Projekt Bo(d)yzone: Jungensichten - Körperbilder

Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik

Textsorte: Broschüre
Releaseinfo: erschienen in: Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm
Copyright: © Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger 2007

Projekt Bo(d)yzone: Jungensichten - Körperbilder[1]

Die sieben Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik sind inhaltliche Bausteine eines aktuellen Praxisforschungsprojektes. Die folgende Einleitung gibt Auskunft über Zielgruppe und Zielsetzung des Projekts sowie über Einsatzmöglichkeiten der Basistexte.

Logo: Bodyzone

Kontext der Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik

Bo(d)yzone ist ein Projekt für Jungen mit nicht zuletzt unterschiedlichen Beeinträchtigungen im Alterspektrum von 12 bis 17 Jahren in Baden-Württemberg (insbesondere in den beiden Projektregionen Tübingen/Reutlingen und Stuttgart/Ludwigsburg). Darüber hinaus wendet sich das Projekt auch an die jeweiligen Kontakt- und Schlüsselpersonen bzw. an die Institutionen, die das Lebensumfeld der Jungen strukturieren. Unabhängig von gesetzlichen Zuständigkeiten und Abgrenzungskriterien verbindet die Lebenslage "Behinderung" und ein damit zusammenhängender Assistenzbedarf die Teilnehmer. Durchgeführt werden entsprechend differenzierte Aktivitäten mit Jungen, die Assistenz erhalten - in oder von Einrichtungen für lernbehinderte oder für geistig behinderte und/oder für körperbehinderte Menschen -, insbesondere aber auch die Arbeit mit inklusiven Gruppen.

Das Projekt " Bo(d)yzone: Jungensichten - Körperbilder" soll durch einen ressourcenorientierten Ansatz beitragen zur Realisierung von mehr und besseren Selbstbestimmungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für Jungen, die sich in den Bezugssystemen der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe bewegen. Es zielt auf Entwicklungen und Veränderungen auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene:

  • Auf der individuellen Ebene sollen für und mit Jungen mit Assistenzbedarf bzw. für und mit benachteiligte(n) Jungen über einen körperbezogenen Zugang Möglichkeiten der Selbstthematisierung als Beitrag zur Selbstbemächtigung erschlossen werden. Aus Jungensicht soll es darum gehen, zu entdecken, "was (sonst noch) alles in mir steckt" und was sich (auch) körperlich ausdrückt oder ausdrücken lässt - oder am Thema Körper entlang gut thematisieren lässt.

  • Auf der institutionellen Ebene soll das Projekt beitragen zur Implementierung eines ressourcenorientierten und differenzierten (und deshalb u.a. geschlechtsbezogenen) Diagnose- und Handlungsinstrumentariums in der Behinderten- und Jugendhilfe. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen ebenso wie für andere Bezugspersonen Möglichkeiten erschlossen werden, solche Potenziale durch eine Annäherung an Jungensichten zu entdecken. Wenn diese Annäherung gelingt und wenn sich die methodischen Schritte des Annäherns konzeptionell verankern lassen, dann können sich auf der institutionellen Ebene neue, emanzipatorische Kommunikations- und Handlungswege eröffnen.

  • Auf der überinstitutionellen, gesellschaftlichen Ebene zielt "Jungensichten - Körperbilder" einerseits auf eine Erweiterung des Spektrums von Bildern eines gelingenden Jungeseins, wie es eine jungenpädagogische Forschung und Praxis in jüngster Zeit zu entwickeln und entfalten versucht (vgl. u. a. Winter/Neubauer). Andererseits soll das Projekt beitragen zu einer Verringerung gesellschaftlicher Barrieren für Jungen in betreuten und benachteiligten Lebenslagen - nicht zuletzt auch dadurch, dass es institutionelle Grenzen durchlässiger machen will. Die Zusammenführung von Erkenntnissen aus jungenpädagogischer Forschung einerseits und Integrationsforschung andererseits im Praxisprojekt "Jungensichten - Körperbilder" soll Wege erkunden zu mehr Selbstbestimmung.

Zum Einsatz der Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik

Die Bo(d)yzone-Basistexte sind aus der inhaltlichen Diskussion des im gewissen Sinn inter-disziplinären Projektteams heraus entstanden; sie versuchen, die fachlichen Fragestellungen innerhalb des Projekthorizonts pointiert zusammenzufassen und für die Projektarbeit nutzbar zu machen: als Hintergrund für die Praxis, als Fundierung für Praxisreflexion und Praxisentwicklung sowie zur Orientierung für die Evaluation.

(Jo Jerg)

Die Bo(d)yzone-Basistexte sind in erster Linie Arbeitspapiere, die vielleicht auch für andere nützlich sein können. Eine Verdichtung erfahren sie jeweils in einigen Eingangsthesen, die sich auch als Gesprächs- und Diskussionsanregung eignen. Danach folgt der eigentliche Text, der vor allem flüssig zu lesen und nicht mit zu vielen Verweisen und Belegen versehen sein sollte. Am Ende finden sich ein paar ausgewählte Literaturhinweise. Eine ausführliche Literaturliste findet sich unter www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm.

Nach unserer bisherigen Projekterfahrung geht das Interesse der fachlich am Projekt beteiligten Kooperationspartner vor allem in zwei Richtungen. Zum einen wird nach einer gelingenden geschlechterpädagogischen Praxis gefragt, die auch Jungen mit Behinderungserfahrungen gerecht wird - z.B. als Suche nach guten jungenpädagogischen Methoden, beispielhaften zielgruppenspezifischen Projekten usw. Im Idealfall lassen sich dabei jungenpädagogische und inklusionsorientierte Zugänge verbinden. Zum anderen geht es immer wieder noch (und oft eher verdeckt) um die theoretisch-konzeptionelle Frage, ob, was, wie und wo Unterschiede zwischen "normal" und "behindert" sind, mit welchem Recht und mit welcher fachlichen Begründung von einem eigenen Feld gesprochen werden kann, ob Inklusion un-realistisch ist oder ob auf besondernde Differenzierungsthemen tendenziell nicht ganz verzichtet werden sollte. Für die Praxis erscheint es nicht ganz einfach zu sein, sich zwischen den Polen "Gleichheit" und "Differenz" einzupendeln, ohne relativ harte kategoriale Unterscheidungen zu treffen, die in ihren Zugängen tendenziell auf Segregation hinauslaufen: "Mit behinderten Jungen geht das nicht, da läuft es ganz anders." oder "Für behinderte Jungen braucht es andere Rahmenbedingungen und ganz eigene Methoden."

In diesem Klärungsprozess kommt als zusätzliche Herausforderung die Leitlinie des Projekts nach einer geschlechtsspezifischen und inklusiven Thematisierung von Körperlichkeit jenseits negativ konnotierter Bereiche (problematische Sexualität, Hygiene, Gewalt usw.) dazu. Im gewissen Sinn geht es uns auch um einen "barrierefreien" Diskurs zwischen Jugendhilfe und Behindertenhilfe. Er geht von der Leitidee aus, dass Junge- und Mannsein gelingen kann, und nimmt Kompetenzen und Ressourcen von allen Jungen in den Blick. Das braucht Sensibilität und Akzeptanz für die vielfältigen Lebenslagen von Jungen jenseits institutioneller Zuordnungen und ein neues fachliches Netz. Dabei sind fördernde und hemmende Faktoren einer inklusionsorientierten Jungenpädagogik herauszuarbeiten.

Wir freuen uns, wenn unsere Basistexte hier einen Beitrag dazu leisten können, dass ein Diskussions- und Entwicklungsprozess in Gang kommt, und freuen uns über inhaltliche Rückmeldungen und Anregungen.

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Jerg, Jo, Neubauer, Gunter, Sickinger, Harald: Projekt Bo(d)yzone: Jungensichten-Körperbilder. Einführung in die Reihe: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. März 2007.

Tübingen, Reutlingen und Ludwigsburg im Januar 2007

Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger



[1] Träger des Projekts "Jungensichten - Körperbilder" ist der 1995 gegründete Verein PfunzKerle e.V, der vor allem regional mit Jungen und Männern pädagogisch arbeitet. Durchgeführt wird das Projekt in enger Zusammenarbeit mit der Evangelischen Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg (Lehrstuhl Integration/Inklusion von Menschen mit Assistenzbedarf).

INKLUSION - Vom Integrationsgedanken zum Inklusionsverständnis[2] (Jo Jerg)

Grundthesen

  • Inklusion ist zuvorderst ein Menschenrecht und keine Pädagogik. Deshalb sind wir aufgefordert, unsere Angebote an Jungen offen zu gestalten bzw. vorhandene Barrieren für bestimmte Jungen(gruppen) zu reflektieren und zu bearbeiten.

  • Inklusive Jungenpädagogik stellt das, was Jungen verbindet in den Vordergrund - eine Herausforderung, die dem Grundgedanken der Jungenarbeit entgegenkommt.

  • Inklusion fordert Arbeitsweisen und Methoden, die unterschiedliche individuelle Fähigkeiten in ein Angebot einbeziehen können. Dabei sind subkulturelle oder milieuspezifische Aspekte zu berücksichtigen und temporär auch entsprechende Räume für Jungen mit ähnlichen Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.

  • Um die bestehende Versäulung von Angebote für Jungen (z.B. Jugendhilfe, Behindertenhilfe, offene Jugendarbeit, Vereinsangebote etc.) überwinden und inklusive Angebote realisieren zu können ist eine sozialräumliche und gemeinwesenorientierte Orientierung notwendig.

INKLUSION ALS SELBSTVERSTÄNDLICHE TEILHABE

In unseren konzeptionellen Überlegungen ist der Inklusionsgedanke als ein zentraler Baustein unseres Arbeitsverständnisses verankert. Inklusion (= Einschließung, Teilhabe) löst das bisherige Verständnis der Integration ab, das immer in der Gefahr lebt, dass Jungen in besonderen Lebenslagen Anpassungsleistungen bringen müssen, um gleichberechtigt an den Regelstrukturen und -angeboten teilhaben dürfen.

Im Unterschied zu dem bisherigen Konstrukt der Integration, das Wiedereingliederung von Ausgegrenzten ermöglichen soll, setzt Inklusion die selbstverständliche Teilhabe (voraus). Inklusion ist also ein Verständnis, eine Anschauung von Zusammensein und Zusammenleben in der Gesellschaft, bei dem auch die Jungen mit Behinderungserfahrung bzw. ihre Familien selbstverständlich an den täglichen Begegnungsformen teilhaben können und mit ihren Bedürfnissen und Wünschen ernst genommen werden.

Die UNESCO umschreibt 1997 Inklusion folgendermaßen: "Inklusion ist eine Überzeugung, die davon ausgeht, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und in gleicher Weise geachtet und geschätzt werden sollen, so wie es die fundamentalen Menschenrechte verlangen" (In: Gemeinsam leben 1998 :189).

Die Kehrseite der Inklusion ist die Exklusion (die Ausschließung). Inklusion und Exklusion sind zwei Dimensionen, die unauflösbar als zwei Seiten einer Medaille zusammengehören bzw. noch exakter als ein Kontinuum verstanden werden müssen, das ganz unterschiedliche Stadien und Formen von Inklusion und Exklusion beinhalten kann. Sie strukturieren den Alltag der einzelnen Menschen maßgeblich. Wir erfahren dies täglich bei unseren Wegen in die ganz unterschiedlichen Systemen unserer Gesellschaft. Die Frage ist: Wo gehören wir dazu? Wo werden wir ein-bzw. ausgeschlossen? Wo schließen wir uns selbst aus? D. h. Inklusion = Einschliessung, Exklusion = Ausschließung sind in ihrer Bewertung abhängig von der Tatsache, ob z. B. ein Junge Wahlmöglichkeiten hat, sich am Bildungssystem, an der Freizeitkultur etc. zu beteiligen.

Exklusion ist per se nicht negativ. Jeder einzelne von uns kann nur begrenzt an den vorhandenen Gruppen in der Gesellschaft teilhaben. Solange der einzelne Wahlmöglichkeiten hat, selbst entscheiden kann und ihm verschiedene Optionen offen stehen sind die Exklusionsrisiken begrenzt. In unseren Gesellschaftsstrukturen besonders entscheidend für Inklusionsdifferenz bzw. Exklusionsrisiken sind die Bereiche (Aus-)Bildung, Arbeit und Konsum.

(VER-)BINDUNGEN STEHEN IM VORDERGRUND

Ein inklusives Verständnis heißt u. a.:

eine Auflösung der Zwei-Gruppentheorie: hier: behindert -dort: nichtbehindert. Inklusion kennt keine Aufteilung und Spaltung von "Integrierbare Jungen" und "Nicht-integrierbare Jungen". Deshalb müssen alle Jungen mit Unterstützungsbedarf gleichberechtigt wie andere Jungen am gemeinsamen Alltag teilhaben können. Inklusion steht somit für die Akzeptanz von Vielfalt.

Die Folge: Inklusion überwindet somit die Distanz von innen und außen, von entweder/oder und muss wie es Bauman formuliert mit Ambivalenz leben (vgl. Bauman 1992). Ein gemeinsamer Alltag lässt sichtbar auch Zweifel an der Aufteilung von behindert und nichtbehindert erkennen. Inklusion in diesem Sinne heißt auch, dass die Verschiedenheit der Menschen mit Achtung wahrgenommen wird.

Inklusion bedeutet, dass wir unsere öffentlichen Strukturen und Systeme dahingehend ändern, dass sie allen Menschen offen stehen und zugänglich sind - unabhängig vom Assistenzbedarf. Regeleinrichtungen in unserer Gesellschaft wie z. B. Kindergärten, Schulen, Vereine, etc. müssen dahingehend geöffnet und ausgestattet werden, dass sie für Jungen mit Unterstützungsbedarf selbstverständlich zugänglich sind. Der Inklusionsgedanke richtet den Blick auf die Struktur(qualität) statt wie bisher auf die Person. Die Kindergartengruppe, die Schulklasse, die Freizeitgruppe etc. und nicht der "behinderte Junge" rückt ins Blickfeld. Eine zentrale Frage lautet: Was fördern unsere Strukturen? (vgl. Sander 2003). Anders formuliert: Wie können offene Strukturen etabliert werden?

Inklusiv heißt, wie Georg Feuser schon vor 20 Jahren formuliert hat: Wir lernen am gemeinsamen Gegenstand (vgl. Feuser 1984). Was heißt dies konkret? Jeder lernt und tut das, was er kann, mit der Folge, dass z. B. eine Zieldifferenzierung in den Jungenangeboten stattfindet und individualisierte Beteiligungsformen für alle Jungen selbstverständlich sind. An diesen Sichtweisen können wir erkennen: "Behinderung findet sich nicht in, sondern zwischen Menschen statt" (Albrecht 2000: 243). Die selbstverständliche, gemeinsame Alltagsgestaltung von allen Menschen in der Gemeinde stellt nochmals neue Fragen an unsere Grundlagen des Zusammenlebens.

Inklusion ist eine Bauweise, die Verbindungen in Vordergrund stellen möchte. Aussonderung stellt die Trennung in den Vordergrund.

Theoretische Fundamente für diese inklusive Perspektive finden wir in unterschiedlichen Ansätzen. Honneths Begriff der "Anerkennung" (Honneth 1998), Levinas Bild des "Antlitz des Anderen" (Levinas 1995), Baumans Diskurs über den "Fremden" (Bauman 1992), Prengels "Pädagogik der Vielfalt" (Prengel 1993) oder Sennetts Auseinandersetzung mit "Respekt" (Sennett 2002). Sie sind exemplarische Anker für ein Denken in hinterfragenden Kategorien und ambivalenten Strukturen, in Systemen, die keine Eindeutigkeit und einfache Lösungen offerieren.

Inklusion ist immer auch ein gemeinsamer Prozess der Klärung der Beteiligung und Bearbeitung von strukturellen Benachteiligungen. Es ist z.B. in leistungsorientierten Sportangeboten immer die Frage, wie können Jungen, die die erforderlichen bzw. gesetzten Leistungsnormen nicht erbringen (können) trotzdem im Fußballclub ein aktives Mitglied werden? Wie jeder Junge, der ohne definierte Behinderung auch aufgrund seiner fehlenden Leistungsklasse im Sport, im bewertenden Wettbewerbspiel nur die Ersatzbank "drücken" darf, geht es auch darum, Sportangebote so vielfältig zu gestalten, dass jeder sich an einem Angebot beteiligen kann. In ersten Linie kommt es darauf an, dass Vereine spezifische Angebote im Sinne von offenen Zugängen in ihr Programm gleichwertig aufnehmen und somit auch Jungen mit Behinderung die Chance geben, ein Vereinsmitglied zu werden, das in einer Mannschaft mitspielt und auch ein gleichwertiges Mitglied im Verein ist. Eine wichtige Frage dabei ist, wie können Angebote so gestaltet werden, dass die Anerkennung und der Einbezug von Vielfalt als Herausforderung bewertet werden. Die Regeln der Straßenfußballtuniere, in denen gendermainstraiming realisiert wird, indem z.B. die Mannschaften geschlechtsgemischt sein müssen und Tore nur zählen, wenn auch Mädchen daran beteiligt sind, geben dazu ein gutes Beispiel.

Jugendhaus, Jungschar, Jugendgemeinderat oder sonstige Aktivitäten von Vereinen bzw. institutionelle Angebote sind inklusiv ausgerichtet, wenn Optionen der Teilhabe auch für Jungen mit besonderem Assistenzbedarf gegeben sind und der Zugang zu den Angeboten offen und aktiv unterstützt wird. Welche Konsequenzen für die konkrete Arbeit daraus folgen, wird im folgenden Abschnitt erläutert.

INKLUSION UND METHODEN

Viele Angebote der reflektierten Jungenarbeit sind darauf angelegt, sich und andere wahrzunehmen. Dies bietet die Chance für eine inklusive Öffnung. Mann darf dabei aber nicht darüber hinweg sehen, dass inklusive Zugänge nicht ausschließlich Fragen des methodischen Arbeitens sind. Voraussetzung ist die Bereitschaft zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Begegnung von bisher nicht-alltäglichen, fremden Kulturen und ein offenes und flexibles Spiel mit Begegnungs- und Rückzugsräume für Jungengruppen mit ihren subkulturellen Bewältigungsmuster und Lebensstilen. D. h. es kann temporär sinnvoll sein, z. B. Jungen mit Behinderungserfahrung Räume anzubieten, in denen sie ihre Erfahrungen unter sich auszutauschen können, vorausgesetzt sie haben daran Interesse.

Einer inklusiven Jungenarbeit entgegenkommen könnte die Orientierung von Jungen an der Bewältigung von Aufgaben. Unterschiede sind dann nicht entscheidend, wenn in der Gruppe ein gemeinsames Interesse an bzw. Beziehung zu einer Aufgabe / Sache besteht. Dies bietet allen Beteiligten dann die Gelegenheit, ihren individuell möglichen Beitrag zu leisten.

SOZIALRAUMORIENTIERUNG

Die bisherigen Überlegungen einer inklusiven Jungenarbeit stellen auch Fragen an die institutionelle Ausrichtung von Angeboten. Selbstverständliche Teilhabe zu realisieren erfordert Angebote, die eine sozialräumliche Orientierung aufgreifen. Es ist wesentlich einfacher in einem vorhandenen Sozialraum eine Öffnung der Angebote zu erreichen und eine nachhaltige Entwicklung voranzutreiben. (Über-)regionale und einmalig stattfindende inklusive Jungenangebote leiden unter dem hohen Organisationsaufwand und bleiben als ein einmaliges Event in der Regel ohne Anschluss bzw. Weiterführung. Darüber hinaus bietet eine gemeinwesensorientierte, lebensweltorientierte bzw. sozialraumorientierte Ausrichtung von Angeboten die Möglichkeit, die bestehenden Trennungen zwischen Behindertenhilfe, Jugendhilfe, offene Jugendarbeit usw. zu bearbeiten. Dies ist deshalb auch erforderlich, weil die vorhandenen Ressourcen effektiv genutzt werden müssen, um inklusive Angebote auf Dauer verankern zu können.

Literatur

Albrecht, Friedrich 2000: Die Relativität des Begriffes: Behinderungskonzepte in verschiedenen Kulturen. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages vom 20.10.2000 an der Kath. FH Freiburg

Bauman, Zygmunt 1992: Moderne und Ambivalenz. Hamburg Gemeinsam leben 1998: BAG INFO: Integration ist Menschenpflicht. Weinheim. Heft 6/1998, S.187-190.

Feuser, Georg 1984: Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindertagesheim. Ein Zwischenbericht. Bremen

Hinz, Andreas 2004: Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion. In: Schnell, I./Sander, A. (Hrsg.) 2004: Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn

Honneth, Axel 1998: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a/M.

Jerg; Jo 2005: Bausteine und Verbindungen einer inklusiven Baustelle - oder: Ordnung muss sein!? Gedanken zum Aufräumen ohne Auszusondern! In: Barz, M. / Weth, U. 2005: Potentiale Sozialer Arbeit, Stuttgart; S. 113-125

Levinas, Emmanuel 1995: Zwischen uns. Versuche über Denken an den Anderen. München.

Prengel, Annedore 1993: Pädagogik der Vielfalt. Opladen. Schnell, Irmtraut /Sander, Alfred (Hrsg.) 2004: Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn

Sennett, Richard 2002: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Jerg, Jo: Inklusion - Vom Integrationsgedanken zum Inklusionsverständnis. Basistext I aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.



[2] Die folgenden Ausführungen sind eine stark gekürzte, veränderte und z. T. neu gefasste Zusammenfassung aus dem Beitrag: Jerg; Jo 2005: Bausteine und Verbindungen einer inklusiven Baustelle - oder: Ordnung muss sein!? Gedanken zum Aufräumen ohne Auszusondern! In: Barz, M. / Weth, U. 2005: Potentiale Sozialer Arbeit, Stuttgart

Jungen - Jungenpädagogik - Geschlechtlichkeit (Gunter Neubauer)

Grundthesen

  • Jungenpädagogik ist etwas für alle Jungen - ob mit oder ohne Behinderungserfahrung, in pädagogischen Institutionen oder in der Freizeit

  • Jungenpädagogik muss Jungen etwas bringen - worauf sie Lust haben, woran sie Interesse haben

  • Jungenpädagogik muss Jungen verwehrte Zugänge eröffnen - in Bezug auf Bildung, Mobilität, Lebensgestaltung usw.

  • Jungenpädagogik setzt darauf, dass Junge- und Mannsein gelingen kann - im Umgang mit sich selbst, mit anderen und mit den Dingen

  • Jungenpädagogik weiß um die Schwierigkeiten des Junge- und Mannseins und organisiert Unterstützungsangebote - zur Alltags- und Übergangsbewältigung, zur Lebens- und Beziehungsgestaltung usw.

  • Jungenpädagogik eröffnet Möglichkeiten zur Begegnung von Jungen aus unterschiedlichen Lebenswelten und Lebenszusammenhängen

Definition von Jungenpädagogik und Jungenarbeit

Jungenpädagogik meint jegliche geschlechtsbezogene Pädagogik mit Jungen, egal ob sie von Frauen oder Männern oder gemeinsam veranstaltet wird. Geschlechtsbezogen bedeutet dabei, dass die soziale Kategorie Geschlecht bei Zielsetzung, Planung, Durchführung und Auswertung pädagogischer Prozesse durchgängig im Blick ist. Jungenpädagogische Reflexion bezieht sich sowohl auf Angebote "nur für Jungen" als auch auf deren Rollenverhalten und die Prozessdynamik im koedukativen Kontext. Unter Jungenarbeit wird dagegen die geschlechtsbezogene pädagogische Arbeit erwachsener Fachmänner mit Jungen verstanden. Sie geht davon aus, dass das Jungesein als ein besonderes Bündel von Lebenslagen zu verstehen und auf einem geschlechtsbezogenen Hintergrund zu begleiten ist. Dabei sind insbesondere Männer verantwortlich, mit Jungen qualifiziert pädagogisch zu arbeiten. Jungenarbeit orientiert sich zum einen an den Potenzialen des Junge- und Mannseins. Sie braucht deshalb unbedingt Vorstellungen eines gelingenden Jungeseins in der Moderne. Neben dem Bezug auf die Potenziale steht zum anderen die Kritik an problematischen Formen der männlichen Lebensbewältigung im Vordergrund. Jungenarbeit benötigt deshalb ein entsprechendes Problembewusstsein über die Schwierigkeiten des Mannseins und -werdens in der Gegenwart. In der Umsetzung sind dabei Ideen dafür erforderlich, wie Fehlentwicklungen pädagogisch entgegen gewirkt werden kann.

Bezugsrahmen von Jungenpädagogik

Wie Jungenarbeit richtet sich auch Jungenpädagogik insgesamt aus an den Bedürfnissen und an den konkreten Lebenslagen von Jungen. Aus der Perspektive der Adressaten hat sie deshalb viel mit Entdeckungen, Entwicklung, Spaß und Lebensfreude zu tun. Schon aus Gründen der Motivierung ist sie angehalten, für diese Bedürfnisse Angebote und Methoden bereit zu stellen. Die fachliche Perspektive auf die Lebenslage Jungesein ist markiert durch die Dimensionen Körper, Biografie und Soziales Netz (Mikroebene), Institutionen, Jugendkultur und Sozialraum (Mesoebene) sowie Jugendphase, Generation und Gesellschaft (Makroebene). Gelingende Jungenarbeit und Jungenpädagogik berücksichtigen diese Bereiche sowohl methodisch, wie auch von der Seite der Beziehungsangebote und der strukturellen Verankerung her. Damit sich Jungenarbeit etablieren kann, darf sie sich nicht auf die Beziehung zwischen Junge und Jungenarbeiter reduzieren. Auch die Beschränkung auf ein Set besonderer Methoden oder Aktivitäten mit Jungen reicht für eine fachliche Profilierung der Jungenpädagogik nicht aus. Zusammengenommen braucht es vier Bezugs-Ebenen:

  • die Perspektive auf Jungen, ihre Lebenslagen und die praktische geschlechtsbezogene Pädagogik mit ihnen

  • die Perspektive auf die Jungenarbeiter und Jungenpädagoginnen, ihre persönlichen Reflexions-, Entwicklungs- und Weiterbildungsinteressen

  • die Perspektive auf die institutionelle Verankerung und Absicherung von Jungenarbeit und Jungenpädagogik (z.B. in Bezug auf Räume, Konzeptionen und Strukturen)

  • die Perspektive auf eine Jungenpolitik, d.h. die Mitverantwortung für die Bedingungen, unter denen Jungen heute aufwachsen

Zu Geschlechterpädagogik und Geschlechterpolitik gehört heute eine inklusive Perspektive. Im Sinne von Gender Mainstreaming braucht es darüber hinaus ein umfassendes Konzept von Geschlechterpädagogik, in dem auch die Bezüge zwischen Jungenarbeit und Mädchenarbeit bestimmt werden.

Jungenarbeit und Behinderungserfahrung

In Praxiszusammenhängen wird immer wieder thematisiert, dass die Arbeit mit Jungen mit Behinderungserfahrungen anders läuft wie in einer "normalen" Schule oder Jungengruppe. Nicht nur Fachkräften der Behindertenhilfe erscheint sie als etwas Besonderes. Aber wenn Jungenarbeit etwas für alle Jungen ist - ist dann überhaupt eine spezielle Jungenpädagogik für Jungen mit Behinderungserfahrung nötig? Bringen Behinderungserfahrungen wirklich ein anderes Profil in die Jungenarbeit? Wird sie in diesem Kontext anders erlebt, organisiert und ausgeprägt? Im Sinn einer Orientierung an Lebenslagen und Lebenswelten variiert Jungenarbeit stets ihre Ziele, Themen und Methoden. Damit ergeben sich in der Arbeit mit behinderten Jungen keine grundlegend neuen Themen, sondern je nach vorliegenden Behinderungserfahrungen allenfalls bestimmte inhaltliche und methodische Akzente, zum Beispiel:

  • Mobilität: Bewegung, Aktivität, Sport

  • Übergänge: Pubertät und Adoleszenz, Erwachsenwerden, Elternbezüge

  • Autonomie: geschlossene Strukturen und institutionelle Barrieren

  • Beziehungsgestaltung: körperliche Annäherung, Aneignung von Sexualität

  • Kommunikation: inhaltliche Komplexität, Introversion - Extroversion

  • Methodenwahl: adäquate Gestaltung des Tempos und der Rahmenbedingungen

Das sind allerdings Themen, die genauso in vielen anderen Zusammenhängen stehen könnten. Um hier nicht in eine neue Besonderungs-Falle zu geraten, bedarf es nicht zuletzt des gemeinsamen Gesprächs zwischen Jungen und Begleitern und einer intensiven Reflexion der Fachkräfte.

Die Jungen sehen: Behinderungserfahrung und Genderperspektiven

Wie für die Jungenarbeit generell ist es wichtig, dass die Arbeit mit Jungen mit Behinderungserfahrung nicht vor allem als Prävention zu denken und gestalten ist, sondern Zugänge über Selbstdefinition und Wünsche nach Selbstbehauptung aufnimmt. Das bedeutet: Es geht nicht nur um "Sex, Sucht und Gewalt", wobei natürlich allfällig bestehende Gewaltverhältnisse zu thematisieren sind. Wichtiger erscheint dagegen die Einbeziehung von Genderbezügen, die oft nicht wahrgenommen werden, weil "Behinderung" als Hauptkategorie gilt: Man ist behindertes Kind, nicht behinderter Junge - und erscheint damit gleichsam als geschlechtslos. Dazu kommen vielfältige kulturelle Hintergründe: Was wird im Umgang mit behinderten Jungen vorausgesetzt, erwartet, zugestanden, tabuisiert? Ist etwas peinlicher? Wie passt es zu Vorstellungen von Männlichkeit, wenn man sich vermeintlich "nicht" bewegen oder wenn man "nicht" sprechen kann? Entsprechend ist eine Perspektive der Integration notwendig als Blick auf die jeweiligen persönlichen Kompetenzen: Was kann jeder beitragen, damit etwas zum gemeinsamen Erfolg wird? In inklusiven Projekten entsteht eine weitere Auseinandersetzungsebene. Sie bringt "normale" Jungen in Auseinandersetzung mit ihren entsprechenden Vorstellungen und Normalitätserwartungen und umgekehrt. Im Hinundherschwingen zwischen den Kategorien Mensch und Mann, Behinderungserfahrung und Jungesein relativiert sich wohl manches, was zunächst als unterscheidend wahrgenommen wurde, und viele Gemeinsamkeiten sind zu entdecken.

Literaturhinweise

Bentheim, A.May, M./Sturzenhecker, B./Winter, R.: Gender Mainstreaming und Jungenarbeit. Gender Mainstreaming in der Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim und München 2004

King, V./Flaake, K. (Hg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt/New York 2005

Rose, L./Schmauch, U. (Hg.): Jungen - die neuen Verlierer? Auf den Spuren eines öffentlichen Stimmungswechsels. Königstein 2005

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Neubauer, Gunter: Jungen - Jungenpädagogik - Geschlechtlichkeit. Basistext II aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.

Pubertät und Adoleszenz aus jungenpädagogischer Sicht (Harald Sickinger)

Grundthesen

  • Pubertät und Adoleszenz sind Prozesse, die von biologischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen geprägt sind, aber von Jungen darüber hinaus aktiv gestaltet werden.

  • Pubertät und Adoleszenz sind auch interaktive Prozesse, die von strukturellen Rahmenbedingungen mit bestimmt und von Menschen im Umfeld der Jungen mit gestaltet werden.

  • Pubertät und Adoleszenz sind Phasen des Ausprobierens und Experimentierens. Zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben gehört für Jungen hierbei die Entfaltung der eigenen individuellen Persönlichkeit.

  • Eine Hauptaufgabe der pädagogischen Entwicklungsbegleitung von Jungen in der Pubertät ist es, ihnen Experimente zu ermöglichen und sie bei der Überwindung von Entwicklungshindernissen zu unterstützen.

  • Dies gilt in besonderem Maße für Jungen mit Assistenzbedarf, die in ihrer Entwicklung zum erwachsenen Mann behindert werden.

  • Für die produktive Suche nach jeweils individuellen Wegen zum Erwachsenwerden ist eine differenzierte Wahrnehmung der Jungenperspektiven durch Eltern, Angehörige und professionelle Bezugspersonen eine zentrale Voraussetzung.

  • Zum Erwachsenwerden gehört das Erreichen weitgehender -auch körperbezogener -Selbstbestimmung.

  • Zum Gelingen des Erwachsenwerdens von Jungen tragen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit weiblichen und männlichen Bezugspersonen bei.

Unterscheidung und Ineinandergreifen von Pubertät und Adoleszenz

Die Begriffe Pubertät und Adoleszenz werden alltags -sprachlich, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht einheitlich verwendet. Wir verstehen unter Pubertät den Prozess der körperlichen Reifung, der bei Jungen in der Regel ca. zwischen dem 12 und dem 17.Lebensjahr stattfindet (erster Samenerguss, Hoden- und Peniswachstum, Schambehaarung, Bartwuchs, Stimmbruch, Längenwachstum des Körpers etc.).

Mit Adoleszenz meinen wir das Erwachsenwerden, das zwar mit der körperlichen Reifung verwoben ist, sich aber stärker auf psychische und soziale Aspekte bezieht.

Pubertät und Adoleszenz laufen nicht einfach nur ab, sondern werden mehr oder weniger aktiv bewältigt. Jungen gestalten die Anforderungen des Übergangs auf ganz eigene Weise. Sie eignen sich Rollen, neue Lebensfelder, neue Lebensentwürfe an.

Typische Ausdrucksformen dieser Bewältigungsprozesse können z.B. sein:

  • starke Stimmungsschwankungen

  • Schwanken zwischen sehr aktivem und sehr passivem Verhalten

  • Abgrenzungen, Provokationen gegenüber und Infragestellen von Erwachsenen.

Ausprobieren - Orientieren - die eigene Persönlichkeit entfalten

Pubertät und Adoleszenz sind Phasen der Verunsicherung, des Ausprobierens und Experimentierens. Als Ergebnis von oft intensiver Suche und von Bemühungen um Orientierung strukturieren Jungen ihre Innenwelt neu, was häufig auch mit veränderten Verhältnissen zur jeweiligen Außenwelt verbunden ist. Zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben gehört hierbei die Entfaltung des "Eigenen" und ein zentraler Bestandteil dieser Suche nach der individuellen Persönlichkeit ist die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper und manchmal auch der körperbezogene Vergleich mit Anderen.

Interaktive Prozesse

Die Neustrukturierungsprozesse in Pubertät und Adoleszenz werden nicht alleine von den Jungen selbst gestaltet, sondern stehen in enger Wechselwirkung mit dem jeweiligen sozialen Umfeld. Die Menschen im Umfeld der Jungen liefern Orientierungen, bieten Gestaltungsräume (oder auch nicht), sie öffnen die Tür zum Erwachsenwerden (oder halten diese Tür geschlossen) und stehen selbst vor der Aufgabe, ihr Verhältnis zum heranwachsenden Jungen immer wieder neu zu bestimmen. Über das unmittelbare soziale Umfeld hinaus wird der Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein von den jeweiligen Umgebungskulturen und gesellschaftlichen Bedingungen geformt. Dies betrifft psychische und soziale Aspekte ebenso wie körperliche - so korrespondieren beispielsweise Zeitpunkt und Verlauf der körperlichen Reifung mit dem jeweiligen kulturellen Rahmen.

Erwachsen werden (lassen)

Anders als in traditionellen sind in modernen Gesellschaften körperliche Reife und Erwachsenenstatus nicht direkt aneinander gekoppelt. Die sozioökonomische Unabhängigkeit erlangen männliche Jugendliche in der Regel erst, wenn sie schon lange über den Habitus eines Mannes verfügen. Das Selbstbild oszilliert in dieser Phase zwischen Mannsein und Jungesein. Der Bedarf an autonomen -eher erwachsenen Lösungen -steigt, der Zugang zu solchen Lösungsmöglichkeiten bleibt aber häufig (noch) verschlossen (bzw. wird von der sozialen Umwelt nicht zugelassen).

Viele Jungen bzw. Männer mit Assistenzbedarf sind (bzw. werden) gezwungen, dauerhaft in diesem spannungsreichen Zustand zu leben. Sie leben sozusagen als Grenzgänger, die den sozialen Status eines Kindes verlassen haben, denen der Eintritt in die Erwachsenenwelt aber verweigert wird.

Dies hat zur Konsequenz, dass auch persönliche Reifungsprozesse, die mit dem Erwachsenwerden verbunden sind (Zunahme von persönlicher Bewusstheit, Zunahme von Individualität, Möglichkeit des Sich- Entscheidens, Zunahme von Selbständigkeit, Ausbalancieren von individuellen Wünschen und Bedürfnissen einerseits und äußerer Realität andererseits[3]) blockiert werden.

Eine Hauptaufgabe der pädagogischen Entwicklungsbegleitung von Jungen in der Pubertät ist es, ihnen Experimente zu ermöglichen, neue Optionen zu öffnen, vorhandene Optionen offen zu halten und sie bei der Überwindung von Entwicklungshindernissen zu unterstützen, ohne aufdringlich zu werden. Diese Aufgabe bezieht sich auf die Suche nach Wegen zum Erwachsenwerden für alle Jungen. Besonders intensiv sollte dort gesucht werden, wo diese Wege nicht auf den ersten Blick erkennbar und wo Hindernisse zu überwinden sind. Ein solches Hindernis, das hohe Anforderungen an die pädagogische Begleitung und mehr noch an die alltägliche Unterstützung durch das soziale Umfeld stellt, kann z.B. die Diskrepanz zwischen körperlicher und intellektueller Entwicklung von Jungen mit so genannter geistiger Behinderung sein.

Weil Pubertät und Adoleszenz nicht nur die Jungen selbst, sondern auch ihre Bezugspersonen vor oft schwierige Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben stellen, gehören Eltern und professionelle BegleiterInnen neben den Jungen selbst zu den wichtigsten AdressatInnen bei der Entwicklung einer inklusionsorienterten Jungenpädagogik. Für die produktive Suche nach jeweils individuellen Wegen zum Erwachsenwerden ist das differenzierte Wahrnehmen der Jungenperspektiven durch Eltern, Angehörige und professionelle Bezugspersonen eine zentrale Voraussetzung.

Pubertät - Körper -Vielfalt

Die Art und Weise, wie Jungen in der Pubertät ihre körperliche Entwicklung erleben und die Art und Weise, wie sich das jeweilige soziale Umfeld (peergroup und erwachsene Bezugspersonen) auf diese körperliche Entwicklung bezieht, ist für das Selbstbild von großer und oft nachhaltiger Bedeutung.

Ein im pädagogischen Diskurs häufig vernachlässigter Aspekt, der für das Selbstbild und das Handeln von Jungen großes Gewicht haben kann, ist beispielsweise der Zeitpunkt des Beginns der körperlichen Reifung ("Frühentwickler" - "Spätentwickler"). Die angemessene Entwicklungsbegleitung von Jungen setzt eine differenzierte Wahrnehmung dieser und vieler anderer körperbezogener Aspekte voraus: Prozesse (und manchmal Irritation), die einerseits mit der früheren körperlichen Reifung gleichaltriger Mädchen und andererseits mit der großen Varianz in Bezug auf den Entwicklungsgrad innerhalb der gleichaltrigen Jungengruppe zusammenhängen, werden aus diesem Blickwinkel verständlicher. Auch ist die Vielfalt des Jungeseins auf dieser körperbezogenen Ebene gut erkennbar.

Pubertät, Adoleszenz und geschlechtsbezogenes Selbstbild

Wie und was Jungen in ihrer Pubertät erfahren, steht in einem engen Zusammenhang mit der Herausbildung ihrer geschlechtsbezogenen Selbstbilder. Wie sie sich als Mann sehen und ob sie sich überhaupt als Mann sehen (oder z.B. eher als "geschlechtsneutraler Behinderter"), ist nicht zuletzt auch abhängig davon, wie sie von anderen gesehen werden und welche Experimentier-und Orientierungsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen (bzw. zur Verfügung gestellt werden).

In diesem Zusammenhang halten wir Betreuungsettings für sehr wichtig, die einerseits Kontakte zu Frauen herstellen, andererseits aber auch Möglichkeiten zur gleichgeschlechtlichen Identifikation und Abgrenzung in der Auseinandersetzung mit erwachsenen Männern bieten.

Literatur

Deutsches Jugendinstitut (2003). DISKURS Nr 3/2003 Jugendliche Körper: Identitäten und Kulturen. München.

Exner, K.. (1997). Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung. In: Warzecha B.: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik, Hamburg

King, V., Flaake, K. (2005) Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt am Main / New York.

Mertens, W (1996). Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Band 1 und 2, Stuttgart-Berlin-Köln.

Winter, R., Neubauer, G. (1999). Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. In: BZgA (Hrsg.): Wissenschaftliche Grundlagen. Teil 2 -Jugendliche. Fachheftreihe 13.2. Köln.

Walter, J. (Hrsg.) (2005). Sexualität und geistige Behinderung. Heidelberg.

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Sickinger, Harald: Pubertät und Adoleszenz aus jungenpädagogischer Sicht. Basistext III aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.



[3] Vgl.: Wohlhüter, H.: Vom Erwachsenwerden des geistig behinderten Menschen, in: Walter (2005), S. 187 ff.

Assistenz / Behinderungserfahrung (Jo Jerg)

Grundthesen

  • Alle Jungen benötigen Assistenz. Jeder ist auf andere angewiesen, von anderen abhängig. Der Bedarf an Assistenz (Assistenzbedarf) ist somit ein Bindeglied oder eine Gemeinsamkeit zwischen Jungen. Assistenz ist ein Hilfsmittel, um den Gegensatz von Normalität und Behinderung zu dekonstruieren bzw. zu hinterfragen.

  • In der Arbeit mit Jungen/Männer sind der Unabhängigkeitsmythos und die Angst vor der Abhängigkeit zentrale Themen der eigenen Balance. Das Gespräch zwischen Jungen mit und ohne Behinderungserfahrung bietet Chancen, über die eigenen Assistenzbedarfe ins Gespräch zu kommen.

  • Jungen (mit Behinderung) sind Experten in eigener Sache. Sie sind diejenigen, die uns Einblick geben können in eine Welt, in der der Alltag mit dem Stigma der Behinderung bewältigt werden muss. Diesem Expertenbild entspricht auch die Benennung: Jungen mit Behinderungserfahrung, die wir in unserem Projektkontext verwenden. Dabei eröffnen Begegnungen in inklusiven Settings für alle Jungen neue Zugänge zu anderen Bildern von Lebenswelten.

  • Assistenzorientierte Jungenangebote geben Jungen eine Plattform, auf der sie ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre spezifischen Fähigkeiten als Ausgangspunkt für Aktivitäten und Auseinandersetzungen nutzen können.

  • Die JungenpädagogIn/der Jungenpädagoge als Assistentenrolle. Die Jungenpädagogin/der Jungenpädagoge als AssistentIn unterstützt jeden Jungen darin, seine Ressourcen bzw. Möglichkeiten einzusetzen und ermutigt Jungen, neue Entwicklungsfelder zu beschreiten. Als MittlerIn von Interessen achtet sie/er auf demokratische Prozesse bei Machtspielen in Gruppen.

Assistenz / Behinderung - Angewiesensein auf Andere

Assistieren wird als Tätigkeit laut Duden /Herkunftswörterbuch folgend beschrieben: »assistieren "beistehen, unterstützen".....Assistenz: "Beistand, Mithilfe«" (Duden 1997: 48). Der Assistenzbegriff ist an Tätigkeiten gebunden, also nicht direkt in die Personen eingeschrieben (wie z.B. Behinderung) und kann in Folge für eine nicht-stigmatisierende Etikette in Frage kommen.

Wenn sie sich ihren heutigen Tag vergegenwärtigen werden sie feststellen, dass sie auf die Hilfe und Unterstützung eines anderen Menschen angewiesen sind. Jeden Tag benötigen wir die Assistenz anderer, um unseren Lebensalltag und unsere eigenen Vorstellungen des Lebens realisieren zu können. Assistenz ist somit eine Leistung, die wir alle und zwar jede/r von uns benötigt.

Unterschiedlicher Assistenzbedarf

Selbstverständlich müssen wir unterscheiden zwischen Assistenz, die lebenslang oder nur zeitweise benötigt wird bzw. die lebensnotwendig oder Luxus ist: Die Hilfe beim Anziehen im Gegensatz zu der Assistenz bei der Anlageberatung oder der Assistenz, die Leitungspersonen benötigen, um ihre Arbeit gut machen zu können. Deshalb gibt es qualitative und quantitative Unterschiede zwischen dem Assistenzbedarf von Menschen - wir können von "mehr" oder "weniger" bzw. von dieser oder jener Form von Assistenzbedarf sprechen. Hier geht es um die Differenz zu anderen.

Assistenz zu differenzieren heißt anerkennen, dass wir unterschiedliche Hilfsmittel und Dienstleistungen benötigen, um unser Leben zu organisieren. Dies gilt für alle Jungen, auch wenn wir in den gängigen Ordnungslogiken zunächst, die quantitativ selteneren Hilfsmittel und Dienstleistungen bei Jungen in den Vordergrund stellen und sie aufgrund ihrer Differenzen in spezifischen Gruppen ordnen: Jungen mit körperlichen Behinderungen, Jungen mit sogenannten geistigen Behinderungen, Jungen mit seelischen Behinderungen, Jungen mit Hör-, Sprach-, Lern-, Mehrfach- und weiteren Behinderungen. Mit diesen Bezeichnungen der Jungen werden Barrieren bzw. Besonderheiten hervorgehoben, die neben einem negativen Stigma der Behinderung auch die Behinderung den jeweiligen Jungen direkt persönlich zuschreiben. Darüber hinaus verleiten bzw. leiden solche Ordnungssysteme zur/unter Verallgemeinerungen. Was ist eine sogenannte "Geistige Behinderung"? Hier wird bei näherer Betrachtung sichtbar, dass unter diesem Etikett, Jungen subsumiert werden, die sehr unterschiedlich sind und aufgrund dieser Etikettierung in der Regel weit unterschätzt werden. Viele konkrete Beispiele wie u a. der Schriftsteller Georg Paulmichel, die Gruppe Ohrenschmaus, die SchauspielerInnen in "Verrückt nach Paris" -um nur einige zu nennen -zeigen auf, welche Fähigkeiten diese Personen besitzen, wenn sie entdeckt werden bzw. Lebensraum erhalten. Dabei geht es im Einzelnen nicht um vergleichbare Kompetenzen, Fähigkeiten und Leistungen, die aufgrund von körperlichen, kognitiven oder sonstigen Beeinträchtigungen nie erreicht werden können, sondern um die Haltung, für außergewöhnliche Situationen kreative Beteiligungsmöglichkeiten zu suchen.

Der Differenz der einzelnen Jungen offen zu begegnen bedeutet, den einzelnen Jungen mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen zu entdecken und den Assistenzbedarf ohne behinderungsspezifischen Mitleidseffekt wahrzunehmen. Auf diesem Weg wird sichtbar werden, dass die Behinderungen in den Interaktionen oder gesellschaftlichen bzw. strukturellen Barrieren liegen: z. B. haben wir in der Regel keine gemeinsame Körper-Sprache bei Sprach- und Hörunterschieden zur Verfügung oder finden überall Stufen vor, die es Menschen im Rollstuhl nicht ermöglichen, sich selbständig, ohne Assistenz, fortzubewegen.

Assistenz als Bindeglied

Assistenz bietet die Chance, das Verbindende, die Bindungen zwischen Jungen herzustellen. Die bisherige Teilung in NORMalität und Behinderung beruht auf einem Gegensatz, betont die Trennung und stellt eine Distanz her. Auch wenn wir argumentieren können, dass alle Menschen in irgendeiner Form behindert sind bzw. werden, so bleibt durch die defizitäre Definition von Behinderung eine Annahme dieses Begriffes für die Definition der eigenen Lebenswelt und -bewältigung schwierig. Auch die geläufige Argumentation, dass Menschen an der Teilhabe behindert werden und deshalb der Behinderungsbegriff beibehalten werden soll, mag zwar Sinn machen, aber löst nicht die verbreitete negative Verbindung zum Behinderungsbegriff. Die Verwendung des Begriffs Behinderung als Schimpfwort verdeutlicht diesen Sachverhalt. Nicht jede/r möchte sich gern selbst als behindert bezeichnen? Im Gegensatz dazu ermöglicht der Assistenzbegriff eher eine Inbezugnahme / Inbeziehungssetzung mit der eigenen Lebenswelt. Da kann sich jede/r ohne Negativzuschreibung wiederfinden! Der Assistenzbegriff bietet durch die verbindenden und nichtstigmatisierenden Eigenschaften somit eine neue Begriffsqualität.

Behinderungserfahrung und Assistenz als Kompetenz

Es liegt bei dieser Sichtweise nahe, Jungen mit Behinderungen in erster Linie nicht als behinderte Jungen zu sehen, sondern als Experten in eigener Sache. Die Erfahrung mit der Behinderung ist ihre Kompetenz. Der Begriff der Behinderung bekommt durch den Erfahrungsaspekt eine Wendung. Jungen mit Behinderungserfahrung fußt auf diesem Kompetenzgedanken.

Assistenz heißt: Die Definitionsmacht, die Assistenz zu bestimmen und die Assistenzform bzw. die Person zu wählen u. a., liegt bei den Betroffenen, also in unserem Kontext bei den Jungen mit Behinderung. Als Betroffene/r habe ich die Definitionsmacht und biete bzw. erwarte Kooperation, denn ich brauche den anderen. Assistieren kann nur gelingen - und das ist ein Vorteil dieser Begriffswahl - wenn die Kompetenzen der AssistentIn anerkannt werden. Diese Gegenseitigkeit im Arbeitsverhältnis ist v. a. im Kontext der Lebenswelt Behinderung von zentraler Bedeutung, weil die Professionellen gerne dazu neigen die Definitionsmacht der Betroffenen als gegen sich gerichtet zu verstehen. Eine Gegenseitigkeit liegt vor, wenn der Assistent/die Assistentin kompetent auf die Bedürfnisse und Wünsche des Betroffenen eingehen kann. Dann wird der Assistent von den Assistenzgebern Anerkennung erhalten und auch mit seinen Bedürfnissen und Wünschen einen kooperativen Partner haben. Denn: jemand, der kompetent assistiert, wird geschätzt.

Von dem bisherigen Begriff der Betreuung wird Abschied genommen, weil er den Professionellen und Institutionen die Expertenposition zuweist i. S. v. wer betreut werden muss kann nicht für sich sorgen und die Verantwortung für den Alltag und das Handeln der Betreuten wird den Professionellen und Institutionen zugewiesen.

Im konkreten inklusiven Alltag fordert Assistenz eine neue Sichtweise. Der bisherige hilfsbedürftige Junge wird zum Auftraggeber und Partner. Aus der Perspektive der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung (Selbsthilfeorganisation von Menschen mit Behinderungserfahrungen) ist der Assistenzbegriff sehr begrenzt auf die Eigenorganisation von Unterstützung anwendbar. Menschen mit Behinderungserfahrung sind dabei Anstellungsträger bzw. Arbeitgeber. Mit der Bezeichnung "Direkte Assistenz" oder "Persönliche Assistenz" werden Assistenzverhältnisse verbunden, die davon ausgehen, dass der Betroffene alle Kompetenzen eines Arbeitgebers bewältigen kann. Diese Möglichkeit bleibt wenigen Menschen mit Behinderungserfahrung vorenthalten. Die meisten Jungen mit Behinderungserfahrung benötigen Unterstützung bei der Entwicklung eines selbstbestimmten Lebens und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.[4]

Ablösung vom Elternhaus und Assistenzbedarf

Eine wesentliche Aufgabe liegt in dieser Lebensphase (12-17 Jahren) darin, sich von den Eltern zeitweise unabhängig zu bewegen bzw. sich abzulösen. Dazu bedarf es bei den Jungen mit Assistenzbedarf, die Fähigkeit, Assistenz selbständig zu organisieren und den eigenen Ressourcen Raum geben zu können. Jungen mit Behinderungserfahrung benötigen in diesem Prozess besondere Unterstützung und Ermutigung. Im Gegensatz zu vielen anderen Jungen sind sie aufgrund des höheren Assistenzbedarfs, den sehr oft die Eltern leisten, von diesen stärker abhängig und können sich nicht ohne weiteres ablösen.

Interessant in diesem Kontext ist die Erfahrung, dass Jungen mit Behinderungserfahrung, die in alltäglichen Lebenszusammenhängen einer inklusiven Kultur aufwachsen, wesentlich mehr Möglichkeiten haben, Assistenz aus einem "normalen" Umfeld zu organisieren. Sie können oft auf die Assistenz von Freunden rechnen und sind dabei nicht nur auf Zivis, Praktikanten oder sonstiges jugendkulturell-aufgeschlossenes Personal in Einrichtungen angewiesen. Dabei bleibt bisher eine Regel ungebrochen: Je mehr Assistenz ein Junge benötigt, desto geringer sind die Chancen, an den jugendkulturellen Szenen oder inklusiven Angeboten teilzunehmen.

Inklusion und Assistenz

Inklusion ist eine Idee, eine Sichtweise, die strukturelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen herstellt, die wir benötigen, um die Idee der Assistenz als Konzept, als eine Form der individuellen Unterstützung, gewähren zu können. Während Inklusion die Strukturen schafft, dass sich z. B. die Türen für alle Jungen in die Regeleinrichtungen und Vereinen öffnen, ist Assistenz eine Form, wie wir respektvoll, gegenseitig anerkennend miteinander in unserer Verschiedenheit und unterschiedlichen Abhängigkeiten umgehen können. Wir können auch sagen: Inklusion bezieht sich auf das strukturelle Fundament der Gesellschaft, Assistenz auf die Verbindungen zwischen den Menschen (vgl. Jerg 2005).

Assistenz in unterschiedlichen Lebensbereichen

Assistenz bezieht sich auf alle Lebensbereiche, von der Pflege über Bildung, Wohnen usw. bis hin zur Sexualität. Positive Körpererfahrungen, Intimität, Sexualität u. a. sind in den institutionellen und privaten Lebensbereichen von Menschen mit Behinderungserfahrung bis vor 30 bis 40 Jahren ein Bereich der besonderen Tabuisierung gewesen (vgl. Walter 2005:106). Zärtlichkeiten, Partnerschaften, Sex sind Themen, die heute offener verhandelt werden. Doch werden sie Jungen mit Assistenzbedarf von Eltern, MitarbeiterInnen sowie gesellschaftlichen Gruppen nicht immer ohne weiteres zugestanden.

Angebote an Jungen, in denen sowohl körper- als auch lernbezogene Behinderungserfahrungen einbezogen werden, erfordern Methoden, die basierend auf der Entwicklung von Selbstbestimmung barrierearme Zugänge wählen und jedem Junge ein Recht auf Liebe, Zärtlichkeit, Sexualität zugestehen. Im Bezug auf z. B. Jungen mit Lernschwierigkeiten (bisher noch oft bezeichnet als Jungen mit einer so genannten "geistiger Behinderungen") bedarf es an Materialien, die Themen in einfacher Sprache bzw. leichter Sprache[5] oder Bilder präsentieren. Erfahrungen aus inklusiven Fortbildungsveranstaltungen zeigen, dass sich die Mühe um diese leichte Sprache lohnt. Denn: Eine leichte und verständliche Sprache erleichtert nicht nur den Zugang zu den Menschen mit Assistenzbedarf, sondern durch die konkrete und direkte Sprache lernen alle Beteiligten sich zu verständigen und wesentliche Dinge herauszuarbeiten.

Literatur

Jerg, Jo 2005: Assistenz - die Brücke zu den Mitmenschen. In: Geiling, U./Hinz.A. (Hrsg.) 2005: Integrationspädagogik im Diskurs. Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik?. Bad Heilbrunn, S. 135¬138.

Jerg, Jo 2005: Anschlussfähigkeiten. In: Hiller, G., Jauch, P. (Hrsg.) 2005: Akzeptiert als fremd und anders. Pädagogische Beiträge zu einer Kultur des Respekts, Langenau-Ulm, S. 22-29

Mobile - Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. u.a. (Hg.): Selbstbestimmt leben mit persönlicher Assistenz - ein Schulungskonzept für Persönliche AssistentInnen, Band A+B, Dortmund, Köln 2001 Walter, Joachim 2005: Selbstbestimmte Sexualität als Menschenrecht - Standards im Umgang mit der Sexualität behinderter Menschen. In: Jerg, Jo u.a. (Hrsg.) 2005: Selbstbestimmung, Assistenz und Teilhabe, Stuttgart, S. 105-122

Windisch, Matthias 2004: Assistenzorientierung in der sozialen Arbeit mit behinderten Menschen. In: Gemeinsam leben, Weinheim 12(2004)2, S. 64-70

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Jerg, Jo: Assistenz / Behinderungserfahung. Basistext IV aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.



[4] Eine Differenzierung von verschiedenen Assistenzfunktionen hat Matthias Windisch zusammengetragen (siehe Literaturverzeichnis).

[5] Materialien zur leichter Sprache u.a.: Netzwerk People First Deutschland e.V. (Hrg.): Wörterbuch für leichte Sprache, Kassel

Körper und inklusionsorientierte Jungenpädagogik (Harald Sickinger)

Grundthesen

  • Den menschlichen Körper verstehen wir als die materielle Erscheinungsform und die materielle Struktur des Lebens als Ganzes. D.h. es gilt: Ich habe nicht bloß einen Körper, sondern ich bin auch mein Körper.

  • Körperbezogene bzw. körperliche Zugänge schließen im Prinzip niemanden aus. Sie sind geeignet als Zugänge zu allen Jungen und als Basis für inklusives Arbeiten, weil alle Jungen einen Körper haben bzw. auch ihr Körper sind und deshalb auf der körperlichen Ebene gut Verbindungen erschlossen werden können.

  • Der Körper ist eine wichtige vermittelnde Instanz zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Ich und Du. Er zeigt Jungen etwas über sie selbst, er erzählt der Mitwelt über Jungen und Jungen erfahren diese Umwelt durch körperlichen Ausdruck ihrer Bezugspersonen und die Eindrücke ihrer eigenen Körper.

  • Der Körper ist ein zentraler Bezugspunkt für jungenpädagogisches Arbeiten, weil im Jugendalter wichtige Gestaltungsaufgaben für und Interessen von Jungen im Bereich der Körperlichkeit liegen.

  • Gelingendes jungenpädagogisches Arbeiten setzt das Verstehen gelebter Körperlichkeiten und körperbezogener Selbstbilder der jeweiligen Jungen voraus. Dies gilt zuforderst auch für den Aspekt der Gesundheitsförderung.

  • Gelingendes körperbezogenes Arbeiten mit Jungen ist auf Körperbezüge hin orientiert, die die Integration der eigenen, jeweils individuellen körperlichen Voraussetzungen in das Selbstbild ermöglichen.

Was heißt Körper im Rahmen unseres Ansatzes einer inklusionsorientierten Jungenpädagogik?

Mit Körper meinen wir vor allem die Aspekte des Menschseins bzw. des Jungeseins, die den Sinnen zugänglich sind, die man hören kann und/oder riechen, tasten, schmecken, sehen. Aber auch das sinnliche Erlebnis selbst, das Sehen, Schmecken, Tasten, Riechen und Hören ist Körperlichkeit, die wir ins Zentrum unseres Ansatzes stellen wollen.

Gleichwohl ist nach unserem Verständnis alles Körperliche von Emotionen und Gedanken durchzogen. Der Körper reflektiert die persönliche Biografie und den gesellschaftlichen Kontext, in dem wir stehen und uns bewegen.[6] Wir verstehen Körperlichkeit als materielle Struktur und als materielle Erscheinungsform für das Leben als Ganzes, das heißt für uns gilt: Ich habe nicht bloß einen Körper, sondern ich bin auch mein Körper.

Warum ein körperbezogener Zugang?

  • Der Körper beschäftigt Jungen

Ein Ausgangspunkt für unseren Ansatz einer inklusionsorientierten Jungenpädagogik ist die Erfahrung, dass Jungen - unabhängig von eventuellen Beeinträchtigungen - während der Pubertät ein starkes Bedürfnis zur impliziten und / oder expliziten Auseinandersetzung mit Körperlichkeit, insbesondere mit ihrem eigenen Körper und seinen Veränderungen haben.

  • Assistenz ist körperbezogen

Der Körper ist für Jungen das wohl wichtigste Medium zur Artikulation von Hilfsbedürftigkeit und auch die Assistenz selbst ist oft direkt auf den Körper (z.B. Hygiene, Körperpflege) gerichtet.

Für viele Jungen mit Assistenzbedarf ist die Pubertät mit besonderen Bewältigungsleistungen verbunden und der Auseinandersetzung mit dem Körper kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu: Sie nehmen ihre eigenen körperlichen Möglichkeiten bzw. Grenzen und die Reaktionen der sozialen Mitwelt auf ihr körperliches Erscheinungsbild häufig bewusster wahr.[7] Hierzu gehört beispielsweise die Auseinandersetzung damit, dass sich mit dem Übergang vom so genannten "Kindchenschema" zum Habitus eines Erwachsenen die Art und Weise, wie Menschen aus dem Umfeld mit den Jungen umgehen, oft erheblich verändert.

Vor diesem Hintergrund halten wir die Unterstützung von Jungen bei der Entwicklung (oder Bewahrung und Weiterentwicklung) eines positiven Körperbezuges für eine wichtige Aufgabe von Assistenz für Jungen im Pubertätsalter.

  • Der Körper macht vieles verständlich

"...sie können ihre Befindlichkeit und ihre Bedürfnisse durch Blickkontakt, Mimik, Gestik, Lautäußerungen, Lachen und Lächeln, Schreien und Weinen, Atemrhythmus und Muskelspannung zum Ausdruck bringen." [8]

Was häufig - wie bei diesem Zitat - nur in der Bezugnahme auf und im Umgang mit Menschen, die nicht verbal kommunizieren können, bedeutend zu sein scheint, soll im Rahmen inklusionsorientierter Jungenpädagogik für alle Jungen in den Vordergrund gestellt werden: Oft kann ein Lachen, ein Blick oder z.B. auch die Art und Weise des Atmens mehr sagen als viele Worte.

Deshalb sollen Erfahrungen, die beispielsweise in der Assistenz für Jungen mit so genannten Behinderungen gesammelt wurden und werden, auch für Jungen in anderen settings und für ihre Bezugspersonen fruchtbar gemacht werden.

  • Das Körperliche repräsentiert das Einzigartige und das Gemeinsame

Auf der Ebene des konkreten, sinnlich erfahrbaren Körpers ist jeder Mensch, jeder Junge einzigartig - keiner ist wie der andere. Kategoriale Zuschreibungen, wie "behindert" und "nicht behindert", sind nicht sinnlich erfahrbar, sie werden mit Hilfe von Abstraktionen konstruiert.

Insofern eignen sich körperliche Zugänge in besonderer Weise als mögliche Zugänge zu einem produktiven Umgang mit Verschiedenheit. Produktiv wird dieser Umgang aber erst durch das Verbindende, das die körperliche Ebene bei aller individuellen Unterschiedlichkeit herstellt: Alle Jungen sind auch Körper.

Damit schließt der körperbezogene bzw. körperliche Zugang niemanden aus. Er ist geeignet als Zugang zu allen Jungen und als Basis für inklusives Arbeiten.

Körperbezogene Zugänge von wem zu was?

  • Zugänge der Umwelt zu Jungen und Zugänge von Jungen zur Umwelt

Wir verstehen körperbezogene Kommunikation nicht als Einbahnstraße, sondern als interaktiven Prozess: Unser Ansatz soll einerseits Bezugspersonen Zugänge zu einem besseren Verständnis von Jungen ermöglichen. Andererseits sollen Jungen mit dem Körper als Medium neue Wege zum Verständnis ihrer Umwelt finden können.

  • Zugänge von Jungen zu sich selbst

Neben dem kommunikativen Aspekt, den Zugängen zu anderen, soll dem Aspekt der Selbstwahrnehmung großes Gewicht gegeben werden. Selbstwahrnehmung kann viele Facetten haben: Die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Botschaften, Das Spüren der eigenen Möglichkeiten und Grenzen, in Kontakt kommen mit den eigenen Gefühlen, mit der eigenen Lebensgeschichte durch das körperliche "Profil", das von dieser Geschichte geformt wurde...

Was für ein Zugang?

  • Auf Verständnis und Verständigung hin orientiert

Die Suche nach körperbezogenen Zugängen ist orientiert an der Erweiterung von Verständnis- und Verständigungsmöglichkeiten zwischen Jungen und ihren Bezugspersonen. Erschlossen werden sollen die Zugänge einerseits von der Präsentationsseite aus (Entwicklung von körperlichen und körperbezogenen Präsentationsformen) und andererseits an der Wahrnehmungsseite ansetzend. Letzteres schließt beispielsweise den Versuch ein, Körpersprache besser "lesen" zu lernen (was u. a. das "Eintauchen" der "LeserInnen" in die eigene Körperlichkeit und deren Reflexion voraussetzt).

  • Auf Selbstthematisierung und Selbstbestimmung hin orientiert

Körperbezogene inklusionsorientierte Jungenpädagogik gibt Jungen die Möglichkeit, sich selbst -ihre eigene Körperlichkeit -zum Thema zu machen und ihre eigenen Bedürfnissen und Interessen zu formulieren. Insbesondere für Jungen mit Assistenzbedarf kann dies eine besondere Herausforderung darstellen: So erschwert möglicherweise die gewohnte Erfahrung von Körperkontakten im Rahmen von Assistenz bei der Körperpflege das selbstbestimmte Entscheiden über körperliche Nähe oder Distanz.

Viele Menschen mit Beeinträchtigungen erfahren ihren Körper in oft lang anhaltenden oder häufig wiederkehrenden medizinischen Behandlungen als "öffentlichen Körper", manche sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer "Enteignung" ihres Körpers. Gerade auch auf diesem Hintergrund soll bewusst nach Zugängen gesucht werden, die den Prozess der Selbstbemächtigung stärken.

  • Auf gelingende Körperbezüge hin orientiert

Ziel aller körperbezogenen und körperlichen Verständigungsprozesse ist es, dass Jungen sich wohl fühlen "in ihrer Haut". Zu einem gelingenden Körperbezug gehört nach unserer Auffassung auch, dass die eigenen, jeweils individuellen körperlichen Voraussetzungen in das Selbstbild integriert, als Teil des Selbst akzeptiert werden können. Dabei gehen wir keinesfalls von einem statischen widerspruchsfreien Selbst- und Körperbild als Modell des Gelingenden aus, sondern eher von einem dynamischen Prozess -einem Körperbild, das möglicherweise viel fließender, umfassender, lebendiger und darum auch spannender sein könnte als alles, was wir an dieser Stelle schriftlich fixieren könnten.

  • Gesundheit fördernd

Ausgangspunkte einer angemessenen und Erfolg versprechenden Gesundheitsförderung können nur die körper- und gesundheitsbezogenen Selbstbilder von Jungen sein. In diesem Sinne kann das Bemühen, Jungensichten erkennbar zu machen als erster Schritt einer gesundheitsfördernden pädagogischen Praxis verstanden werden. Es gilt hierbei, an vorhandenen Kompetenzen der Jungen, an ihren gelebten Körperlichkeiten und an den jeweiligen Gesundheitsressourcen anzuschließen. Gesundheit kann in diesem Sinne nur individuell verstanden und gefördert werden.

Literatur

Bourdieu, P. (1993): Soziologische Fragen, Frankfurt am Main.

Deutsches Jugendinstitut (2003). DISKURS Nr 3/2003 Jugendliche Körper: Identitäten und Kulturen. München.

Homfeldt, H.G. (Hrsg.). (1999). "Sozialer Brennpunkt" Körper -Körpertheoretische und -praktische Grundlagen für die Sozialarbeit. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Jantz, O. (2004). "Im Fallen gefangen". Körperorientierte Jungenarbeit. In: Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg (Hrsg.) AJS Informationen IV/2004, Stuttgart, S. 29-30.

Leven, K., Reinert, J. (2001). Am Ende der Welt und doch nicht hinterm Mond - Bewegungsorientierte Angebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Kooperation mit Sonderschulen. In: Becker,P./Schirp,J. (Hrsg). Jugendhilfe und Schule. Zwei Handlungsrationalitäten auf dem Weg zu einer? Münster, S. 205 - 258.

Neubauer, G.: Wie geht´s den Jungs? Jungengesundheit und Aspekte einer jungenbezogenen Gesundheitsförderung. In: Blickpunkt Der Mann. Wissenschaftliches Journal für Männergesundheit Nr 1 /2003, S. 24-28.

Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg.) (2003). Junge Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg.

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Sickinger, Harald: Körper und inklusionsorienterte Jungenpädagogik. Basistext V aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.



[6] Vgl. hierzu auch das Habituskonzept von Pierre Bourdieu (1993), S.127 ff.

[7] Vgl. Walter (2005), S.166 f.

[8] Sozialministerium Baden-Württemberg (2003), S.14

Aneignung - kreative Gestaltung - kulturelle Produktionen (Gunter Neubauer)

Grundthesen

  • Kreative Arbeit mit Jungen geht häufig einen Weg, der über das Tun und Erleben zum Reflektieren kommt - Aktivität geht dann der Reflexion voraus, beide Aspekte sind aber aufeinander bezogen oder ineinander verwoben (und natürlich gibt es auch für Jungen primär reflexive Zugänge)

  • Jungenpädagogik setzt auf die Vermittlung von Inhalten in Medien und Produkten - Medien und Produkte geben Form, Struktur und Schutz; sie ermöglichen es, etwas festzuhalten und zu präsentieren

  • Jungenpädagogik bietet Jungen Gelegenheiten, ihre Lebensperspektiven zu materialisieren - in Selbstinszenierungen, in jugendkulturellem, körperlichem oder künstlerischem Ausdruck

  • Kulturelle Produktionen sind auch für die begleitenden Erwachsenen eine gute Basis, um die Arbeit mit Jungen zu vergegenwärtigen, auszuwerten und zu reflektieren

  • Kreativer Jungenpädagogik geht es um eine Erweiterung von Ausdrucksmöglichkeiten; sie will Jungen deshalb sinnlich und emotional ansprechen - nicht nur verbal und belehrend

  • Kreative Zugänge sind für Jungen nicht nur Ausdruckssondern auch Eindrucksmöglichkeit; Prozess- und Produktorientierung stehen gleichberechtigt nebeneinander

  • Auch wenn sie klein und unscheinbar ansetzt eröffnet kreative Jungenpädagogik für Jungen Ausdrucksmedien, um im Medium das Eigene zu entdecken und darzustellen - kreativ und originell, unverstellt und unzensiert: Es geht Vieles!

Kreative Zugänge erschließen - gerade auch für Jungen

Insbesondere die Jungenarbeit, aber auch Jungenpädagogik allgemein hat vor allem eine sportlich-erlebnispädagogische Traditionslinie. Künstlerisch-kreative, darstellende und nicht-sportlich-bewegungsorientierte Zugänge werden dagegen seltener gewählt. Gerade für Jungen könnten diese Ansätze wichtig sein, weil sie dadurch oft schneller, körperlicher und emotionaler zu erreichen sind. Viele Jungen wollen sich ausdrücken, wollen etwas Jugendkulturelles ausdrücken oder etwas herstellen. Nur Reden - selbst über die spannendsten Themen - erscheint ihnen als öde, ist über Schulerfahrungen biografisch negativ besetzt und weckt kaum das Interesse. Kreative Methoden sind ein bewährter Zugang in der explorativexperimentellen Aneignung komplexer Themen. Dabei werden zunächst verschiedenste Erfahrungsbereiche und -ebenen, werden alle Sinne angesprochen; Körperlichkeit bleibt nicht außen vor. In der Regel bedarf es dazu eines offenen Gestaltungsprozesses, der weniger belehrend und mehr selbstgesteuert verläuft. Wenn es dabei gelingt, das Eigene darzustellen, vermitteln sich im jeweiligen Medium Kreativität und persönliche Kompetenzen mit Selbstbezügen und Lebenslagen. Im Entstehungsprozess und bei der Präsentation wird Kommunikation geübt, Medienkompetenzen entwickeln sich weiter. Kreative Gestaltungen und kulturelle Produktionen sind aber nicht nur Mittel zum Zweck, sondern haben vor allem ihren eigenen Wert.

Kulturelle Produktionen als Aneignung und Lebensbewältigung

In kreativen Gestaltungen und kulturellen Produktionen erschließen sich Jungen Lebensräume; sie eignen sich ihre Lebenswelten an. Daneben geht es darum, etwas von sich zu zeigen und darüber mit anderen in Austausch zu kommen. Kulturelle Produktionen und Selbstinszenierungen sind so für Jungen eine wichtige Form des "autonomen" Bezugs zur eigenen Person, wie auch der Präsentation in Öffentlichkeiten und sozialen Zusammenhängen. Hier können sie experimentieren, (sich) variieren und verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Kulturelle Produktionen und Selbstinszenierungen ermöglichen es, sich einem äußeren und zugleich körperlichen Habitus zunächst spielerisch-experimentell anzunähern, sich mehr oder weniger dauerhaft einen speziellen Habitus anzueignen und weiterzuentwickeln oder phasenweise in einem Stil zuhause zu sein. Dabei zeigen sich auch Entwicklungs- und Übergangsthemen; im Kontrast zwischen Ideal und Realität, zwischen Selbst- und Fremdbild werden Aspekte der Balance deutlich.

Der Körper als Medium

Über Selbstinszenierungen und kulturelle Produktionen können Jungen sich integrieren, Stile und Moden mitmachen, sich gleichzeitig abgrenzen und verweigern oder ihr Eigenes finden. Dabei spielt der körperliche Ausdruck eine wichtige Rolle: Die meisten Jungen legen hohe Aufmerksamkeit auf ihr Äußeres und haben ein starkes Interesse an entsprechenden kulturellen Produktionen. Die Arbeit mit Selbstinszenierungen - z.B. in der Foto- oder Videoarbeit oder in Musik und Tanz - gehört deshalb zu den elementaren Methoden der Jungenpädagogik. Die hintergründige Fragestellung lautet dabei z.B.: Wie möchte ich von anderen gesehen und wahrgenommen werden? Und wie sehen mich die anderen? Diese "großen" Themen stehen aber nicht permanent und penetrant im Vordergrund; ein großer Teil von Auseinandersetzung und persönlicher Weiterentwicklung ergibt sich fast beiläufig in der Arbeit in gemeinsamen Projekten.

Partizipation und mediale Inklusion

Funktion von Medien im weitesten Sinn ist es, zu integrieren und Öffentlichkeit herzustellen. Auch kulturelle Produktionen von Jungen erleichtern entsprechende mediale Integration und ein Indikator für Inklusion. Über eine gelungene "öffentliche" Präsentation entstehen positive Identifikation, Resonanz und Anerkennung. Bei den meisten Jugendkunst- und theaterprojekten finden sich allerdings weniger Jungen. Gerade auch Jungen mit Behinderungserfahrungen kommen bislang wenig in der Medien- und Theaterpädagogik vor. Eine stärkere Ansprache und Beteiligung von Jungen ist notwendig, wenn ihnen dieser tendenziell vorenthaltene Bereich erschlossen werden soll. Das Ziel ist es, Jungen mit und ohne Behinderungserfahrung sichtbarer zu machen, etwas von den Jungen zu sehen, Spuren zu hinterlassen. Entsprechende Projekte ermöglichen Jungen neue Formen von Partizipation und Lernen. Partizipation bedeutet, Formen der Beteiligung zu schaffen, an denen sich alle beteiligen können. Lernen heißt mit Welt umgehen, sie aneignen und gestalten. Kreative und darstellende Zugänge erlauben es außerdem, in andere, vielleicht ungewohnte und neue Rollen zu schlüpfen und dabei eigene Grenzen zu erweitern. Umgekehrt ist aber auch darauf zu achten, dass ein Medium immer auch begrenzt - was in der Arbeit mit Jungen und Jungenthemen (zum Beispiel Größenphantasien) auch ein Vorteil sein, das heißt konzentrieren und integrieren kann. Die richtige Auswahl des Zugangs (Tanz, Theater, Zirkus, Video, Internet, Malerei usw.) ist deshalb genauso wichtig wie die Bestimmung der Dimensionen: Auch "Miniprojekte" sind möglich und wichtig.

Literaturhinweise

Neubauer, G./Winter, R.: So geht Jungenarbeit. Geschlechterbezogene Entwicklung von Jugendhilfe. Berlin 2001

Sturzenhecker, B./Winter, R. (Hg.): Praxis der Jungenarbeit. Modelle, Methoden und Erfahrungen aus pädagogischen Arbeitsfeldern. Weinheim und München 2005

Winter, R./Neubauer, G.: Dies und Das! Das Variablenmodell "balanciertes Junge- und Mannsein" als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern. Tübingen 2001

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Neubauer, Gunter: Aneignung - kreative Gestaltung - kulturelle Produktionen. Basistext VI aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.

"Gleichheit ohne Angleichung" - VIELFALT und DIFFERENZ statt Normalität und Behinderung[9] (Jo Jerg)

Grundthesen

  • Jungen sind unterschiedlich - verschieden u. a. in ihren körperlichen, seelischen und geistigen Ressourcen und Fähigkeiten. Sie besitzen unterschiedliche Zugänge zur gesellschaftlichen Teilhabe aufgrund ihres ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals.

  • Alle Jungen und Männer nehmen aufgrund von gesellschaftlichen und strukturellen Grundlagen des männlichen Geschlechts zwangsläufig, aber in unterschiedlichen Positionen an männlichen hegemonialen Strukturen (vgl. Connell 1999) und ihren Bewältigungsanforderungen teil.

  • Vielfalt als Chance sowie Differenz als Bereicherung zu sehen erfordert ein inklusives Setting der Jungenarbeit, in der Jungenpädagogen dem Ungewohnten, dem Anderen, dem Fremden offen gegenüber stehen.

AUFLÖSUNG VON NORMALITÄT UND BEHINDERUNG

"Es ist normal, verschieden zu sein" (Weizsäcker 1993)! Was bringt diese Aussage bzw. "Denke" zum Ausdruck? Wenn es normal und positiv ist, verschieden zu sein, ist diese Vielfalt ein neuer Begriff, ein neuer Denkansatz zur Normalitätsbeschreibung. D. h. normal ist dann nicht der Mittelwert, sondern eine Ansammlung von sehr unterschiedlichen Lebensstilen und Bewältigungsweisen, die sich aufgrund von unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben. Vielfalt in der Verschiedenheit setzt sich bewusst von gängigen Normvorstellungen ab, weil sie Differenz als Normalität setzt. Mit der Anerkennung dieser Denkweise sind wir gefordert, einen Zugang zu Lebenswelten zu finden, die uns in vielfältiger Weise als ungewohnt und anders erscheinen. Bisher konnten wir z. B. auf die Unterscheidung zwischen Normalität und Behinderung zurückgreifen, d. h. damit war definiert: Behinderung war nichts Normales, sie ist das grundlegend Andere; Behinderung basiert dabei auf der Theorie der Andersartigkeit. Einem ähnlichen Grundmuster unterliegt eine binäre Geschlechtertrennung: hier die Jungen, dort die Mädchen. Inzwischen hat sich in Theorie und Praxis ein vielfältiges Bild von Jungen ausdifferenziert, so dass auch die Verschiedenheit zwischen Jungen (an)erkannt wird.

EGALITÄRE DIFFERENZ

Die Anerkennung von Differenz, so Axel Honneth (1994), gesteht in ihrer Gegenseitigkeit und Wechselseitigkeit eine Gleichheit der Verschiedenheit zu und kann in der Beziehungsgestaltung mit dem Begriff der egalitären Differenz (Prengel 1993) eine Basis unserer theoretischen Auseinandersetzung bilden. Egalitäre Differenz billigt allen Jungen ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu, unabhängig z. B. vom Assistenzbedarf, von Nationalität / Ethnie oder Geschlecht. In diesem Zusammenhang ist Pierre Bourdieus Kapitalverständnis mit der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital) hilfreich, um die Sicht- und Verhaltensweisen von Jungen sowie die Stellung in der Gesellschaft zu verstehen lernen. Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass z. B. der Zugang zur Bildung (kulturelles Kapital), das Vermögen der Eltern (ökonomisches Kapital) sowie die kulturelle Herkunft (Ethnie, Oberschicht, Mittelschicht usw.) mit ihren Beziehungspotentialen den Lebensweg jedes Jungen strukturieren - auch den von Jungen mit Behinderungserfahrung.

Vielfalt und Differenz beziehen sich auf die Gleichberechtigung von Jungen in verschiedenen Lebenslagen und setzen Gleichheit im Sinne von Gleichwertigkeit bzw. gleiche Würde voraus. "Gleichheit bezeichnet also eine Form der Übereinstimmung zwischen Verschiedenen" (Prengel 1993: 30). Anders formuliert kann Vielfalt Ausdruck sein für Junge- sein in der jeweiligen Einmaligkeit bzw. Einzigartigkeit.

Gleichwertigkeit von Verschiedenheit / Differenz erfordert den Umgang mit Unterschieden. Sofern der Differenz - wie es Annedore Prengel formuliert -ein demokratisches Verständnis zugrunde liegt, wird sie Unterschiede benennen, ohne diese gleich zu bewerten. Was heißt das?

"GLEICHEIT OHNE ANGLEICHUNG"

Differenz macht deutlich, dass z. B. jemand mit den eigenen Füßen gehen kann oder eben eine andere Form des Gehens wählen muss. Volker Schönwiese, selbst Rollstuhlfahrer, bringt die verschiedenen Perspektiven auf den Punkt: für Nichtbehinderte ist der Rollstuhl mit der Vorstellung einer Fessel gebunden ("an den Rollstuhl gefesselt"), während für ihn der Rollstuhl eine Unterstützung zur selbständigen Fortbewegung darstellt, ein Stück Unabhängigkeit (vgl. Schönwiese 1994). Differenz anerkennen meint: wir brauchen neben unseren Fähigkeiten und Ressourcen unterschiedliche Hilfsmittel und Dienstleistungen, um unser Leben zu organisieren (Näheres zu unterschiedlichen Assistenz- bzw. Behinderungsformen wird im Basistext III Assistenz/Behinderungserfahrung ausgeführt).

Wenn Differenz aus einem emanzipatorischen Geist heraus gedacht wird -vor dem Hintergrund von Benachteiligung und Unterdrückung, die Jungen mit Behinderungen erfahren -, erfordert sie Gleichheitsrechte, die auch so formuliert werden können, dass z.B. jedes Mädchen/jeder Junge ein Recht auf einen Platz in einem Kindergarten, Schule usw. vor Ort, in der Nachbarschaft hat. Prengel spricht hier von einem demokratischen, von seiner Absicht her hierarchieauflösenden, universellen Gleichheitsbegriff. Dies erfordert auch einen Diskurs über Vielfalt und Differenz, der über die männliche Lebenswelt hinaus, die Einbettung in geschlechterhierarchischen Strukturen kritisch reflektiert und Entwürfe zum gelingenden Jungesein / Mannsein konkretisiert.

Allgemein formuliert: es geht um die Anerkennung der Verschiedenheit und Gewährung gleicher Rechte. Der Soziologe Richard Sennett hat dies sehr feinsinnig beschrieben. Er fordert uns auf, die unterschiedlichen praktischen Leistungen jedes einzelnen zu würdigen und nicht Talente, die man selbst nicht besitzt, in den Vordergrund zu stellen (vgl. Sennett 2002: 315). Vielfalt und Differenz -so definieren und sehen wir Normalität. Der Maßstab ist die Vielfalt in ihrer Verschiedenheit und nicht eine allgemeingültige Norm, die es zu erreichen gilt, aber auch nicht eine Vielfalt einer positionslosen Beliebigkeit, sondern eine, die die Differenzen an- und ausspricht. Vielfalt als Beliebigkeit wäre z. B. "Wir sind ja alle behindert". Das wäre Einfalt -einfältig! Wir müssen über Unterschiede reden können, ohne dass hierdurch Stigmatisierungsprozesse in Gang gesetzt werden.

Ute Gerhard hat diesen Zusammenhang von Vielfalt und Differenz prägnant mit drei Worten zusammengefasst, es geht um eine "Gleichheit ohne Angleichung" (Gerhard in Prengel 1993: 45). Daraus ergibt sich für unser Projekt eine bedeutende Fragestellung: Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Lebensgestaltung und Lebensbewältigung von Jungen.

Literatur

Connell, Robert 1999: Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeiten, Opladen

Honneth, Axel 1998: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a/M.

Jerg, Jo 2005: Bausteine und Verbindungen einer inklusiven Baustelle -oder: Ordnung muss sein!? Gedanken zum Aufräumen ohne Auszusondern!. In. Barz, M. /Weth, H.U 2005: Potentiale Sozialer Arbeit, Stuttgart

Prengel, Annedore 1993: Pädagogik der Vielfalt. Opladen.

Schönwiese, Volker 1994: Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und ihre Eltern im Spannungsfeld von Selbstorganisation und professionellen Hilfen. Vortrag am 20.9.94 auf der Tagung: Integration - eine Herausforderung im Gemeinwesen. Reutlingen.

Sennett, Richard 2002: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin

Wir bitten, aus diesem Text wie folgt zu zitieren:

Jerg, Jo: "Gleichheit ohne Angleichung"- VIELFALT und DIFFERENZ statt Normalität und Behinderung. Basistext VII aus der Reihe: Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik. Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm. Stand: 1. Oktober 2006.

Quelle:

Jo Jerg, Gunter Neubauer, Harald Sickinger: Projekt Bo(d)yzone: Jungensichten - Körperbilder. Basistexte zur inklusionsorientierten Jungenpädagogik

erschienen in: Veröffentlicht im Internet unter: www.pfunzkerle.de/bodyzone.htm

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.10.2007



[9] Die folgenden Ausführungen sind eine stark gekürzte, veränderte und z. T. neu gefasste Zusammenfassung aus dem Beitrag: Jo Jerg 2005: Bausteine und Verbindungen einer inklusiven Baustelle oder: Ordnung muss sein!? Gedanken zum Aufräumen ohne Auszusondern!. In. Barz, M. / Weth, H.U 2005: Potentiale Sozialer Arbeit, Stuttgart

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