicht nimmst du ihn mehr ernst, wenn du mal sagst, jetzt ist's gut." (Mitarbeiter :32)

Die Schwierigkeiten, die hier angesprochen werden, zeigen sich darin, daß sich Bewohner-Innen ohne Unterstützungsbedarf ihre eigenen Grenzen zugestehen und vermitteln können, ohne daß die Menschen mit Unterstützungsbedarf verletzt werden. Gleichzeitig erfordert dies auch, Menschen mit Unterstützungsbedarf von Anfang an in Kommunikationsprozesse miteinzubeziehen. Das ist ein formulierter Anspruch, der sich nicht so leicht verwirklichen läßt. Die Erfahrungen zeigen ganz unterschiedliche Entwicklungstendenzen:

B: "Eigentlich müssen die Bewohner immer am Tisch sitzen, wenn irgend etwas besprochen wird. Die Erfahrung am Anfang war die, dass die gar nicht am Tisch sitzen wollten, wenn wir das wirklich hätten machen wollen und wirklich durchgezogen hätten, ich bin überzeugt davon, egal mit welchen pädagogischen Mitteln, die hätten nach vierzehn Tagen fluchtartig die Wohngruppe verlassen. Es ist ja nicht eine dieser Vorstellungen, die ich theoretisch mir in zwei oder drei Jahren vorstellen kann, aber in der Form, wie sie vom Grundgedanken formuliert ist, immer ständig überall präsent mitzureden, das denke ich, wird die Bewohner schlichtweg überfordern, ...die kommen aus einem ganz anderen Umfeld, das wäre, wie wenn ich plötzlich weiß Gott wo ständig irgendwelche Entscheidungen treffen müßte, für die ich auch keinen Überblick habe. Für die Bewohner ohne Behinderung war am Anfang überhaupt nicht der Wunsch, allein mal irgendwas zu besprechen, das hat im Laufe der Zeit zugenommen, je deutlicher sichtbar die Probleme geworden sind, und ich kann mir gut vorstellen, dass das jetzt zunimmt, es ist im Grunde genommen habe ich's dann gedacht, als die Gespräche stattgefunden haben, das war im Grunde genommen ein Versuch, auch Hilfe zu kriegen, denn es war wirklich dieser Versuch, endlich einmal frei sagen zu können, was ist eigentlich los und wirklich das Mensch, hilf mir doch dabei..." (Mitarbeiter :31)

Die Legitimation für diese separaten Gespräche zwischen den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und dem Mitarbeiter werden aus Sicht der Mitarbeiter folgend beschrieben:

A: "...ich glaube nicht, dass im Zusammenleben mit einem Menschen mit Behinderung oder im Ansprechen von Problemen, dass es daran hapert. Ich glaube, die Probleme werden schon angesprochen untereinander, ich glaube, es geht letztendlich um die Wortwahl, wenn ich nämlich dem Menschen mit Behinderung etwas sage als sogenannter Bewohner ohne Behinderung, dann bemühe ich mich immer noch um eine sehr humane Wortwahl, will ich mal sagen, um eine sehr verständliche Wortwahl, fast gar schon um eine pädagogische Wortwahl. Und dann fängt's im Kopf an zu dämmern, verdammt nochmal, ich bin eigentlich kein Pädagoge und ich hab' wahnsinnig viele Aggressionen und wahnsinnig viel Wut auch und ich glaube, dass bei einer Besprechung, wo wir dann allein waren, dass es dann einfach von der Wortwahl her auch diese Wut sichtbar geworden ist, das ist eine Dreck... und da ist mir das scheißegal, ob der jetzt behindert ist oder nicht, es gibt auch behinderte Dreck... und das kann ich da sagen und ich würd's auch bedenklich finden, wenn's jemand sagen würde zu einem Menschen mit Behinderung, du bist eine behinderte Dreck...., das ist schon klar, aber so empfinde ich das, also dass es eigentlich nicht darum geht, so Tabu-Themen zu umschiffen, also das war so mein Eindruck. Also es geht um die Ausdrucksweise, um dieses Füllen mit Gefühl, das ist eine Dreck..., der pinkelt mir seit Wochen über diese Brille drüber, zum zweiten denke ich, dass eh' die meisten Männer sich eigentlich ins Klo setzen sollten und dann geht's los - aber das kann ich ... oder dem seine verschissene Unterhose, das kotzt mich an, oder dass die Brigitte mich anbaggert bis zum gehtnichtmehr, verdammt nochmal, das kotzt mich an und und und ... also wirklich auch mal mit dieser Wortwahl und ich spüre darin keine Diskriminierung dem Menschen mit Behinderung gegenüber, sondern einfach - da passiert doch was, da passiert ja was."

B: "Einfach mal Luft ablassen ..." (Mitarbeiter :33/34)

Aus dem Auszug wird deutlich, daß in den separaten Gesprächen nach Auffassung der Mitarbeiter nicht Tabuthemen besprochen werden, sondern ein Rahmen geschaffen wird, der den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf ihren Gefühlen Raum läßt.

Fragen, die mir dazu kommen, sind: Welchen Rahmen brauche ich, um den Alltag im Wohnprojekt zu bewältigen? Wo kann ich meinen Gesprächsbedarf und meine Reflexionsmöglichkeiten entfalten? Von seiten der Mitarbeiter kam der Vorschlag, Supervision den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf anzubieten. Ergänzend muß hier noch die Frage aufgenommen werden, wo die Menschen mit Unterstützungsbedarf mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen Raum bekommen und inwieweit ein gemeinsamer Rückkopplungsprozeß bzw. Austausch stattfinden kann. Die im Moment praktizierten Formen orientieren sich an gemeinsamen Gruppen-Lebenswelten und trennen somit Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf. Vorausgesetzt, für Menschen mit Unterstützungsbedarf wird ein entsprechender, gleichwertiger Rahmen geschaffen, in dem sie ihre Themen artikulieren können, könnte dies ein Beginn sein, für die kommenden Jahre gemeinsame Strukturen zu erarbeiten.

Was bisher auf der persönlichen Ebene an Grenzen angesprochen wurde, ist eine Seite. Eine Schwierigkeit ergibt sich auf der Ebene von Alltagsanforderungen bezüglich begrenzter Ressourcen. Im Mittelpunkt dabei steht die Frage, welche zeitlichen Ressourcen sind erforderlich, damit ein Gelingen des Alltags möglich ist? Aus den Rekonstruktionsgesprächen wird deutlich, daß von Beginn an immer eine BewohnerIn ohne Unterstützungsbedarf in der Wohngemeinschaft wohnte, die durch momentane Arbeitslosigkeit für Entlastung sorgen konnten, z. B. bei Krankheit (vgl. Kapitel 7, Abschnitt Zeitproblem).

Wenn ich einen Bildvergleich gebrauchen darf, so ist aus der Sicht der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf die Wohngemeinschaft ein Ort, in der eine Familie mit Kindern lebt, die nicht so einfach erwachsen werden. Stellt man einen Vergleich zu den unterschiedlichen Lebensformen an, so enthält die Jurastraße viele Anforderungen eines Familienlebens und manchmal weniger Möglichkeiten eines Wohngemeinschaftsalltags, auch in der Aufgabenverteilung:

A: "Teilweise, also ob's dann Erfolg hat oder nicht, das ist dann wieder die andere Sache und auch das durchziehen, man muß an so viel denken, man muß morgens dran denken, du machst die Kaffeekanne zu, und du tust heute mal dein Geschirr in die Spülmaschine, und hast du dein Vesper eingepackt, und hast du die Zähne geputzt, und kämme dir mal die Haare, und du brauchst unbedingt eine Untertasse und hier, steck dein Tuch ein. Da muß man echt an viel denken ...und manchmal ist man auch müde und nicht so ganz da, und wenn dann der eine, der guckt immer drauf, und der andere guckt nicht so drauf, das ist schon manchmal - ja es ist so." (Frauen :41)

Die Anforderungen an die Alltagsbewältigung sind sehr hoch. Es besteht die Gefahr, daß über die eigenen Grenzen gelebt wird. Eine beratende und begleitende Funktion der Wohngemeinschaft von außen findet nicht regelmäßig statt. Besprechungstermine sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten bieten keinen Ort, an dem die persönliche Bewältigung thematisiert werden kann.

Beratende Begleitung von außen könnte eine Möglichkeit sein, festgefahrene Strukturen auseinanderdröseln zu helfen und auch einzelne in ihren Konflikten unterstützen. Voraussetzung ist, daß hier ein Wunsch besteht und das Prinzip der Freiwilligkeit gewährt ist.

E: "Ich denke, andere sind immer wichtig für mich, wenn ich selber unsicher bin bei bestimmten Sachen, und da brauche ich dann jemanden, um Sachen durchzuschwätzen. Grade, wo ist die Grenze, wo übertrete ich die Grenze vom anderen, von der Selbstbestimmung, und wo tu' ich den bevormunden, und wo ist es, ja, wo ist es notwendig, ich finde, der Pfad, das ist ein bißchen ein wackeliger." (Frauen 39)

Erfahrung aus anderen Projekten zeigen, daß Mitarbeiter und BewohnerInnen rasch an die Grenzen der Belastbarkeit kommen. Sie "bedürfen im besonderen Maße der Unterstützung durch Fachdienste und der systematischen Reflexion ihres Handelns" (vgl. Dalferth :353)

6.4 Exkurs: Geschlechtsspezifische Bewältigungsmuster

Im folgenden Abschnitt sollen einige wenige Beispiele angeführt werden, die geschlechtsspezifische Unterschiede thematisch anschneiden.

  • Das Thema Sauberkeit, Hygiene und Hausarbeit läßt sich nicht ohne weiteres in geschlechtsspezifische Kategorien einordnen, auch wenn einiges auf der Hand liegt, daß hier typische Geschlechtsrollenkonflikte zugrunde liegen. Während sich die Aufgabenverteilung unter den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf zwar in typische geschlechtliche Arbeitsbereiche auffächern, besteht unter ihnen Konsens über diese Verteilungsform. Tendenziell werden in den Gesprächen bei Fragen zur geschlechtsspefischen Verhaltensweisen und Bewältigungsformen die Schwierigkeiten einer geschlechtlichen Trennung thematisiert. Dabei wird u.a. auf die generelle Problematik der Körperhygiene bezug genommen, die die Geschlechter durchqueren und somit anscheinend aus einer geschlechtsspezifischen Betrachtungsweise herausfallen.

  • Geschlechtstypische Verhaltensweisen und Bewältigungsformen zeigen sich auf der Beziehungsebene: In der Wohngemeinschaft haben vor allem Männer Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen und sich auf die Gruppe einzulassen. Sie können sich aber klarer abgrenzen als die Frauen. Bei den Frauen besteht die Schwierigkeit, Beziehungen zu beschränken. Sie können sich leichter auf Beziehungen einlassen. Hieraus ergeben sich spezifische Alltagsprobleme: Männer zu erreichen und sie in Verantwortlichkeiten miteinzubeziehen; Frauen kämpfen darum, nicht ausgesaugt zu werden und Distanz zu leben. Bei den Männern steht im Vordergrund das Thema Alleinsein, das Eigene zu leben; bei den Frauen das Zusammensein, nicht allein sein wollen (können).

  • Würde der Blick stärker auf die unterschiedlichen Lebenswelten von Frauen und Männern gerichtet werden, würden sich noch an vielen Stellen geschlechtstypische Unterschiede finden lassen. Ein Beispiel dafür ist z.B. der Umgang mit Konflikten. Was wird davon in den Gesprächen thematisiert? Während die Frauen offen Konflikte ansprechen und unterschiedliche Positionen wahrnehmen, werden im Gespräch mit den männlichen Bewohnern die Konflikte aus dem Gespräch gehalten. (Ein berechtigter Grund ist dabei, nach außen hin den anderen nicht schlecht darstellen zu wollen.)

  • Tendenziell beschäftigen sich die Frauen stärker mit den inneren Konflikten, mit dem Innenleben, während bei den Männern das Außen, äußere Faktoren wie z. B. fehlende Zeit etc. in den Vordergrund treten.

Geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen und Bewältigungsformen werden von den GeprächsteilnehmerInnen nicht problematisiert. Die vorherrschende Sichtweise setzt am individuellen Erziehungshintergrund an. Nach meiner Einschätzung werden geschlechtsspezifische Verhaltensweisen als Erziehungsprobleme deklariert und somit geschlechtsbezogene Sichtweisen verdeckt.

7 Offene Fragen in den Gesprächsgruppen

Dieses Kapitel könnte auch die Überschrift tragen: Wichtige Themen, die Handlungsbedarf signalisieren. Bei der Durchsicht und Bearbeitung der Gesprächsaufzeichnungen ergab sich eine Übereinstimmung in Gesprächen zu folgenden Themen und Problemstellungen:

(Dieses Kapitel habe ich nicht mit Zitaten unterlegt, da mir aufgrund der Länge des Berichts auch Grenzen gesetzt sind.)

Sexualität und Selbstbestimmung

In allen Gesprächen werden ein Gesprächsbedarf und ein Handlungsbedarf über das Thema Sexualität von Menschen mit Unterstützungsbedarf angesprochen. Dabei verfolgen die einzelnen Gesprächsgruppen das Thema mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Während für eine Bewohnerin mit Unterstützungsbedarf das Thema Freundschaft und die Perspektive der Familienplanung ein zentrales Thema ist, sehen Mitarbeiter, BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und Eltern die Aktualität des Themas, aber in unterschiedlichen Reichweiten. Für BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf ist es dringend notwendig, daß die Mitarbeiter das Thema mit den Menschen mit Unterstützungsbedarf angehen. Die Entwicklung einer Vorgehensweise wird von ihnen als eine pädagogische Aufgabenstellung für den hauptamtlichen Mitarbeiter betrachtet. Als BewohnerInnen können sie bei Bedarf unterstützend mitwirken. Die Mitarbeiter sehen die Notwendigkeit einer Thematisierung, sind aber noch auf der Suche nach Zugangsmöglichkeiten, z.T. fühlen sie sich auch überfordert z.B. mit weiblichen Personen diese intimen Themen anzugehen. Die Mütter möchten gerne ein gemeinsames Gespräch über dieses Thema. Sie wollen miteinbezogen werden und signalisieren auch die Angst vor Katastrophen (z. B. Schwangerschaft bzw. Vaterschaft). In ihrer Diskussion geht die Reichweite des Themas in die weitere Zukunft. Sie haben eine klare Haltung zum Thema Kinderwunsch. Für sie ist es nicht vorstellbar, daß die konkreten BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf die Verantwortung dafür übernehmen können und bringen das Thema Sterilisation ein.

Dieses Thema hat eine Aktualität, die bearbeitet werden muß. Eine Übereinstimmung aller Beteiligten besteht in der Grundhaltung, daß jeder Mensch ein Recht auf ein Sexualleben hat. Die Brisanz liegt in den unterschiedlichen Perspektiven bezüglich des Kinderwunsches.

Eine Möglichkeit, das Thema Sexualleben von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf anzugehen, könnte darin bestehen, konzeptionelle Überlegungen zur Aufklärung und Alltagsbegleitung zu entwerfen und diese mit den unterschiedlichen beteiligten Personen/Gruppen zu diskutieren. Diese Aufgabe sollte vom Mitarbeiter und den Trägern des Projekts übernommen werden. Zu berücksichtigen wäre in einem weiteren Schritt, welche Zusammensetzung des Personenkreises sich die einzelnen betroffenen BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf für die Bearbeitung des Themas wünschen.

Intimbereich der weiblichen Bewohnerinnen.

Männliche Körperpflege (der hauptamtlichen Mitarbeiter) bei weiblichen Bewohnerinnen mit Unterstützungsbedarf ist ein schwieriges Feld für Mitarbeiter und Mütter. Während für die Mitarbeiter vor allem der Umgang mit der Intimsphäre ein Problem darstellt, stehen die Mütter vor der Frage, inwiefern überhaupt die körperliche Pflege geleistet wird.

Hier wäre eine klare Absprache (Arbeitsaufteilung) und Verteilung der Verantwortlichkeiten hilfreich - unter dem Leitgedanken, daß Assistenzleistungen mit gegenseitigem Einverständnis frei gewählt werden können. Schon aus diesem Grund wäre eine Aufgabenverteilung mit Verantwortlichkeiten sinnvoll und notwendig. In bezug auf weibliche Körperpflege wäre eine gesonderte Regelung zu entwickeln. Die Zusammensetzung der Wohngemeinschaft mit drei Bewohnerinnen ohne Unterstützungsbedarf enthält die Möglichkeit, einen Wunsch nach weiblicher Assistenz zu realisieren.

Das Zeitproblem

In allen Gesprächen wird die Diskrepanz zwischen der notwendigen Zeit für die Gewährleistung eines guten Alltagsablauf und der zur Verfügung stehenden Zeit angesprochen. Das Zeitproblem hat einen zentralen Stellenwert im Erleben des Wohngemeinschaftsalltags, aber für die verschiedenen Personengruppen eine unterschiedliche Bedeutung. Während die Mitarbeiter und BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf vor allem die zu leistenden Aufgaben bezüglich der Menschen mit Unterstützungsbedarf thematisieren (z. B. die Bewältigung der Erwerbsarbeit und des Wohngemeinschaftsalltags), bleiben die Erlebnisse der Menschen mit Unterstützungsbedarf auf der Strecke. Sie haben zwar einen vollen Arbeitstag (100% Stellen) und müssen den Wohngemeinschaftsalltag auch bewältigen. Sie werden aus der Perspektive gesehen, was sie an Hilfestellung brauchen, weniger aus einer gleichen Betrachtung, die auf ähnlichen Belastungen beruhen.

Welche Probleme BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf haben, diese Welten zu vereinbaren, bleibt somit außen vor und sollte noch erforscht werden.

Sowohl die Mitarbeiter, BewohnerInnen und die Eltern sehen im vorgegebenen Zeitbudget einen wesentlichen Faktor, der über das Gelingen oder das Scheitern des Projekts bestimmend wirkt. Die Frage, ob die vorhandenen Ressourcen ausreichend sind, beschäftigt alle Gruppen. Hier stoßen die direkt Beteiligten immer an Grenzen. (An dieser Stelle müßte man ein Extra-Kapitel aufschlagen, um das Thema in seiner Breite darzustellen.) Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Zeitaufwendige Unterstützung, wie z.B. bei Krankheit von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf über einen längeren Zeitraum, konnte bisher überwiegend nur durch die besondere Arbeitssituation - sprich Arbeitslosigkeit von Menschen ohne Unterstützungsbedarf - aufgefangen werden.

Ich möchte meinen Beitrag auf eine Forderung beschränken und die Verantwortlichen darum bitten, das Thema aufzugreifen und eine Vorgehensweise zu entwickeln, die die erbrachten Leistungen und einen eventuellen zusätzlichen Unterstützungsbedarf ermittelt. Im Moment fehlt allen Beteiligten eine Klarheit darüber, was mit den "Stunden" der Mitarbeiter und BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf zu leisten ist. Alle Beteiligten müssen im Moment ihre Grenzen einfordern. Das schafft Spannungsverhältnisse und absorbiert Energien, da ständig ausgehandelt werden muß, was zu leisten ist. Abgesehen davon sind damit immer Kränkungen und persönliche Verletzungen verbunden, wenn man z. B. sagen muß oder sich anhören muß, Franziska kann am Wochenende nicht in der WG bleiben.

In diesem Zusammenhang könnte auch eine Darstellung des finanziellen Rahmens bei der Auslotung von Realisierungsmöglichkeiten eine Hilfe sein und unabhängig davon dem Wunsch von Eltern, BewohnerInnen und Mitarbeitern nach Transparenz entgegenkommen.

Rückzugsmöglichkeiten im Wohnprojekt

Dem Zeitproblem folgt ein weiteres schwieriges Alltagsproblem: Die Möglichkeit des Rückzugs im Alltag. BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf können sich oft nicht aus dem Wohngemeinschaftsalltag zurückziehen und sehen die einzige Chance, in Ruhe gelassen zu werden, indem sie das Haus verlassen. Alle Gruppen sehen darin ein unzumutbaren Zustand, der der Regelung bedarf. Hier sind nach den Aussagen in den Gesprächen vor allem die hauptamtlichen Mitarbeiter und auch die BewohnerInnen, die im Dienst eingeteilt sind, gefordert, für den nötigen Freiraum zu sorgen. Inzwischen ist die räumliche Aufteilung neu gestaltet worden, so daß im Obergeschoß ein Rückzugsraum für Menschen ohne Unterstützungsbedarf eingerichtet und das Problem entschärft wurde.

Eine andere Vorstellung in diesem Zusammenhang ist, mehr Außenaktivitäten mit den Menschen mit Unterstützungsbedarf zu entwickeln. Vieles von dem, was an Vorschlägen kam, hat seine Grenzen, indem die Vorstellungen der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf begrenzt werden.

Eine Frage, die zu diskutieren wäre: was hilft den BewohnerInnen, sich im Haus

unabhängig bewegen zu können?

Das Zeitproblem bringt noch weitere Problembereiche mit sich, die ich hier nicht ausführlich darstellen kann. Ein wichtiges Alltagsproblem dabei ist die Verbindlichkeit von Absprachen und Termineinhaltungen. Einen nicht zu unterschätzenden Faktor spielt dabei die Arbeitszeit von drei BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf, die im Gegensatz zu den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf auch in den Abendstunden ihrer Erwerbsarbeit nachgehen. Einen gemeinsamen Termin zu finden, ist deshalb nicht einfach. Im Grunde kommen dafür nur Abendtermine in Frage, wobei die Möglichkeiten durch die Abendarbeitszeit beschränkt sind und mit anderen Freizeitinteressen in Konflikt geraten. Im Alltag ist es ein Balanceakt immer wieder abzuwägen, was bin ich bereit, an Zeit in das Wohnprojekt zu investieren, ohne dabei meine eigenen Interessen, Beziehungen etc. zu vernachlässigen.

Als Fazit zum Thema eigene Bedürfnisse und Befriedigungsmöglichkeiten ein "Trost" aus anderen Projekterfahrungen: Aus Erfahrungen anderer Projekte gilt festzuhalten, daß Konflikte, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung rühren, einen langwierigen Prozeß der Annäherung erfordern (vgl. H. Forner: Wista 1996 :66/67).

Konflikte durch Eigenwahrnehmung - Fremdwahrnehmung

Die Gespräche zeigen, daß die Übernahme der Perspektive des anderen immer wieder vollzogen wird und Ambivalenz und Widersprüche erzeugt. Die Schwierigkeiten liegen darin, daß die Übernahme der Perspektive des anderen, d.h. die Fähigkeit sich in den anderen zu versetzen, dazu führt, daß die eigenen Sichtweisen und Vorstellungen in Frage gestellt werden. Dies hat zur Folge, daß sich zwei Sichtweisen gegenüberstehen, die im konkreten Handeln nicht berücksichtigt, aber auch nicht ohne weiteres in konkrete Handlungsabläufe umzusetzen sind, weil sie sich nicht auflösen lassen. Hier liegt für mich die Spannung in der Entwicklung eines gegenseitigen Verstehens und eine wichtige Weiterführung der Diskussion.

Dieser Perspektivenwechsel ist nicht ungebrochen. Zum Teil kommt es im Gespräch wieder vor, daß sich die Beteiligten ohne Unterstützungsbedarf wieder auf die Ebene der eigenen Perspektiven begrenzen und sich in die Gefahr der Bevormundung begeben - ein Problem, das sie selbst auch sehen. Ein Beispiel:

I: "Was sagen die zu Dir ?" (Bewohnerin mit Unterstützungsbedarf)

A: "Jeden Tag sagen wir dieselben Sachen, da fällt Dir doch bestimmt was ein ?"

B "Duschen."

I: " Machst Du das nicht gern ?"

B: "Nein."

E: "Das ist dann immer schon nicht ganz einfach, ich sag's zu ihr nicht gern und sie hört's nicht gern, das ist dann halt immer das Schwierige, nämlich ich will Dich da auch nicht bevormunden, ich meine, ich mag's auch nicht, wenn zu mir jemand sagt, jetzt wird's mal wieder Zeit."

(Frauen :14)

Schwierig scheint die Perspektivenübernahme von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf. Sie nehmen im Alltag - so empfinden es die BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf - oft keine Rücksicht auf die Bedürfnislagen von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf. Offen bleibt dabei, wie die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf die Bedürfnisse und Interessen der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf in ihr Handeln miteinbeziehen.

8 Selbstbilder - Fremdbilder

In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, Selbst- und Fremdbilder in der Wohngemeinschaft aufzuzeigen. Im ersten Abschnitt werden Befindlichkeiten, die die verschiedenen Gruppen als bestimmend erleben, zusammengetragen. In den drei folgenden Abschnitten richtet sich der Blick auf die Wahrnehmung und das Erleben von anderen Gruppen, auf die Schwierigkeiten, sich aus den gegenseitigen Rollenerwartungen ergeben sowie auf die Veränderung von Selbst- und Fremdbilder.

8.1 Typische Gefühlslagen der Gruppen

Bei der Unterscheidung der Gruppen, scheint es mir angebracht, die Gesprächsgruppen-einteilung zu durchbrechen und folgende Gruppen zu bilden: BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf, BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf, Mitarbeiter und Eltern.

Die Charakterisierung einzelner Gruppen ist ein Versuch, ein typisches Bild für einzelne Gruppen zu finden. Dabei geht es um eine tendenzielle Befindlichkeit, die im einzelnen auch noch andere Facetten und Ausprägungen haben kann.

BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf: Die Einschätzung der Gefühlslagen von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf fällt mir am schwersten und ist auch zu wenig belegt. Aus meinen bisherigen Erfahrungen habe ich hierzu Widersprüchliches erlebt: Zum einem sind hier Situationen erlebbar, in denen die Menschen mit Unterstützungsbedarf miteinbezogen, ihre Fähigkeiten anerkannt werden und ihre Perspektive übernommen wird.

Was sich dennoch zeigt, könnte zum anderen vorsichtig damit umschrieben werden, daß sich die Menschen mit Unterstützungsbedarf zum Teil (diese Einschränkung ist wichtig) nicht als gleichberechtigte Personen sehen, sich nicht in ihren Bedürfnissen und Wünschen verstanden und ernstgenommen fühlen: Mir es wichtig, daß diese Vorstellung nicht als Vorwurf gedeutet wird. Damit wäre mein Anliegen mißverstanden. Integration oder Beteiligung von Menschen mit Unterstützungsbedarf ist ein Prozeß, der sich nicht allein auf der Insel (hiermit meine ich die Wohngemeinschaft) verwirklichen läßt.

Auf was es mir ankommt, ist zu schauen, wo stehen wir in der Frage der Mitgestaltung, wo gelingt Beteiligung, wo müssen Überlegungen angestellt und Ideen entwickelt werden, wie die Mitgestaltung von Menschen mit Unterstützungsbedarf gefördert werden können?

Im folgenden möchte ich Beispiele anführen, um die Befindlichkeiten von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf zu umschreiben und zu erläutern. Zunächst ein Wunsch eines Bewohners mit Unterstützungsbedarf:

E: Ja, das wäre auch mal mein Wunsch, .... zum Beispiel jetzt im nächsten Monat, im August, da habe ich gehört, dass der Mitarbeiter zu uns gesagt hat, dass da niemand in der WG hier ist ... ich habe gehört, sie (BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf - JJ) gehen in Urlaub, und dann hat mal der ...(Mitarbeiter) mich gefragt, ob ich da zu meiner Mutter gehen kann zum Übernachten, solange die WG geschlossen ist, da habe ich aber noch nichts gesagt eigentlich. Aber ich würde mal sagen, dass sie, also ich habe eigentlich keine Angst mehr, hier allein zu wohnen oder mal zu übernachten. (Männer :15)

Die Vorstellungen des Bewohners mit Unterstützungsbedarf sind gegenwärtig nicht realisierbar. Auch wenn hier formale Gründe ihre Berechtigung haben, stellt diese Situation ein Gefühl der Ungleichheit her.

In den Gesprächen und auch bei Besuchen in der Jurastraße ist mir aufgefallen, daß Themen von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf zum Teil auch mit spaßigen und flapsig-ironischen Antworten begegnet wird. Ironie ist eine wichtige Fähigkeit und Ausdrucksform, die ich für bereichernd halte, besonders wenn sie in Form der Selbstironie benutzt wird. Sie kann aber, wenn sie auf andere gemünzt ist, verletzende und nicht ernstnehmende Momente enthalten.

Einen weiteren Gesichtspunkt sehe ich in der Einschränkung der Perspektiven, die zum Teil BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf betreffen: was müssen sie lernen? Vielleicht hilft zur Verständigung meiner Ausführungen das folgende Bild: So wie ich bin (als BewohnerIn mit Unterstützungsbedarf), bin ich nicht, wie ich sein soll.

Dahinter liegt nicht ein grundsätzliches Nichtangenommensein, denn es ist augenfällig, daß sich die Menschen mit Unterstützungsbedarf in dem Wohnprojekt wohlfühlen und Zuneigung zeigen. Es zeigt für mich eher die Schwierigkeit, z. T. die ungewohnten Verhaltensweisen und Bewältigungsformen richtig interpretieren zu können.

Beteiligung und Mitgestaltung sind zwei Faktoren, die etwas über Selbstbestimmung und Respekt aussagen, die aber auch in mühsamen Prozessen erarbeitet werden müssen. Hier geht es nicht einfach um das Motto: "Dabeisein ist alles" (wobei damit für viele Situationen schon viel erreicht wäre). Wie der Alltag zeigt, gibt es auch Situationen, in denen die Menschen mit Unterstützungsbedarf von sich aus nicht die Beteiligung suchen, um sich vielleicht im Moment vor Überforderungen zu schützen.

Selbstbestimmung und Mitgestaltung zu verfolgen, ist immer eine Gratwanderung, die sich für mich in der WG an folgenden Fragestellungen überprüfen läßt: An welchen Gesprächen, Entscheidungen etc. müssen die Menschen mit Unterstützungsbedarf beteiligt werden, um sie als gleichwertige Mitglieder der Wohngemeinschaft wahrzunehmen, und wie kann Schritt für Schritt, ohne daß sie überfordert werden, ihre Beteiligung erweitert werden, und welche Formen können dabei unterstützend wirken?

Eine weitere zentrale Frage lautet: Wie können die Leistungen der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf sichtbar gemacht und damit zum Ausdruck gebracht werden, die anderen brauchen dich auch? In den Gesprächen wird z.B. auch erwähnt, daß eine BewohnerIn mit Unterstützungsbedarf den Frühstückstisch mitdeckt. Diese Arbeit und Verantwortungsübernahme erscheint aber nicht auf dem Dienstplan. Wenn sie nicht nur als die zu "Betreuenden" definiert werden, müssen ihre Leistungen aufgeführt werden. Dies ist eine Voraussetzung, um die Verantwortungsübernahme von Menschen mit Unterstützungsbedarf anzuregen. Auf dieser Basis könnte ein Aushandlungsprozeß in Gang gesetzt werden, in dem die Aufgaben bestimmt werden, die Menschen mit Unterstützungsbedarf - und zwar nach den Fähigkeiten der einzelnen - übernehmen können. So wäre der organisatorische Bereich der Besprechung für sie eine ganz neue Herausforderung, an der sie teilhaben können. (vgl. Kapitel 4)

BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf: Im Vordergrund steht bei ihnen das Dilemma der Doppelrolle: einerseits die Rolle der (Mit)BewohnerIn, andererseits die Rolle der BetreuerIn, zwischen privat und Dienst. Hier geht es um den Perspektivenwechsel: was will ich, was möchten die anderen Beteiligten, was übernehme ich an Aufgaben und warum? Wieviel Verantwortung kann ich für den anderen übernehmen?

Darüber könnte ein Buch geschrieben werden, wie diese Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit von Rollen immer wieder thematisiert werden. Zur Veranschaulichung ein paar Gesprächsauszüge:

A: "...so ein Berg und ich da mittendrin." (Frauen :5)

A: "Manchmal denke ich halt schon, wenn ich dann wütend werde oder wenn ich irgendwie ankomme mit Sprüchen, wo ich bei meiner Mutter immer gedacht habe, muß die mir jetzt damit kommen .. jetzt stehe ich da und ... schwätze wie meine Mutter, das ist zu teuer, das wird nicht so gegessen und hier und da, und du ziehst das nicht an, das paßt nicht - ja, das mache ich ja nicht mal, aber einfach, dass ich das denke, das ärgert mich, das ärgert mich wirklich und ich hab' das Gefühl, ich muß das jetzt sagen ... Eigentlich könnte es mir ja egal sein, und ich habe auch immer gedacht, meiner Mutter könnte das doch scheißegal sein, was regt die sich denn auf, aber ich hab's selber halt übernommen, und warum rege ich mich auf darüber, warum ärgert mich das ? Oft ärgere ich mich auch wirklich, und dann denke ich ... also ich meine, das ist jetzt nichts, was speziell hier irgendwie ... aber das ist hier halt extrem, wenn ich dann denke, oh je, eigentlich könnte es dir doch wirklich so egal sein, aber es ist halt immer die Gratwanderung zwischen warum mische ich mich ein und warum mische ich mich nicht ein."

E: "Ja, ich glaube, das ist schon der Punkt."

I: "Und wo mischt man sich ein, wo man das Gefühl hat, man müßte sich eigentlich nicht einmischen, was sind das für Punkte ?"

A: "Grade das, wie es mit der Körperhygiene aussieht, wie's mit dem Zimmer aussieht, eigentlich sagt man, das ist jedem seine eigene Sache, und dann kommt der Chef rein und macht das, aber der sieht ja auch nicht rund um die Uhr, was hier passiert, und wenn irgendwas ist, dann kann man ja nicht ans Telefon rennen und sagen, du, hier, da ist grade was und da mußt du dich mal darum kümmern, das wäre jetzt der ...(Mitarbeiter), der dann halt die Arbeiten übernimmt, wo ein normaler Mitbewohner sich eigentlich raushalten würde, wo er sagt, das ist gar nicht meine Sache, mir ist das egal, ob mein Mitbewohner mit drei oder vier Frauen rummacht, das ist mir wurscht, aber irgendwie ist es doch nicht so". (Frauen :16)

A: "Was auch noch dazukommt, die Eltern - ich mag sie alle wirklich gerne, aber es sitzt einem doch im Nacken, wenn dann jemand rumläuft mit Rändern unter den Fingernägeln oder fettigen Haaren oder das Zimmer stinkt oder es sieht einfach nicht schön aus oder so, auf der einen Seite ist das nicht meine Sache, auf der anderen Seite denke ich, oh je, was müssen denn die denken, wenn ich sie dann das nächste Mal sehe. Ich meine, die wissen ja, dass ich das auch jeden Tag mitkriege, aber das ist vielleicht auch dann was, was ich mit mir noch ein bißchen .... " (Frauen 17)

E: "...und das ist das schwierige, immer die Grenze, ...manche Leute, ja, die wohnen gar nicht im Chaos oder was weiß ich, die haben eine andere Vorstellung und ein anderes Level und immer die Grenze zu sehen, das ist das schwierige, die Achtung vor dem anderen und der Respekt vor dem Anderssein und trotzdem dann den Punkt wissen, okay und wann kommt mein Ding als Betreuerin, in Anführungsstrichen natürlich immer, wann kommt das ins Spiel, dass ich sage nein, ab jetzt muß ich - das ist der Punkt, wo ich jetzt spätestens eingreifen muß, wo ich Verantwortung hab', was weiß ich." (Frauen :18)

Die Auszüge verdeutlichen verschiedene Aspekte: Was erwarten die anderen? Wie kann ich diesen Bedürfnissen gerecht werden? Wie schwierig wird es, wenn ich die Perspektiven der anderen übernehme und sie sich nicht mehr mit meinen eigenen Vorstellungen decken?

Daraus erwächst ein Stück Handlungsunfähigkeit, die wahrzunehmen sehr produktiv sein kann, da hier zum Ausdruck kommt, daß es oft keine einfachen Lösungen gibt. Die Gesprächsauszüge spiegeln eine Realität wider, die oft verdeckt wird: nämlich daß es im Projekt ganz unterschiedliche, auch gegensätzliche Interessen gibt, die sich nicht vereinbaren lassen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der hier nicht noch einmal aufgeführt wurde, aber alltagsbestimmend wirkt, ist das Gefühl der fehlenden bzw. knappen Zeit (vgl. Kapitel 7)

Mitarbeiter: Der Kernsatz, an dem ich die Situation der Mitarbeiter aufhängen möchte, lautet: "dort sitzt du halt auf viel auf halben Stühlen, du sitzt nirgendwo" (Mitarbeiter :19). Im Verlauf des Gesprächs wird dies an einer Situation verdeutlicht:

A: "Es sind dann solche Augenblicke, wie Du (andere Mitarbeiter - JJ) sie beschreibst, wo du dann auf gar keinem Stuhl mehr sitzt, sondern ich ab und zu mal gedacht habe, ich sitze freischwebend am Tisch, da war gar kein Stuhl mehr da. Auf der einen Seite habe ich die Bewohner gesehen, die sagen, klar um Gottes Willen bloß was machen mit ihr (es ging um den Wunsch von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf nach Außenaktivitäten mit einer Frau mit Unterstützungsbedarf - JJ), auf der anderen Seite die Brigitte, die schon so flattert, dann denkt man, Jesses, was passiert jetzt wieder und auf der anderen Seite ich als Pädagoge, der sagt, Menschenskind, ich kann doch nicht einfach bloß der Brigitte jetzt was überstülpen und sagen, gell, Selbstverteidigung fehlt dir, wir machen alle Selbstverteidigung, Brigitte, Selbstverteidigung ist was schönes, alle Frauen müssen sich selbst verteidigen - wann gehst du hin, du ich hab's schon bestellt." (Mitarbeiter : 43)

Die besondere Lage der Mitarbeiter besteht darin, die unterschiedlichen Interessen wahrzunehmen, sie zu vermitteln und konkrete Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die alle befrieden.

Eltern: Die Situation der Eltern ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ganz glücklich sind, daß sie einen Ort gefunden haben, an dem sich ihre Töchter und Söhne wohlfühlen und durch die angenehme Art und Weise der Ablösung (am Wochenende zusammen zu Hause sein) die eigenen Wünsche und Perspektiven mehr Raum erhalten können.

Dieses Außensein, Verbundensein (mit den Kindern und der Wohngemeinschaft) und immer wieder auch mal drinnen sein in der Wohngemeinschaft, schafft eine Position, die sehr unterschiedlich gefüllt werden kann bzw. offen ist.

Ein durchgängiges Gefühl der Mütter ist, daß sie nicht genau wissen, was genau gemacht wird in bezug auf Freizeit, Körperhygiene usw. Sie können nicht genau einschätzen, ob das, was sie sehen in der Wohngemeinschaft, Alltag oder eine besondere Situation darstellt. Sie sehen, daß ihre Söhne/Töchter einbezogen werden (ob mehr oder weniger, bleibt offen), sie bekommen aber auch z. B. mit, daß Informationen, die sie einer/m BewohnerIn ohne Unterstützungsbedarf gegeben haben, nicht an die anderen BewohnerInnen weitergegeben wurden.

B: Nein, das geht mir ähnlich, das ist halt immer so ein bißchen, man will natürlich was erfahren und was hören, das ist klar und andererseits will man denen nicht zu nahe treten.

A: Ja, das ist eine Gratwanderung.

Mehr Transparenz und Rollensicherheit würde die Rolle der Eltern und ihre Beteiligungsmöglichkeiten klären.

8.2 Fremdbilder - Denken über andere Gruppen

Im folgenden Abschnitt wird der Blick auf die Wahrnehmung der verschiedenen Gruppen gerichtet. Das meint, wie sehen die Eltern die BewohnerInnen, die Mitarbeiter etc., wie sehen die Mitarbeiter die Eltern usw., und wie wird die vorhandene Aufgabenverteilung und Kooperation eingeschätzt?

In allen Gesprächen wurde die Zusammenarbeit mit den anderen Gruppen und auf den verschiedenen Ebenen als sehr positiv beschrieben, auch zur WGV-Leitung. Wenn ich diese Beurteilung auf einen Satz beschränke, dann muß ich hier besonders betonen, daß es ein sehr wichtiger Satz ist und keine Selbstverständlichkeit in Projekten darstellt.

Es besteht Einigkeit darüber, daß die hauptamtlichen Mitarbeiter den pädagogischen Part übernehmen sollen. Zum Bedarf von hauptamtlichen Mitarbeitern möchte ich an dieser Stelle eine grundsätzliche Bemerkung anführen. Alle Beteiligten sehen die Notwendigkeit von hauptamtlichen Mitarbeitern. Übereinstimmung besteht darin, daß ohne hauptamtliche Mitarbeiter die anfallenden Aufgaben nicht zu bewältigen wären. Aus Sicht der BewohnerInnen sind die Mitarbeiter auch keine "Fremden", die die Privatatmosphäre stören, sondern angenehme Mitarbeiter, die behutsam mit der Privatatmosphäre umgehen und auch nötige Entlastung und Unterstützung leisten.

Neben den positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit gibt es auch eine Reihe von Erfahrungen, die unterschiedliche Sichtweisen darlegen und mit unterschiedlichen Gefühlen besetzt sind.

Unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Rollenverteilung zeigen sich an einzelnen Beispielen:

  • BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf: Der Zivildienstleistende soll sich um die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf kümmern, mit ihnen etwas unternehmen. Der ZdL aber selbst will aber nicht Animateur sein. (Ein Konflikt, der wie das Auswertungsgespräch gezeigt hat, nie richtig ausdiskutiert wurde, aber für die folgenden ZdLs richtungsweisend sein könnte.)

  • Eltern: BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf sollen mehr in das Alltagsgeschäft miteinbezogen werden. Eltern denken, daß hier mehr Phantasie entwickelt werden könnte.

  • Mitarbeiter/BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf erwarten mehr Verantwortungsübernahme von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf.

  • BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf möchten von den Mitarbeitern und MitbewohnerInnen mit ihren Vorstellungen ernstgenommen werden.

Eine weitere Rollendifferenz zwischen den Eltern und den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf möchte ich hier ausführlich thematisieren.

8.3 Eltern - MitbewohnerInnen - Verhältnis

Etwas, was auf den ersten Blick nicht verständlich ist - und doch auswirkend auf das Wohngemeinschaftsleben -, ist das Verhältnis zwischen BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und Eltern.

Mütter/Eltern haben ganz unterschiedlichen Kontakt zu den MitbewohnerInnen. Das Verhältnis zu den Müttern, die regelmäßigen Kontakt pflegen, wird von den BewohnerInnen als "freundschaftlich" beschrieben: die haben ein "Feingefühl" bezüglich Nähe und Distanz. Das ist die kürzeste Formulierung für viele Situationen, in denen die Mütter geschätzt werden und wie sie sich mit ihrem Engagement in der Wohngemeinschaft einbringen.

Eltern erleben die "BetreuerInnen" (BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf) als freundlich, nett und umgänglich.

Beide Gruppen schätzen sich gegenseitig. Aber einiges bleibt im Verborgenen, so daß ich hier die ungeklärten Situationen herausgreifen werde. Als Schlagwort gilt: die andere Partei wird nicht als offen erlebt.

Unsicherheiten, Ängste und unterschiedliche Rollenerwartungen, die von seiten der BewohnerInnen genannt werden:

E: "...ich glaube aber, sie (Mutter) sagt uns gegenüber ihre Erwartungen, die sie in bezug auf uns grade hat, die traut sie sich nicht so zum sagen, ich höre es dann immer so andeutungsweise." (Frauen :51)

A: "...hier müssen zum Teil die Brigitte und der Gerd und der Charly zurückstecken, wenn die Franziska auftaucht, oder wir müssen zurückstecken, wenn die drei vom Schaffen kommen (gemeint sind hier immer BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf - JJ), dann ist nichts mehr mit jetzt ein Buch lesen und irgendwann mal was kochen, sondern erst mal, jetzt sind wir gefordert. Das ist nicht schlimm, das ist ganz okay so, sonst wäre ich ja nicht hier, aber es ist für uns auch was anderes als für die Eltern, die mit ganz anderen Anforderungen seit Jahren leben und dann so glücklich sind, dass es so was Tolles gibt und dass es manchmal halt auch nicht so toll ist."

E: "Und dass sie die Erwartung aber haben, dass wir vielleicht in ihre Elternrolle reinschlupfen, dass wir die übernehmen und ja und das weitermachen. Und ich glaube, wir sind irgendwo dazwischen, wir sind nicht ganz außen und aber ganz so die Rolle, das können wir nicht und das wollen wir auch nicht. Also mein Grundsatz ist, ich will mein Leben teilen, aber ich will es nicht aufopfern." (Frauen :62)

A: "...ich hoffe, dass es nicht irgendwann knallt. Es gab andere Wohngruppen, grade die in München, da war auch einmal so eine Gruppe (integrative Wohngemeinschaft - JJ), da hat der ...(Mitarbeiter) damals erzählt, dass die Eltern dafür gesorgt haben, dass die ganze Besetzung sich geändert hat." (Frauen :51 )

Aus Sicht der Eltern wird thematisiert::

B: "...das bedauere ich, dass eigentlich noch nie ein Gespräch stattgefunden hat, ja schon mit der Andrea mal so, das auf jeden Fall, so auf privater Ebene, aber so gemeinsam, was die eigentlich jetzt denken oder wie die die ganze Angelegenheit sehen, das weiß ich nicht, und das würde mich auch sehr interessieren."

A: "Den Gedanken hatte ich auch schon mal, dass man mal in der Runde sich trifft, also Eltern und Betreuer mal ein bißchen so, das wäre mal eher eine andere Gruppe."

B: ".... aber das wäre schon schön, denn die Hanna (neue Mitbewohnerin) habe ich im Grunde genommen noch gar nicht kennengelernt, ...kennengelernt habe ich sie, als ich mal einen Schlüssel für die Jurastraße brachte, da bin ich abends auch ins Nepomuk, der Gerd, der saß da und noch ein junges Mädchen mit dabei, bei der Elisa, und dann habe ich so ganz nebenbei erfahren, dass das die Hanna ist, die mit im Hause wohnt, da war ich ein bißchen enttäuscht, dass man sie nicht vorgestellt hat. Aber gut, vielleicht erwarte ich zu viel, das kann auch sein."

I: "Wenn sie dort sind, haben sie dann hauptsächlich Kontakt zu Ihren Kindern und zum Hauptamtlichen oder gibt's auch so eine Möglichkeit, wo man Gespräche, Kontakt zu den MitbewohnerInnen hat ...."

A: "Das ist ein bißchen wenig - wenn's nicht von meiner Seite ausgeht, dann kommt, würde ich sagen, eigentlich nichts, es sei denn, es sei vielleicht irgendwas, dass was fehlt oder irgendwas ist, aber sonst wünschte ich mir schon so ein bißchen mehr Offenheit, auch von deren Seite, also ich fange das Gespräch eigentlich immer an, ich habe das jetzt schon mal so ganz bewußt beobachtet und dachte, jetzt halte ich mich mal zurück, mal sehen, ob was passiert. ... dann war ich wieder diejenige, die das Gespräch wieder anfing, das finde ich so ein bißchen schade, aber vielleicht erwarte ich auch da zuviel." ...."weil ich denke immer, eigentlich, wenn ich im Garten offen auf jemand zugehe, und wenn der andere dann gar nicht kommt, dann ziehe ich mich auch langsam zurück, das ist überall so, das ist in der Nachbarschaft genauso, dann sage ich, ich habe ja sonst nichts mit denen, ich bin freundlich und das ist gut. Und mit den anderen, da wünschte ich mir auch, dass da so ein bißchen mehr rüberkommt, ich will ihnen ja auch nicht die Freizeit dann stehlen da oder was auch immer, ja, vielleicht möchten sie auch jetzt ihre Ruhe haben - ich weiß nicht, vielleicht erwarte ich zuviel, ich weiß es nicht."

B: "Nein, das geht mir ähnlich, das ist halt immer so ein bißchen, man will natürlich was erfahren und was hören, das ist klar, und andererseits will man denen nicht zu nahe treten."

A: "Ja, das ist eine Gratwanderung." ...

A: "Wie sehen die Betreuer uns Eltern, das würde mich mal interessieren, vielleicht finden sie das lästig, wenn ich da immer wieder auftauche oder ja - mich würde das einfach interessieren, wie sehen die uns Eltern, so nach dieser Zeit, das würde mich schon mal interessieren."

(Mütter :35/36)

Die Erwartungen, die die BewohnerInnen von seiten der Eltern spüren, werden nur in Ausnahmen konkret im Alltag angesprochen. Zum Teil können und wollen die BewohnerInnen nicht das einlösen, was sie denken, was die Eltern von ihnen unausgesprochen erwarten, obwohl ein Interesse besteht, ein offenes Verhältnis zu praktizieren.

"Vielleicht erwarte ich zuviel" ist die Redewendung, die die Verunsicherung der Mütter zum Ausdruck bringt. Darin spiegelt sich ein Hin und Her zwischen eigenen Erwartungen und dem Nachspürenwollen bzw. Verstehenwollen der BewohnerInnen.

Ich möchte hier drei Aspekte aufführen, die aus meiner Sicht zu diesem Spannungsverhältnis und seiner Abgrenzung eventuell beitragen können.

Erstens: Die vorhandenen und gelebten Kommunikationsstrukturen sind noch sehr institutionell verankert. Das zeigt sich z. B. an dem Eltern-MitbewohnerInnen-Kontakt. Er ist privatisiert, d.h. nicht institutionell geregelt. Fragen, die sich auf den Wohngemeinschaftsalltag der Kinder beziehen, werden von seiten der Eltern an den hauptamtlichen Mitarbeiter gerichtet.

Zweitens: Eine Schwierigkeit liegt auch darin, daß man als BewohnerIn in Interessenskonflikte geraten kann. Auf der einen Seite sind die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf die MitbewohnerInnen; auf der anderen Seite stehen die Eltern mit ihrer spezifischen Rollenerwartung. Hier spiegelt sich zwischen den Interessen zweier Gruppen wider, was BewohnerInnen im Alltag zerreißen kann, ich sehe mich als gleichberechtigte MitbewohnerIn und nicht als Elternersatz, muß dennoch Elternfunktionen übernehmen. Diese beiden Seiten sind im Gespräch konkret präsent und nicht ohne weiteres leicht auseinanderzuhalten bzw. zu vereinbaren. Offen bleibt für mich, ob nicht auch Konkurrenz zur Unsicherheit der Beziehungen beiträgt.

Drittens: Ein weiterer Aspekt sind reale Ängste bezüglich der Macht von Eltern, die in dem BewohnerInnengespräch geäußert worden sind und sich auch im Müttergespräch finden. Für die Mütter ist die zeitliche Begrenzung der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf auch eine Chance, daß z. B. auch wieder neuer Schwung in die Wohngemeinschaft kommt. Darin liegt Konfliktstoff.

Wie könnte diese Struktur ergänzt werden und das gegenseitige Bedürfnis eines intensiveren Austauschs eine entsprechende Form erhalten? Vielleicht könnte hier ein ungezwungener Rahmen zwischen Eltern und BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf hilfreich sein, um die gegenseitigen Unsicherheiten zu verringern und auf Dauer eine Beziehungssicherheit zu erlangen, die einen offenen Umgang im Alltag ermöglicht.

8.4 Auflösung von gängigen Bildern und Denkweisen

Im Zusammenhang vom Denken über andere Gruppen findet sich ein Beispiel, das die gewohnten Denkmuster überschreitet und auch eine besondere Erfahrungsqualität des Wohnprojekts darstellt. Die Teilhabe von Franziska benötigt einen hohen Aufwand an Assistenzleistungen, und gleichzeitig ist ihre Anwesenheit und ihre Persönlichkeit auch ein ganz wichtiger Bestandteil für das gemeinschaftsfördernde Leben in der Wohngemeinschaft. Sichtbar wurde dies durch einen längeren Krankenhausaufenthalt von Franziska. Zum einen fielen in dieser Zeit viele Assistenzleistungen im Alltag weg, zum anderen entwickelte sich ein Individualisierungsprozeß, der das Gemeinschaftsgefüge immer mehr auflöste. Obwohl die Rückkehr von Franziska mit Sorgen hinsichtlich der Alltagsbewältigung begleitet war, sind mit ihr auch wieder die Gemeinschaftsbindungen zurückgekehrt. Die Integrationsleistungen von Franziska werden von allen BewohnerInnen gesehen und positiv bewertet.

9 Zur Verortung des Projekts - Innensicht und Aussensicht

9.1 Standortbestimmung - Das Wohnprojekt in den Angebotsstrukturen von Betreuungs- und Lebensformen für Menschen mit Unterstützungsbedarf

Was ist das Besondere an der Jurastraße? Als erstes fällt die Zusammensetzung der BewohnerInnen ins Auge: hier leben Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf zusammen. Ein weiteres wichtiges Merkmal betrifft die Zusammensetzung der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf. Sie läßt sich nicht ohne weiteres in die Versorgungsstrukturen der Betreuungsformen eingliedern, da hier das gängige Entscheidungskriterium "Behinderungs-grad" im Einzelfall außer Kraft gesetzt wurde. Standards und Voraussetzungen in der kommunalen Versorgungslandschaft richten sich nach dem Selbständigkeitsgrad der Menschen bzw. nach dem Betreuungsaufwand für die Institutionen: Menschen mit Unterstützungsbedarf, die keine Rund-um-die-Uhr Betreuung benötigen und eine "gewisse" Selbständigkeit erlangt haben, können in die betreuten Wohngruppen aufgenommen werden.

Die Jurastraße - als Wohnprojekt mit dem geringsten Institutionalisierungsgrad und einem geringen personellen Schlüssel - hat offene Ausgangsbedingungen für alle Menschen mit Unterstützungsbedarf. Hier können auch Menschen teilhaben, die Assistenzleistungen in Form einer rund-um-die-Uhr Betreuung benötigen. Eine Bewohnerin mit Unterstützungsbedarf zählt zu diesem Personenkreis. Die Jurastraße ist für sie die einzige Alternative zu einem Leben in einer stationären Heimgruppe. Weiterhin lebt auch ein "Grenzgänger" im Wohnprojekt, der den Anforderungen der betreuten Wohngruppen nicht gerecht wurde, aber für ein Leben in der Heimgruppe nicht den erforderlichen Betreuungsbedarf mitbringt.

Das Wohnprojekt ist mit seiner Zusammensetzung eine Wohnform, die "gegen die Logik der Institution" verstößt. Diese Standortbestimmung gilt nur eingeschränkt. Es muß hier auch erwähnt werden, daß die Teilhabe einer Person mit einer Rund-um-die-Uhr Assistenz grundlegende personelle und finanzielle Vorteile in Form des institutionellen Status ermöglicht und damit das Wohnprojekt in einzelnen Teilbereichen auch in der Logik der Institution verhaftet bleibt.

Das Schöne und Erfreuliche ist, daß mit dem Wohnprojekt eine neue Form des Miteinander verwirklicht wird. Dabei stellt sich die folgende zentrale Frage: Welche Bedingungen und Begleiterscheinungen zeigen sich bei der Realisierung dieser Wohnform?

Zwei Aspekte scheinen mir zum Thema Verortung besonders relevant und einen Diskussionsbedarf zu signalisieren: Das Inseldasein des Wohnprojekts und die Darstellung in der Öffentlichkeit.

9.2 Gefühl des Inseldaseins

In allen Gesprächen wird das Insuläre angesprochen. In den Gesprächen mit den Eltern kommt diese Inselsituation über die Nichtabgesichertheit des Projekts zum Vorschein. Bei den BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf wird das Thema über die begrenzten räumlichen Integrationsbemühungen, d.h. durch die Beschränkung der Integration auf die Wohngemeinschaft, angesprochen:

A: "Eigentlich ist das mit der Selbständigkeit noch ein bißchen ... dadurch, dass wir hier wohnen heißt es, das wäre super, Integration und ganz arg toll und so weiter, aber so groß ist eigentlich nichts integriert, weil wir sind zwar hier, und wir wohnen zusammen, aber ohne uns wäre es dann auch wieder - was wäre denn dann ? Wie ist es denn mit sozialen Kontakten und so Geschichten, da läuft ja eigentlich kaum was." (Frauen :61)

Die partiellen Integrationsleistungen widerspiegeln die Grenzerfahrungen, nämlich den Bewoh-nerInnen mit Unterstützungsbedarf ein gleichwertiges Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.

Hier stellt sich für mich die Frage, wie die BewohnerInnen von außen in ihren Bemühungen unterstützt werden können? Es gibt zwar schon Ideen, wie z.B. die Gründung eines Freundeskreises, aber bisher sind die BewohnerInnen in der Jurastraße auf sich selbst gestellt. Wie könnte die Verbindung zu anderen Lebenswelten hergestellt werden, und wer könnte hier zeitliche Ressourcen zur Verfügung stellen?

Bei den Mitarbeitern erstreckte sich eine längere Diskussion darüber, wie das Projekt im WGV verortet ist. Dieses Dasein gegen die Logik der Institution führt das Projekt in eine Inselsituation bzw. schon in der Konzeptionsphase wurde deutlich, daß andere KollegInnen aus dem WGV Widerstände gegenüber dem Projekt zeigten. Der Hauptgrund für die Abgrenzungsmechanismen sehen die Mitarbeiter des Wohnprojekts in Äußerungen von Kollegen, in denen das Projekt eine Gefährdung bezüglich ihrer Arbeitsplätze und Arbeit darstellt.

Die Tatsache, daß hier Menschen wohnen können, die in den betreuten Wohngruppen - aufgrund der fehlender Selbständigkeit der Menschen mit Unterstützungsbedarf - nicht aufgenommen werden, löst bei vielen KollegInnen Ängste aus.

A: "...dieses Inseldasein, das ist schon verrückt, also man kann's an einem Beispiel klarmachen: also wenn man sich die epileptischen Anfälle von der Frau D. anschaut, es war für die Kollegen ganz schwierig zu verstehen, wenn ich dann auf der einen Seite gesagt habe, diese Anfälle sind absolut gefährlich, was sie ohne Zweifel sind, in einer stationären Einrichtung, da ist schlichtweg gar nichts zu machen gewesen, in einer Einrichtung im Wohngruppenverbund hätte man so einen Menschen gar nicht leben lassen können, das ist meine feste Überzeugung, vom Grad der Behinderung wäre das schlichtweg nicht gegangen. Auf Grund der Art und Weise der Betreuung in der Jurastraße ist es einfach möglich für die Frau, dort zu leben. Es ist natürlich verrückt, auf der einen Seite erzählst du, sie hat schwere Anfälle, jeder Mitarbeiter sagt, um Gottes Willen, was muß ich machen, und wie sieht das aus, wenn was passiert und Jesus Maria, wie schlimm ist das und giert nach Informationen - und auf der anderen Seite sagst du, na ja, aber die kriegen das schon in Griff, die kommen wirklich bloß im Extremfall, also das ist unheimlich schwer zu vermitteln."

B: "Und dann die Angst von den anderen Mitarbeitern, dass - also sie sagen immer, wir beneiden dich nicht um deinen Job, und das stimmt überhaupt nicht."

A: "Das habe ich nie verstanden." (Mitarbeiter :13)

Die Mitarbeiter des Wohnprojekts sehen sich selbst in den institutionellen Zusammenhängen in einer anderen Position als die Mitarbeiter der betreuten Wohngruppen. Schon allein wie über die Menschen mit Unterstützungsbedarf in Sitzungen geredet wird, welche Informationen und Mitteilungen dort verhandelt werden, was als "Privatsphäre" deklariert wird, wird unterschiedlich zu den anderen Kollegen erfahren:

B: "...ich denke, dass da viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die schon langjährig dabei sind - wie soll ich da sagen ? - also die Person der Menschen mit Behinderung nicht mehr so schätzen, die haben sie schon in einem ganz arg hohen Grad entmündigt, so kommt mir das vor. ...."

A: "Ich möchte das bloß bestätigen, was Du sagst, man kommt, wenn man das erzählt, in eine blöde Situation, weil man in dieser Situation ist, dass so der Eindruck entsteht, man versucht, sich selber über das zu stellen." (Mitarbeiter: 15)

Diese Ausführungen knüpfen an die im Kapitel 4 dargestellten Konstruktionszusammenhänge von Behinderung an und legen die unterschiedlichen Sichtweisen, die von dem Institutionalisierungsgrad abhängen, offen.

Als schwierig wird von den Mitarbeitern das Alleine-arbeiten definiert. Der fehlende Austausch mit KollegInnen, die im gleichen Arbeitskontext mitarbeiten, wird als ein Verlust empfunden.

Trotz alledem ist für die Mitarbeiter die institutionelle Einbindung wichtig und hat in bezug auf Ressourcen und Entwicklung des Wohnprojekts auch eine entlastende Funktion. Als Beispiel dafür steht die finanzielle Absicherung, die zu Beginn des Wohnprojekts den Belegungsdruck genommen hat.

Innerhalb des Wohngruppenverbunds fristet das Projekt ein Inseldasein bzw. hat einen Sonderstatus. Die ersten Versuche, MitarbeiterInnen und BewohnerInnen anderer Wohngruppen in die Jurastraße einzuladen, zeigen auch positive Reaktionen. Wie die Jurastraße zu einem selbstverständlichen Teil des Wohngruppenverbunds werden kann, ist noch eine spannende Frage.

Das Wohnprojekt macht einerseits ein "normales" Leben von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf möglich. Gleichzeitig treten andererseits Aspekte des Inseldaseins stärker in Erscheinung.

Ein Bewohner mit Unterstützungsbedarf thematisiert die unterschiedlichen Realitäten von der Jurastraße und dem Leben außerhalb. Er traut sich nicht, das, was er innerhalb des Wohnprojekts erlebt, nach außen zu tragen. Das zeigt sich z. B. darin, daß er innerhalb der Wohngemeinschaft den Kontakt mit anderen BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf schätzt und stärker pflegen möchte, aber außerhalb des Wohnprojekts mit ihnen nicht in der Öffentlichkeit auftreten möchte, weil er eventuellen Stigmatisierungen aus dem Weg gehen möchte.

C: "Ich würd' mir eigentlich nicht mit der Brigitte zutrauen, in der Straße, so in der Stadt zu laufen, weißt Du, also weil ein Kumpel von mir - also nett sind sie schon, aber sie lästern gern über die Kranken und wenn sie mich dann sehen, mit der zusammen, dann wird halt über mich auch gelästert."

I: "Ist Dir das arg so, dass die das machen ?"

C: "Nicht so arg, also nett sind sie schon und deswegen, es reicht doch, wenn ich mit der Brigitte hier bin".

I: "Und wie gehen sie mit Dir um ?"

C: "Mit mir gehen sie gut um."

I: "Hast Du schon mal so erlebt, wenn Du mit denen so zusammen bist, dass sie dann darüber lästern, oder hast Du eher die Sorge, dass sie's machen würden ?"

C: "Nein, ich hab' das ja schon mal gesehen, dass die so mal gelästert haben über andere Kranke, doch, hab' ich einmal schon gesehen, auf jeden Fall...."

I: "Würdest Du denn mit der Brigitte draußen gern was machen, kannst Du Dir das vorstellen so, also wenn das nicht wäre...?"

C: "Hier zum Beispiel etwas."

I: "Also hier eher in der Wohngemeinschaft ?"

C: "Ja." (Männer :17/18)

Ein weiterer Aspekt, der in dem Mitarbeitergespräch angeschnitten wurde, ist die Einsamkeit der Menschen mit Unterstützungsbedarf, die in dem Wohnprojekt sichtbar wird. Die Betroffenen sowie die MitbewohnerInnen können sich dieser Erfahrung nicht so leicht entziehen wie in anderen Wohnformen:

A: "In einer stationären Einrichtung ist das einfach zu behandeln, er muß die Einsamkeit ertragen, und das ist ja auch ein Unterschied, ich hab' ja immer diesen Kontrast noch vor mir, auf der einen Seite mit der ...straße (betreute Wohngruppe-JJ)und dann wieder mit der Jurastraße, da waren Leute drin, es sind auch Grundprobleme, Menschen mit Behinderungen, denke ich, sind oft sehr einsam und nicht bloß die, sondern auch wir, Einsamkeit ist ein generelles Problem bei uns, und manches Mal habe ich den Eindruck, die behinderten Menschen, die sollen das alles lösen, was wir nicht gelöst kriegen, ich würde mich bedanken, wenn jeden Abend einer käme und sagen würde, du gehst mir auf den Geist, geh' doch bitte zur Volkshochschule .... oder du bist doch einsam, guck mal, dass du was machst, also das ist der Aspekt dahinter. Und in einer stationären Wohnform, da sind die Leute gewiß genauso einsam, bloß das muß man einfach sehen, also in der Form vom Wohngruppenverbund da sehe ich das nicht, ich gehe abends um acht Uhr, es ist niemand da, ich kann das nachfühlen, und ich fühle auch die Einsamkeiten, aber ich nehme das durchaus ernst, wenn der Bewohner mir das sagt, und ich versuche auch, mit dem was zu machen, aber ich sehe es nicht - und da (Wohnprojekt -JJ) ist jemand da, der kriegt das mit, der sieht das, das ist eine ganz andere Situation." (Mitarbeiter 44/45)

Die Wahrnehmung der Einsamkeit von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ist für die Mitarbeiter im Wohnprojekt ein real erfahrbar.

Interessant wären hier die Erfahrungen von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf. Wie erleben sie das Thema Einsamkeit im Wohnprojekt im Gegensatz bzw. Vergleich zu anderen Wohnformen?

Die folgenden Ausführungen von Innen und Außen, von Anspruch und Wirklichkeit sind auf dem Hintergrund der Darstellung des Inseldaseins zu betrachten und spiegeln auf einer anderen Ebene die Inselproblematik wider.

9.3 Anspruch und Wirklichkeit

"Wer von Integration redet, darf vom Ausschluß nicht schweigen. Und wer vom Ausschluß schweigt, redet nicht von Integration". (Wolfgang Jantzen zitiert nach Jakob Egli, Wista 1996: 308). Dieses Zitat von Wolfgang Jantzen steht für die Einschätzung der Mitarbeiter und BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf, wie sie die Veröffentlichung des Projekts von Seiten der AGI wahrnehmen. (Mit Vertreterinnen der AGI wurden keine Gespräche geführt, so daß diese Darstellung zunächst nur eine Sichtweise widerspiegelt.)

A: "Ich weiß nicht, wenn ich höre vom ....(Mitarbeiter), was der so erzählt vom AGI und von Wohngruppen..., dass das oft in den höchsten Tönen gelobt wird, die Jurastraße hat keine Probleme, und es läuft alles und so und ich würde schon gerne manchmal - weil das ist Augenwischerei, es ist nicht alles so toll, und es läuft nicht immer alles wunderbar, und es ist nicht diese Integration ... eigentlich ..." (Frauen 62)

A: "Was ich auch noch mißlich empfinde und da sehe ich auch die Gefahr drin, Normalisierung ist ja okay, aber man darf die Normalisierung nicht so weit treiben, dass es - wie soll ich sagen? - es besteht kein normales Zusammenleben im Punkte Jurastraße in dem Sinne, dass alle die gleichen Fähigkeiten haben und die gleichen Möglichkeiten haben, das ist ganz ganz schwierig. Auch immer ein Knackpunkt zwischen Arbeitskreis Integration und den stationären Einrichtungen oder auch Hauptamtlichen, ich denke, es ist was anderes, jemanden zu respektieren, das ist wichtig, in seiner Eigenheit ...das war schon schwierig, für viele Bewohner ist schon der Eindruck entstanden, ich bin doch gar kein Bewohner in dem Sinne, ich bin doch der gleiche wie Bewohner XY, und das stimmt halt nicht. Und wie machst du die Kehrtwendung, wie sagst du dann auf einmal, die kriegen's natürlich mit, zum Bewohner Y, mich interessiert nicht, wie dem sein Zimmer aussieht, beim Bewohner Soundso interessiert mich das. Dann erlebt man Situationen, da sind sie auf völlig gleicher Ebene mit dem Bewohner, wo sie tagtäglich zusammenleben, das verändert sich von einer Minute auf die andere - es kommt ein Thema, wo plötzlich völlig klar wird, das stimmt überhaupt nicht, und das ist auch die Gefahr, wir haben vorher von den Gefahren für den Arbeitskreis Integration geschwätzt, also ich denke, eine große Gefahr wäre die, wir haben ein Modell gemacht, das theoretisch wunderbar gewesen wäre, in dem aber kein Schwein mehr gelebt hätte, weil's einfach in der Praxis nicht mehr lebensmöglich gewesen, jetzt in den Idealvorstellungen und so wäre das völlig in Ordnung gewesen. Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft so wäre, aber wenn man sich's anguckt, was vom Zusammenleben her notwendig ist, dann stimmt's halt nicht mehr." ...

(Mitarbeiter :24 )

Die positiven Darstellungen von seiten der AGI werden als Beschönigung empfunden. Es steht nichts entgegen, die schönen und positiven Erfahrungen zu benennen, aber die Schwierigkeiten nicht gleichzeitig auszusprechen, schafft Unbehagen und Differenz. Eine Beschränkung auf die positiven Entwicklungen transportiert das Gefühl, versagt zu haben. Denn somit wird auch vorgegeben, die Ansprüche ließen sich verwirklichen. Daß der Alltag viel schwieriger und gebrochener ist, darf somit nicht thematisiert werden.

Bei Mitarbeitern und BewohnerInnen taucht immer wieder die Abgrenzung zur AGI auf. Im Grunde steht dahinter die Angst, daß eine Situationsdarstellung so wie sie ist, nicht akzeptiert wird und den Beteiligten zum Vorwurf wird. Konzeptionen sind Idealisierungen, die im Alltag scheitern und Ansprüche stellen, die nicht einzulösen sind. Sie können ein Gefühl des Versagens vermitteln und Distanz zu den Zielen herstellen.

Zu diesem Konfliktthema habe ich - wie eingangs erwähnt - nur die Aussagen von den Mitarbeitern und BewohnerInnen. Aus ihrer Sicht scheint hier ein Theorie-Praxis-Problem zugrunde zu liegen: Der Alltag hat ein ganz anderes Gesicht als das, was die Konzeption entwirft. Der machbare Weg ist noch so weit weg vom Ziel.

Für den weiteren Verlauf des Projekts wäre es wünschenswert, eine direkte Kommunikation zwischen den Mitarbeitern/BewohnerInnen und der AGI zu etablieren. Aufgrund der unterschiedlichen (berechtigten) Standorte von Beteiligten enthält eine kritische Auseinandersetzung mit Ansprüchen und Wirklichkeiten in der Regel ein hohes Konfliktpotential. Gleichzeitig ermöglicht diese Reflexion - bei einer gegenseitigen Offenheit - Chancen und Wege für einen fruchtbaren Entwicklungsprozeß (vgl. Kapitel 2).

Dieser verdeckte Konflikt wird auf dem Hintergrund der Alltagsprobleme verständlich. Menschen ohne Unterstützungsbedarf und die Mitarbeiter erleben den Alltag oft grenzverletzend und überfordernd. Es gibt so viele Alltagssituationen, in denen von Selbständigkeit der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf keine Rede sein kann. Aus der Sicht der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und der Mitarbeiter muß der ganze Hygienebereich von Grund auf - unter Widerständen von Menschen mit Unterstützungsbedarf - vermittelt werden. Das fängt an beim Zähne putzen, Pinkeln ins WC, nach dem Rasieren Haare entfernen etc, die Liste könnte um viele weitere Beispiele ergänzt werden. Ein Fazit aus den Gesprächen ist hierbei: Nicht die Behinderung sondern das Sozialverhalten ist Gesprächsgegenstand. Sauberkeit und Hygiene sind zentrale Themen in den Gesprächen, aber auch Faktoren, die nicht auf die vorhandenen Einschränkungen zurückzuführen sind, sondern mit sozialen Verhaltensweisen und Verantwortlichkeiten zusammenhängen. Nicht die BewohnerInnen mit den größten Einschränkungen geraten in das Blickfeld von Kritik, sondern die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf, die sich aus der Verantwortung ziehen und das Wohnprojekt ein Stück weit als "Hotel" benutzen, in dem sich andere BewohnerInnen für die Gemeinschaftsaufgaben zuständig fühlen sollen. Fazit: Desintegrierende Faktoren sind nicht abhängig vom Grad der Unterstützung.

Sauberkeitsdiskussionen sind typische Begleiterscheinungen von WGs, die nicht zu unterschätzen sind. Sie sind auch oft maßgeblich am Gelingen bzw. Scheitern beteiligt. Inwieweit sind die vorhandenen Sauberkeits- und Hygienethemen "behindertenspezifisch"? Diese Frage läßt sich am ehesten am biographischen Kontext der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ablesen. BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und Mitarbeiter sehen in den bisherigen Versorgungsstrukturen die Ursachen der auftretenden Unselbständigkeit. Aus ihrer Sicht wurden z. T. die Menschen mit Unterstützungsbedarf zuwenig auf das selbständige Bewältigen von Alltagsarbeiten vorbereitet, obwohl sie von ihren Möglichkeiten das Potential dazu haben.

Das überfordernde Moment und in gewissem Sinne auch die starke Abgrenzung zu formulierten Ansprüchen steht im Zusammenhang mit dem Gefühl des Inseldaseins. Verbunden damit sind Bilder, die den isolierten Standort charakterisieren: Was die Gesellschaft nicht leistet, soll die Wohngemeinschaft richten!

10 Zur Bedeutung des Stadtteils "Betzingen"

Betzingen wurde zu Beginn des Jahrhunderts eingemeindet, zeichnet sich aber noch durch seine dörfliche Struktur mit allen wichtigen Einkaufs- und Dienstleistungsangebote aus.

In den Gesprächen wird von allen Beteiligten besonders die gute Verkehrsanbindung direkt vor dem Haus hervorgehoben. Sie ermöglicht die selbständige Bewältigung der Anfahrtswege zur Arbeit etc. An einzelnen Orten im Stadtteil, die auch von den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf besucht werden, entwickelt sich eine Beziehungsstruktur. Die Papeterie z.B. bietet Kommunikation und auch die Zuwendung von Menschen außerhalb der Wohngemeinschaft.

Bisher spielt im Alltag der Stadtteil eine untergeordnete Rolle. Gründe dafür sehen die BewohnerInnen in den wenig attraktiven Angeboten im Stadtteil.

Der Stadtteil wird zu wenig als Übungsfeld für BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf zur Selbständigkeit und Verantwortungsübernahme (z.B. Einkauf fürs Essen) wahrgenommen. Zum Teil ist dies für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf alltagsrelevant in bezug auf das regelmäßige Erproben einer selbständigen Alltagsversorgung. Dagegen sprechen bisher vor allem Kostengründe.

Konzeptionelle Überlegungen sollten dahingehend entwickelt werden, wie eine Stadtteilorientierung stärker im Detail umgesetzt werden kann. Die finanziellen Mittel für die Essensversorgung müssen so bemessen sein, daß der Einkauf im Stadtteil nicht an Kostengründen scheitert.

Betont wird zwar immer wieder der Wunsch von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf nach einer stärkeren Außenorientierung der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf. Der Stadtteil bietet aus ihrer Sicht hierzu wenig Ansatz- bzw. Kontaktmöglichkeiten. Außerdem ist die Außenorientierung für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf ihrem Verhalten nach nicht ein zentrales Thema. Sie haben z. T. nicht den Drang nach außen, nicht den Drang, neue Kontakte zu knüpfen, sondern begnügen sich mit dem Leben innerhalb des Wohnprojekts. Dieses Phänomen tritt vor allem dann zutage, wenn von seiten der Menschen ohne Unterstützungsbedarf versucht wird, den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf Angebote außerhalb schmackhaft zu machen, damit sie ihren Kontaktbereich erweitern.

Aus meiner Sicht sind die Angebote im Stadtteil noch zu wenig ausgelotet. Betzingen ist historisch gesehen ein Dorf, das noch über eigenständige Strukturen verfügt: VHS, Bibliothek, Vereine, Kirchengemeinden, etc. .Bisherige Außenkontakte sind zum einen szenenorientiert: Kaffeehäusle / Baff / Nepomuk, sind an Vertrautes bzw. an gemeinsame Unternehmungen gekoppelt und erhalten von den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf eine hohe Wertschätzung. Zum anderen sind die Außenkontakte nach gemeinsamen Freizeitbedürfnisse ausgerichtet (Disco, Kino). Das sind Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten, die sehr geschätzt werden.

Den Stadtteilbezug zu intensivieren, d. h. mögliche Kontaktbereiche und Kontaktpersonen zu suchen, erfordert zusätzliche personelle Ressourcen. Hierzu wurden schon Vorüberlegungen angestellt, wie z. B. die Nutzung von Ressourcen der Fachhochschule in Form von Praktika. Eine Konkretisierung dieser Überlegungen sollte demnächst erfolgen. Inwieweit dadurch neue Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf geschaffen werden können, bleibt offen. Schon allein die Tatsache, daß die BewohnerInnen das Wohngebiet kennenlernen und erschließen können, wäre einen Versuch wert (vgl. Ausführungen zu studienbegleitenden Praktika in Kapitel 11).

11 Ausblick

Im folgenden Ausblick werden drei unterschiedliche Perspektiven beleuchtet. Die Wünsche der GesprächsteilnehmerInnen stellen dabei die erste Perspektivebene dar. Der weitere Verlauf der wissenschaftlichen Begleitung weist über den Erhebungszeitraum hinaus und ist im Sinne eines Intermezzos kurz skizziert. Zum Abschluß erfolgt eine Bilanz, verbunden mit weitergehenden Fragestellungen.

11.1 Wünsche der GesprächsteilnehmerInnen

In einer kurzen Sammlung sollen zum Abschluß noch die Wünsche der GesprächsteilnehmerInnen dargestellt werden.

BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf nennen unter Wünsche z. B.:

  • gemeinsame Kartenspiele in der WG,

  • ein WG-Foto für die Fotowand im Büro des Wohngruppenverbunds,

  • Möglichkeiten, neue Kompetenzen zu erlernen,

  • Beziehungen vertiefen,

  • Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt selbständig wohnen zu können.

BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf wünschen sich:

  • neue Ideen in der Freizeitgestaltung,

  • mehr Zeit für sich und das Wohnprojekt,

  • zusätzliche Integrationsmöglichkeiten,

  • einen unbelasteten Kontakt zu den Eltern.

Mitarbeiter nennen:

  • Freundeskreis für die BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf,

  • nicht ständig BewohnerInnen an Aufgaben bzw. Selbstverständlichkeiten erinnern zu müssen,

  • realistische Sichtweise der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf hinsichtlich der Kompetenzen von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf,

  • Zeit für Themen wie Sexualität,

  • von den MitbewohnerInnen, daß sie ihre Hobbys in die WG einbringen.

Eltern wünschen sich:

  • für das Projekt und ihre Söhne/Töchter eine sichere Zukunft,

  • mehr gemeinsame Freizeitaktivitäten der BewohnerInnen,

  • intensiveren Kontakt unter den BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf,

  • mehr Beteiligung der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf im Alltag,

  • Gesprächsmöglichkeiten mit BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf.

Viele Wünsche der GesprächsteilnehmerInnen weisen Bezüge zu den Gesprächsinhalten auf bzw. orientieren sich an den realen Problemen und Grenzen, die in der Wohngemeinschaft erlebt werden. Da das Thema Wünsche am Ende der Gespräche angesprochen wurde, kann dies eine Erklärung für diese Anbindung an die Gesprächsthemen sein. Die überwiegend gegenwartsbezogenen Wunschvorstellungen zeigen aber auch, wie stark der Veränderungswille des Status quo hier zum Ausdruck kommt. Im wesentlichen beziehen sich die Wünsche auf die Beziehungsgestaltung zwischen den BewohnerInnen und Angehörigen sowie auf die strukturellen Gegebenheiten.

Es bleibt zu hoffen, daß die bisherigen positiven Erfahrungen im Wohnprojekt durch die Bearbeitung der vorhandenen Schwierigkeiten in eine sichere und für alle Beteiligten zufriedenstellende Zukunft führt.

11.2 Intermezzo - Zum weiteren Entwicklungsverlauf

Wie schon in den bisherigen Ausführungen ansatzweise dargestellt wurde, haben die Gruppengespräche und die anschließenden Feedback-Runden dazu beigetragen, konkrete Überlegungen zur praktischen Umsetzung der thematisierten Probleme und Fragestellungen voranzutreiben. Der Blick auf die "Betreuungs"verhältnisse und ihre Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung hat z. B. dazu geführt, daß die bisherige Aufgabenverteilung neu überdacht und die Mitgestaltungsmöglichkeiten der BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf in den eigenen Strukturen und Aufgabenplänen stärker mitberücksichtigt wurden. In vielen Bereichen, die hier dokumentiert wurden, hat seither eine Weiterentwicklung stattgefunden. Deshalb sind die präsentierten Ergebnisse ein Ist-Zustand, der durch die Praxis in vielen Bereichen überholt ist. Diese Veränderungen seit den letzten Gesprächen sollen im Herbst in einer nächsten Rekonstruktionsphase aufgenommen werden.

Die Aufgaben des wissenschaftlichen Begleiters waren mit den Rekonstruktionsgesprächen und Rückmeldungsrunden zunächst abgeschlossen. Es ging nun darum, weitere Ziele zu formulieren und zu überlegen, welche Aufgaben mit den beschränkten Mitteln zu bewältigen sind. Einerseits bin ich bei den sporadischen Besuchen in die Wohngemeinschaft sehr freundlich und offen aufgenommen worden. Schwierig erweist sich andererseits die strukturelle Einbindung. Die Nähe-Distanz-Problematik oder anders ausgedrückt: privat leben wollen und wissenschaftlich begleitet werden, schafft einen nicht so leicht zu überwindenden Gegensatz. Alle haben Verständnis für die wissenschaftliche Begleitung, doch z. B. eine regelmäßige Teilnahme an den Wohngemeinschaftsbesprechungen war nicht erwünscht. Die Aufgaben zwischen den Erhebungsphasen haben sich daher auf folgende Bereiche beschränkt:

Der Wunsch des hauptamtlichen Mitarbeiters nach einer Reflexion des Alltags und Austauschmöglichkeit, hat sich zu einem monatlichen Gesprächstermin etabliert. Die Inhalte der Gespräche, an denen in den letzten Monaten auch die Praktikantin teilnahm, orientierten sich an den aktuellen Themen und Problemen im Wohngemeinschaftsalltag. Bei den letzten Treffen lag der Schwerpunkt in der Reflexion und weiteren Perspektive des studienbegleitenden Praktikums. Zur Zeit stehen Überlegungen zur Überarbeitung der bestehenden Konzeption an, die als Grundlage für eine breite Diskussion unter den Beteiligten dienen soll.

Regelmäßige Kontakte zu der Kooperationsgruppe dienten der Aufarbeitung anstehender Fragen, die sich aus dem Alltag der Wohngemeinschaft und den Erfahrungen der wissenschaftlichen Begleitung ergaben. Bemerkenswert erscheint mir, daß sich trotz unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen die Zusammenarbeit von Selbsthilfe und Institution, bei grundsätzlichen Fragen sowie bei alltäglichen Problemstellungen ein Konsens herstellen läßt.

Teilnahme am Konzeptionstag. Im Mai diesen Jahres wurde die Idee eines Konzeptionstages verwirklicht. Im Vordergrund stand das Interesse, ein Ambiente zu schaffen, in dem der Austausch zwischen BewohnerInnen, Mitarbeiter, Eltern und Träger ermöglicht werden sollte. Außer einem Elternteil nahmen alle Beteiligten teil.

Am Vormittag wurde als Einstieg das Kurzvideo über die Jurastraße (ZDF) angesehen und drei gewünschte Themen in einer gemeinsamen Runde vorgestellt: Die Entstehungsgeschichte der Wohngemeinschaft im Kontext der Arbeit der AGI, die Darstellung der Finanzierungsgrundlagen sowie eine kurze Zusammenfassung des Forschungsberichts. Am Nachmittag waren Kleingruppen vorgesehen, die unterschiedliche Themen aus dem Alltagsleben der Wohngemeinschaft und die Zusammenarbeit betrafen. Die unterschiedlichen Erwartungen von Eltern und BewohnerInnen wurden in einer Kleingruppe, an der alle BewohnerInnen und Eltern teilnahmen, angesprochen und sehr positiv in der Schlußrunde bewertet. Der Austausch führte dazu, daß das Gespräch in dieser Gruppenkonstellation in einem folgenden Gespräch weitergeführt werden soll. Die Restgruppe, Träger, Mitarbeiter beschäftigten sich mit der berufliche Rolle des hauptamtlichen Mitarbeiters. In der Diskussion zeigte sich, daß in einer weiteren Erhebungsphase, die Arbeit des hauptamtlichen Mitarbeiters näher beschrieben werden muß.

In der abschließenden Reflexionsrunde wurde der Wunsch geäußert, diese Form des Austauschs und der Zusammenarbeit fortzusetzen. Eine weiteres Thema und eine Aufgabe für die Fortsetzungsveranstaltung ist, Gesprächsformen zu entwickeln, bei denen die Mitgestaltung und Beteiligung von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf noch besser gewährleistet werden kann.

Betreuung von studienbegleitenden Praktika: Aus der Sicht der Projektleitung und wissenschaftlichen Begleitung war die bisher von der Wohngemeinschaft nur bedingt zu leistende Stadtteilorientierung und der Bedarf an Entlastung der Wohngemeinschaft ein Anlaß, über den Einsatz von studienbegleitenden Praktika nachzudenken. Sie sollten sowohl Außenaktivitäten ermöglichen, als auch den Stadtteil mit seiner Angebotsstruktur erschließen. Die Überlegungen, die mit den Studierenden im Vorfeld entwickelt wurden, sahen vor, mit jeweils einer Bewohnerin Stadtteilbegehungen durchzuführen und mit dem Einsatz von (Sofortbild)kameras zunächst bedeutsame Orte und Plätze festzuhalten. Im weiteren Verlauf sollten mit den BewohnerInnen neue Möglichkeiten im Stadtteil erschlossen werden

Lange Zeit blieb die Situation ungeklärt, weil von seiten der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf und den Mitarbeitern Bedenken vorhanden waren, zusätzliche Ressourcen zur Begleitung zur Verfügung stellen zu müssen. Außerdem wurde das Vorgehen auch als ein Eingriff in die autonome Alltagsgestaltung der Wohngemeinschaft gesehen. Die anfänglichen Bedenken konnten zwar nicht ausgeräumt, die BewohnerInnen aber für eine Versuchsphase gewonnen werden. Entscheidend dabei war, daß die zwei interessierten Studenten ihre Aktivitäten während "Lückenzeiten" des Wohngemeinschaftsalltags durchführen konnten und ein Studierender eine Bewohnerin aus früheren Zeiten kannte.

Die Erfahrungen haben gezeigt, daß zusätzliche Aktivitäten vor allem am Wochenende möglich sind. Während der Woche lassen der volle Arbeitstag und die gemeinsamen Aktivitäten der Wohngemeinschaft, die auch regelmäßige Außenaktivitäten enthalten, zu wenig Raum für zusätzliche Außenaktivitäten.

Die gemeinsamen Begehungen im Stadtteil haben gezeigt, daß die Vorgehensweise von den beteiligten Bewohnerinnen mit Unterstützungsbedarf gut angenommen werden. Zusammen mit den Beteiligten wurde ein Fotoalbum gekauft, in dem die Fotos eingeklebt, mit Kommentaren versehen und der Verlauf dokumentiert wurde. Es konnten auch neue Aktivitätsfelder, wie z. B. die Nutzung der Bibliothek in Betzingen, erschlossen werden. Diese positiven Erfahrungen haben dazu geführt, daß alle Beteiligten einer Weiterführung offen gegenüberstehen und dieses Angebot für andere BewohnerInnen nach Möglichkeit geöffnet werden soll.

11.3 Bilanz und Perspektiven

Der bisherige Verlauf des Praxisprojekts verdeutlicht, daß die BewohnerInnen gerne dort wohnen und für sich in der Wohngemeinschaft längerfristige Perspektiven und Entwicklungschancen sehen. Es wird nicht ausbleiben, daß persönliche Planungen von einzelnen BewohnerInnen einen Wechsel in der Wohngemeinschaft zufolge haben werden.

Der vorgesehene Wechsel von BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf nach zwei Jahren Wohndauer, erwies sich als unrealistisch. Die Konstanz der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf trägt wesentlich zum Gelingen des Wohngemeinschaftsleben bei. Zwischendurch gab es immer wieder Zeiten, in denen einzelne BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf aus unterschiedlichen Gründen ihr Engagement im Wohngemeinschaftsalltag reduziert haben. Obwohl dieser zeitlich begrenzte Rückzug von der Gemeinschaft aufgefangen wird, scheint das mögliche Scheitern des Zusammenlebens dabei hindurch. In den Gesprächen wird diese Brisanz angesprochen.

Im weiteren Verlauf werden z.B. die in den Gruppengesprächen auftauchenden Fragen zur Verbesserung der materiellen Absicherung der BewohnerInnen und Entlastungs- bzw. Unterstützungsmöglichkeiten im Alltag Gegenstand der Forschung sein.

BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf möchten was bieten können, sich als Teil der Gemeinschaft fühlen und sehen. Die Gastgeberin/der Gastgeber zu sein für einen Fernsehfilm, der im eigenen Zimmer zusammen mit den anderen BewohnerInnen angesehen wird oder den Frühstückstisch zu richten - die Möglichkeiten sind vielfältig in der WG.

Seit den Gesprächen hat sich hier einiges getan. Dabei hat sich z. B. gezeigt, daß die Übertragung von Verantwortlichkeiten und das Sichtbarmachen dieser Übernahme von Gemeinschaftsaufgaben von BewohnerInnen mit Unterstützungsbedarf u.a. ihre Anwesenheit bei den Wohngemeinschaftsbesprechungen notwendig macht.

In einer weiteren Erhebungsphase wird ein wichtiges Augenmerk darauf liegen, wie die Kompetenzen der BewohnerInnen im Alltag zum Tragen kommen und wie die Mitgestaltung bzw. Selbstbestimmung dieser BewohnerInnen weiter gefördert werden kann.

Die Notwendigkeit eines hauptamtlichen Mitarbeiters wird von allen Seiten als Bedingung für diese Wohngemeinschaft angesehen. Allein die zeitlichen Ressourcen der BewohnerInnen ohne Unterstützungsbedarf reichen bei weitem nicht aus, um die organisatorischen und pflegerischen Aufgaben sowie die Betreuungs- und Beratungsaufgaben abzudecken. Im Alltag zeigte sich, daß die Rolle des Hauptamtlichen als Ansprechpartner für alle Bewohner- Innen als Vermittlungsfunktion und Schaltstelle für jeden einzelnen, von innen und außen, entlastend ist.

Im weiteren Verlauf sollen die Aufgaben und Unterstützungsmöglichkeiten des Hauptamtlichen Mitarbeiters beschrieben und im Hinblick auf die Weiterentwicklung der sozialpädagogischen Professionalität untersucht werden.

Die Sichtweisen der Eltern zeigen einerseits die Kompetenzerweiterung, die ihre Töchter und Söhne durch diese spezielle Wohnform erfahren. Andererseits wird aus ihren Beiträgen aber deutlich, wie die nicht abgesicherte Wohnform, also der Versuchscharakter eines Projektmodells und die Angst vor einem möglichen Scheitern, immer präsent ist. Voraussetzung für eine Absicherung und Etablierung des Projekts ist eine Qualitätsbeschreibung, die in der nächsten Phase erarbeitet werden soll.

Bisher nicht aufgenommen in die Prozeßrekonstruktion waren die Träger des Projekts. Im Nachhinein ist das bedauerlich, weil in den Gesprächen doch Themen angesprochen wurden, bei denen die Sichtweise der Träger das Bild vervollständigt hätte. Zwischendurch gab es die Überlegung, ob dazu eine nachträgliche Befragung durchgeführt werden sollte. Die nachträgliche Aufnahme hätte eher den Charakter einer Stellungnahme eingenommen und Draufsicht auf die erfolgten Gespräche beinhaltet. Infolgedessen wäre es nicht möglich gewesen, diese Sichtweisen und Perspektiven neben die anderen zu stellen.

Für die weitere Erhebungsphase ist vorgesehen, den Verlauf des Zusammenwirkens von Selbsthilfe und institutionalisierten Betreuungsformen, hier: von der Elternorganisation und Träger der freien Wohlfahrtspflege, miteinzubeziehen.

Eng verbunden mit der Absicherung des Projekts ist die Frage der Finanzierung. Bei der aktuellen Finanzkrise in der sozialen Arbeit haben es kleinere Organisationseinheiten anscheinend schwerer, mit Rationalisierungsmaßnahmen Kosten einzusparen. Trotzdem tendieren Institutionen zur Zeit dahin, kleinere Einheiten zu bilden, sie aber z. B. in einem Komplex zusammenzufassen, um eine bessere Effektivität der Arbeitskräfte zu erreichen.

Der Wunsch nach Transparenz der Einnahmen und Ausgaben im Wohnprojekt wurde als Tagesordnungspunkt auf dem Konzeptionstag aufgenommen. Eine Auseinandersetzung mit Fragen der Finanzierung und Absicherung des Wohnprojekts soll in der nächsten Phase erfolgen.

In die Zukunft gerichtet, könnten sich finanzielle Ersparnisse bzw. eine kostengünstigere Wohnform langfristig vor allem daraus ergeben, daß die Kompetenz- und Erfahrungserweiterung der BewohnerInnen dazu führen, daß die Begleitungs- und Beratungsaufgaben reduziert werden können. Das bleibt zunächst Spekulation.

Nicht zu übersehen und in ihrer Qualität positiv zu bewerten, sind der Kompetenzzuwachs und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der BewohnerInnen. Sie erhöhen ihre Lebensqualität und ermöglichen ihnen die Teilhabe am sozialen Leben.

Es wird deshalb vor allem auch darauf ankommen, daß diese Wohn- und Lebensform in das Gemeinwesen integriert wird. Die alltäglichen Begegnungen können dazu beitragen, daß Akzeptanz und Toleranz entstehen und dadurch ein selbstbestimmtes Leben auch für BürgerInnen mit Unterstützungsbedarf gefördert wird. Das hätte zur Folge, daß diese Lebensform nicht einfach auf die Kostenfrage reduziert werden könnte, sondern als Lebensqualität im Stadtteil erfahren wird.

Eine nächste Untersuchungsphase soll im Herbst 1998 erfolgen, um die im Bericht aufgezeigten Fragestellungen weiter zu bearbeiten. Der zwischenzeitliche Prozeßverlauf des Wohnprojekts wird aus der Sicht der Beteiligten wieder rekonstruiert und dokumentiert. In einzelnen Gesprächsforen, an denen unterschiedliche Interessengruppen teilnehmen, sollen u.a. die folgenden Fragestellungen bearbeitet werden: Rahmenbedingungen und Standards des Wohnprojekts, Status der BewohnerInnen mit und ohne Unterstützungsbedarf, Weiterentwicklung der sozialpädagogischen Professionalität. Wie im Bericht aufgezeigt wurde, ist noch die entscheidende Frage der Beteiligung von Menschen mit Unterstützungsbedarf gemeinsam weiterzuentwickeln.

Literaturliste

Bauman, Zygmut (1993): Moderne und Ambivalenz, Hamburg

Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. (Hrsg.) (1992): Qualitätsbeurteilung und -entwicklung von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg

Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.(Hrsg.) (1995): Wohnen heißt zu Hause sein - Handbuch für die Praxis gemeindenahen Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg

Doldasinski, J.: Die SIVUS-Methode in: Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., a.a.O.

Egli, J. (1996):Urbanes Wohnen? Leben in der Stadt! Bericht über Integrationsbestrebungen in der Schweiz. In Urbanes Wohnen a.a.0.

Eisenberger, J. u.a. (Hrsg.) (1998): Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg in die Gemeinde. Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis, Berliner Beiträge, Reutlingen

Forner, H. (1996): Urbanes Wohnen für Erwachsene mit schwerer geistigen Behinderung als Herausforderung für einen Berliner Träger. In: Urbanes Wohnen für Erwachsene mit geistiger Behinderung. Herausforderung - Realität - Perspektiven, Reutlingen

Holst, J. (1993): Wohnen und Autonomie von Personen mit geistiger Behinderung. Unveröffentlichter Bericht, Arezzo

Lamnek, S. (1993) Qualitative Sozialforschung, Band 2, Methoden und Techniken, Weinheim; München

Landesarbeitsgemeinschaft Eltern gegen Aussonderung (1985): Überlegungen und Forderungen zur gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung, Reutlingen

Lüpke, K.v. (1994): Nichts Besonderes - Zusammenleben und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderungen, Essen

Lüpke, K.v. Wohnen in einer menschlicheren Stadt. Urbanes Wohnen für Erwachsene mit schwerer geistigen Behinderung. In: Urbanes Wohnen...a.a.O.

Metzler, H.: Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. In: Neue Praxis 5/97

Miles-Paul, Ottmar (1992): Wir sind nicht mehr aufzuhalten. Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung, München

Saal,F. (1996): Warum sollte ich jemand anderes sein wollen, Gütersloh

Sack, R. (1993): Gemeinsam Leben - Konzepte, Erfahrungen und Grenzen integrativer Wohnformen. Unveröffentlichte Magisterarbeit, München

Schönwiese, V. (1994): Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Eltern im Spannungsfeld von Selbstorganisation und professioneller Hilfen (unveröffentl. Manuskript)

Thimm, W. (1994): Leben in Nachbarschaften. Freiburg

Walujo, S. (1989): Die SIVUS-Methode. Hrsg.: Verband evangelischer Einrichtungen für geistig und seelisch Behinderte e.V., Stuttgart

Anhang

Forschungsprojekt

Integrative lebensweltorientierte Wohngemeinschaft für junge Frauen und Männer

mit und ohne Behinderung

Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V.

Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen

Evangelische Fachhochschule für Sozialwesen Reutlingen

Die Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V. und der Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus planen seit ca. 2 Jahren gemeinsam das Projekt:

Integrative lebensweltorientierte Wohngemeinschaft für junge Frauen und Männer mit und ohne Behinderung.

Die konzeptionellen und organisatorischen Voraussetzungen sind so weit abgeschlossen, daß vorbehaltlich der Zustimmung des Kostenträgers das Vorhaben 1996 umgesetzt werden kann. Es soll auf Wunsch der Beteiligten von der Evang. Fachhochschule für Sozialwesen Reutlingen wissenschaftlich begleitet werden.

1. Beschreibung des Vorhabens

1.1 Ausgangssituation

Ausgangspunkt waren Überlegungen von Eltern der Arbeitsgemeinschaft Integration e.V. Reutlingen, für ihre heranwachsenden Kinder mit vorwiegend geistigen Behinderungen Alternativen zu traditionellen Formen des Wohnens (und Arbeitens) außerhalb der Familie zu entwickeln. Einige Möglichkeiten wurden im Vorfeld durchgespielt, ohne daß sich daraus realistische Perspektiven ergeben hätten. In einer weiteren Phase konzentrierten sich die Bemühungen einer Elterngruppe mit Unterstützung von VertreterInnen von lokalen/regionalen Einrichtungen aus dem Wohnbereich auf die Entwicklung eines Konzepts "Wohngemeinschaft mit Elternbeteiligung".

Die Diskussion über dieses Projekt im lokalen Zusammenhang und die Auseinandersetzung über die Erfahrungen der "Wohngemeinschaft Gemeinsam Leben Lernen" in München führten zu einer Weiterentwicklung des Vor-habens. Nach dem gegenwärtigen Stand gehen wir von der Konzeption einer "Integrativen lebensweltorientierten Wohngemeinschaft" mit Unterstützung der Eltern aus.

Das Vorhaben hat sich zwischenzeitlich in Kooperation mit dem Wohngruppenverbund und der Vorstandsebene der Gustav-Werner-Stiftung konkretisiert. Der Wohngruppenverbund stellt ab 1.1.96 vier Plätze für Personen mit einer Behinderung für diese Wohngemeinschaft aus dem Kontingent der vom Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern finanzierten Heimplätze der Stiftung zur Verfügung.

Zur Zeit gibt es eine Gruppe von Eltern, die sich für einen Beginn Anfang 1996 entschlossen haben und weitere Eltern, die an einer zweiten Runde zu einem späteren Zeitpunkt interessiert sind, aber jetzt schon aktiv mitarbeiten.

Auf dieser Basis konkretisieren sich z.Zt. die konzeptionellen Vorstellungen:

Die Wohngemeinschaft soll sich aus jeweils 4 BewohnerInnen mit und ohne Behinderung zusammensetzen.

Die Finanzierung über stationäre Eingliederungshilfe ermöglicht eine angemessene personelle Ausstattung, die im Hinblick auf den Unterstützungsbedarf der einzelnen BewohnerInnen noch genauer zu definieren ist.

Der Wohngruppenverbund unterstützt die Eltern bei der weiteren Planung und der Sicherung der fachlichen Standards.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bemühen sich die Eltern um die Beschaffung der entsprechenden Räumlichkeiten und versuchen, die jungen Erwachsenen mit Behinderungen in die Vorbereitungen einzubeziehen. Im nächsten Schritt sollen die BewohnerInnen ohne Behinderung gesucht werden, um sie möglichst früh an dem Prozeß der Vorbereitung und Durchführung zu beteiligen.

1.2 Ziel des Vorhabens

Ziel ist es, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen, die bisher in der Familie leben, eine Wohn-/Lebenssituation zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, im Zusammenleben mit nichtbehinderten BewohnerInnen ein möglichst hohes Maß an Autonomie in ihrer Lebensbewältigung zu erreichen. Dies soll aber nicht in erster Linie über eine Weiterführung des Erziehungs- und Rehabilitationsanspruchs angestrebt werden, sondern sich im Zusammenleben und der gemeinsamen Gestaltung des Alltags herstellen.

Mit der Verselbständigung der Heranwachsenden soll ein Prozeß der Ablösung vom Elternhaus einhergehen, der es den Eltern ermöglicht, ihr "Kind" loszulassen und die Beziehung zu ihm als erwachsener Person neu zu definieren.

Diese Ziele lassen sich unseres Erachtens unter den Bedingungen einer Wohngemeinschaft, an deren Planung, Organisation und Begleitung sich die Eltern mit beteiligen, sinnvoll angehen. Eine zentrale Position haben allerdings die BewohnerInnen ohne Behinderung, deren Funktion und Status auch im Verhältnis zum hauptamtlichen Personal sehr sorgfältig definiert werden muß. Ihre Beteiligung soll ein integratives Moment ermöglichen und zu einer gewissen Normalisierung der Lebenssituation der BewohnerInnen mit Behinderung beitragen.

Insgesamt wird versucht, sich am "Modell Wohngemeinschaft" und nicht am "Modell Kleinheim" zu orientieren.

Die in Frage kommenden jungen Erwachsenen aus Reutlingen und der Umgebung haben unterschiedliche Formen der Beeinträchtigung und damit auch einen Unterstützungsbedarf, der jeweils individuell festgestellt werden muß. Sie sollen am Ende eines überschaubaren Zeitraumes mit Unterstützung von Fachleuten und ihren Eltern Entscheidungen über ihre weitere Lebensperspektiven in den Bereichen Wohnen und Arbeit treffen können. Wo es sinnvoll und notwendig erscheint, kann die WG auch die Möglichkeit bieten, in der Bezugsgruppe der Personen, die beeinträchtigt sind, auf Dauer zu leben.

1.3 Rahmenbedingungen / organisatorische Voraussetzungen

Räumliche Voraussetzungen:

Geplant ist eine geschlechtsgemischte Gruppe mit 8 BewohnerInnen, von denen vier behindert und vier nicht behindert sind. Sie wohnen in einer großzügigen Wohneinheit, in einem städtischen Wohngebiet, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht erreichbar ist. Wünschenswert wäre eine Umgebung, die vielfältige Möglichkeiten für Begegnungen im sozialen Nahraum und damit ein gewisses Maß an Normalisierung bietet. Diese Kontakte zur Normalität könnte auch durch Einbeziehung von (Freizeit-)Aktivitäten für andere Jugendliche aus dem Stadtgebiet hergestellt werden. Eine Anfrage bei der Stadt über eine Nutzungsmöglichkeit im Rahmen bestehender Planungs- bzw. Bauvorhaben ist erfolgt.

Der Raumbedarf ergibt sich aus der Größe der Gruppe und den gesetzlich notwendigen Aufwendungen (vgl. Heimbaumindestverordnung):

- acht Einzelzimmer

- zwei Sanitärbereiche

- ein Wohn-/Eßzimmer

- eine Küche

- ein Dienstraum

Die Räumlichkeiten sollten möglichst rollstuhlgerecht ausgestattet sein.

Tages- und Wochenablauf:

Wir gehen davon aus, daß die Personen, die behindert sind, tagsüber die Sonderschule bzw. die WfB besuchen oder einen Ausbildungs-/Arbeitsplatz "draußen" haben.

Die BewohnerInnen gestalten den Alltag in der WG gemeinsam und möglichst selbständig. Das gilt für alle Fragen der Haushaltsführung und des Zusammenlebens in der Gruppe. Frühstück und Abendessen sollen in der WG zubereitet und eingenommen werden. BewohnerInnen mit Behinderung werden im Rahmen ihrer Möglichkeiten in alle Planungs- und Arbeitsprozesse einbezogen. Entscheidungen über Hausangelegenheiten, gemeinsame Freizeit- und Urlaubsaktivitäten etc. werden in regelmäßig stattfindenden WG-Versammlungen getroffen. Unterstützung benötigen die BewohnerInnen mit Behinderung vor allem morgens (Aufstehen, Frühstück etc.) und bei der Gestaltung des (Feier)abends. Sie nehmen abends und am Wochenende die lokalen Freizeit- und Bildungsangebote (z.B. BAFF) wahr und verbringen mindestens ein Wochenende im Monat in der Familie. Die notwendige Nachtbereitschaft soll von einer BewohnerIn ohne Behinderung der WG übernommen werden.

1.4 MitbewohnerInnen und hauptamtliches Personal

Die BewohnerInnen ohne Behinderung:

Sie haben für das Konzept eine zentrale Bedeutung. An sie werden im Spannungsfeld zwischen "freundschaftlichem" Zusammenleben und Dienstleistung zum Teil widersprüchliche Anforderungen gestellt. Sie wohnen zur Miete, wobei die erbrachten "Assistenzleistungen" auf den Mietpreis angerechnet werden. Dabei geht es um Begleitung und Unterstützung der BewohnerInnen im Tagesablauf in Zusammenarbeit mit den hauptamtlichen MitarbeiterInnen und den vorgesehenen Zivildienstleistenden/AbsolventInnen des freiwilligen sozialen Jahres. In klar geregelten zeitlichen Phasen werden zum Teil auch Unterstützungsangebote selbständig und verantwortlich übernommen (z.B. Nachtbereitschaft).

Die MitbewohnerInnen ohne Behinderung unterstützen auch Kontakte im Freizeitbereich und in nachbarschaftlichen Zusammenhängen.

Das hauptamtliche Personal:

Das Konzept stellt neuartige Anforderungen an die MitarbeiterInnen: Sie koordinieren und sichern den Ablauf des Alltags und vermitteln in Konfliktsituationen. Sie begleiten die BewohnerInnen mit Behinderung bei der Bewältigung des Alltags, z.B. indem sie ihnen helfen, ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren, um sich aktiv an den Entscheidungsprozessen beteiligen zu können. Sie beraten die BewohnerInnen ohne Behinderung und das nichtpädagogische Personal im Hinblick auf Fragen, die sich aus der Lebenslage Behinderung ergeben. Außerdem stellen sie das Verbindungsglied zu den Eltern dar, indem sie deren Partizipationsmöglichkeiten nutzbar machen und ihren Ablösungsprozeß begleiten.

Der Personalschlüssel ergibt sich aus dem Unterstützungsbedarf der BewohnerInnen, dem Ausmaß der von den nichtbehinderten MitbewohnerInnen leistbaren Unterstützungen und den Möglichkeiten des Pflegesatzes.

Geplant ist die Einbeziehung von nichtpädagogischem Personal - Zivildienstleistenden / freiwilliges soziales Jahr MitarbeiterInnen / Haushaltshilfen.

Es ist daran gedacht, den Personaleinsatz im Rahmen der Möglichkeiten flexibel zu gestalten und im Verlauf des Vorhabens verstärkt Außenkontakte und gemeinwesenorientierte Aktivitäten zu unterstützen.

1.5 Die Elternbeteiligung

Sie hat vor allem in der Planungsphase und im Aufbau der WG einen hohen Stellenwert. Die Eltern treffen sich regelmäßig, um im Gespräch mit den beteiligten Fachleuten die Konzeption weiter zu entwickeln. Gemeinsame Treffen mit den zukünftigen BewohnerInnen dienen dem gegenseitigen Kennenlernen und der Vorbereitung des Zusammenlebens. Dabei soll der Kreis der MitbewohnerInnen möglichst früh einbezogen werden.

Die Eltern übernehmen in Kooperation mit der GWS die Wohnungssuche und die damit verbundenen Verhandlungen mit der Stadt bzw. dem privaten Vermieter. Sie unterstützen die BewohnerInnen bei der Ausstattung der Wohnung und dem Einzug in die neuen Räumlichkeiten.

Der Elternkreis trifft sich auch im weiteren Verlauf des Vorhabens regelmäßig. Neben Fragen, die sich aus der Unterstützung und der kritischen Begleitung der Wohngemeinschaft ergeben, sollen vor allem die Möglichkeiten und Probleme der Ablösung thematisiert werden.

1.6 Finanzierung

Grundsätzlich stehen zwei Finanzierungsmodelle zur Verfügung (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe, Gemeindenahes Wohnen 11/92)

  • Einrichtungen, die gemäß §§ 39,40 Abs. 2, Nr. 6a in Verbindung mit § 100 Bundessozialhilfegesetz vom überörtlichen Sozialhilfeträger als stationäre Eingliederungshilfe im Rahmen eines Pflegesatzes finanziert werden (S.6)

  • Ambulant betreutes Wohnen, z.B. Einzelwohnungen und Wohngemeinschaften vgl. Rechtsanspruch nach § 40 Abs. 1, Nr. 6a auf Eingliederungshilfe beim Wohnen. Diese kann auch als ambulante Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege, § 49 Abs. 2 BSHG (Kosten für Pflegeperson) gewährt werden, verbunden mit Hilfe zum Lebensunterhalt bei Bedürftigkeit (S.7)

Durch das Kooperationsangebot der Gustav-Werner-Stiftung läßt sich die erste Variante realisieren, die aus der Sicht aller Beteiligten mehr Möglichkeiten eröffnet. Durch den ausgehandelten Pflegesatz werden alle Personal- und sachlichen Aufwendungen abgedeckt.

1.7 Kooperationsmöglichkeiten

In der Region gibt es ein differenziertes Angebot von stationären Einrichtungen und Wohngruppen. Im Vorfeld bestanden Kontakte zu MitarbeiterInnen und Leitungskräften aus diesen Einrichtungen, die ihre Erfahrungen und Kompetenzen in die Arbeitsgruppe einbrachten.

Im weiteren Verlauf zeichnete sich die engere Kooperation mit dem Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung ab. Dabei kamen der Elterngruppe die vielfältigen Erfahrungen in der konzeptionellen und praktischen Arbeit der Außenwohngruppen zugute. Daß sich über diese Zusammenarbeit auch die Frage der Finanzierung der Wohnplätze regeln ließ, bestätigte das auf Kooperation angelegte Grundkonzept. Für einige Eltern war die Stiftung als Großeinrichtung auch ein Garant für die Sicherheit und Kontinuität des Vorhabens.

Die weitere Zusammenarbeit zwischen der Arbeitsgemeinschaft Integration und der Gustav-Werner-Stiftung im Hinblick auf die gemeinsame Trägerschaft soll in vertraglicher Form geregelt werden.

Durch ihre jahrelange Arbeit vor Ort verfügt die Arbeitsgemeinschaft Integration über vielfältige Kontakte im Gemeinwesen, die für die Wohngemeinschaft nutzbar gemacht werden können.

Mit der Lebenshilfe e.V. als Träger von Freizeit- und Bildungsangeboten, anderen Vereinen und Einrichtungen, Kirchengemeinden und dem Fachdienst zur beruflichen Eingliederung von Personen mit Behinderungen bestehen Kontakte, die zur Vernetzung der Wohngemeinschaft im Gemeinwesen beitragen können.

Mai 1995

Planungsgruppe der Arbeitsgemeinschaft Integration e.V.

2. Konzeption des Forschungsvorhabens

2.1 Ziele:

Eine Gruppe von Eltern und Fachleuten in der Arbeitsgemeinschaft Integration hat auf der Basis eigener Vorstellungen, den Erfahrungen der Wohngemeinschaft: "Gemeinsam Leben lernen" (vlg. R. Sack München 1991) und Ansätzen lebenswelt-/ gemeinwesenorientierter Arbeit mit Personen mit und ohne Behinderung eine Konzeption für eine

"Integrative lebensweltorientierte Wohngemeinschaft für junge Frauen und Männer mit und ohne Behinderung"

entwickelt. Die Umsetzung und Erprobung dieser Konzeption in Reutlingen soll wissenschaftlich begleitet und dokumentiert werden.

Dabei wird untersucht, inwieweit unter den Bedingungen dieser Wohn- und Lebensform für die Beteiligten neue Handlungs- und Erlebnisoptionen eröffnet werden, wie sie ihren Alltag gestalten und in welchem Maß für Personen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Zusammenwirken von Selbsthilfe und professioneller Unterstützung die Ziele

  • Normalisierug der Lebensbedingungen / Integration

  • Selbstbestimmung / Autonomie

erreicht werden können.

Ein Ausgangspunkt ist der Begriff der Lebensqualität, der als Operationalisierungskonzept des Leitgedankens "Integration und Normalisierung" in der europäischen Fachdiskussion und Praxis wiedr eine zunehmende Bedeutung erhält (vgl. N. Schwarte u.a., 1994, S. 283).

Lebensqualität bezieht sich zunächst auf die objektiven Lebensbedingungen in einem sozialräumlichen Kontext, beinhaltet aber auch gleichzeitig die individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die Individuen einsetzen, um die objektiven Möglichkeiten zu nutzen und mitzugestalten (vgl. W. Schumann u.a., Reutlingen 1993, S. 3).

Unter Berücksichtigung dieser objektiven und subjektiven Aspekte wollen wir die neuen Lebensbedingungen und den Alltag von jungen Männern und Frauen in einer integrativen Wohngemeinschaft beschreiben und analysieren. Entscheidend ist aber auch zu dokumentieren, wie diese ihren Alltag innerhalb und außerhalb der Wohngemeinschaft wahrnehmen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Verlauf des Vorhabens zunehmend selbstbestimmt bewältigen.

Unser Forschungsprojekt geht davon aus, daß die BewohnerInnen mit und ohne Behinderung Akteure ihres Alltags sind und daher die NutzerInnenperspektive alle Ebenen und Phasen des Forschungsprozesses bestimmt.

Die MitarbeiterInnen sollen als ErforscherInnen ihrer eigenen Tätigkeit, die neue Ansprüche an professionelles Handeln stellt, aktiv in den Prozeß einbezogen sein.

Berücksichtigung findet auch die Eltern- und Selbsthilfeperspektive, aus der heraus die Konzeption entwickelt wurde. Hier sollen vor allem Prozesse der Ablösung untersucht und Möglichkeiten der indirekten Unterstützung der Wohngemeinschaft durch die Elterngruppe erfaßt und begleitet werden.

Eine zusätzliche (Forschungs-)Perspektive eröffnet sich in der Kooperation mit einer Großeinrichtung, für die diese Wohnform und die Zusammenarbeit mit einer Elternselbsthilfegruppe einen weiteren Schritt der Öffnung in das Gemeinwesen darstellt.

2.2 Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung / theoretischer Bezugsrahmen

Das oben genannte Konzept der Lebensqualität, im Bereich der Behindertenhilfe der BRD lange ignoriert, wird in jüngster Zeit herangezogen, um die Situation der in Einrichtungen lebenden Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf zu beurteilen. Lebensqualität ist dabei eine erstrebenswerte Zielgröße, die auch maßgeblich von der Qualität der verfügbaren Hilfen abhängig ist. Es sollen daher Standards gefunden werden, die die Lebensqualität in Wohneinrichtungen sicherstellen (vgl. E. Wacker, 1994, S. 268). In Evaluationsstudien werden zur Zeit vor allem die Effektivität sozialer Dienstleistungen z.B. unter dem Aspekt der "Normalisierung der Lebensbedingungen" untersucht. Qualitätsanalysen zielen darauf ab, die Einhaltung fachlicher Standards zu überprüfen (vgl. N. Schwarte u.a., 1994, S. 287).

Auch wenn in diesen Studien die Zusammenhänge zwischen Lebensqualität, Normalisierung und selbstbestimmtem Leben hergestellt werden, bewegen sie sich u.E. doch noch zu stark im Rahmen der bestehenden Versorgungsstrukturen und bleiben damit der "Logik der Institution" verpflichtet.

Zur Verbesserung der Lebensqualität im Bereich Wohnen sehen wir z.B. einen möglichen Zugang in der in Schweden entwickelten SIVUS-Methode ("Soziale und Individuelle Entwicklung durch Zusammenarbeit"), deren Übertragbarkeit auf unser Konzept überprüft werden soll. (Vgl. J. Doldasinski, 1992, S. 137).

Die Selbsthilfebewegung: Eltern gegen Aussonderung, gemeinsam Lebens - gemeinsam Lernen, die auf lokaler Ebene (Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V.), landesweit und bundesweit organisiert ist, fordert die konsequente Nichtaussonderung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensphasen (vgl. LAG Ba-Wü Reutlingen, 1985). Sie hat diese Auseinandersetzung bisher schwerpunktmäßig in den Bereichen Kindergarten und Schule geführt und unterstützt jetzt auch Bestrebungen im Bereich beruflicher Eingliederung und selbstbestimmten Wohnens.

Integration, Normalisierung der Lebensbedingungen und selbstbestimmtes Leben sind für die Selbsthilfebewegung nicht nur Begriffe, die beliebig (aus)genutzt werden können. Sie beinhalten für diese Eltern auch auf dem Hintergrund von Erfahrungen in europäischen Nachbarländern klare Leitvorstellungen und Zielperspektiven, die sozialpolitisch und fachlich umgesetzt werden müssen.

Diese Vorstellungen schlagen sich auch in der Konzeption für die Reutlinger Wohngemeinschaft nieder, unseres Wissens eines der ersten integrativen Wohnprojekte, das aus der organisierten Eltern-Selbsthilfebewegung entstanden ist.

In seinem Buch mit dem programmatischen Titel: "Leben in Nachbarschaften" formuliert W. Thimm (1994) die Forderung nach gemeindeorientierten Hilfen für Menschen mit Behinderungen, die er aus den folgenden "Perspektiven von Normalisierung" entwickelt:

  • Lebenswelt- / Alltagsorientierung

  • Dezentralisierung / Kommunalisierung

  • Beteiligung der Betroffenen / Selbsthilfe / Selbstbestimmung

  • (vgl. W. Thimm 1994, S. 68)

Diese Positionen, mit denen wir weitgehend übereinstimmen, entsprechen auch den Prinzipien, die im 8. Jugendbericht des BMJFG (Bonn 1990) für eine lebensweltorientierte Jugendhilfe entwickelt wurden. Damit wird deutlich, daß sich der Paradigmawechsel - von der Institution zur Lebenswelt - auch im Bereich der Behindertenhilfe (nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Finanzierungsschwierigkeiten) durchsetzt.

Für den Bereich Wohnen stellt Thimm fest, daß zwar in manchen Regionen ein differenziertes Angebot unterschiedlicher Wohnformen vorhanden ist, insgesamt aber "die Angebote an offenen gemeindeorientierten Wohnformen, die sich wenigstens unseren Wohnbedingungen in etwa annähern, um ein Vielfaches vermehrt" werden müssen (Thimm 1994, S. 26).

Ein Credo auf das hier geplante Vorhaben findet sich in: "Nichts Besonderes: Zusammenleben und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderungen" (K.v. Lüpke 1994, S. 25):

"Eine Lebensgemeinschaft, die Menschen mit verschiedensten Stärken und Schwächen, d.h. auch in gegenseitiger Hilfeleistung und vielfältiger Kommunikation verbindet, strahlt Lebensfreude und Menschlichkeit auch auf ihre Nachbarschaft aus."

Ausgehend von seinen Erfahrungen im Behindertenreferat der Evangelischen Kirche in Essen vertritt Lüpke "das Miteinander der Verschiedenen" in allen Bereichen des Gemeinwesens. Seine Ausführungen beinhalten nicht nur die Beschreibung und Reflexion einer bestehenden Praxis, sondern auch ein Stück "Zukunftswerkstatt", wie unter anderem die folgende Passage zeigt:

"Es ist eine Selbstverständlichkeit anzunehmen, daß in ganz normalen Wohnhäusern jeder Stadt auch Menschen mit überdurchschnittlichem Hilfebedarf leben, daß auch sie als Angehörige und Nachbarn, als Passanten und Konsumenten, als Teilnehmer von Veranstaltungen und als Mitbürger dazugehören" (S. 69)

Diese Teilhabe wird aus seiner Sicht durch "persönliche Assistenzleistungen" möglich, die von Angehörigen, Kollegen, Nachbarn im Rahmen ihrer Kommunikation und vor allem durch öffentlich finanzierte mobile Dienste erbracht werden.

Wichtig sind aber auch gemeinwesenorientierte Aktivitäten, die Formen des Zusammenlebens, Gemeinschaftsunternehmen und Projekte entwickeln, "die für viele Verschiedene interessant sind, die von vielen mitgestaltet und mitgenutzt werden können". (S. 113)

Diese realutopischen Vorstellungen sollen aufzeigen, welche Möglichkeiten eine "integrative lebensweltorientierte Wohngemeinschaft" in der Vernetzung mit den vorhandenen Angeboten im nachbarschaftlichen Zusammenhang und in der Gemeinde entwickeln könnte.

Der gegenwärtige sozialwissenschaftliche Diskurs bietet ein breites Spektrum an Bezugspunkten für das Reutlinger Vorhaben. Im nächsten Schritt soll versucht werden, auf diesem Hintergrund Forschungsschwerpunkte und -fragen zu formulieren.

2.3 Forschungsschwerpunkte / -fragestellungen

Das Konzept der Lebensqualität ist in der Verknüpfung von subjektiven Befindlichkeiten, Handlungskompetenzen und objektiven Lebensbedingungen zu operationalisieren. (Vgl. E. Wacker 1994, S. 272).

In unserem Vorhaben werden die objektiven Lebensbedingungen auf der Alltagsebene konstituiert durch

  • die Vorstellung der Beteiligten über Lebensqualität und ihr Verständnis von Behinderung

  • die konzeptionellen Voraussetzungen im Hinblick auf Integration und Lebensweltorientierung

  • die Rahmenbedingungen, z.B. Wohnsituation, materielle Ausstattung und Personalstruktur

Es soll untersucht werden, inwieweit diese Bedingungen neue Erfahrungsdimensionen eröffnen, Selbstbestimmung und Autonomie fördern und wie sie im Alltag gestaltet und weiterentwickelt werden.

Wir gehen davon aus, daß alle BewohnerInnen das Bedürfnis haben, die vorhandenen Ressourcen zu nützen, um die eigenen Lebensbedingungen kontrollieren zu können.

In der Phase des ökologischen Übergangs von der Familie zum Leben in einer Wohngemeinschaft sind subjektive Befindlichkeiten und Handlungskompetenzen bestimmt durch die bisherigen biographischen Erfahrungen. Sie lassen sich für Personen mit geistiger Behinderung pauschal mit der Zuweisung des Status Kind und den damit verbundenen (scheinbaren) Sicherheiten und Abhängigkeiten und ihren Auswirkungen beschreiben.

Dabei sind vor allem auch geschlechtsspezifische Ausprägungen der Fähigkeitsentwicklung zu berücksichtigen. Insgesamt ist davon auszugehen, daß Mädchen/Frauen in allen Lebensphasen einschränkenderen Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind.

Für alle BewohnerInnen wäre nachzuzeichnen, welche (Selbst-)Bilder von Behinderung sie in ihrem Sozialisationsprozeß verinnerlicht haben.

Neben dieser biographischen (vertikalen) Dimension eröffnet die horizontale Dimension der gegenwärtigen Lebenssituation den Blick auf den Alltag, seine Anforderungsstrukturen und die für deren Bewältigung notwendigen Kompetenzen.

Das SIVUS-Modell, auf das hier zur inhaltlichen Bestimmung und Strukturierung des Vorhabens Bezug genommen werden soll, geht von vier Grundfähigkeiten aus, die im Zusammenleben gefördert werden:

Soziale Fähigkeit, Planungs-, Arbeits- u. Auswertungsfähigkeit.

Die Entwicklung in (Wohn-)Gruppen vollzieht sich dabei in fünf Phasen (die individuelle Phase, die Paar-, die Gruppen-, die Intergruppenphase und die gesellschaftliche Phase.

In diesen Entwicklungsphasen, die sich individuell verlagern und überschneiden können, erweitert sich die Handlungsfähigkeit und der Grad der Unabhängigkeit der BewohnerInnen (mit Behinderung) in drei Stufen:

  1. Lernen durch Beobachtung, Anleitung und beträchtliche Hilfen

  2. Zurechtkommen im Alltag mit wenig Anleitung und Hilfen

  3. Selbständig, ohne Hilfen zurechtzukommen

(Vgl. J. Doldasinski, S. 145)

Auf der Folie dieses idealtypischen Modells, dessen letzte Stufe im Verlauf des Projekts sicher nur mit Einschränkungen zu erreichen ist, sehen wir zur Zeit folgende Untersuchungsschwerpunkte, die im weiteren Verlauf ausdifferenziert bzw. entsprechend modifiziert werden müßten.

  • Der Stand und die Entwicklung der individuellen Befindlichkeiten und Kompetenzen bei den einzelnen jungen Frauen und Männern und ihr jeweiliger Beitrag zur Gestaltung des Alltags in der Wohngemeinschaft.

  • Die Entwicklung der Beziehungs- und Handlungsmuster in ausgewählten alltäglichen Interaktionssituationen.

  • Die Möglichkeiten der Unterstützung von Selbstbestimmung und Verselbständigung der BewohnerInnen durch die hauptamtliche Begleitung/Zurückhaltung.

  • Der Zusammenhang zwischen der Ablösung von Eltern und die Erweiterung der Autonomie durch die

  • Möglichkeit selbstbestimmten Lebens/Wohnens.

  • Entwicklungsprozesse in anderen Lebensbereichen, insbesondere freizeitorientierte Aktivitäten im Wohnumfeld und Möglichkeiten der Teilhabe am (öffentlichen) Leben des Gemeinwesens.

Entscheidend ist vor allem, daß die BewohnerInnen und die anderen Beteiligten auch im Forschungsprozeß als aktiv Handelnde in Erscheinung treten und in die Interpretation und Auswertung der Daten mit einbezogen werden.

2.4 Methoden

Die Methodenauswahl entspricht den komplexen Zusammenhängen von Persönlichkeitsenwicklung und Interaktionsprozessen zwischen den beteiligen Individuen und Gruppen auf dem Hintergrund der objektiven Rahmenbedingungen des Vorhabens.

Dabei gehen wir von einer phänomenologisch-beschreibenden und kritisch-verstehenden Lebensweltanalyse aus, die objektive und subjektive Sichtweisen miteinander verbindet (vgl. Schumann u.a. 1993). Im Vordergrund dieses eher qualitativen Vorgehens stehen teilnehmende Beobachtung (mit Videodokumentation), Interviews, biografische Methoden und Fallstudien (vgl. S. Lamnek 1993 2.A.)

Quantitative Ansätze kommen vom Untersuchungsgegenstand, aber auch von unserem Forschungsverständnis her, nur sehr eingeschränkt in Frage.

Wir verzichten hier auf eine ausführliche Beschreibung des Instrumentariums, verweisen aber noch auf einige kritische Punkte:

Entscheidend wird es sein, geeignete Möglichkeiten und Kommunikationsformen zu entwikeln, die den eingeschränkten verbalen Fähigkeiten von Personen mit einer geistigen Behinderung entsprechen.

Die "peoples first-Bewegung" in England hat z.T. Formen entwickelt, die eine symmetrische, nicht-hierarchische Kommunikation erleichtern. So sollen etwa geschriebene Worte durch Symbole oder Bilder ersetzt werden (vgl. E.Knust-Potter 1994). In Dänemark lernen Personen mit einer geistigen Behinderung in der Umsetzung des Anspruchs auf selbstbestimmtes Leben ihre Bedürfnisse und Interessen mit der Videokamera auszudrücken (vgl. J.Holst 1993). Solche Möglichkeiten müssen sowohl bei der Erhebung der Daten, als auch bei der gemeinsamen Interpretation und Auswertung genutzt und weiterentwickelt werden.

Auswertungen sollen u.a. auf der Basis des von M. Kieper entwickelten Verfahrens zur subjektiven Strukturierung individueller Lebenswelten" erfolgen. (Vgl. S. Bargfrede u.a. (Hrsg.) 1995). Dieses interpretative Vorgehen ermöglicht, die subjektiven Deutungen der befragten Personen auf der "Folie objektiver Gegebenheiten" zu erkennen.

Die Forschung findet zum großen Teil in dem sensiblen Bereich alltäglicher Interaktion statt, die unmittelbare Nähe zum Alltag eröffnet viele Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung, schafft aber auch Probleme im Hinblick auf den berechtigten Schutz der Privatsphäre der BewohnerInnen mit und ohne Behinderungen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Privatsphäre und der individuelle Datenschutz in allen Phasen des Forschungsprozesses gesichert sein muß. Die Grenzen sollten zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden.

Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, daß in dem geplanten Vorhaben Konflikte zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen der Beteiligten auf der strukturellen und persönlichen Ebene angelegt sind. Dies macht unseres Erachtens eine Begleitung durch externe Supervision sinnvoll.

Um die Durchführung des Vorhabens und den Forschungsprozeß von "außen" zu begleiten, scheint die Schaffung eines Projektbeirates im Rahmen des lokalen fachlich - politischen Kontexts sinnvoll.

In der Erweiterung der bestehenden Planungsgruppe denken wir z.B. an jeweils eine(n) VertreterIn der Arbeitsgemeinschaft Integration e.V., der Gustav-Werner-Stiftung, der Lebenshilfe e.V., des Landkreises, der Stadt Reutlingen und des Finanzgebers. Im Hinblick auf eine mögliche Implementierung des Modells, wäre auch eine Vertretung der relevanten Organisationen und Verwaltungsinstanzen auf Landesebene denkbar

2.5 Zeitplan der Projektdurchführung / Organisationsdiagramm

Der zeitliche Ablauf des Projekts orientiert sich an den ausgewiesenen Forschungsschwerpunkten und den idealtypischen Entwicklungsphasen des SIVUS-Modells. Dabei verlagern und überschneiden sich die einzelnen Dimensionen über die dreijährige Laufzeit hinweg (vgl. Organisationsdiagramm).

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt zeichnen sich folgende Projektphasen ab:

  • 1994 - 1995 Vorlaufphase:

Sie war gekennzeichnet durch die Erarbeitung einer Konzeption in Kooperation mit den beteiligten Institutionen/Organisationen vor Ort, der Abklärung der Finanzierung, der Planung und der ersten Schritte der Umsetzung des Vorhabens.

  • 1995 Vorbereitungsphase:

Die Begleitforschung sollte (ca. 3 Monate) vor Beginn des Praxisprojekts etabliert sein. Ihre Aufgaben in dieser Phase wären u.a. die Begleitung und Dokumentation der Vorbereitungen, die Weiterentwicklung/Konkretisierung der Forschungskonzeption und des -Instrumentariums, die Abklärung des Rollenverständnisses in Kooperation mit den Beteiligten.

  • 1996 Projektphase 1:

Fortsetzung der Aufgaben der Vorbereitungsphase.

Aufarbeitung der biografischen Dimension der BewohnerInnen.

Bestandsaufnahme der kommunikativen Fähigkeit und (Welt-) Bilder der Beteiligten und der Möglichkeiten der BewohnerInnen mit Behinderung sich allein bzw. mit einer anderen Person zusammen in der Wohngemeinschaft selbständig bewegen und handeln zu lernen (vgl. erste und zweite Entwicklungsphase, SIVUS).

Die Interventionsmöglichkeiten der professionellen Begleitung und der Ablösungsprozeß der Eltern sollen im Hinblick auf ihre Auswirkungen beschrieben und analysiert werden.

  • 1997 Projektphase 2:

Während in der ersten Phase die individuelle Entwicklung im Vordergrund steht, sollen in der "Gruppenphase" (3. Entwicklungsphase, SIVUS) die Interaktionsprozesse und die Auseinandersetzung mit anderen Personen beschrieben und analysiert werden. Dies gilt für die Gruppe der BewohnerInnen mit und ohne Behinderung, jeweils auch untereinander, aber auch für die pädagogische Begleitung und ihre Möglichkeiten, Interaktionsprozesse im Sinne selbstbestimmten Lebens zu unterstützen.

Der Prozeß der Ablösung von den Eltern soll weiter begleitet und dokumentiert werden. Am Ende dieser Phase könnte eine Einschätzung der objektiven Bedingungen im Sinne einer Zwischenauswertung mit den Beteiligten in der Wohngemeinschaft und den Eltern erfolgen.

  • 1998 Projektphase 3:

Weiterführung der in den vorherigen Phasen beschriebenen individuellen und gruppenbezogenen Prozesse und des Zusammenwirkens der verschiedenen Beteiligten. Verstärkte Berücksichtigung der Freizeitaktivitäten außerhalb der Gruppe, Möglichkeiten der Teilhabe am (gesellschaftlichen) Leben im Wohnumfeld und in der Gemeinde.

Überprüfung der Entwicklung des Personaleinsatzes, evtl. Verlagerung hauptamtlicher Ressourcen auf das Gemeinwesen.

Abschließende Darstellung und Auswertung der Ergebnisse auf dem Hintergrund der theoretischen und praktischen Entwicklungen in der Bundesrepublik. Vorgesehen ist ein Abschlußbericht, dessen Ergebnisse auf einer landes-/bundesweiten Tagung dargestellt und diskutiert werden sollen.

Literaturhinweise:

Bargfrede, S. u.a.: Geistig behinderte Menschen mit Kindern - unveröffentlichter Zwischenbericht, Bremen 1995

BMJFG (Hrsg.): Achter Jugendbericht, Bonn 1990

Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. (Hrsg.): Qualitätsbeurteilung und -entwicklung von Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg 1992

Doldasinski, J.: Die SIVUS-Methode in: Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., a.a.O.

Holst, J.: Wohnen und Autonomie von Personen mit geistiger Behinderung. Unveröffentlichter Bericht, Arezzo 1993

Knust-Potter, E.: "We can change the future", in: Geistige Behinderung 4/94

Lamnek, S.: Qualitative Sozialforschung, Beltz 19932

Lüpke, K.v.: Nichts Besonderes - Zusammenleben und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderungen, Essen 1994

Landesarbeitsgemeinschaft Eltern gegen Aussonderung. Überlegungen und Forderungen zur gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung, Reutlingen 1985

Sack, R.: Gemeinsam Leben - Konzepte, Erfahrungen und Grenzen integrativer Wohnformen. Unveröffentlichte Magisterarbeit, München 1993

Schön, E.: Frauen und Männer mit geistiger Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Reutlingen 1993

Schumann, W. u.a.: Kinderalltag und Lebensqualität in einem Reutlinger Stadtgebiet. Unveröffentlichte Beschreibung eines Forschungsvorhabens, Reutlingen 1993

Schwarte, N. u.a.: Indikatoren für Lebensqualität in Wohnstätten für Erwachsene mit geistiger Behinderung, in: Geistige Behinderung 4/94

Thimm, W.: Leben in Nachbarschaften. Freiburg 1994

Wacker, E.: Qualitätssicherung in der sozialwissenschaftlichen Diskussion, in: Geistige Behinderung 4/94

Walujo, S.: Die SIVUS-Methode. Hrsg.: Verband evangelischer Einrichtungen für geistig und seelisch Behinderte e.V., Stuttgart 1989

Adressen:

Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V.

Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen

Evangelische Fachhochschule für Sozialwesen Reutlingen

Jo Jerg

Richard-Wagner-Str.11

72800 Eningen

07121/88588

Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V.

Ringelbachstraße 195

72762 Reutlingen

Tel.:07121/210118

Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung

zum Bruderhaus Reutlingen

Burgstraße 2

72764 Reutlingen

Tel.: 07121/345336

Ev. Fachhochschule für Sozialwesen Reutlingen

Ringelbachstraße 221

72762 Reutlingen

Tel. 07121/241425

Wissenschaftliche Begleitforschung

Jo Jerg, Dipl.Pädagoge

Projektleitung

Prof. Dr. Werner Schumann

Prof. Dr. Peter Seiberth

Auftraggeber

Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V.

Wohngruppenverbund der Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus Reutlingen

Evangelische Fachhochschule für Sozialwesen Reutlingen

Quelle:

Jo Jerg: Koi Wunder: Erste Erfahrungen in einer integrativen, lebensweltorientierten Wohngemeinschaft

Erschienen in: Bericht einer Wissenschaftlichen Begleitung im Auftrag von der Arbeitsgemeinschaft Integration Reutlingen e.V.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.08.2006

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