Stigma-Management

Fallstudien zur biographischen Identität von ehemaligen Sonderschülern

Autor:in - K. Martin Jenewein
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, eingereicht bei: a.o. Univ. Prof. Dr. Reinhold Popp, Innsbruck, im September 1997
Copyright: © K. Martin Jenewein 1997

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mein Interesse an der vorliegenden Thematik liegt in meiner eigenen Berufswahl und Berufserfahrung begründet. Ich habe eine dreijährige Ausbildung zum Sonderschullehrer und Sprachheillehrer an der Pädagogischen Akademie (PädAk) in Salzburg absolviert. Im Mittelpunkt dieses Studiums stand die Schulbildung von Kindern, die von der Norm abweichen und dadurch vom Besuch der Regelschule ausgeschlossen sind. Solche SchülerInnen werden in Österreich in die Allgemeine Sonderschule (ASO)[1] "eingewiesen". In der ASO werden vornehmlich sogenannte "lernbehinderte" Kinder und Jugendliche unterrichtet; "schwerstbehinderte" Kinder und Jugendliche werden meist in angeschlossenen Sonderklassen betreut; für Sinnesbehinderte gibt es Spezialschulen.

Analog zu den drei Ausbildungsgängen an der PädAk waren die drei Gruppen der Studierenden in einer informellen Werteskala verortet. Die angehenden HauptschullehrerInnen genossen den besten Ruf, weil sie zwei Fächer studierten und zudem im Vergleich zu den anderen Studiengängen männliche Studierende überrepräsentiert waren. Die VolksschullehrerInnen waren die zahlenmäßig stärkste, überwiegend aus Frauen bestehende Gruppe, die Platz zwei in der Rangskala belegte. Abgeschlagen auf dem dritten Platz rangierten die zahlenmäßig am schwächsten vertretenen angehenden SonderschullehrerInnen, denen zwar besonderes Engagement konzediert, zugleich aber eine gewisse Randständigkeit zugeschrieben wurde, als sei sie Voraussetzung für diese Ausbildung. Die Randständigkeit der angehenden SonderschullehrerInnen und ihrer künftigen Klientel erforderte es, sich mit Schulkritik und Schulentwicklung zu befassen, denn eine Motivation zu dieser Ausbildung lag sicherlich in dem Wunsch, nicht in der Regelschule arbeiten zu wollen. Dennoch wurde die Ausgrenzung behinderter Kinder im Rahmen unserer Ausbildung nur am Rande diskutiert, denn auf deren Randständigkeit basierte ja unser angestrebter Beruf. Eine idealistische Motivation, diesen Beruf zu ergreifen, und das Bedürfnis, benachteiligten Kindern helfen zu wollen, verschleierten häufig die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen von Behinderung, statt dessen entwickelte sich während der Ausbildung ein vorwiegend humanistisch-karitativ geprägtes Selbstverständnis unter den angehenden "HilfsschullehrerInnen". Der Rollenkonflikt, in dem wir uns damit zwangsläufig befanden, wurde im Rahmen unserer Ausbildung nicht problematisiert.[2]

Meine ersten Berufserfahrungen enttäuschten meine Erwartungen. Ich fühlte mich manchmal überfordert, eine derart leistungsheterogene Gruppe differenziert zu unterrichten. Die beim Berufseinstieg typischen didaktisch-methodischen Schwächen weckten bei mir und meinen KollegInnen vielfach den Wunsch, spezielle Kenntnisse, zum Beispiel im psychologischen und gruppendynamischen Bereich, zu erwerben, denn viel Unterrichtszeit musste für Konflikt- und Krisenmanagement aufgewendet werden. Angesichts der pädagogischen und strukturellen Probleme, mit denen ich mich in der Sonderschule konfrontiert sah, regten sich in mir Zweifel an meiner Berufswahl. Viele SchülerInnen haben massive persönliche, familiäre und soziale Probleme, deren Lösung die Kompetenzen der Schule weit überschreitet. In pädagogischer Hinsicht stellte sich die Frage, wie eine Gruppe "Ausgesonderter" positiv zum Lernen motiviert werden kann. Auch bietet die Institution Sonderschule ihrem Lehrpersonal keine professionellen Unterstützungsstrukturen an. Zudem bewegt sich die öffentliche Meinung zur Institution ASO und ihren ProtagonistInnen irgendwo zwischen Mitleid und Ablehnung und stempelt damit die Sonderschule ab, ohne sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das alles trägt zu einem belastenden Schulalltag bei.

Dass das Schulsystem strukturell auf Selektion und Segregation aufgebaut ist, wurde mir bald klar, obwohl weder während des Studiums an der PädAk noch im Berufsalltag der Reflexion über die Beteiligung der Institution und der Lehrkräfte an der Randständigkeit ihrer Klientel Platz eingeräumt wurde. Wer einmal in die Sonderschule kommt ("Einweisung"), beendet dort meist seine Schulkarriere. Die als Aufholung gedachte Sonderschulzeit vermittelt zwar den Eindruck, jemand könne wieder in die Regelschule rücküberwiesen werden, das war aber nur selten der Fall. Die Hilflosigkeit der SonderschulabsolventInnen im späteren Berufsleben wird auch von den SonderschullehrerInnen häufig als Bestätigung ihrer Diagnose gesehen. Die Versagenskette reicht sehr häufig über die schulischen Misserfolge hinaus und findet in der beruflichen Laufbahn ehemaliger SonderschülerInnen ihre Fortsetzung.

Während meiner Tätigkeit an der Sonderschule war die Zeit der massiven Kritik an den Lernbehindertenschulen (in Deutschland) bereits vorbei, ihre Forschungsergebnisse sind in einer umfangreichen Literatur sozialwissenschaftlich belegt. In den 80er Jahren begann eine neue Phase der Diskussion unter dem Schlagwort "Integration", die von den LehrerInnen der ASO mit Skepsis beobachtet wurde. Die ersten Schulversuche wurden kritisiert, die Schulverwaltung konnte sich mit einer derartigen Schulreform nicht anfreunden, und auch die RegelschullehrerInnen sahen neue Belastungen auf sich zukommen.

Dennoch hat diese Diskussion wichtige Beiträge zu einer Veränderung der Schule geleistet. Der erste Schulversuch in Tirol startete 1984 in der Volksschule Weißenbach. Damit kam es zu einer Polarisierung zwischen unterschiedlichen Positionen von SonderschullehrerInnen. Die einen sahen im Schonraum Sonderschule die beste Möglichkeit für eine günstige Lernentwicklung der "Lernbehinderten", die anderen trieben unter großem persönlichen Einsatz innovative Unterrichtskonzepte im Hinblick auf die anzustrebende soziale Integration voran. Diese Polarisierung ist bis heute aufrecht. Die Sonderschulen wurden inzwischen zu Sonderpädagogischen Zentren (SPZ)[3] umbenannt und mit der Aufgabe betraut, die Integrationsbemühungen in der Volksschule zu unterstützen. Die Zahl der SonderschülerInnen (Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf) ist seitdem gestiegen, es gibt einen neuen "Kampf ums Kind".[4]

Ab dem Schuljahr 1997/98 wird die Integration in der Sekundarstufe 1 gesetzlich durch die 17. SchOG-Novelle verankert. Die Probleme, die schon vor Jahren aufgrund der gesetzlichen Verankerung der Integration in der Grundstufe (15. SchOG-Novelle, 1993) diskutiert wurden, werden neu und verstärkt aufgerollt. Die öffentliche Meinung und die Schulaufsicht sprechen sich für die Integration behinderter Kinder aus, wenn es die "Rahmenbedingungen" erlauben. Die LehrerInnen der Sekundarstufe 1 sehen sich aber neuen Problemstellungen gegenüber, denen sie sich nicht gewachsen fühlen. Eltern müssen weiterhin häufig um eine integrative Schule für ihr Kind kämpfen, das Gesetz hat für sie in der Praxis keine Erleichterung gebracht.

Die Integrationsdiskussion hat auch den erziehungswissenschaftlichen Diskurs verlagert. Während sich die sozialwissenschaftliche Forschung der 70er Jahre auf die Kritik an der Sonderschule konzentrierte, befasst sich die Forschung in den 80er Jahren mit der schulischen Integration. Die Fragestellungen beschäftigten sich mit im Zusammenhang mit der Integration notwendigen Reformbestrebungen des Regelschulwesens. Die Sonderschule ist durch die laufende Integrationsdiskussion strukturell nicht verändert worden, sie ist dadurch aus dem Schussfeld der Kritik geraten. Anstelle von strukturellen Veränderungen im Schulwesen findet ein Diskurs der Systeme statt, Sonderbeschulung versus integrative Beschulung im Rahmen des Regelschulsystems. Beide Möglichkeiten bestehen als Alternativen nebeneinander, und die Eltern müssen sich für die geeignete Form der Beschulung ihrer Kinder mit SPF (sonderpädagogischem Förderbedarf) entscheiden. Die Zahl der Kinder mit SPF hat mit der veränderten Schulorganisation stark zugenommen.

Die jungen Männer, mit denen sich die vorliegende Arbeit beschäftigt, besuchten die Sonderschule zu einer Zeit, als es für "lernschwache" Schüler noch keine alternative Möglichkeit der Beschulung gab. Ich beschäftige mich in den Fallstudien mit der Frage, ob die Sonderschule diese Schüler hinreichend fördern konnte und welche Auswirkungen der Sonderschulbesuch auf ihr späteres Leben hat. Werden Schulabgänger durch ihre Sonder-beschulung in der Sonderinstitution hinreichend auf das "normale" Leben vorbereitet? Oder werden sie aus dem "Schonraum" Sonderschule in den Alltag der Leistungsgesellschaft entlassen und scheitern als Stigmatisierte, die nicht nur in einer Sonderinstitution ausgebildet, sondern auch langfristig ausgegrenzt wurden?

Diese Arbeit beschäftigt sich mit vier Biographien ehemaliger Sonderschüler, insbesondere mit den spezifischen Konsequenzen ihrer Schullaufbahn im Schonraum Sonderschule. Die dadurch erfahrene Stigmatisierung erfordert Techniken der Bewältigung dieser Ausgrenzung im Alltag. Diese Erfahrungen mit allen Implikationen lassen sich als in ihrer biographischen Identität verankert nachweisen.



[1] Die in ihren Anfängen "Schwachsinnigenschule" genannte Institution - die Leipziger Schwachsinnigenklasse wurde 1881 eröffnet - wurde bald in "Hilfsschule" [vgl. Kielhorn, Heinrich: Hilfsschule, Hilfsklasse für schwachbefähigte Kinder (1887), in: Klink, Job-Günter (Hrsg.): Zur Geschichte der Sonderschule (= Klinkhardts pädagogische Quellentexte, hrsg. von Theo Dietrich u.a.), Bad Heilbronn (Julius Klinkhardt) 1966, 68-70] umbenannt. In den 60er Jahren wurde die Hilfsschule in "Sonderschule für Lernbehinderte" (Deutschland) und "Allgemeine Sonderschule" (Österreich, SchOG 1962) umbenannt. Im Sprachgebrauch läßt sich allerdings die Bezeichnung "Hilfsschule" bis heute nachweisen. Da die Neubenennung eine Institution nicht strukturell verändert, verwende ich in der vorliegenden Arbeit die Termini "Sonderschule" und "Hilfsschule" synonym.

[2] "Hier zeigt sich eine Verunsicherung darüber, ob die Berufsrolle des Sonderschullehrers, die man sich gedacht hatte, in Deckung zu bringen sei mit der Rollenzumutung, die die Gesellschaft für den Sonderschullehrer bereithält, konkret: ob nicht die objektive Funktion der Sonderschule die Realisierung gerade der besten Motivation des Sonderschullehrers, nämlich, helfen zu wollen, vereitelt.

In seinem 1972 erschienenen Aufsatz über das von der Gesellschaft behinderte Kind und seinen Lehrer beschreibt H. G. Rockemer einen speziellen Aspekt der Rollenproblematik des Sonderschullehrers, dessen widersprüchliche gesellschaftliche Einschätzung aus der Einschätzung seiner Tätigkeit als karitativer und relativ ergebnisloser abzuleiten ist: Er wird gleichzeitig hoch geschätzt als Wohltäter und gering geachtet, nämlich mit seiner Klientel identifiziert." [Aab, Johanna/ Pfeifer, Tilo/Reiser, Helmut/Rockemer, Hans Georg: Sonderschule zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Für eine Revision der Sonderpädagogik, München (Juventa) 1974, 58]

[3] Im Zusammenhang mit der Novellierung des Schulorganisationsgesetzes (15. SchOG-Novelle, Bundesgesetzblatt Nr. 512 vom 30. Juli 1993) wurde die Errichtung Sonderpädagogischer Zentren als Verfassungsbestimmung aufgenommen (§ 27a SchOG). In Tirol wurden von 42 Sonderschulen bisher mehr als die Hälfte (20 regionale und 3 überregionale) in SPZ umbenannt.

[4] Die bundesweite Zunahme der Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die Zusammenarbeit zwischen SPZ und Integrationsklassen in Pflichtschulen (noch) nicht zufriedenstellend funktioniert.

Einleitung

Die vorliegende Arbeit stützt sich auf sozialwissenschaftliche Literatur, die vorwiegend in den 70er Jahren entstanden ist. Die Kritische Theorie und der Symbolische Interaktionismus fanden zu dieser Zeit Eingang in die Sozialwissenschaften und führten zu einem Paradigmenwechsel - der Wende zu einem kommunikativen Erziehungsverständnis. Erziehung wird als Interaktion in einem komplexen Handlungsgefüge interpretiert, in dem angestrebte Ziele antizipiert werden. Definitionen, die bislang objektiviert und ontologisiert wurden, werden nunmehr als in einem gesellschaftlichen Prozess ausgehandelte verstanden. In einem Erziehungsprozess spielen mehrere Komponenten, die in einem kommunikativen Prozess zusammenwirken, eine wichtige Rolle: die Intention, die Situationsdefinition, vorgeprägte Rollen und Rituale eines Erziehungsprozesses, die Antizipation des Handelns, Vermutungen, Vorstellungen und Erwartungen der Interaktionspartner. Eine Erziehungssituation ist demnach immer strukturiert und folgt bestimmten Regeln.

Unter den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen und aufgrund der "Alltagswende" zum kommunikativen Aspekt erzieherischen Handelns strukturieren sich auch die Erziehungswissenschaften neu. Das erzieherische Handeln und die Bildungs- und Sozialisationsinstitutionen werden zunehmend reflektiert und kritisiert, wobei der Aspekt der Abweichung von einer vorgegebenen Norm in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses rückt. Neben den Studien des amerikanischen Soziologen Howard S. Becker über abweichendes Verhalten in seinem Buch "Outsiders" führten vor allem die Arbeiten von Erving Goffman und Albert K. Cohen zu neuen Erkenntnissen in der Theorie abweichenden Verhaltens, das sich demnach im sozialen Kontext in einem komplizierten Handlungsgefüge erst allmählich entwickelt. In diesen Jahren beschäftigt sich eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien mit der Institution der Sonderschule und deren Population, die aufgrund abweichenden Verhaltens von der Regelschule ausgeschlossen wird. Die einschlägige erziehungswissenschaftliche Literatur der 80er Jahre befasst sich vorwiegend mit Schulreformen durch die Integrationspädagogik, Studien abweichenden Verhaltens treten in den Hintergrund.

Schon der Titel dieser Arbeit weist darauf hin, dass ich auf den theoretischen Ansatz des Symbolischen Interaktionismus zurückgreife, der sich ausgehend von George Herbert Mead in den USA entwickelt hat. Angeregt durch die Arbeiten von Becker und Goffman gehe ich in meiner Untersuchung davon aus, dass die Schüler, die ich interviewt habe, in einem komplizierten Prozess sozialer Interaktionen sich zu Außenseitern entwickeln: Ihr von vorgegebenen Normen abweichendes Verhalten wird in der Regelschule identifiziert und mit dem identitätsverändernden Etikett "Lernbehinderung" versehen. Mit dieser Zuschreibung behaftete SchülerInnen werden in die "Allgemeine Sonderschule" eingewiesen. Die statische Zuschreibung von Abweichung ist nur durch eine institutionalisierte Definitionsmacht möglich und folgt vorgegebenen Zuweisungsregeln. In einem ausgehandelten Prozess nehmen SonderschülerInnen die an sie herangetragene Identität von "Lernbehinderten" mit allen Implikationen an.

Eine Analyse der historischen Entwicklung der Sonder- und Heilpädagogik zeigt, wie der Begriff der Behinderung ontologisiert und individualisiert wurde. Aufgrund dieser defektorientierten Sichtweise werden den SonderschülerInnen während der gesamten Schullaufbahn deviante Verhaltensweisen zugeschrieben und in ihrer Identität verankert. Im Gefälle der institutionalisierten Definitionsmacht können sie sich den Zuschreibungen kaum entziehen, sodass sie schließlich häufig resignieren und die ihnen zugeschriebene Identität annehmen. Als sanktionierte Regelverletzer nehmen sie die ihnen anhaftenden Attribute eines "Behinderten" an und verhalten sich adäquat. Solche Schullaufbahnen können den Charakter einer prozessualen Angleichung an Etikettierungen und Definitionen annehmen. Die eingenommene Randständigkeit wird dabei im Laufe der Zeit verfestigt, sie haftet ehemaligen SonderschülerInnen auch im Erwachsenenleben als Stigma an und vermindert dadurch deren Berufs- und Lebenschancen. Das selektive Schulsystem sanktioniert abweichendes Verhalten massiv, indem die Betroffenen aus dem Regelschulwesen ausgegliedert werden. Die postulierte Chancengleichheit im Schulwesen entbehrt von Anfang an der Grundlage, da in einem interaktionalen Prozess der Selektion und Definition eine diskriminierende Aussonderung erfolgen kann. Die soziale Degradierung und Deklassierung wird in allen Alltagshandlungen festgeschrieben und bestimmt die individuelle Identitätsentwicklung von SonderschülerInnen.

Wenn also abweichendes Verhalten immer erst Ausdrucksform einer Interaktion zwischen mehreren Personen oder Instanzen ist, dann lautet die Fragestellung, ob es durch die Degradierung infolge der abweichenden Schulkarriere gelingt, die interaktionistisch zugeschriebene Devianz abzubauen oder zu reduzieren.

Spezifische Formen abweichenden Verhaltens wie Lernbehinderung, Lernstörung, Verhaltensstörung und Lernversagen lassen sich nicht identisch definieren [...]. Sie ergeben sich immer erst im sozialen Kontext der Schule durch Interaktion mit dem Lehrer, anderen Schülern und den angebotenen Lerninhalten. [5]

Im Alltag postulierte Normvorstellungen und Bedeutungen werden in einem kommunikativen Prozess symbolisch vermittelt. Daher werde ich im ersten Teil meiner Arbeit dem historischen Prozess der Institutionalisierung und der institutionell vermittelten Zuschreibung "Lernbehinderung" nachgehen.

In der Diskussion des lernabweichenden Verhaltens in der Schule ist es deshalb wichtig, den Aspekt der Macht und des Interesses als bedingende Größen im Handlungsprozeß nicht zu übersehen. Sie garantieren erst die Wirksamkeit einer Etikettierung und im weiteren Verlauf von Interaktionen eine Identitätstransformation.[6]

Daran anschließend wird zu zeigen sein, wie sich die Sonderschule als geschichtlich gewachsene Instanz moralisch definiert und dabei als institutionalisierte Definitionsmacht Devianz weiter festschreibt. Dies geschieht in mehrfacher Hinsicht: Einmal durch die Individualisierung und Objektivierung des Behinderungsbegriffes und darauf aufbauend durch behindertenorientiertes Denken in der Lernbehindertenpädagogik. Weiters durch die Zuschreibung "Lernbehinderung", eines defektorientierten Begriffs, der trotz zahlreicher Definitionsversuche nicht abgesichert werden konnte und daher letztlich als Arbeitsbegriff dient. Auch die sonderpädagogische Diagnostik hält einer wissenschaftlichen Kritik nicht stand, da sie aufgrund einer gewissen Beliebigkeit auf ihre Funktion als Selektionsdiagnostik reduziert zu sehen ist. Devianz, die identifiziert und definiert wird, führt in dieser Logik zur Absonderung in eine Sonderinstitution. Diese begründet ihren Eigenständigkeitsanspruch mit dem Hinweis auf individuelle Defizite und perpetuiert damit den Behindertenstatus ihrer SchülerInnenpopulation. Abweichendes Verhalten wird so produziert und reproduziert. Die Krise der Diagnose, der individualisierte Behindertenbegriff als Status und die Zuschreibung von "Lernbehinderung", die bis heute weder eindeutig diagnostizier- bzw. definierbar noch ätiologisch begründbar ist, wirken über institutionelle Vermittlung zusammen. Peter Erath[7] sieht aufgrund solcher Überlegungen "Lernbehinderte" in seiner Arbeit als Opfer allgemeinpädagogischer Ignoranz und sonderpädagogischer Eigeninteressen. Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der ASO und der Rekrutierung ihrer Klientel soll am Beispiel des Bundeslandes Tirol, das in nucleo dem österreichischen Bundestrend und der Entwicklung in Deutschland entspricht, aufgezeigt werden.

Nach der historischen Analyse beschäftige ich mich mit der dieser Arbeit grundgelegten Stigma-Theorie von Erving Goffman. Ihr folgend ist anzunehmen, dass die Sonderschule durch Segregation von als "lernbehindert" etikettierten Individuen diese nachhaltig stigmatisiert und damit deren Biographie und Identitätsbildung negativ beeinflusst, sowie ihre Berufs- und Lebenschancen über die Schulzeit hinaus beeinträchtigt.

Biographisch gesehen unterteilt Goffman hier folgende Stadien:

- Der Stigmatisierte lernt den 'normalen' Standpunkt und die Gewißheit des eigenen Makels kennen,

- er erinnert sich in Interaktionen immer wieder an diesen Makel,

- er erlernt die Annahme der eigenen Identität. [8]

Goffman erläutert in "Stigma", wie in sozialen Interaktionen diese Stigmatisierung immer weiter festgeschrieben wird, bis sie bei Lernbehinderten identitätsstiftend wirkt und zu Identitätskrisen führt.

So wird häufig der Eintritt in die Volksschule als das Ereignis der Stigmaerfahrung berichtet, wobei die Erfahrung manchmal sehr plötzlich am ersten Schultag kommt mit Spott, Hänseln, Ächtung und Prügeleien. Interessanterweise wird ein Kind, je mehr es "gehandikapt" ist, umso wahrscheinlicher in eine Sonderschule für seinesgleichen geschickt werden, und umso abrupter wird es seiner Beurteilung durch die Öffentlichkeit in der Gesamtheit ins Gesicht sehen müssen. Es wird ihm gesagt werden, daß es es unter "seinen eigenen" leichter haben wird, und wird so lernen, daß das "Eigene", das es zu besitzen glaubte, das falsche war, und daß dies weniger Eigene wirklich seines ist. Es sollte hinzugefügt werden, daß dort, wo es der kindliche Stigmatisierte fertigbringt, mit irgendwelchen übriggebliebenen Illusionen durch seine frühen Schuljahre zu kommen, der erste Versuch, sich zu verabreden oder einen Job zu bekommen, oft den Moment der Wahrheit herbeiführen wird.[9]

Bevor ich zum Hauptteil meiner Arbeit komme, erläutere ich die methodische Vorgehensweise meiner qualitativen Untersuchung und die Datenerhebung mittels offener Interviews. In den daran anschließenden sechs Kapiteln habe ich die Transkripte der Interviews thematisch strukturiert und ihre relevanten Passagen in den Deskriptionen wiedergegeben. Die Vorgangsweise ist in den Kapiteln 4 bis 9 gleich: An die Beschreibung des Interviewtextes schließt sich die Interpretation auf der Basis des sozialwissenschaftlichen Paradigmas an. Meine Interpretationen stützen sich auf Publikationen zu dieser Thematik, die vorwiegend aus den Heil- und Sonderpädagogischen Instituten deutscher Universitäten stammen. Ihre diesbezügliche Forschungstätigkeit ist verglichen mit den erziehungswissenschaftlichen Instituten österreichischer Universitäten weitaus umfangreicher.

In den Gesprächen, die ich mit vier ehemaligen Sonderschülern führte, lassen sich fast durchgängig erfolgte Stigmatisierungen und Hinweise auf entsprechendes Management sozialer Situationen, das stigmatisierte Individuen im Alltag leisten müssen, nachweisen. Alle Interviewpartner konnten ihrer Statuszuweisung nicht entkommen und können in der Folge Interaktionsprozesse meist nur defensiv gestalten. Die über ihre Erziehung und Schulbildung erworbene - von mir biographisch genannte - Identität müssen sie in sozialen Alltagsinteraktionen von sich weisen, um ihre eigene soziale und personale Identität sicherstellen zu können. Dieses Verhalten hat Goffman als Stigma-Management beschrieben.



[5] Homfeldt, Hans Günther: Stigma und Schule. Abweichendes Verhalten bei Lehrern und Schülern (= Sprache und Lernen. Internationale Studien zur pädagogischen Anthropologie 46, hrsg. von Werner Loch), Düsseldorf (Pädagogischer Verlag Schwann) 1974, 12

[6] Homfeldt, Hans Günther: a.a.O., 17

[7] Erath, Peter: Vergessen und mißbraucht. "Lernbehinderte" als Opfer allgemeinpädagogischer Ignoranz und sonderpädagogischer Eigeninteressen (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XI Pädagogik, Bd. 333), Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris (Peter Lang) 1987

[8] Erath, Peter: a.a.O., 131

[9] Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 91990, 46-47

1 Die Geschichte der Sonderbeschulung

Die Geschichte der Sonderbeschulung beginnt vor rund 120 Jahren in Deutschland und Österreich etwa gleichzeitig. Sie ist zuerst eine Geschichte der Ausgrenzung aus der postulierten Notwendigkeit, die Volksschulen zu entlasten.

Die Erfahrung hat zur Genüge bewiesen, daß auch geistig schwache Kinder - nicht blödsinnige, denn diese sind allerdings geistig tot zu nennen - auf eine höhere Stufe emporgehoben und zu verständigen, brauchbaren Menschen herangebildet worden sind. Wohl aber hat der Verfasser obiger Zeilen [bezieht sich auf ein Zitat aus der Sächsischen Schulzeitung Nr. 22, 1864] recht, daß man diese Aufgabe der Volksschule nicht zumuten darf und daß es unbillig wäre, dies zu tun. Die Volksschule hat andere Aufgaben zu lösen, als sich mit geistig Schwachen und Stumpfsinnigen herumzumühen. Diese hindern und hemmen nur. - Wieviel Höheres würde sie erreichen können, wenn sie von der Sorge um diese befreit würde! Man nehme die Schwächsten aus der Volksschule heraus und man wird letztere in den Stand setzen, um so eher den Forderungen der Gegenwart nachzukommen.[10]

Bald darauf sind die Hilfsschulpädagogen bemüht, für ihren Schultyp eine schulorganisatorisch abgesicherte Eigenständigkeit zu erreichen. Es folgt die enorme Ausweitung und Ausdifferenzierung des "Hilfsschulwesens" unter Zuhilfenahme von naturwissenschaftlich abgesicherten defektorientierten Zuschreibungen. Verschiedene Benennungen geben Zeugnis davon, wie die Heilpädagogik versucht, sich als wissenschaftlich abgesicherte Disziplin in die Nähe von Medizin und Psychologie zu stellen. Erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gerät die inzwischen in "Sonderschule" umbenannte "Hilfsschule" in eine schwere Krise; durch einen Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften muss sie nunmehr erstmals in ihrer Geschichte ihre Berechtigung legitimieren. Als Konsequenz aus dieser Legitimationskrise entstehen in den 80er Jahren die ersten Versuche einer Integrationspädagogik, die für die Schulbildung sogenannter Sonderschüler an allgemeinen Grundschulen plädiert. Die moderne Erziehungswissenschaft problematisiert die Geschichte der Sonder- und Heilpädagogik und fordert die Wiederherstellung der Nähe zur allgemeinen Pädagogik sowie die Umbenennung in "Integrationspädagogik".

Schon bei der Gründung von eigenständigen Hilfsschulen vor 100 - 120 Jahren standen die Hilfsschullehrer vor der Notwendigkeit und dem Problem, Abgrenzungs- und Selektionskriterien zu finden; denn der potentielle Hilfsschüler mußte als solcher eindeutig charakterisiert werden. Die objektive Erfassung hilfsschulbedürftiger Kinder hatte sich aber schon bald als unmöglich herausgestellt und ist bis heute, trotz ständigen Bemühens und unter Zuhilfenahme medizinischer und psychologischer Erklärungsversuche, mißlungen. Diese defektorientierte Sichtweise führte schließlich zur Herausbildung eines individuumzentrierten Paradigmas mit der Konsequenz, daß sozio-ökonomische sowie schulorganisatorische und interaktionistische Verursachungsfaktoren aus dem Blickfeld gerieten und Lernversagen einseitig als organisch-genetisch bedingt interpretiert wurde.[11]

1.1 Die heile Welt der Heilpädagogik

Die Überforderung der allgemeinen Schulen führt zur Errichtung von Sonderklassen und Hilfsklassen, die meist den Regelschulen angeschlossen werden. "Behinderung" wird nicht im Zusammenhang mit sozialen Faktoren gesehen, sondern - gestützt auf ein medizinisch-naturwissenschaftliches Paradigma - auf die individuelle psychische und biologische Disposition reduziert. In den gemeinsamen Schriften des Arztes Jan Daniel Georgens und des Lehrers Heinrich Marianus Deinhardt wird 1861 der Begriff "Heilpädagogik" erstmals verwendet; er soll auf die Verbindung zweier Disziplinen - der Pädagogik und der Medizin - hinweisen:

Die Heilpädagogik hat es mit Individuen zu tun, welche - sei es ursprünglich oder in Folge tief eingreifender und nachhaltig wirksamer ungünstiger Einflüsse - an ausgesprochenen Organisationsfehlern leiden oder, auch ohne daß solche nachweisbar wären, derartig entartet sind, daß sie, um der "Normalität" wieder angenähert zu werden, einer besonderen Behandlung bedürfen und als noch unentwickelt oder in der Entwicklungszeit begriffen, mit Aussicht auf Erfolg zulassen.[12]

Die Heilpädagogik lehnt sich in ihrer Begriffsbildung an die Medizin und die Psychologie an

und hat ihre wissenschaftliche Begründung auf dem Begriffspaar "Normalität" und

"Abnormität" aufgebaut.

Der Begriff der Heilpädagogie und der der Abnormität verknüpfen sich miteinander. Wir müssen also den Begriff der Normalität feststellen, um zum Abnormen zu gelangen. [...] Nach dem Gesagten also befaßt sich die Heilpädagogie mit der - in den Schulen für Normale nicht erreichbaren - speziellen Erziehung und Heilung der den Normalen gegenüber untergeordneten und von dem Normalen körperlich und psychisch abweichenden Kinder und Jugendlichen.[13]

Behinderung wird als Defekt gesehen und dieses defektorientierte Modell ist bis heute die Basis der Sonderpädagogik, die in ihrer Sprache die organische Schädigung eines Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dementsprechend gestaltet sich eine Begrifflichkeit, die sich behindertenorientiert an Schülerdefiziten ausrichtet und an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: Die Schüler werden als abartig, krank, schwachsinnig, minderbegabt, entartet, minderwertig, intelligenzgeschädigt, sozio-kulturell benachteiligt, soziöokonomisch benachteiligt, milieugeschädigt, depriviert u.a.m. bezeichnet. Zugleich ermöglichte der Terminus "Heil-Pädagogik" dem Berufsstand der Heilpädagogen eine Partizipation an der Medizin, da der Begriff die Möglichkeit der "Heilung" von einer vorliegenden Krankheit impliziert.

Mein Thema jedoch setzt diesen Unterschied von normal und krank als gegeben voraus. Es setzt mindestens die Existenz einer Normalschulpädagogik voraus. Was in diesem Zusammenhang "normal" heißt, ist nicht schwer zu sagen. Denn der Begriff und das Ziel der Normalschulpädagogik ist durch behördliche Festsetzungen, durch Lehrpläne und Leistungsforderungen bestimmt.[14]

Spranger geht von dieser Grundannahme aus und teilt sodann das Schulwesen ein:

Der Taube, der Blinde, der Vollidiot, der Epileptiker, der bewegungsunfähige Krüppel, der Geisteskranke, der schwere asoziale Psychopath, - sie alle müssen dauernd einer besonderen Fürsorge überwiesen werden, die so stark von medizinischen Gesichtspunkten her bestimmt wird, daß diese Formen der Heilpädagogik aus dem Rahmen des öffentlichen Normalschulwesens weit herausfallen. In der Mitte zwischen beiden aber liegt die Zwischenzone derjenigen Krankheiten, die eine Anlehnung der Erziehung an das Normalschulwesen noch gestatten. Für sie ist das System von Sonderschulen geschaffen worden [...].[15]

Viele Autoren machen im Zusammenhang mit der Geschichte der Hilfsschulbewegung auch berufsständische Motive für die eigenständige Schulentwicklung der Sonderschule geltend. Schon 1898 schließen sich die Hilfsschullehrer Deutschlands zum "Verband der Hilfsschulen Deutschlands" (VdHD), später umbenannt in VDS ("Verband Deutscher Sonderschulen") zusammen. In Österreich gründet sich die "Österreichische Gesellschaft für Heilpädagogik", deren Mitglieder sich aus verschiedenen sonderpädagogischen Berufsfeldern zusammensetzen. Der VDS kämpft schon am Anfang des 20. Jahrhunderts für die schulorganisatorische Eigenständigkeit der Hilfsschulen und ihre Anerkennung als "Spezialschulen", indem er insbesondere auf die heilpädagogische Kompetenz dieser Schulen hinweist.

Unter Berufung auf die biologisch-medizinische Kategorie "Schwachsinn" konnten die Hilfsschullehrer das Phänomen "Schulversagen" anthropologisieren, eine wesensmäßige Andersartigkeit ihrer Schüler betonen und damit die Notwendigkeit der Hilfsschule begründen.

Die defektorientierte Sichtweise führte schließlich zur Herausbildung eines individuumzentrierten Paradigmas mit der Konsequenz, daß sozioökonomische sowie schulorganisatorische und interaktionistische Verursachungsfaktoren aus dem Blickfeld gerieten und Lernversagen einseitig als organisch-genetisch bedingt interpretiert wurde. [...] Die Sonderschulentwicklung war vielmehr das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Einflußfaktoren: sowohl ökonomischer als auch der Entlastungsfunktion für die Volksschule; vor allem aber die Interessen der Hilfsschullehrer stellten die entscheidende Größe dar. Das ist auch heute noch so.[16]

1.2 Die Sonderschule und ihre Legitimationskrise

Ende der 60er Jahre findet die Kritische Theorie Eingang in die Erziehungswissenschaften und spätestens mit dem Erscheinen des Buches von Klaus Mollenhauer[17]wird Erziehung unter dem Aspekt des "kommunikativen Handelns" diskutiert. Zunehmend wird dem interaktionistischen und reproduktiven Paradigma in den Erziehungswissenschaften Raum gegeben. Der Paradigmenwechsel hat eine gesellschafts- und ideologiekritische Diskussion ausgelöst, der die Sonderpädagogik zunächst hilflos gegenübersteht. Zeitgleich hinterfragt die Kritik die Legitimation der Sonderschule, und stützt sich dabei auf die historisch-gesellschaftliche Analyse der Hilfsschulpädagogik, die Infragestellung des traditionellen Behindertenbegriffs und die unzureichende Begründung der Aussonderung von "lernbehinderten" Kindern und Jugendlichen. Abweichung setzt einen Norm-Begriff voraus, der jetzt aber als ökonomisch-gesellschaftlich produziert gesehen wird. Die Diagnostik, der eine gewisse Willkür anhaftet, wird als Selektionsdiagnostik nach ihrer gesellschaftlichen Funktion hinterfragt. Vor allem aber befassen sich mehrere Untersuchungen mit der Effizienz der ASO mit dem Ergebnis, dass dieser Schultyp zunehmend in Frage gestellt werden muss. Der Sonderschullehrer Jochen Korte beschreibt in seinem Bericht den Sonderschulalltag realitätsnah und veröffentlicht damit, unter welchen Bedingungen nach der Feststellung der Sonderschulbedürftigkeit im "Schonraum" Sonderschule Unterricht stattfinden muss:

Ausdrücke wie Dummschule, Doofschule, Beklopptenschule, die in der Öffentlichkeit durchaus noch gebräuchlich sind, unterstreichen, daß diese Schulart eben noch nicht als helfende oder heilende Institution angesehen wird. Ja, einige Eltern und sogar Lehrer drohen oft mit der Umschulung, wenn Kinder nicht ihren Leistungserwartungen entsprechen. So werden Sonderschüler durch Abwertung und Verächtlichmachung in eine soziale Randstellung gedrängt, aus der sich eine Vielzahl von Identifikations- und Verhaltensproblemen ergeben.[18]

Mit Recht erhebt sich die Frage, ob durch Sonderbeschulung Probleme aufgefangen werden können oder ob sie nicht vielmehr besondere Problematiken begünstigt bzw. bedingt. Neben Unterrichts- und Verhaltensproblemen, die sich in der ASO als Auffangbecken für SchulversagerInnen fast zwangsläufig ergeben, sieht sich die Institution in ihrem Ruf gefährdet. Auch die Umbenennung in Sonderschule bringt nicht den gewünschten Erfolg, und zudem kann die ASO dem Erwartungsdruck, sie könne den Leistungsstand ihrer SchülerInnen dem der RegelschülerInnen angleichen, nicht entsprechen. Nicht nur Ulrich Bleidick äußert sich zur Problematik der Effizienz von Sonderschulen hinsichtlich des Unterrichtserfolges:

[...] die wiederholt getroffene Aussage, mit dem Abschluß der Lernbehindertenschule werde im Leistungsstand mehr erreicht als mit dem "abgebrochenen Volksschulabschluß", erscheint fraglich und kann sich zu einem frommen Selbstbetrug verfestigen.[19]

Alfred Sander referiert eine Reihe von Effizienzuntersuchungen, die seit den 60er Jahren durchgeführt wurden. Die Fragestellung etwa, ob die Sonderschule durch eine besondere Pädagogik imstande ist, die Schulleistungsschwächen ihrer SchülerInnen auszugleichen oder ob sie die Versagenserlebnisse dieser SchülerInnen perpetuiert und fixiert, untersucht Günter Stranz 1966.

Stranz (1966, 276) zieht aus seiner Untersuchung den Schluß, daß die Schülerschaft der Hilfsschule viel zu heterogen zusammengesetzt ist und daß die Hilfsschule faktisch nicht mehr das schwachbefähigte Kind zu rehabilitieren versucht, sondern immer mehr den "verwahrlosten oder milieugestörten Normalintelligenten" in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellt. Hilft die Hilfsschule also noch denjenigen Kindern, um deretwillen sie entstanden ist?[20]

Ulrich Bleidick untersucht 1966 den unterschiedlichen Leistungsstand von AbsolventInnen der Sonderschule und der Hauptschule und kommt zum Ergebnis, dass es der Sonderschule nicht gelingt, den Leistungsrückstand gegenüber den RegelschülerInnen aufzuholen.

Man kann also festhalten, daß der Leistungsrückstand im Fach Mathematik am Ende der Hilfsschulzeit nach Bleidicks Untersuchungen etwa 4 bis 5 Jahre beträgt; d.h. er hat sich durch den Hilfsschulbesuch offensichtlich nicht verringert.[21]

Die Untersuchung von Otto Böhm (1967) bestätigt die gewonnenen Daten in bezug auf die Rechtschreibleistungen von HilfsschülerInnen dahingehend, dass auch im Rechtschreiben die Leistungen der HilfsschulabgängerInnen nicht besser sind als in der vierten Klasse der Grundschule. "Auch im Rechtschreibunterricht kann also kaum Effizienz der Lernbehindertenschule behauptet werden."[22]

Einen Effizienzvergleich hinsichtlich der Schulleistungen in Rechnen, Lesen und Rechtschreiben strebt die Untersuchung von Willi Ferdinand und Roswitha Uhr (1968) an und kommt dabei zum Ergebnis, dass auf einer niedrigeren Schulstufe "der neunklassigen Grund- und Hauptschule entlassen zu werden, [...] sich [...] im Schulleistungsvergleich jedenfalls nicht schlechter aus[wirkt], als wenn der Schüler die Lernbehindertenschule mit Abschluß verläßt."[23]

Die Untersuchungen von Frauke und Heinz-Dieter Basler (1972 und 1973) führen zu ähnlichen Ergebnissen: "die Behauptung, der Effekt der Sonderbeschulung liege in einer

Erhöhung der Intelligenz, kann jedoch nicht länger aufrecht erhalten werden."[24]

Die Ergebnisse einer Studie von Sander (1972/73) belegen, dass die Leistungen von AbgängerInnen der Sonderschulen "ebenfalls erheblich unter der durchschnittlichen Leistung von Grundschülern der Klassenstufe 3"[25]zurück blieben. Wenn auch im Einzelfall eine Sonderbeschulung günstig sein kann, so zeigen die Untersuchungen doch ganz deutlich,

daß die Lernbehindertenschule ihre Schüler im Durchschnitt nicht so zu fördern vermag, daß man guten Gewissens sagen könnte, die Förderung sei jedenfalls besser, als die Regelschule diese Schüler hätte fördern können. Die Lernbehindertenschule in Deutschland kann ihre Existenz in der Tat nicht mit besseren Unterrichtsergebnissen rechtfertigen![26]

Ähnlich skeptisch hinsichtlich der Rechtfertigung von Sonderschulen äußert sich Adrian Kniel, wenn er die Schule für Lernbehinderte als Sammelbecken für SchulversagerInnen problematisiert. "Die Schule für Lernbehinderte erreicht das Ziel einer optimalen Förderung der Schulleistungen der ihr anvertrauten Schüler nicht. Sie reproduziert gleichzeitig die Selektivität des Regelschulsystems."[27]Wenn auch für die tatsächlichen Schulleistungen kein positiver Effekt durch die Sonderbeschulung nachweisbar ist, so könnten doch günstige Effekte hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung eintreten, auf die Sonderschul-pädagogInnen, die die Sonderschule als "Schonraum" sehen, immer wieder rekurrieren. In diesem Zusammenhang verweist Kniel darauf, dass "zu diesem entlastenden Effekt der Sonderschulüberweisung aber eine negative Einschätzung schlechter Schüler bzw. generell von Sonderschülern durch nichtbehinderte Schüler hinzu[tritt], die sich stigmatisierend auswirkt."[28]

Zur Kritik der Sonderschule ist weiters anzuführen, dass dieser Schultyp, der die Einweisung als vorläufige Maßnahme zur baldigen Reintegration in das Regelschulwesen vorsieht, diesem Auftrag nicht gerecht werden kann. Die Literatur belegt eine Rücküberweisungsquote an die Regelschule von nur einem Prozent.

Die Barrieren vor einer Rückkehr zur Normalschule sind hoch. Zunächst einmal sind die betroffenen Schüler, die ja in ihrer Mehrzahl ein starkes Interesse an ihrer Rückkehr haben (Kaufmann 1966, S. 254), an dem Verfahren gar nicht beteiligt;

[...] Schließlich ist zu bemerken daß die Sonderschule das ganze Verfahren dominiert. Ohne ihren Antrag bzw. ohne ihre Befürwortung kehrt kein Schüler zur Normalschule zurück.

[...] Die juristisch vorgesehene Möglichkeit der Rückkehr zur Normalschule findet also de facto nicht statt. Die herrschende Sonderpädagogik sieht den Grund dafür vor allem im Sonderschüler selbst und hat dies vielfach zu begründen versucht.[29]

Auch Johanna Aab u.a. kritisieren, dass "der überwiegende Teil der Hilfsschüler nicht die Berufsreife, den Hauptschulabschluß [erreicht]. Zudem liegt die Rückschulungsquote an die Regelschule in der BRD gegenwärtig noch unter 1%."[30]

In den meisten Fällen ist also die Einweisung in die Sonderschule ein irreversibler Prozess, der auch durch die Festschreibung zu SonderschülerInnen mitgetragen ist und dadurch in der biographischen Identität ehemaliger SonderschülerInnen häufig lebenslang verankert wird.

1.3 Integrationspädagogik

Zeitgleich mit der Kritik an der bestehenden Sonderschule hat die Integrationsdiskussion begonnen. Eine Veränderung des Selbstverständnisses der Sonderpädagogik ist durch die neuen Erkenntnisse der Erziehungswissenschaften und die veränderten ökonomischen und sozialen Bedingungen angezeigt. Die Schule ist im Zeitalter des schnellen Wissens hinsichtlich ihrer Lerninhalte und Unterrichtsmethoden zu hinterfragen. Auch die weiter oben ausgeführten neuen Erkenntnisse bezüglich des Behindertenbegriffes sowie der Folgen von Aussonderung und Stigmatisierung machen eine Neuorientierung der sonderpädagogischen Theorie und eine Diskussion der Schulorganisation notwendig. Nach 15 Jahren Integrationsdiskussion haben die BefürworterInnen der Integrativen Schule die Veränderung des österreichischen Schulorganisationsgesetzes durchgesetzt. Die 17. SchOG-Novelle (1997) regelt nach der Möglichkeit des integrativen Unterrichts in der Volksschule (15. SchOG, 1993) auch die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den weiterführenden Schulen der Sekundarstufe 1. IntegrationspädagogInnen fordern mit Nachdruck Chancengleichheit durch ein nichtdiskriminierendes Schulsystem, Integration in das Regelschulwesen und das Recht auf Selbstbestimmung. Die Sonderpädagogik soll sich wieder zur allgemeinen Pädagogik hin öffnen:

Die Sonderpädagogik ist deshalb aufgefordert, den pädagogisch nicht begründbaren Anspruch auf Eigenständigkeit und nach einer Spezialdisziplin aufzugeben und sich für die Reintegration in die Allgemeine Erziehungswissenschaft zu öffnen. Die verhängnisvolle, heute nicht mehr zu rechtfertigende Trennung von Pädagogik und Sonderpädagogik muß durch die Integration sonderpädagogischer Problemstellungen in die Allgemeine Erziehungswissenschaft überwunden werden.[31]

Nach Auffassung der Integrationspädagogik sind auch die SonderpädagogInnen und SonderschullehrerInnen angehalten, ihre Berufseinstellung grundsätzlich zu überdenken und sich, wie es das Schulorganisationsgesetz vorsieht, für die Integration behinderter Kinder in das Regelschulwesen einzusetzen. Das beinhaltet natürlich auch strukturelle Veränderungen hinsichtlich der LehrerInnenausbildung sowie der Organisation und Aufgabe der Sonderschulen, die nunmehr in "Sonderpädagogische Zentren" umbenannt wurden.

Da sich die Existenz von Sonderschulen und die Ausbildung von Sonderpädagogen aus dem Behinderungsbegriff legitimieren, ergibt sich logischer- und zwingenderweise auch deren Infragestellung. Die Sonderpädagogik hat aufgrund der erfolgreichen Förderung von Kindern mit Behinderungen in allgemeinen Schulen ihren traditionellen Anspruch aufzugeben, diese Kinder nur in Sonderschulen fördern zu wollen. Damit wird das jahrzehntelang vorherrschende Verständnis von Sonderpädagogik als Sonderschulpädagogik endgültig überwunden. Soziale Integration kann nicht durch schulische Separation bewerkstelligt, Eingliederung kann nicht durch Ausgliederung erreicht werden. Auf der Grundlage der individuellen Förderung hat die allgemeine Schule ihre Zuständigkeit auch für Kinder mit Behinderungen anzuerkennen.[32]

1.4 Die Geschichte der Sonderschule in Tirol

Im 19. Jahrhundert führen religiöse und caritativ-humane Beweggründe zur Errichtung von Sonderbetreuungsinstitutionen; die Betreuung von behinderten Menschen wird vorwiegend durch kirchliche und private Träger gewährleistet. Erst im auslaufenden 19. Jahrhundert beginnt sich der Staat für die Erziehung "schwachsinniger Kinder" zu interessieren. In seiner aufschlussreichen Analyse dieser Entwicklung für das Bundesland Salzburg sieht Inghwio aus der Schmitten[33]in der Gründung einer Schule für Schwachsinnige in Hallstatt im Jahre 1816 durch den Lehrer Gotthard Guggenmoos die Vorläuferin der ASO.

Für Tirol kann die Geburtsstunde der Sonderschule mit der Gründung der ersten Hilfsschulklasse an der Gilmschule in Innsbruck im Jahr 1924 datiert werden. Der Lehrer Daniel Sailer - sein Portät hängt heute noch in einigen Sonderschulen - leistet Pionierarbeit beim Aufbau der Hilfsschulen. Vor 1938 bestehen in Tirol bereits fünf Sonderschulen. Während der Zeit des Nationalsozialismus wird die Aussonderung der HilfsschülerInnen durch einen rassenhygienischen Standpunkt begründet und erreicht in der Vernichtung "minderwertigen Lebens" ihren grausamen Höhepunkt:

Mit dem Prinzip der Auslese, der Rassenlehre und den sozialdarwinistischen Vorstellungen der Nationalsozialisten war auch die Einstellung zu den SchülerInnen der Hilfsschule verbunden. Prinzipiell wurde davon ausgegangen, durch die Aussonderung der "schwachsinnigen" Kinder die Volksschule zu entlasten, um die gesunden deutschen Kinder besser fördern zu können. [...] Den als bildungsunfähig eingestuften Kindern wurde der Schulbesuch versagt, ihnen drohte die staatlicherseits betriebene Ermordung durch das Euthanasieprogramm, dem auch in Tirol und Vorarlberg zahlreiche Kinder zum Opfer fielen.[34]

Aus den Sonderinstitutionen (St. Josefsinstitut in Mils, Heil- und Pflegeanstalt in Hall, Institut Mariatal bei Kramsach) wurden PatientInnen nach Niederhart und Schloss Hartheim bei Linz gebracht und ermordet. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich Parallelen im Gedankengut des Nationalsozialismus und der "Heil"-Pädagogik jener Zeit durchaus feststellen lassen, zumindest sprachliche Analogien sind nachweisbar:

Heilen heißt gebrauchsfähig machen. Heilen heißt, die Erziehungsmittel so zu verstärken und so zur Wirkung zu bringen, daß selbst Unterwertige ihren Teil an Kulturgütern erhalten und sich in die Gesellschaft hineinbilden. Heilpädagogik ist Sozialpädagogik. Ist an einer Körperstelle ein Geschwür, so ist unser Gesamtwohlbefinden beeinträchtigt. Unterwertigkeit von Volksgenossen ist ein Geschwür am Volkskörper. Die Heilpädagogik will die kranken Teile des Volkskörpers in bessere Verfassung bringen. Die Notwendigkeit der Heilpädagogik ergibt sich aus der Zahl der geschädigten Volksgenossen.[35]

Zwischen 1938 und 1945 kommt es zu keinem weiteren Ausbau des Sonderschulwesens, denn zur Zeit des Nationalsozialismus

wollte das NS-Regime durch Kürzungen bei der materiellen Ausstattung und beim Personal sowie durch Schulschließungen Geld bei den "Minderwertigen" sparen, um durch die Umverteilung finanzieller Ressourcen die gesunden Kinder stärker fördern zu können.[36]

Im Jahre 1956 wird mit der Errichtung der Hilfsschulklasse in Landeck eine flächendeckende Ausstattung mit Sonderschulen in allen Bezirken Tirols erreicht. Daran anschließend läßt sich eine enorme Ausweitung und Differenzierung des Sonderschulwesens feststellen, und im Jahr 1975 wird ein eigener Landesschulinspektor für Sonderschulen mit der Aufsicht über das Sonderschulwesen Tirols betraut. Vom Land Tirol und von privaten, meist kirchlichen Organisationen werden neben den Allgemeinen Sonderschulen Institute für Menschen mit Behinderungen geschaffen, bzw. erhalten: Eine ASO mit Internat in Thurnfeld, das Internat in Mariatal, das St. Josefs Institut in Mils, das Schulinternat für Mädchen in Martinsbühel bei Zirl, die Landessonderschule für sehgestörte und blinde Kinder in Innsbruck, die Sonderschule für körperbehinderte Kinder in Axams (Elisabethinum) und die Sonderschule für taubstumme und schwerhörige Kinder in Mils bei Hall.

Das Schulgesetzwerk von 1962 und die Lehrplanverordnung von 1963 regeln die Schulpflicht behinderter Kinder, die Organisationsformen und Lehrplanforderungen der Sonderschulen sowie die Schulerrichtung und die Schulaufsicht. Wurde bis dahin die Betreuung der Hilfsschüler oft privaten, von Ländern und Staat geförderten Initiativen überlassen, so ist ab diesem Zeitpunkt eine einheitliche, auf gesetzlicher Grundlage basierende staatliche Regelung des Sonderschulwesens erreicht.

Die Zeit von 1950 bis 1980 ist in Tirol von einer Verdreifachung des Hauptschulbestandes

und parallel dazu einer Verminderung des Volksschulbestandes durch den kontinuierlichen Abbau der Volksschuloberstufe gekennzeichnet. Die prozentmäßig stärkste Steigerung erlebt in dieser Zeit die Sonderschule, nämlich eine Versechsfachung:

Entwicklung der Hauptschule, Volksschule und ASO in Tirol nach durchschnittlichen Relativzahlen in fünf Jahresabständen und den entsprechenden Prozentwerten der jeweiligen Anteile der drei Schultypen. [37]

 

Hauptschule

Volksschule

ASO

1950 - 1955

39 (7,7%)

463 (90,9%)

7 (1,4%)

1955 -1960

46 (8,8%)

467 (88,9%)

12 (2,3%)

1960 - 1965

51 (9,5%)

470 (87,9%)

14 (2,6%)

1965 - 1970

65 (11,8%)

467 (84,6%)

20 (3,6%)

1970 - 1975

89 (16,0%)

441 (79,2%)

27 (4,8%)

1975 - 1980

104 (18,6%)

420 (75,0%)

36 (6,4%)

Bei der Analyse dieser Zahlen fällt auf, dass das frühere Schulsystem der heterogenen Klassen (Abteilungsunterricht, Kleinklassen, Kleinschulen) zugunsten einer zunehmenden Homogenisierung der SchülerInnengruppen mehr und mehr aufgegeben wird. Mit der Anzahl der Sonderschulen wächst auch die Zahl der SonderschülerInnen. Wenn früher noch Kinder in ihrer Wohnumgebung belassen wurden, werden sie jetzt zunehmend an andere Schulstandorte, die über eine (angeschlossene) Sonderschulklasse verfügen, gebracht. In schulorganisatorischer Hinsicht laufen die Bestrebungen verstärkt in die Richtung, angeschlossene Sonderschulklassen zu eigenen Schulen umzufunktionieren, um die Unabhängigkeit in pädagogischer und organisatorischer Hinsicht zu erreichen. Je mehr Sonderschulen an zentralen Orten angeboten werden, umso mehr Kinder werden in diese Sonderschulen "eingewiesen". Weyermüller belegt die enorme Zunahme von Sonderschulen und Sonderschülern zwischen 1950 und 1980:

Durchschnittliche Steigerung in Prozenten aller Sonderschulklassen und Sonderschüler Tirols auf des Basis des Zeitraumes 1950-55 bis 1975-80.

 

Klassen

Schüler

1950−55

44

680

1955−60

59

34%

13281

95%2

1960−65

62

41%

1487

119%

1965−70

89

102%

1676

146%

1970−75

153

248%

2474

264%

1975−80

225

411%

2804

312%

1 durchschnittliche Relativzahl

2 Prozentwert der Relativzahl[38]

Zur weiteren statistischen Entwicklung der Sonderschulen in Tirol zitiere ich aus einem unveröffentlichten Verzeichnis der Sonderschulen Tirols, das vom Landesschulrat für Tirol erstellt wurde:

Schuljahr

Standorte

Klassen

Zahl der Schüler

1984/85

48

231

2075

1985/86

47

229

1883

1986/87

47

226

1775

1987/88

46

217

1629

1988/89

47

216

1589

1989/90

43

212

1502

1990/91

42

211

1461

1991/92

42

216

1472

1992/93

41

212

1454

1993/94

42

214

1455

1994/95

42

221

1479

1995/96

42

216

1451

Wenn wir die vorliegenden Zahlen bezüglich der jüngsten Entwicklung der Sonderschulen betrachten, fällt auf, dass sich die Zahl der SonderschülerInnen seit dem Schuljahr 1993/94 nicht wesentlich verändert hat, obwohl die Integration von "behinderten" SchülerInnen ins Regelschulwesen vorangetrieben wurde, seit die gesetzlichen Bedingungen dafür geschaffen worden sind. Auch die Schulstandorte sowie die Anzahl der Klassen bleiben im wesentlichen seit 1990 unverändert. Die Anzahl der SonderschülerInnen hat allerdings in den 80er Jahren kontinuierlich abgenommen, der Einweisungsboom der 60er und 70er Jahre, der auch im Zusammenhang mit einer gewissen Euphorie, ausgelöst durch die Neuerrichung von Sonderschulen, gesehen werden kann, ist abgebrochen.

Die seit dem Schuljahr 1993/94 in das Regelschulwesen integrierten SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind in dieser Statistik allerdings nicht enthalten. Somit täuschen die Zahlen darüber hinweg, dass sich die Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf - bei gleichbleibendem SchülerInnenbestand der

Sonderschule - entgegen dem Trend der 80er Jahre wieder deutlich erhöht hat, weil die SchülerInnen, die in integrierten Klassen unterrichtet werden, zu dieser Ziffer addiert werden müssen. Laut einer Prognose werden für das Schuljahr 1997/98 ca. 350 in Regelschulen integrierte SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bundesland Tirol erwartet.



[10] Stötzner, Heinrich Ernst: Schulen für schwachbefähigte Kinder (1864), in: Klink, Job-Günter (Hrsg.): Zur Geschichte der Sonderschule (= Klinkhardts pädagogische Quellentexte, hrsg. von Theo Dietrich u.a.), Bad Heilbrunn (Julius Klinkhardt) 1966, 54

[11] Eberwein, Hans: Konsequenzen des gemeinsamen Lernens behinderter und nichtbehinderter Kinder für das Selbstverständnis der Sonderpädagogik und der Förderschulen, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 5, 1994, 290

[12] Georgens, Jan Daniel/Deinhardt, Heinrich Marianus: Heilpädagogische Anstalten als besondere Art von Notanstalten (1861), in: Klink, Job-Günter (Hrsg.): Zur Geschichte der Sonderschule (= Klinkhardts pädagogische Quellentexte, hrsg. von Theo Dietrich u.a.), Bad Heilbrunn (Julius Klinkhardt) 1966, 121

[13] Vértes, Josef O.: Heilpädagogie befaßt sich mit der speziellen Erziehung und Heilung der den Normalen gegenüber untergeordneten und von dem Normalen körperlich und psychisch abweichenden Kinder und Jugendlichen (1918), in: Klink, Job-Günter (Hrsg.): Zur Geschichte der Sonderschule (= Klinkhardts pädagogische Quellentexte, hrsg. von Theo Dietrich u.a.), Bad Heilbrunn (Julius Klinkhardt) 1966, 127-128

[14] Spranger, Eduard: Die Heilerziehung ist bemüht, bereits Erkranktes wieder gesund zu machen (1927), in: Klink, Job-Günter (Hrsg.): Zur Geschichte der Sonderschule (= Klinkhardts pädagogische Quellentexte, hrsg. von Theo Dietrich u.a.), Bad Heilbrunn (Julius Klinkhardt) 1966, 130

[15] Spranger, Eduard: a.a.O., 134

[16] Eberwein, Hans: Zur Kritik des Behindertenbegriffs und des sonderpädagogischen Paradigmas. Integration als Aufgabe der allgemeinen Pädagogik und Schule, in: Eberwein, Hans (Hrsg.): Einführung in die Integrationspädagogik. Interdisziplinäre Zugangsweisen sowie Aspekte universitärer Ausbildung von Lehrern und Diplompädagogen, Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1996, 16

[17] vgl. Mollenhauer, Klaus: Theorien zum Erziehungsprozeß. Zur Einführung in erziehungswissenschaftliche Fragestellungen (= Grundfragen der Erziehungswissenschaft 1, hrsg. von Klaus Mollenhauer), München (Juventa) 1972

[18] Korte, Jochen: Alltag in der Sonderschule. Über die Schwierigkeiten im Umgang mit sogenannten Lernbehinderten, Weinheim/Basel (Beltz) 1980, 13

[19] Bleidick, Ulrich: Pädagogik der Behinderten, Berlin (Marhold) 1972, 219

[20] Sander, Alfred: Schulschwache Kinder in Grundschule oder Sonderschule? Untersuchungen zur unterrichtlichen Effizienz der Lernbehindertenschule, in: Reinartz, Anton/Sander, Alfred (Hrsg.): Schulschwache Kinder in der Grundschule. Pädagogische Maßnahmen zur Vorbeugung und Verminderung von Schulschwäche in der Primarstufe, Weinheim/Basel (Beltz) 1982, 123

[21] Sander, Alfred: a.a.O., 125

[22] Sander, Alfred: a.a.O., 126

[23] Sander, Alfred: a.a.O., 128

[24] Sander, Alfred: a.a.O., 130

[25] Sander, Alfred: a.a.O., 132

[26] Sander, Alfred: a.a.O., 137

[27] Kniel, Adrian: Hat sich die Schule für Lernbehinderte als Sammelbecken für Schulversager bewährt?, in: Sonderpädagogik 11, 1981, 59

[28] Kniel, Adrian: a.a.O., 61

[29] Trabandt, Henning: Wem hilft die Sonderschule? Untersuchungen über die Herstellung und Verwaltung von Dummheit (= Hochschulschriften Erziehungswissenschaft 7), Königstein/Ts. (Athenäum, Hain) 1979, 21

[30] Aab, Johanna/Pfeifer, Tilo/Reiser, Helmut/Rockemer, Hans Georg: Sonderschule zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Für eine Revision der Sonderpädagogik, München (Juventa) 1974, 28

[31] Eberwein, Hans: a.a.O., 1996, 32

[32] Eberwein, Hans: a.a.O., 1996, 29

[33] vgl Aus der Schmitten, Inghwio: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung, Salzburg (Werkstatt) 1985

[34] Schreiber, Horst: Schule in Tirol und Vorarlberg 1938-1948 (= Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Band 14, hrsg. von Rolf Steininger), Innsbruck (Studien-Verlag) 1996, 119

[35] Egenberger, R.: Die soziale und pädagogische Bedeutung der Hilfsschule, in: Die Hilfsschule 21, 1919, 148

[36] Schreiber, Horst: a.a.O., 121

[37] Weyermüller, Friedrich: Die historische Entwicklung der Allgemeinen Sonderschule in Österreich unter besonderer Berücksichtigung des Bundeslandes Tirol. ASO I, Wien (Pädagogischer Verlag Eugen Ketterl)

1980a, 19

[38] Weyermüller, Friedrich: a.a.O., 1980a, 28

2 Die Terminologie der Sonderpädagogik

2.1 Der Begriff der Lernbehinderung

Der Begriff "Lernbehinderung" ist bis heute wenig gesichert und muss in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Sonderschulwesens gesehen werden. Nach dem zweiten Weltkrieg setzt ein enormer Ausbau des Sonderschulwesens ein, wobei die Förderung behinderter Kinder außerhalb des Regelschulwesens vermehrt ins Auge gefasst wurde. Ausgangspunkt dafür sind das Scheitern und die problematische Entwicklung von Kindern im Regelschulwesen sowie die fehlenden Fördermöglichkeiten an den Regelschulen, sei es aus schulorganisatorischen oder unterrichtsdidaktischen Gründen. In dieser Zeit wurde das Sonderschulwesen binnendifferenziert, indem es in verschiedene Sparten aufgegliedert wurde:

  1. Allgemeine Sonderschule (für leistungsbehinderte oder lernschwache Kinder)

  2. Sonderschule für körperbehinderte Kinder

  3. Sonderschule für schwerhörige Kinder

  4. Sonderschule für taubstumme Kinder

  5. Sonderschule für sehgestörte Kinder

  6. Sonderschule für blinde Kinder

  7. Sonderschule für sprachgestörte Kinder

  8. Sondererziehungsschule (für schwer erziehbare Kinder)

  9. Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder (die dem Unterricht an einer allgemeinen Sonderschule nicht zu folgen vermögen)

  10. Heilstätten-Sonderschulen (für Kinder, die längere Zeit in einem Krankenhaus verbringen müssen)[39]

Als wichtigste dieser Spezialschulen entwickelt sich in Österreich die "Hilfsschule", die im Schulorganisationsgesetz 1962 in "Allgemeine Sonderschule" (ASO) umbenannt wird. Die ASO unterrichtet zu 80 Prozent sogenannte "Lernbehinderte", zusätzlich sind meist eine oder mehrere Klassen für schwerstbehinderte Kinder ("Sonderklassen") angeschlossen. Der Begriff "Lernbehinderung" kann allerdings bis heute nicht genau abgegrenzt werden, Definitionen

bewegen sich irgendwo zwischen "Volksschüler" und "Schüler der Schule für geistig Behinderte". Schon der Behindertenbegriff, dem ja auch die SchülerInnen der Schule für Lernbehinderte untergeordnet werden, definiert sich im Kern als ein Scheitern an einer vorgegebenen Norm:

"Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinn gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, daß ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist" (Deutscher Bildungsrat 1973, 32). Behinderung entsteht somit durch Einwirkungen von individuellen und sozialen Faktoren.[40]

Auch wenn hier die gesellschaftliche Dimension von Behinderung anklingt, orientiert sich die Aussonderung von als behindert definierten Kindern aus der Regelschule vorrangig am Lehrplan und den Erziehungszielen dieser Schule:

Bei der Frage der Sonderschulbedürftigkeit spielen außer den skizzierten Einflußfaktoren Konzepte und Methoden im allgemeinen Schul- und Bildungssystem eine wesentliche Rolle. Sonderschulbedürftigkeit ist generell dann gegeben, wenn ein Kind mit einer Behinderung im erziehungswissenschaftlichen Sinn in allgemeinen Schulen nicht oder nicht angemessen gefördert werden kann. Diese Abhängigkeit kommt in der Mehrzahl der Beschreibungen von Sonderschulbedürftigkeit klar zum Ausdruck.[41]

Damit ist die Basis für eine Reihe von unscharfen Definitionsversuchen gegeben, wobei zu bedenken ist, dass die Beeinträchtigung "Lernbehinderung" weder genau abgegrenzt werden kann, noch eine Prognose im Sinne der Dauer dieser Beeinträchtigung beinhaltet. Zudem wird eine Korrelation der Beeinträchtigung zur faktischen Schulorganisation hergestellt, die im Sinne der Schulentwicklung immerhin eine veränderbare Größe darstellt. Daran orientiert sich natürlich auch die Kritik an der Definition:

Nicht jede Beeinträchtigung oder Schädigung führt zu einer Behinderung. Beeinträchtigung, Schädigung und Behinderung sind Phänomene, die Übergangsbereiche haben, in denen sie nicht klar voneinander abgrenzbar sind. Die Entstehung einer Behinderung hängt von individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ab. Solange diese als veränderbar angesehen werden können, ist "Behinderung" keine definitive Zustandsbeschreibung.[42]

Obwohl die Hilfsschule im Verlauf ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte immer wieder Kritiker gefunden hat, kommt sie erst in den 70er Jahren massiv ins Kreuzfeuer der Kritik, sie gerät in eine Krise und muss sich erstmals im Verlauf ihrer Geschichte legitimieren. In den Definitionsversuchen kommt nunmehr auch die Mitbeteiligung der Schule an der "Lernbehinderung" zum Ausdruck, indem anstelle des faktischen Begriffs "Behinderung" neue Terminologien entwickelt werden:

Schulschwäche wird im folgenden als Sammelbezeichnung für Lernstörungen, Teilleistungsschwächen, Verhaltensstörungen, Sprachschwierigkeiten, drohende und leichtere manifeste Behinderungen aller Art sowie für ähnliche Beeinträchtigungen verwendet, unabhängig davon, ob die Beeinträchtigung überwiegend psychosozial, soziokulturell oder organisch bedingt ist. Die Bezeichnung Schulschwäche soll auch die Schwäche der Schule bei der Förderung der betroffenen Kinder zum Ausdruck bringen.[43]

Von der individuellen Beeinträchtigung und personalen Schädigung ausgehend, war es für die Heilpädagogik noch relativ leicht, die Aussonderung "lernbehinderter" Personen zu begründen. Die Hilfsschulpädagogik gerät bei der Zuschreibung "Lernbehinderung" seit den 70er Jahren zunehmend in Erklärungsnotstand, flüchtet sich in eine Begriffsverwirrung und kann bis heute keine genaue Definition geben.

Zwar ist die Diagnostik um terminologische Genauigkeit bemüht, kreist jedoch um Begriffe wie "Lernstörung", "Lernbehinderung", "Entwicklungsverzögerung", "Verhaltensstörung", "Schulschwäche", "Schulversager", "Schulleistungsschwäche", "Sonderschulbedürftigkeit", "verminderte Schulleistungsfähigkeit", "Teilleistungsschwäche" u.v.a. und löst dadurch immer mehr Verwirrung unter den Sonderpädagogen aus. Dem Verband deutscher Sonderschulen (VDS) ist es daher ein Anliegen, zumindest die sprachlichen Missverständnisse auszuräumen, wenn schon keine wissenschaftlich abgesicherte Terminologie gefunden werden kann:

Obgleich keine Einigung über eine einheitliche Definition, was Störung, was Behinderung sei, erzielt werden konnte, sehr wahrscheinlich auch nicht werden kann, hat man doch den einhelligen Gebrauch der Ausdrücke gebilligt und dies so vorgeschlagen, damit man einander versteht und nicht durch unterschiedliche Terminologie Mißverständnisse fördert.[44]

Da der VDS - und damit die Sonder- und Heilpädagogen - bei seinen Tagungen nicht zur Problemlösung beitragen kann, bemüht er sich mit Arbeitsbegriffen der Begriffsverwirrung

und der Kritik zu entkommen:

Und allgemein ist bisher nicht definiert worden, was eine Lernbehinderung ist. Wir finden die "Lernbehinderten" in einer breiten Zone von Grenzfällen zwischen Grund- und Hauptschulkindern einerseits und jenen Sonderschülern, deren Ursachen der verminderten Schulleistungsfähigkeit eindeutig beschrieben und festgestellt werden kann. Es handelt sich also um ein jeweils von Schüler zu Schüler durchaus unterschiedliches Syndrom von "Lernschwierigkeiten", die einen ausreichenden Lernerfolg in der allgemeinen Schule nicht möglich machen. Daß dabei organische (neurologische), soziale, pädagogische (auch schulpädagogische) und durchweg psychische (einschließlich der intellektuellen) Faktoren ineinandergreifen, macht das Problem nicht leichter.[45]

Die Zeiten der Individualdiagnostik haben ausgedient, immerhin bekennt sich der VDS zur Unklarheit des Begriffes "Lernbehinderung", für den der Bezugsrahmen Regelschule das einzig eindeutig feststellbare Merkmal zu sein scheint; außerdem ist bemerkenswert, dass nunmehr auch schulpädagogischeUrsachen eingeräumt werden.Obwohl der Begriff Lernbehinderung nicht eindeutig definierbar ist, daher ein Relativum bleibt und eine Aufstellung der Kriterien für Lernbehinderung sogar unmöglich ist, beharrt der VDS auf einem schulrechtlich abgesicherten Feststellungsverfahren:

Da es sich um eine pädagogische Entscheidung handelt, deren Voraussetzungen durchweg von der aufnehmenden Sonderschule am besten beurteilt werden können, soll diese für das gesamte Verfahren federführend sein.

Das Feststellungsverfahren darf nicht in unverbindliche Empfehlungen oder pädagogische Hinweise ausgehen. Es ist Voraussetzung für einen schulrechtlich bedeutsamen Verwaltungsakt, der juristisch nachprüfbar ist. Daher muß das Verfahren verwaltungsmäßig und schulrechtlich abgesichert und praktikabel sein.[46]

Seither bemüht man sich, Verfahren und Modelle anderen Wissenschaften anzugleichen, objektive Tests sollen subjektive Entscheidungskriterien zurückdrängen. Sonder- und HeilpädagogInnen entwickelten immer wieder neue Theorien zur Klassifikation und Kategorienbildung, bis heute hat keine der Kritik standgehalten. Auch die aktuelle Forschung, die den Begriff "Förderdiagnostik" eingeführt hat, kann sich der Kritik an dem Rahmen, den jedes Diagnoseverfahren a priori voraussetzt, nicht entziehen. Die Klassifikation der sogenannten Selektionsdiagnostik - auch "Einweisungsdiagnostik" bzw. "Auslesediagnostik" genannt - kann immer nur auf der Grundlage eines bestimmten Blickwinkels erfolgen, die ich hier kurz beschreiben möchte: Grundsätzlich agiert eine Diagnostik auf der Ebene der Schulorganisation, wenn sie SchülerInnen als "lernbehindert" beschreibt, die den Anforderungen der Regelschule nicht gewachsen sind. Naturwissenschaftlich orientierte Diagnostik bedient sich der Testpsychologie (intelligenzdiagnostisches Verfahren), um durch Messverfahren den Intelligenzquotienten zu ermitteln und damit die Sonderschulbedürftigkeit intelligenzdiagnostisch zu belegen. Erst in den 70er Jahren ist einesoziokulturelle Betrachtungsweise entwickelt worden, wonach "lernbehinderte" Kinder aufgrund ihres verarmten Umfeldes als solche diagnostiziert werden ("Lernbehinderung aufgrund von Milieuschädigung"). Vergleicht man den erreichten Entwicklungsstand eines Kindes mit den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, so kann man unter diesem Aspekt dann eine Entwicklungsverzögerung diagnostizieren, wenn Kinder einen nicht altersgemäßen Entwicklungsstand erreicht haben. Schließlich stellt ein Diagnoseverfahren, das sich an der Lerntheorie orientiert, die Lernschwierigkeiten von Kindern in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und zieht somit eine lernpsychologische Betrachtung zur Diagnostik heran. Alle Testverfahren, die die Sonderschulbedürftigkeit belegen sollen, können nur einen Zustand feststellen, der aber auch von zusätzlichen Faktoren abhängig ist; daher können alle Diagnoseverfahren aufgrund ihrer Abhängigkeit von Zufall und Willkür keine eindeutig wissenschaftlich abgesicherten Befunde ermitteln. Trotzdem entsteht der Eindruck, dass eine ermittelte Diagnose einen faktischen Zustand definiert, der unabänderlich ist, denn eine Prognose bezüglich des Verlaufs der konstatierten "Schulschwäche" kann nicht gestellt werden. Daher kritisieren eine Reihe von AutorInnen, dass zirkelschlüssig nur jene SchülerInnen als "lernbehindert" definierbar sind, die die Sonderschule besuchen, dass also Lernbehinderung letztlich nur ein Arbeitsbegriff im Sinne der Schulorganisation und Schulverwaltung sein kann.

Alle Definitionsversuche, welche sich auf Merkmale der betroffenen Individuen richten, sind für wissenschaftliche Zwecke ungenügend, da aus ihnen keine klaren Zuordnungsregeln ableitbar sind. Schüler werden aus verschiedenartigen individuellen Gründen in die Sonderschule für Lernbehinderte eingewiesen, wobei der äußere Anlaß in der Regel ein Schulversagen ist. Somit ist das einzige allgemein zutreffende Merkmal von "lernbehinderten" Schülern, daß sie in der Regelschule versagen und deshalb eine Schule für Lernbehinderte besuchen.[47]

Die Begründungsversuche verlaufen offensichtlich zirkulär: SchülerInnen, die die Volksschule nicht bewältigen, werden in eigene Schulen separiert. Diese beanspruchen Eigenständigkeit neben der Regelschule, begründen diese Eigenständigkeit durch ihre SchülerInnen und schreiben diesen eine Randständigkeit zu, um die Existenz dieser Schulform zu legitimieren. Dazu kommt, dass die Hilfsschule (ASO) die einzige Schule ist, die die Rekrutierung ihrer SchülerInnen begründen muss ("Einweisungsverfahren") und außerdem auch keine SchülerInnen abweisen kann.

Schon bei der Gründung von eigenständigen Hilfsschulen vor 100-120 Jahren standen die Hilfsschullehrer vor der Notwendigkeit und dem Problem, Abgrenzungs- und Selektionskriterien zu finden; denn der potentielle Hilfsschüler mußte als solcher eindeutig charakterisiert werden. Die objektive Erfassung hilfsschulbedürftiger Kinder hatte sich aber schon bald als unmöglich herausgestellt und ist bis heute, trotz ständigen Bemühens und unter Zuhilfenahme medizinischer und psychologischer Erklärungsversuche, mißlungen. Diese defektorientierte Sichtweise führte schließlich zur Herausbildung eines individuumzentrierten Paradigmas mit der Konsequenz, daß sozio-ökonomische sowie schulorganisatorische und interaktionistische Verursachungsfaktoren aus dem Blickfeld gerieten und Lernversagen einseitig als organisch-genetisch bedingt interpretiert wurde.[48]

2.2 Der Behindertenbegriff

Das größte Problem meiner Schüler scheint ihre Zwitterstellung zwischen normal und behindert zu sein. Sie sind behindert, aber sie nehmen die Eigenart ihrer Behinderung nicht wahr. Sie werden von der Umwelt weder als Behinderte erkannt noch anerkannt. [...] Kaum jemand weiß, was ein "Lernbehinderter" ist. Und der "Lernbehinderte" weiß es am allerwenigsten. Daraus ergeben sich permanente Rollenkonflikte. Sogenannte Lernbehinderte haben es nicht zuletzt deswegen so schwer, sich im sozialen Umfeld richtig einzuordnen und zu verhalten, weil sie so normal sind.[49]

In seinen Berichten aus der Praxis fällt es auch dem Sonderpädagogen ziemlich schwer, sich für eine Zuordnung seiner SchülerInnen zwischen behindert und normal zu entscheiden; jedenfalls definiert Jochen Korte hier ein zentrales Problem: Ist der Lernbehinderte ein Behinderter? Die Geschichte der Sonderbeschulung hat uns gezeigt, dass durch die Institutionalisierung der Sonderschule und die grundgelegte Diagnostik eine Beschreibung des Lernbehinderten als defekt erfolgt. Die Abweichung von der normalen SchülerInnenpopulation wird durch die Zuweisung festgeschrieben und in der Diagnostik formuliert. Behindertenorientiertes Denken zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sonderbeschulung von Lernbehinderten, manche AutorInnen sehen darin das Ergebnis einer geschichtlich gewachsenen Entfremdung zwischen Sonderpädagogik (Lernbehindertenpädagogik) und Allgemeiner Pädagogik. Erst durch eine hinreichende Objektivierung und Individualisierung der Zuschreibung "Lernbehinderung" kann dem betreffenden Individuum der Status "Behinderung" attestiert werden. Nur "Behinderten" kann sonderpädagogische Unterstützung zuteil werden, nur sie sind in der Institution Sonderschule verortet, legitimieren so sonderpädagogisches Handeln und rechtfertigen damit den Schultyp sowie die fachkompetente Betreuung.

Überblickt man so die Geschichte der Sonderpädagogik, ausgehend von den Defekt-, Defizit- und Syndromtheorien bis zum 'offenen' Begriff von Lernbehinderung, so entpuppt sie sich in ihrer allgemeinen Tendenz als eine Geschichte ständiger Rückzugsgefechte und schleichender Verunsicherung. Am Ende dieses Prozesses steht schließlich ein inhaltlich völlig unbestimmter Behindertenstatus, der aber den Betroffenen deshalb aufgezwungen werden muß, weil nur der, der sich als Behinderter zu erkennen gibt, (nicht nur sozialpolitisch, sondern auch - und das ist das Bezeichnende) sonderpädagogisch gesehen ein Recht auf besondere Förderung haben soll.[50]

Mit der Zuschreibung des Syndroms Lernbehinderung beginnt die Stigmatisierungsgeschichte der SonderschülerInnen, die in der Literatur hinreichend belegt ist. Wiewohl dem Begriff der Lernbehinderung und seinen Definitionsversuchen Unklarheit anhaftet und hinsichtlich seiner Zuschreibung ein gewisses Maß an Willkür nicht zu leugnen ist, ist die schulorganisatorische und juristische Praxis Alltag. In der Sonderschule angelangt, ergeben sich für abweichende SchülerInnen Probleme, die in der Öffentlichkeit kaum erkannt und diskutiert werden. Schulinterne Probleme sind letztlich "soziale Probleme", die aber immer noch dem Individuum und seiner Disposition angelastet werden. SonderschülerInnen sind als Behinderte stigmatisiert. Ein Indiz dafür gibt der Praktiker Korte, wenn er beschreibt, wie es gerade für Lernbehinderte notwendig ist, sich von sogenannten "Behinderten" abzugrenzen:

Meine Schüler leben in ständiger Angst, mit den Geistigbehinderten verwechselt zu werden. Das traumatische Erlebnis der Umschulung reaktiviert sich, wenn sie sich der Tatsache bewußt werden, daß es eigentlich noch eine Station tiefer gibt. Andrerseits versuchen sie sich durch verbale Abgrenzung selbst zu profilieren. Obwohl sie selbst zu einer Behindertengruppe gehören, mokieren sie sich lautstark und oft auch in gemeiner Weise über die Kinder vom Sonderhort: "Denen kommt die Doofheit aus'm Gesicht raus." Oder: "Die sind zum Scheißen zu doof," sind Kommentare, die ich bei meinen Sonderschülern oft höre. Und es gibt für sie nichts Schlimmeres, als einen Lernbehinderten als Angehörigen einer Geistigbehindertenschule oder des Sonderhorts zu bezeichnen. [...] Der fahrlässige Umgang mit den Begriffen "geistigbehindert" oder "lernbehindert" und die mangelnde Aufklärung in der Öffentlichkeit bewirken ein derart unklares, verworrenes Bild über die Lernbehindertenschule, daß die Betroffenen, nämlich die Schüler selbst, über das Urteil anderer erschrocken sind. So führen sie denn in ihrer eigenen, aggressiven Art einen Grabenkampf voller verbaler Giftigkeiten gegen die Geistigbehinderten. Schule für Lernbehinderte. Was ist das also? Eine Schule für Geistesschwache, Minderbemittelte, eben Doofe? Oder eine Schule für die Prügelnden, die ewigen Störer, die Verhaltensauffälligen?[51]

Sind die SchülerInnen der Sonderschule für Lernbehinderte nun behindert oder nicht? Ohne diese Frage klären zu können, möchte ich darauf hinweisen, dass die Zuordnung zur Sonderschule immerhin ihren Status in der Öffentlichkeit festschreibt, die Betroffenen müssen ihre Disposition erklären. Im Sinne der interaktionistischen Theorie werden wie immer geartete SchülerInnen somit zu Behinderten, sie werden zu Behinderten objektiviert, alle Eigenschaften, die in der sozialen Interaktion für Behinderte ausgehandelt werden, treffen nunmehr auch auf sie zu.

Wenn das Schulorganisationsgesetz 1962 die Aufgaben der verschiedenen Sonderschultypen benennt, baut es auf dem Behindertenbegriff auf und läßt damit auch die SchülerInnen der ASO unzweifelhaft als diskreditierbare "Behinderte" erscheinen:

Die Aufgaben der Sonderschule nennt § 22 des Schulorganisationsgesetzes (1962): "Die Sonderschule in ihren verschiedenen Arten hat physisch oder psychisch behinderte Kinder in einer ihrer Behinderung entsprechenden Weise zu fördern, ihnen nach Möglichkeit eine den Volks- oder Hauptschulen entsprechende Bildung zu vermitteln und ihre Eingliederung in das Arbeits- und Berufsleben vorzubereiten."[52]

Somit bleibt zu fragen, wie sich diese Zuschreibung in der biographischen Identität des so identifizierten und diskreditierten Individuums verankert. Mit der Kritik des Lernbehindertenbegriffs, der Krise der Diagnose und der angezweifelten Effizienz der Sonderschule wird auch der bislang kaum in Frage gestellte Begriff "Behinderung" nach seiner Bedeutung untersucht. Nach neuen Erkenntnissen kann der Behindertenbegriff nicht mehr als etwas Statisches gesehen werden, sondern relativiert sich durch die historisch gewachsene Sonderpädagogik. Der starre Begriff der Behinderung, der die Grundlage einer eigenständigen Sonderpädagogik bildet, hält einer kritischen Betrachtung nicht stand.

Das naturwissenschaftlich-medizinische Paradigma, das Behinderung auf psychologisch-medizinische Ursachen reduziert und die Kategorisierung von Behinderung in der Sonderpädagogik konstituiert, hat nach rund hundert Jahren seine Selbstverständlichkeit verloren. Dennoch besteht die defektorientierte, individuum- und behindertenzentrierte Sonderpädagogik, die das Abnorme in den Mittelpunkt ihres Denkens stellt, bis heute. Erst der Blick auf schulorganisatorische und interaktionistische Verursachungsfaktoren hat zu einer Krise der tradierten Heil- und Sonderpädagogik geführt, da sie sich nun fragen muss, ob sie zur Diskriminierung und Stigmatisierung beiträgt bzw. überhaupt erst durch Etikettierung und Aussonderung Behinderung konstituiert. Eberwein kritisiert die Sonder- und Heilpädagogik, die seiner Meinung nach als Disziplin nicht in der Lage ist, sich von der Objektivierung und Ontologisierung des Behindertenbegriffes zu lösen, sondern vielmehr zur Festschreibung dieser Begrifflichkeit beiträgt, um den Eigencharakter ihrer Disziplin zu erhalten: Bei der Recherche der sonderpädagogischen Literatur fällt ihm auf,

daß sowohl Bach als auch Bleidick und Speck immer wieder auf Normabweichungen, auf negative Verhaltensmerkmale, auf Besonderheiten im Individuum rekurrieren, seien es nun eingeschränkte Dispositionen, Erziehungsbehinderungen oder spezielle Erziehungsbedürfnisse. Offenbar läßt sich eine "besondere" Pädagogik (sprich Sonderpädagogik) nur auf diesem Wege begründen. Daß diese sich trotz der von den genannten Autoren selbst vorgebrachten Bedenken und Einwänden immer wieder reproduziert, legt die Annahme nahe, daß sie für das eigene Selbstverständnis gebraucht wird: da es die Sonderpädagogik gibt und geben muß, muß auch eine Sonderanthropologie geschaffen werden. "Sonder"pädagogik und "Sonder"mensch (sprich Behinderter) bedingen sich also.[53]

Der vorausgesetzte Normbegriff ist bestimmend für sonderpädagogisches Handeln, die Abweichung von der Norm legitimiert die Heilpädagogik. Wenn man nun bedenkt, dass die Zuschreibung Behinderung kein objektivierbarer Status an sich, sondern ein Phänomen ist, das vom ökosozialen Kontext und der Situation, in der sich ein Individuum befindet, abhängt, dann relativiert sich der Behindertenbegriff mit seiner defektorientierten Sichtweise. Integrationspädagogen meinen, dass damit die stigmatisierende Sonderbetreuung von Menschen, die aufgrund einer Normabweichung ausgesondert und in Spezialschulen überwiesen werden, zugunsten einer allgemeinen Pädagogik aufgegeben werden muss. Eberwein fordert daher eine Hinwendung zu einem "integrationspädagogischen Paradigma":

Die sogenannte Behinderung ist also nur ein Teil der Gesamtpersönlichkeit des Kindes, die ihrerseits eingebunden ist in verschiedene soziale Systeme. Eine systemische und lebensweltorientierte Sichtweise könnte das monokausale Denken und damit die einseitig defektorientierte Betrachtung überwinden. Die Aussonderung von Kindern und ihre Zuordnung zu bestimmten Sonderschultypen führte zwangsläufig zu einer Fixierung auf das Behinderungsspezifische.[54]

Um die Identitätsentwicklung sogenannter Behinderter zu gewährleisten, müsse auf die Kategorisierung von Behinderungen, auf die entsprechenden Etikettierungen sowie auf die Objektivierung des Behindertenbegriffs verzichtet werden zugunsten einer Dekategorisierung und Subjektivierung.

2.3 Die Krise der Diagnose

Die Versagenskette von ausgesonderten SchülerInnen beginnt mit der Einweisung in die Sonderschule, wenn sie im Unterricht in der Regelschule nicht hinreichend gefördert werden können. Ihr Sonderstatus wird jetzt definiert, und zwar von der Sonderpädagogik. Die Sonderschule muss den Sonderstatus ausweisen, festschreiben und irreversibel machen. Nur dann ist Sonderförderung gerechtfertigt und eine entsprechende Therapie durch SpezialistInnen unabdingbar. Namhafte SonderpädagogInnen sehen eine ausreichende Förderung nur im isolierten Schonraum gewährleistet, denn nur dort können SonderschülerInnen durch spezielle Methodiken und Didaktiken gefördert werden. Das schulorganisatorische Verfahren sieht eine Begründung für die Andersartigkeit bestimmter Kinder als Basis für ihre sonderpädagogische Förderung vor, die aber diagnostisch ermittelt werden muss. SonderpädagogInnen sprechen solchen Kindern das Recht ab, die Volksschule zu besuchen, die Notwendigkeit für ihre Absonderung muss mit ihren Defiziten begründet werden. Wie schon bei der Definitionsproblematik von Lernbehinderung nachgewiesen, befindet sich die Hilfsschulpädagogik auch im Bereich der Diagnose im Dilemma. Von den Anleihen bei den Naturwissenschaften zur Begründung der Devianz war schon die Rede, ähnliches gilt für die Diagnostik. Die Psychologie entwickelt Verfahren zur Intelligenzmessung (HAWIK und Binet-Simon), die die Heilpädagogik dankbar zur scheinbar objektiven Beurteilung ihrer Klientel annimmt. Verschiedene AutorInnen geben allerdings differierende IQ-Werte als Maßstab für die Aussonderung an, in der schulischen Überweisungspraxis gibt es keinen einheitlichen Grenzwert. Trotz aller verfahrenstechnischen und testtheoretischen Problemen sowie moralischer und pädagogischer Bedenken, wurden und werden im Zusammenhang mit der sonderpädagogischen Diagnostik im Schulalltag Entscheidungen gefällt, die für die Lebenschancen der Betroffenen von dauerhaufter Konsequenz sind.

Das heute noch gebräuchliche Kriterium des Intelligenzquotienten zur Begründung der Überweisung war nichts anderes als der Versuch, die alte Schwachsinnshypothese zu operationalisieren. [55]

Da der Begriff Lernbehinderung letztlich ein Relativum darstellt und die diagnostische Absicherung daher nicht gewährleistet werden kann, fordert der VDS ein multiprofessionelles

Team zur Durchführung des Diagnoseverfahrens:

Das bedeutet, es wird kein eindeutiger Begriff für Lernbehinderung festgestellt. Lernbehinderung ist vor allem in den Grenzfällen von schulpädagogischen Voraussetzungen abhängig, die generell nicht festgelegt werden können. Erst aus der sorgfältigen Untersuchung eines Teams von Fachleuten kann sich der Hinweis auf die optimale Förderungsmöglichkeit ergeben. Da es sich um eine pädagogische Entscheidung handelt, deren Voraussetzungen durchweg von der aufnehmenden Sonderschule am besten beurteilt werden können, soll diese für das gesamte Verfahren federführend sein.[56]

Obwohl eine Mitarbeit von MedizinerInnen, PsychologInnen und SozialpädagogInnen zum Feststellungsverfahren gefordert wird, soll dieses fest in den Händen der SonderpädagogInnen bleiben, die aufgrund ihrer Erfahrung zur Feststellung von Behinderungen am besten befähigt sind. Zugleich bleibt für das Verfahren immer noch eine defektzentrierte Klassifikation bestimmend, die die Behinderung objektiviert und individualisiert. Wie schon beim Behindertenbegriff und der Zuschreibung "Lernbehinderung" muss sich auch die Diagnostik die Kritik gefallen lassen, dass sie lediglich verwaltungstechnisch abgesichert ist, in dem Sinne, dass sie eine Zuordnung zu einer Institution begründet. Trotz der Alltagswende in den Erziehungswissenschaften vernachlässigt die Sonderschulpädagogik häufig die ökosoziale Sichtweise von Behinderung im Kontext des individuellen Mensch-Umwelt-Verhältnisses. Kritik an der prognostischen Validität und der Funktion von pädagogisch-psychologischen Untersuchungen übt auch Kautter und fordert die Revision der diagnostischen Kompetenz:

In der nrw VO [Verordnung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Anm. des Verf.] wird erstmals der Versuch gemacht, den Kreis sonderschulbedürftiger Kinder durch Angabe von Verhaltens- und Leistungsmerkmalen genauer zu beschreiben und damit die Aussonderung stärker zu objektivieren. Diese Beschreibung zeigt die schon erwähnte erscheinungsmäßige und ursächliche Vielfalt der Schulleistungsschwächen. Deren differentialdiagnostische Erfassung erfordert eine flexible, von Fall zu Fall variierende diagnostische Strategie.[57]

Holger Probst kritisiert, dass das Diagnoseverfahren durch SonderschullehrerInnen das Instrument zur Rekrutierung der SchülerInnenschaft darstelle. Daher wäre zu befürchten, dass es eher von pragmatischen Gesichtspunkten geleitet, als in der Lage sei, eine wissenschaftlich in allen Bereichen abgesicherte Entscheidung zu treffen. Mehrfach ist daher auch von einer "Placierungsentscheidung", bzw. "Selektionsentscheidung" die Rede, da schon die Definition von Lernbehinderung lediglich die Überstellung in die Sonderschule als maßgebliches Kriterium angeben kann. Im Vordergrund dieser Betrachtungsweise steht der Verwaltungsakt des Einweisungsverfahrens, das durch die Diagnostik bestätigt werden soll. Zurecht kritisieren einige AutorInnen wie Probst, Kornmann und Kautter die Funktion des Sonderschulüberweisungsverfahrens als Klassifizierungsentscheidung, die einen ontologischen Status festschreibt und den Status quo differenziert. Neuere Versuche entwickelt Kornmann, indem er die Überwindung der Selektionsdiagnostik (Einweisungsdiagnostik) hin zur Förderdiagnostik fordert, die in allgemeine pädagogische Fördermaßnahmen integriert sein soll.

Sie wird daher auch als Förder(ungs)diagnostik oder förderungsspezifische Diagnostik bezeichnet. [...] Die Vorgehensweise der Förderdiagnostik ist - wie gezeigt wurde - an Lehrzielen (oder Kriterien) orientiert. [...] Dies impliziert, daß der Prozeß der Förderung laufend überprüft wird. Erfaßt werden somit Veränderungen und deren Bedingungen. Weiterhin ergeben sich alle handlungs- und entscheidungsrelevanten Daten aus direkter Beobachtung aller am Interaktionsprozeß beteiligten Personen, einschließlich des gesamten situativen Kontextes. Ziel der Diagnostik ist auf jeden Fall, Informationen zur Optimierung schulischer Lehr-, Lern- und Interaktionsprozesse zu erhalten.[58]

Es ist zu hoffen, dass in der schulischen Praxis die Einweisungsdiagnostik zur Begründung der Sonderschulbedürftigkeit mehr und mehr von der allgemeinpädagogischen Förderungsdiagnostik verdrängt wird. Im pädagogischen Handeln, das einen interaktionalen sozialen Prozess darstellt, kann eine Diagnose nur ein vorläufiges Bild ergeben, das einer

ständigen kommunikativen Validierung im pädagogischen Handeln bedarf. Erst wenn durch diese Alltagswende förderdiagnostisches Denken unter allen PädagogInnen Einzug hält und die statische Diagnostik nicht mehr allein Aufgabe der SonderpädagogInnen ist, können sich im Schulalltag individuelle Entscheidungen optimieren.



[39] Weiss, Rudolf: Probleme der österreichischen Schule, Innsbruck (Universitätsverlag Wagner) 1980, 161

[40] Haupt, Ursula: Die schulische Integration von Behinderten, in: Bleidick, Ulrich (Hrsg.): Theorie der Behindertenpädagogik (= Handbuch der Sonderpädagogik 1, hrsg. von Heinz Bach/Ulrich Bleidick/Gustav O. Kanter u.a.), Berlin (Carl Marhold) 1985, 156-157

[41] Haupt, Ursula: a.a.O, 157

[42] Haupt, Ursula: a.a.O. 157-158.

[43] Reinartz, Anton/Sander, Alfred (Hrsg.): Schulschwache Kinder in der Grundschule. Pädagogische Maßnahmen zur Vorbeugung und Verminderung von Schulschwäche in der Primarstufe, Weinheim/Basel (Beltz) 1982, 13

[44] Verband deutscher Sonderschulen: Kriterien für die Sonderschulbedürftigkeit Lernbehinderter (1974), in: Langfeld, Hans-Peter/Kurth, Erich (Hrsg.): Diagnostik bei Lernbehinderten. Standpunkte und Ergebnisse einer zwanzigjährigen Diskussion, Neuwied/Kriftel/Berlin (Luchterhand) 1993, 37

[45] Verband deutscher Sonderschulen: a.a.O., 30-31

[46] Verband deutscher Sonderschulen: a.a.O., 35

[47] Haeberlin, Urs/Bless, Gérard/Moser, Urs/Klaghofer, Richard: Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen (= Beiträge zur Heil- und Sonderpdädagogik, 9. Beiheft zur Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, hrsg. von Urs Haeberlin), Bern/Stuttgart (Paul Haupt) 21991, 22

[48] Eberwein, Hans: a.a.O., 1994, 290

[49] Korte, Jochen: a.a.O, 35

[50] Erath, Peter: a.a.O., 71

[51] Korte, Jochen: a.a.O., 16-17

[52] Weiss, Rudolf: a.a.O., 161

[53] Eberwein, Hans: a.a.O., 1996, 21

[54] Eberwein, Hans: a.a.O., 1996, 26

[55] Aab, Johanna: 'Lernbehindert' - was ist das?, in: Deppe-Wolfinger, Helga (Hrsg.): Behindert und abgeschoben. Zum Verhältnis von Behinderung und Gesellschaft, Weinheim/Basel (Beltz) 1983, 148

[56] Verband deutscher Sonderschulen: a.a.O., 35

[57] Kautter, Hansjörg: Probleme der Aufnahme in die Sonderschule und der Rückführung in die allgemeine Schule (1976), in: Langfeld, Hans-Peter/Kurth, Erich (Hrsg.): Diagnostik bei Lernbehinderten. Standpunkte und Ergebnisse einer zwanzigjährigen Diskussion, Neuwied/Kriftel/Berlin (Luchterhand) 1993, 65

[58] Kornmann, Reimer: Strategien der Defizitdiagnostik, in: Klauer, Karl Josef (Hrsg.): Handbuch der Pädagogischen Diagnostik, Band 4, Düsseldorf (Pädagogischer Verlag Schwann) 1978, 1054

3 Fragestellungen und Methode

3.1 Eine qualitative Untersuchung

Wie selbstverständlich habe ich mich bei der Wahl der Methode für eine qualitatives Verfahren entschieden, da ich im Laufe meines Studiums eine eindeutige Präferenz für qualitative gegenüber quantitativen Forschungsarbeiten gewonnen habe. Die Untersuchung des Einzelfalles fesselt grundsätzlich meine Aufmerksamkeit mehr als das Registrieren und Quanitfizieren angeblich objektiver Gegenstandsmerkmale. Eine empirische Studie wie sie beispielsweise Weyermüller anhand von standardisierten Fragebögen durchgeführt hat, waren für mich in ihrem Gehalt teilweise unbefriedigend, wenn auch 45 Prozent aller SonderschülerInnen Tirols in dieser Studie erfasst wurden. Die Problematik, dass die klassenführenden Lehrpersonen Eltern und Kinder mit Fragebögen versorgt haben, wird sich wahrscheinlich auch auf die Ergebnisse ausgewirkt haben. In diesem Sinne scheint verständlich, dass beispielsweise die Frage nach dem Wohlbefinden in der Sonderschule erstaunlich hohe Werte erreicht.[59]

Die qualitative Sozialwissenschaft ermöglicht es, durch eigene Erfahrungen sowie gezielte Fragestellungen und Beobachtungen zu einem Interaktionsprodukt zu gelangen, das mitunter zu erweiterten Sichtweisen führt. Geht man davon aus, dass menschliche Handlungen und menschliches Tun und Denken mit subjektivem Sinn und subjektiven Motiven verbunden sind, dann erscheint ein Forschungszugang, der Menschen als Subjekte zum Gegenstand hat, sehr zielführend zu sein. Bedeutungen können in standardisierten Interviews nicht annähernd so erschlossen werden wie durch die qualitative Sozialforschung, denn diese liegen nicht offen, sondern müssen durch Interpretation erschlossen werden. Außerdem begünstigt die Anonymität des Forschers und die Anonymität des Erforschten Missverständnisse und Unklarheiten, während es die qualitative Sozialforschung ermöglicht, dass mit einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen, die Perspektive des Sprechers eingenommen werden kann. Daher meine Entscheidung für eine qualitative Studie, die mittels Interviews als Interaktionsprodukt Zugang zu Lebenswelten ermöglicht, auch wenn die Repräsentativität durch die geringe Anzahl der Erforschten in Zweifel gezogen werden kann.

Anstatt größere Datenmengen empirisch zu verarbeiten, war es mir ein Anliegen, mittels Interviews zu allgemeingültigen, intersubjektiv nachvollziehbaren Ergebnissen zu gelangen. Mein Untersuchungsgegenstand ist die sozial-interaktiv vermittelte subjektive Wirklichkeit, die ich durch das sozialwissenschaftlich-hermeneutische Paradigma aufzuspüren versuche, indem die Regeln alltäglicher Interaktion und Interaktionsinterpretation reflektiere und sozialwissenschaftlich interpretiere. Offene Leitfadengespräche mir erschienen für diesen Forschungszugang zielführend zu sein; sie stellen eine Kombination aus einem Leitfadengespräch und einem vorwiegend offenen (narrativen) Interview dar. Der Interviewtext stellt selbst ein Interaktionsprodukt dar, der aus der subjektiven Perspektive des Erzählers entsteht. In der Paraphrasierung (Despkritption) wird der subjektiven Sinn des Interaktionsproduktes rekonstruiert, indem aus der eingenommenen Perspektive des Erzählers das Gesagte strukturiert wird. In einem weiteren interpretativen Prozess wird der Sinn erschlossen, indem Widersprüche, Strategien, Unklarheiten und Wiederholungen u.ä. in Beziehung gesetzt werden. Die Datenerhebung und das Dateninterpretationsverfahren lassen auf diese Weise die Erhebung von intersubjektiv nachvollziehbaren objektivierbaren Erkenntnissen zu. Fallstudien gelten in der qualitativ-sinnverstehenden Sozialforschung als Königsweg, weil sie über den besonderen Fall zu verallgemeinerbaren Daten führen.

Sozialwissenschaftliche Hermeneutik basiert auf der "Alltagshermeneutik", d.h. auf der Interaktions- und Interpretationskompetenz, auf dem Regelwissen alltäglich Handelnder als kompetent und sinnhaft Handelnder. Sie besteht als Interpretationslehre in dem Ausformulieren der Kompetenzen und des Regelwissens alltäglich Handelnder. Sie setzt methodisch eben jenes Regelwissen und jene Regelkompetenz zur Rekonstruktion des Sinnes von Interaktionsprodukten ein, die alltäglich Handelnde bei der Konstruktion des Sinnes von Interaktionsprozessen eingesetzt haben und immer schon einsetzten.[60]

Die sowohl auf Tonband aufgezeichneten als auch in einem Transkriptionsverfahren verschrifltichen Textprotokolle sind als irreversible Interaktions- und Interpretationssequenzen Gegenstand der interpretativen Analyse und Rekonstruktion objektiv möglicher Bedeutungen.

3.2 Datenerhebung durch offene Interviews

Bei den Vorüberlegungen zu meiner Diplomarbeit fragte ich mich, wie ich die Datenerhebung gestalten könnte. Die Nähe zu "meinen" Schülern schien mir problematisch. Sie könnten mir als ihrem ehemaligen Lehrer nicht "alles" erzählen wollen, weil sie mich kennen. Darüber hinaus stellte ich mir die Datenerhebung mittels Interviews als äußerst schwierig vor, da es nicht leicht ist, offen zu reden, wenn ein Tonbandgerät die Gespräche aufzeichnet. Da ich die Schüler als eher wortkarg in Erinnerung hatte, befürchtete ich, dass ein Gutteil der Aufzeichnungen aus meinen Fragestellungen bestehen würde, während die Interviewpartner nur knappe Antworten geben.

Das alles traf nicht zu. Ich war zunächst verwundert darüber, wie schnell sich ein Termin für das Gespräch fixieren ließ. Auf meine telefonische Anfrage erklärten sich alle vier spontan bereit, zu mir zu kommen und das Gespräch zu führen, und zwar jeweils innerhalb einer Woche. Auch meine Ängste bezüglich der Verwendung eines Aufnahmegerätes waren unbegründet. Wir führten die Gespräche in meiner Wohnung, das Tonbandgerät und das Mikrofon lagen auf dem Küchentisch. Besonders erleichternd aber war für mich die Erfahrung, dass die Gespräche sich locker und unkompliziert gestalteten. Meine Befürchtungen bezüglich des knappen sprachlichen Ausdrucks meiner Interviewpartner erwiesen sich zu meinem großen Erstaunen als Vorurteil. Ihre Bereitschaft zu erzählen war groß, sie sprachen überlegt und reflektiert. Meine Interviewpartner hatten sich offenbar eingehend mit den angesprochenen Problemen befasst, die Einschätzungen ihrer Schul- und Lebensgeschichten erschienen mir realistisch und zudem sehr selbstbewusst vorgetragen.

Die Gespräche dauerten zwei bis drei Stunden, ich hatte dafür eine Liste möglicher Fragestellungen vorbereitet. Dabei konnte ich mich natürlich nicht streng an den Duktus halten, sondern die offenen Interviews gestalteten sich wie von selbst; die Liste erlaubte mir lediglich einen Überblick darüber, was schon behandelt wurde und was eventuell noch anzusprechen wäre.

Insgesamt erwies sich meine Bekanntschaft zu den Interviewpartnern als großer Vorteil. Im Nachhinein bestätigte sich, dass es nicht zielführend gewesen wäre, mir unbekannte ehemalige Sonderschüler als Gesprächspartner zu suchen. Die Vertrautheit hätte sich in den Gesprächen nicht so eingestellt, wie es schließlich bei den vorliegenden Interviews der Fall war. Wir konnten auf der Basis der gemeinsam erlebten Zeit vieles voraussetzen und so Zeit zur Klärung von Zusammenhängen sparen. Zudem konnte ich meine Fragen ganz individuell auf die jeweilige Person abstimmen, da mir deren Schulgeschichte, ihre jeweilige Familienkonstellationen und ihre Arbeitserfahrungen bereits bekannt waren. Auch spezielle Probleme, die die jungen Männer beschäftigen, sind mir zum Teil geläufig, ebenso wie ihre Vorlieben, Ängste und Befürchtungen. Die sehr vertraut geführten Gespräche waren sowohl für mich selbst bereichernd als auch für die vorliegende Arbeit äußerst ergiebig.

Meine Untersuchung ist qualitativ angelegt, denn ein qualitatives Verfahren ermöglicht ein differenziertes Eingehen auf die Situation dieser ehemaligen Sonderschüler, es erlaubt das Aufspüren ihrer Alltagszusammenhänge, Lebenswelten und subjektiven Sichtweisen. Ich stelle im Rahmen dieser Arbeit allerdings zusätzlich Bezüge zu quantitativ geleiteten Erhebungsverfahren her, um meine Schlussfolgerungen mit deren Ergebnissen vergleichen zu können.

Die Gespräche gestalteten sich als offene Leitfadengespräche, eine Kombination aus einem vorwiegend offenen und einem mehr oder minder strukturierten Interview. Im Gesprächsleitfaden konstruierte ich allgemeine Fragestellungen bezogen auf die Lebenssituation von Sonderschülern, konzentriert auf die Problembereiche, die ich aus der Literatur und von meinen eigenen Alltagserfahrungen her kannte. Die Befragung orientierte sich an der Biographie der Sonderschüler: ihre rückblickenden Schulerfahrungen, ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit der beruflichen Ausbildung, die ersten Arbeitserfahrungen und schließlich Fragen nach ihrem Alltag.

3.3 Sample: Vier Schüler einer Schulklasse

Nach ihrem Abgang von der Sonderschule blieb ich weiter in Kontakt mit meinen ehemaligen Schülern, manche traf ich zufällig, einige haben mich immer wieder besucht. Wir führten Gespräche über ihr Elternhaus, die Berufsschule und ihre Berufserfahrungen. Ein Schüler bat mich während seiner Berufsschulzeit um Nachhilfeunterricht, ein anderer konsultierte mich im Zusammenhang mit der Wohnungssuche, ein Schüler mit türkischer Muttersprache bat mich um Unterstützung bei seinem Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft usf.

In der Klasse, aus der ich meine Interviewpartner auswählte, waren drei Schülerinnen und sieben Schüler. Als Auswahlkriterium für die Interviews bestimmte ich die Zuschreibung "Sonderschulbedürftigkeit" und daraus abgleitet den Besuch der Sonderschule sowie die biographisch erfolgte Stigmatisierung als "Sonderschüler". Schülerinnen, die eine zusätzliche Randständigkeit als Mädchen einnehmen, habe ich aufgrund meiner Einschränkung, ausschließlich die Randständigkeit "Hilfsschüler" zu untersuchen, nicht in das Sample aufgenommen. Für diese Überlegungen spielte auch eine Rolle, dass sich die Schule der Lernbehinderten vorwiegend aus männlichen Kindern und Jugendlichen zusammensetzt; der Prozentsatz beträgt durchschnittlich 60% Jungen zu 40% Mädchen.[61]In der Sonderschule als Schule der Randständigen werden jedoch SchülerInnen unterrichtet, die heterogen bezüglich ihrer Randständigkeiten sind. So war in dieser Klasse beispielsweise ein türkisches Mädchen, das neben der Etikettierung "Lernbehinderung" zwei zusätzliche Randständigkeiten personifiziert: "Ausländerin" und "Hilfsschülerin". Im übrigen ist festzustellen, dass die Zuschreibung "lernbehindert" bei Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Muttersprache, die meist aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse in die ASO eingewiesen werden, faktisch kaum belegt werden kann.[62]Einem türkischen Jungen, der innerhalb seines Klassenverbandes die besten schulischen Leistungen zeigte, hafteten dennoch zwei Randständigkeiten an: "Ausländer" und "Lernbehinderter". Die in der islamischen Kulturgemeinschaft charakteristische Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Nachkommen ist zusätzlich zu berücksichtigen, weil sie Probleme im Unterrichtsalltag aufwirft.[63]

Auch die Tatsache, dass das Mädchen zwar umgangssprachlich vereinfacht als "Türkin" bezeichnet wurde, in Wirklichkeit aber kurdischer Abstammung war, führte in Alltagsinteraktionen zu Konflikten, die nur im Hinblick auf die politischen Differenzen zwischen Menschen türkischer und kurdischer Herkunft verständlich sind. Ein Schüler dieser Klasse nahm während seiner Schulzeit eine zusätzlich Randständigkeit ein, indem er nicht bei seinen Eltern lebte, sondern diese die Erziehung des Kindes seiner Großmutter überließen; ausschlaggebend für diese Entscheidung war wahrscheinlich die sozioökonomische Situation der Familie. Während der Zeit der Interviews verbüßte dieser ehemalige Schüler gerade eine Haftstrafe, zu seiner Randständigkeit als "Hilfsschüler" kommt somit der Status eines "Vorbestraften" hinzu. Ein weiterer Schüler dieser Klasse ist seit Beendigung seiner Schulzeit ohne Kontakt zu seinen Mitschülern, man erzählt sich lediglich, dass er den Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht geschafft habe und seit langer Zeit arbeitslos ist. Er perpetuiert als "Arbeitsloser" seine Randständigkeit als Sonderschüler über die Schulzeit hinaus.

Mein Forschungsinteresse gilt der Randständigkeit "Sonderschüler", ich habe also für die Interviews Sonderschulabsolventen ausgewählt, die sich nach ihrer Schullaufbahn keine zusätzliche Randständigkeit angeeignet, sondern sich in ihrer Lebensgestaltung nach dem Prinzip der Normalisierung durchaus angepasst verhalten haben. "Brave" Sonderschüler sozusagen, die sich zu den gesellschaftlichen Regeln konsensuell verhalten und bemüht sind, nach ihrer Schulzeit ein "normales" Leben anzustreben, soweit dies, mit dem Attribut "ehemaliger Sonderschüler" behaftet, eben machbar ist.

3.4 Klärung der Begriffe

3.4.1 Stigma-Management

Den Titel zur vorliegenden Arbeit habe ich von Erving Goffman übernommen. In seinem Standardwerk "Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität" formuliert Goffman eine Theorie darüber, wie Stigmatisierung in der sozialen Interaktion festgeschrieben wird. Basierend auf seinem Theoriekonzept habe ich die Stigmatisierung von AbgängerInnen der Sonderschule für Lernbehinderte (ASO) untersucht.

Zunächst werden die SchülerInnen selektiert und anhand von Tests und Ausleseverfahren definiert. Sodann werden sie, versehen mit dem Etikett "Lernbehinderung", von der Normalität der Regelschule ausgeschlossen und einer Sonderinstitution zugewiesen:

Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet.[64]

Somit ist die Unterscheidung getroffen zwischen den normalen und den "besonderen" Personen, die aufgrund dieser Kategorisierung zwangsläufig abgesondert werden und somit von vollständiger sozialer Akzeptanz ausgeschlossen sind.

Mit dem Übertritt in die Sonderschule, einer besonderen Institution für deviante SchülerInnen, ist deren Besonderheit auch an einen speziellen Ort gebunden. Man spricht bis heute von der "Einweisung" in die Sonder-Institution, denn die Aussonderung von Individuen erfordert die Zuweisung an einen besonderen Ort (Sonderschule).

In den vielen Fällen, wo die Stigmatisierung des Individuums mit seiner Aufnahme in eine geschlossene Anstalt verbunden ist, wie zum Beispiel in ein Gefängnis, Sanatorium oder Waisenhaus, wird viel von dem, was es über sein Stigma erfährt, ihm im Laufe des prolongierten intimen Kontakts mit denjenigen vermittelt, mit denen es in dem Prozeß, in einen ihrer Leidensgenossen umgewandelt zu werden, zu tun hat. [65]

Damit ist auch die soziale Stigmatisierung festgeschrieben: "Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird."[66]Die so zu SonderschülerInnen stigmatisierte Individuen erteilen soziale Informationen über sich selbst. Goffman unterscheidet zwischen der Sichtbarkeit (Visibilität) eines Stigmas, die eine Person diskreditiert, und den Individuen, die unsichtbar stigmatisiert, also diskreditierbarsind. Die SchülerInnen der Sonderschule, die von der Volksschule in eine Sonderinstitution überwiesen werden, sind ab ihrem Eintritt in die Spezialschule jedenfalls diskreditierbar. Ab diesem Zeitpunkt beginnt - bewusst oder unbewusst - die Notwendigkeit des Stigma-Managements. Nach Goffman versteht man darunter die Handhabung der Zuschreibung in sozialen Situationen, und damit beschäftigt sich diese Arbeit: Wie handeln SchülerInnen auf der einen und die Umwelt auf der anderen Seite die "Be-Sonderung" in sozialen Interaktionen aus? Die Palette reicht von der Abwehr ("Ich gehöre eigentlich nicht hierher") über die Akzeptierung ("Ich bin nicht ohne Grund hier") bis hin zur Korrektur ("Ich bin in eine normale Schule gegangen").

Stigma-Management ist ein Ableger von etwas Fundamentalem in der Gesellschaft: dem Stereotypisieren oder "Profilieren" unserer normativen Erwartungen in bezug auf Verhalten und Charakter.[67]

Soziale Situationen, in denen sich Normale und Stigmatisierte begegnen, machen Stigma-Management in den vorgegebenen Regeln der Kommunikation erforderlich. Beide Seiten betreiben auf ihre Art und Weise Stigma-Management, Zuschreibungen werden so korrigiert, verfestigt, stereotypisiert, profiliert und damit weiter festgeschrieben. Etikettierung findet statt. Auch Korrekturversuche durch die diskreditierbaren Personen sind mir mehrfach begegnet: Die SchülerInnen korrigieren ihre Schullaufbahn retrospektiv, indem sie die Schulkarriere teilweise nichten oder sie gegenüber ihrer Umgebung zumindest verschweigen. Eine nachträgliche, indirekte Korrektur ihres Sonderschulstatus versuchen SchülerInnen, wenn sie besondere Leistungen vollbringen. Meist versuchen ehemalige SonderschülerInnen nicht als solche aufzufallen, ihr Alltagsverhalten zielt auf Normalisierung.

Das stigmatisierte Individuum kann auch versuchen, seinen Zustand indirekt zu korrigieren, indem es viel private Anstrengung der Meisterung von Tätigkeitsbereichen widmet, von denen man gewöhnlich annimmt, daß sie für jemanden mit seiner Unzulänglichkeit aus akzidentiellen und physischen Gründen verschlossen sind.[68]

Nachdem nun schulpflichtige Kinder als Sonderschüler erkannt und stigmatisiert worden sind, indem sie einer Institution zugewiesen werden, die ihre Stigmatisierung offensichtlich macht, sind sie zur Reaktion auf diesen einseitigen Zuschreibungsprozess angehalten, sie müssen jetzt zwangsläufig Stigma-Management betreiben. Obwohl diese SchülerInnen sich außerhalb der schulischen Selektion von anderen nicht unterscheiden, da sie nicht sichtbar stigmatisiert sind, werden sie zu diskreditierbaren Individuen, denn ihr Stigma könnte jederzeit aufgedeckt und damit für alle sichtbar werden. Ihr Alltag spielt sich in der Dimension von Täuschen und Aufdecken ab. In sozialen Situationen werden sie künftig also Strategien zur Vermeidung der Aufdeckung entwickeln bzw. ihren Alltag so gestalten, dass die Stigmatisierung verborgen bleibt.

Auf Techniken in diesem Zusammenhang möchte ich hier kurz eingehen: Einmal ist es die Akzeptierung bzw. Abfindung mit der Etikettierung.

Unter seinesgleichen kann das stigmatisierte Individuum seine Benachteiligung als Basis der Lebensorganisation benutzen, aber dafür muß es sich mit einer halben Welt abfinden.[69]

Das Bewußtsein, nicht zu den Normalen zu gehören, verfestigt sich bei SchülerInnen, die zu SonderschülerInnen werden, in vielen Alltagssituationen. Obwohl sie sich innerlich distanzieren ("Ich gehöre nicht hierher"), bewirkt der Schonraum Sonderschule indirekt die Akzeptierung des eigenen Stigmas, indem SchülerInnen ihre Abweichung internalisieren und annehmen, dass es bestimmt einen Grund dafür gibt, dass sie in diese Institution gekommen sind. Die Zweiteilung der Welt in Normale und Stigmatisierte wird unbewusst verinnerlicht: Wir in der Sonderschule sind alle dumm, in der Hauptschule sind die SchülerInnen normal und klüger. "Die unmittelbare Gegenwart von Normalen verstärkt wahrscheinlich die Spaltung zwischen Ich-Ideal und Ich."[70]Was im Schonraum nicht möglich ist, versuchen stigmatisierte SonderschülerInnen vielleicht in anderen Alltagssituationen, nämlich ihre Person zu normifizieren: Unter Normifizierung - auch eine Möglichkeit des Stigma-Managements - versteht man die "Bemühung von seiten eines stigmatisierten Individuums, sich als eine gewöhnliche Person zu präsentieren, obschon sie dabei nicht notwendig ein Geheimnis aus ihrem Fehler macht."[71]

Dieses Bemühen gibt es auch von seiten der sogenannten Normalen, wenn sie in sozialen Situationen mit stigmatisierten Menschen in Kontakt treten. Dabei spricht man von Normalisierung und meint damit, "wie weit Normale darin gehen könnten, eine stigmatisierte Person so zu behandeln, als ob sie kein Stigma hätte."[72]

In den Interviews, die ich für diese Arbeit gemacht habe, sind alle angeführten Möglichkeiten der Handhabung der Stigmatisierung/Etikettierung präsent. Von der Abwehr der Etikettierung ("Ich gehöre eigentlich nicht hierher"), zum Prinzip der Normifizierung ("Der Hauptschulabschluss ist mir ganz wichtig") bis hin zur Akzeptierung ("Ich bin eben ein Sonderschüler") und zur Korrektur ("Ich habe die Pflichtschule absolviert").

Stigma-Management ist in allen Alltagssituationen notwendig, verstärkt allerdings in den Übergangsbereichen der Lebensgeschichte, den Nahtstellen der Biographie. Beim Übertritt von einer Schule in die andere, beim Übertritt von der Schule in die Berufstätigkeit, bei der Musterung, beim Führerscheinerwerb und beim Wechsel von einer Firma zur anderen. Speziell in diesen Situationen sind die SonderschülerInnen immer wieder mit dem Prinzip Tarnen und Täuschen befasst, sie müssen auf der Hut davor sein, ent-deckt und somit diskreditiert zu werden. Der Alltag scheint jedenfalls auf die Vermeidung gemischter Kontakte in sozialen Situationen ausgerichtet zu sein und zwar häufig von beiden Seiten, von Seiten der Normalen wie auch der Stigmatisierten.

Die bloße Antizipation solcher Kontakte kann natürlich Normale und Stigmatisierte dazu bringen, das Leben auf ihre Vermeidung hin einzurichten. Voraussichtlich wird dies größere Konsequenzen für die Stigmatisierten haben, da von ihrer Seite gewöhnlich mehr arrangiert werden muß.[73]

Auch Henning Trabandt beschreibt in seiner Analyse der Institution Sonderschule,

daß die schwere Diskriminierung, als die der Sonderschulbesuch von Schülern und Umwelt wahrgenommen wird [...], aus beider Bewußtsein nicht spurlos verschwinden wird. Der Sonderschulbesuch gilt als Makel, der das Subjekt zu bestimmten Verarbeitungs- und die Umwelt zu bestimmten Rechtfertigungsstrategien nötigt.

Subjektiv ist der Sondersschulbesuch ein Stigma, ein Merkmal also, das die Umwelt auffordert, seinen Träger als abweichend zu behandeln. Wenn diese Gefahr droht, wird der Stigmatisierte alles tun, um das Stigma nicht offenkundig werden zu lassen, seinen Eindruck auf die Öffentlichkeit zu manipulieren, sie zu täuschen. [74]

Hans Thiersch erkennt den wechselseitigen Zusammenhang zwischen einer Institution und deren Insassen, wenn er meint, dass die Analyse der Zuschreibungsmechanismen gerade für den Bereich der Institutionen, die sich mit Dissozialität befassen, notwendig ist. Dissozialität wird dabei immer mehr als nicht einfach in der Person liegender Faktor, sondern als vom sozio-kulturellen Umfeld begünstigtes Phänomen gesehen, das für die Person erst im interaktionistischen Kommunikationsprozess relevant wird. Es ist also zu fragen, ob die Institutionen, die dissoziale Individuen verwalten, nicht per se zur weiteren Eskalierung des Etikettierungsprozesses beitragen.

Der Dissoziale weiß, daß er in der Gesellschaft einen Makel trägt. Wenn er mit sozialpädagogischen Institutionen, etwa dem Jugendamt, zu tun hat, vielleicht sogar in ein Erziehungsheim eingewiesen wird, wird dieser Makel eher verstärkt. Die so fatale öffentliche Diskriminierung sozialpädagogischer Einrichtungen ist ein gravierendes Handikap für alle ihre Anstrengungen.[75]

Die Organisation der Institution beschreibt Goffman ausführlich in "Asyle", und wie er problematisiert auch Thiersch die institutionelle Verwaltung, die ihre Klientel deprivatisiert und zum Objekt degradiert und damit der eigentlichen Zielvorstellung nach Integration nicht gerecht werden kann:

So lassen sich vielfältige Indizien dafür aufweisen, daß die Sozialpädagogik Vorurteile, die die Gesellschaft gegenüber Außenseitern hat, reproduziert und so die Verfestigung abweichenden Verhaltens nicht abbaut, sondern bestärkt. Darin aber erweist sie sich, gegen ihre Intentionen und gezwungen durch die Verhältnisse, unter denen ihr zu arbeiten zugemutet wird, als Organ einer Gesellschaft, der an der Aufhebung der Diskriminierung der Außenseiter nichts liegt.[76]

Das Bewusstsein einer stigmatisierten Person, die Vorstellung davon, wie sie von anderen wahrgenommen wird und das Wissen, dass sie von vorgegebenen Normen abweicht, führt zu einer Instabilität der sozialen Identität. Diskreditierbare Personen müssen im Alltag ambivalente Situationen aushalten, entwickeln ein ambivalentes Selbstbewusstsein und verändern, da sie auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt werden, ihre Identität.

3.4.2 Die biographische Identität

In die Sonderschule werden Kinder und Jugendliche eingewiesen, die - aufgrund des behindertenorientierten Konzepts der Sonderpädagogik - als andersartig definiert werden und damit, entsprechend dem Begriffspaar "normal - behindert", nicht mehr mit dem gleichen Maß gemessen werden wie ihre AlterskollegInnen in der Regelschule. Die defektorientierte Pädagogik entwickelt im Streben nach Eigenständigkeit charakteristische didaktisch-pädagogische Programme, die den "Behinderten" besser entsprechen sollen. Prämisse ist dabei immer die Unterscheidung zwischen Normalität und "Eigen-Art", wobei die Behinderung immer als Abweichung betrachtet wird. In diesem Zusammenhang muss auch bezweifelt werden, ob die Institution Sonderschule, der auch das Stigma "Dummenschule" anhaftet, aus strukturellen Gründen überhaupt in der Lage sein kann, ihre SchülerInnen in ihrer Identitätsentwicklung hinreichend zu unterstützen. In der Geschichte der Sonderpädagogik allerdings zeigt sich, dass die als statisch verstandene Ontologisierung, Individualisierung und Objektivierung des Behindertenbegriffes immer den interaktionistischen Aspekt außer Acht läßt. Die Absonderung von Kindern aufgrund der an sie herangetragenen Identität von "Lernbehinderung", die in der sozialen Interaktion vermittelt wird, führt schließlich dazu, dass eben diese Identität angenommen oder abgewehrt werden muss.

Die Identitätsverunsicherung ist institutionell und sozial vermittelt und deformiert die Persönlichkeit der jungen SonderschülerInnen. Ihr Ausschluss aus der Normalität und ihre soziale Benachteiligung, verbunden mit dem Wunsch, so zu sein wie die anderen auch, zwingt sie in sozialen Interaktionen zu jenem Stigma-Management, das in dieser Arbeit untersucht wird. Hinweise dafür finden sich während der Schulzeit und verstärkt nach dem Abschluss der Schule, wo sie als normal zu gelten haben und ihre Zuschreibung "soziale Auffälligkeit" kaschieren sollen. Ich gehe beim Identitätsbegriff davon aus, dass vermittels sozialer Interaktion Zuschreibungen gemacht werden, die die Biographie des stigmatisierten Individuums und damit seine Identitätsentwicklung prägen. Das führt zu einer Reihe schwieriger Identitätskonflikte:

Damit [nämlich mit der Objektivierung der Lernbehinderung, Anm. des Verf.] projiziert man Ursache und Sitz der Störung einseitig in die Person des betreffenden Kindes oder Jugendlichen hinein, ohne die Frage nach den zugrundeliegenden schulischen oder sozialen Bedingungszusammenhängen zu stellen und ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, daß nicht das Kind für abweichendes Verhalten ausschlaggebend verantwortlich gemacht werden kann. Die Anforderungen, die die Institution Schule stellt, werden unbeschadet der näheren Umstände geltend gemacht und damit das Individuum zum Träger und zugleich Verantwortlichen für seine defizitären Handlungsformen erklärt.[77]

Die Identität der Lernbehinderten, die durch die Schule und in der sozialen Interaktion vermittelt wird, wird schließlich von den Eltern und den betroffenen Kindern angenommen. SonderschülerInnen wehren ihre neue Identität durch defensive Bewältigungs-argumentationen von sich, wie Ammann und Peters in ihrer Studie nachweisen konnten.[78]

Identitätstheoretisch gesehen mag das klug sein, weil so ein befriedigendes Selbstkonzept gerettet werden kann. [...] Das heißt aber nicht, daß die Schüler bereit sind, das Stigma "lernbehindert" in ihr Selbstkonzept aufzunehmen; sie verstehen sich allenfalls als Sonderschüler, schätzen selbst lediglich ihre konkreten schulfachbezogenen Fähigkeiten, nicht aber ihre allgemeinen Fähigkeiten als geringer ein im Vergleich mit Grund- und Hauptschülern und ertrügen - könnten sie wählen - lieber die Diskriminierung durch die Mitschüler als die Stigmatisierung als Lernbehinderte. Die aus diesem Prozeß resultierende soziale Ablehnung, die die schlechten Schüler an der allgemeinen Schule erfahren, wirkt sich auf alle Bereiche ihrer Persönlichkeit aus. So übernehmen sie schließlich bewußt oder unbewußt ihr Rollenbild, identifizieren sich mit dem Urteil und akzeptieren es.[79]

Auch wenn SonderschülerInnen das an sie herangetragene Attribut "Dummheit" akzeptieren, möchten sie wie alle anderen behandelt und zumindest im außerschulischen Alltag akzeptiert werden. Es hat sich gezeigt, dass zwischen SonderschülerInnen und normalen SchülerInnen große Chancenungleichheiten bestehen, und zwar sowohl in Alltagssituationen als auch - was besonders gravierend ist - im Zusammenhang mit der Berufsorientierung und Arbeitssuche. Die konstatierte Andersartigkeit von SonderschülerInnen erschwert es ihnen, das Gleichgewicht zwischen personalen und sozialen Anteilen ihrer biographischen Identität zu halten. Alexander Mitscherlich diskutiert im Zusammenhang mit der Identität die Begriffe

"soziales Ich" und "persönliches Ich".[80] George Herbert Mead[81] hat die Identität des

Individuums in der Interaktion zwischen "I" ("Ich") und "Me" ("Selbst") definiert, die jeweiligen Anteile bezeichnen die "personale" und die "soziale Identität".

Im Falle der Vernichtung der persönlichen Identität zugunsten der Alleinherrschaft sozialer Erwartungen können wir von "Verdinglichung" der Interaktion sprechen, für den anderen Fall, den der Vernichtung der sozialen Identität zugunsten der personalen, gibt es mit Recht keinen geläufigen Terminus: streng genommen ist dieser Fall empirisch nicht möglich, da jede Kommunikation mit einem Anderen, wenn in ihr nicht nur sinnlose Informationen vermittelt werden sollen, auf mitteilbare und damit sozial geteilte Bedeutungen angewiesen ist, soziale Identität also mindestens im Hinblick auf Situationen gebildet werden muß. Von dieser grundsätzlichen Schwierigkeit abgesehen, gibt es jedoch Fälle von außerordentlich schwach ausgebildeter sozialer Identität; annäherungsweise können wir den "Outsider" als einen solchen Fall ansehen.[82]

Peter Erath ortet, dass die Identitätsentwicklung von SonderschülerInnen Kompetenzen erfordert, wie sie von Goffman für das Stigma-Management beschrieben worden sind:

Damit wird er [der Sonderschüler, Anm. des Verf.] zu einem Identitätsmanagement gezwungen, bei dem es aber für ihn aufgrund der Tatsache, daß er sozial nicht akzeptiert wird, daß man ihm die Schuld für sein Versagen anlastet, keine befriedigende Lösung gibt.

Als Folgen dieser Individualisierung ergeben sich für den Rollenhaushalt des schlechten Schülers unter Umständen Distanzierungsstörungen, weil der Betreffende jetzt krampfhaft versucht ist, nur nicht durch eigene Meinungen aufzufallen, nur ja nicht diskreditiert zu werden, oder es entstehen Kontaktstörungen, weil jede personale Nähe zugleich Gefahren und Unsicherheiten mit sich bringen könnte. Nicht selten entflieht er auch dem hohen Konformitätsdruck und nimmt nun genau jene Verhaltensweisen an, die man bei ihm vermutet; ohne Kraft zur Gegenwehr akzeptiert er seine "Negatividentität" (vgl. Brusten, M./Hurrelmann, K.: Abweichendes Verhalten in der Schule, München 1973, 97).[83]

Es ergibt sich also die Frage, ob SchülerInnen, denen in der sozialen Interaktion ein identitätsverändernder Status zugeschrieben wird, in ihrer Identitätsenwicklung von Schule, Elternhaus und Gesellschaft so unterstützt werden können, dass ihnen eine entsprechende Integration in die Gesellschaft gelingt. Oder muss befürchtet werden, dass sich die diagnostizierte Randständigkeit in ihrem Bewusstsein derart einprägt, dass sie durch die eigene Akzeptanz der sozialen Randständigkeit in die soziale Isolation gedrängt werden und die Gesellschaft für sie nur den Platz "am Rande der Normalität"[84] mit allen Implikationen bereitstellt?

Im Zusammenhang mit beruflichen Möglichkeiten erleben die SonderschülerInnen eine Perpetuierung ihrer Versagenserlebnisse während der Schulzeit, sie können ihre berufliche Biographie genauso wenig selbst gestalten wie ihre schulische und erleben die Berufserfahrungen als fortgesetzte Enttäuschung, die oft in der Resignation endet.

Es versteht sich von selbst, daß die zahlreichen Berufseingliederungsschwierigkeiten, drohende Arbeitslosigkeit etc. identitätsverunsichernde und deformierende Auswirkungen auf die Persönlichkeit des jungen Menschen haben und Gefühle der Ohnmacht bzw. des Ausgeschlossenseins zeitigen müssen.[85]

Bei diesen Überlegungen zur biographischen Identität von ehemaligen SonderschülerInnen folge ich Mollenhauers Konzept der pädagogischen Theorie, in der er meint, dass der Identitätsentwicklung jedes Menschen immer Brüchigkeit und Zweifel anhaften müssen.

Richtig wäre beispielsweise die Formulierung: "Der Entwurf, den ich mir von mir mache - und den ich mir unter dem Eindruck der Entwürfe, die andere sich von mir machen, mache - und mein Verhältnis zu ihm, im Hinblick auf das, was ich sein könnte, ist mir ein Problem." Insofern gibt es, jedenfalls für die pädagogische Theorie, keine Identitäten, sondern nur Identitätsprobleme.[86]

Ich gehe also in meinen Überlegungen davon aus, dass es Identitätsprobleme durch die wechselseitige Dynamik des eigenen Entwurfs ("Ich") und des Selbstentwurfes in der sozialen Interaktion ("Selbst") gibt, die für alle Menschen in ihrem Alltag Aktualität haben. Wenn wir aber dieses Konzept auf Kinder und Jugendliche übertragen, die durch die Zuschreibung "Lernbehinderung" eine erheblich Störung ihres Selbstkonzepts erfahren und in ihrem Selbstentwurf wesentlich behindert werden, dann können sich dynamische Identitätsprobleme leicht zu statischen Identitätskonflikten verschärfen. Wenn wir uns die sozioökonomische Situation der "Lernbehinderten" und ihrer Familien, ihre erschwerte Lebenslage, ihre schulische Ausgliederung und die über die Schulzeit hinauswirkende Randständigkeit bis hin zur sozialen Isolation vergegenwärtigen, dann muss man sich fragen, ob diese Bedingungen nicht schlussendlich zu einer biographisch verursachten Störung der Identität führen können.

3.5 Anmerkungen zur Transkriptionstechnik

Die auf Tonband aufgezeichneten Interviews habe ich transkribiert, wobei ich dialektale

Färbungen in Schriftsprache übersetzte. Ich habe den Dialekt zwar bereinigt, den Satzbau aber nur sehr selten verändert, nämlich dort, wo das Verständnis erschwert worden wäre. Ansonsten habe ich die wortwörtliche Wiedergabe in den Deskriptionen vom Transkript übernommen. Mir erschien es wichtig, möglichst nahe am Text zu bleiben, um die Authentizität zu gewährleisten; daher habe ich auch Wiederholungen und Halbsätze belassen. Die Zitate meiner Interviewpartner sind in Kursivdruck wiedergegeben.

(...)

Auch Pausen habe ich in den Deskriptionen angemerkt.

[...]

Ein an dieser Stelle der Interpretation nicht relevanter Satzteil wurde ausgelassen.

[er hat] gelesen

"Ich habe gelesen" (im Transkript): Durch die Wiedergabe in indirekter Rede ändert sich die Person; geänderte Personalformen wurden daher in eckige Klammern gesetzt.

äh

Auch Füllwörter habe ich vom Transkript in die Deskriptionen übernommen.

Natürlich habe ich zur Wahrung der Anonymität meine Interviewpartner mit fiktiven Namen bezeichnet. Auch die Vornamen von MitschülerInnen sind geändert und in Anfangsbuchstaben wiedergegeben. Wohn- und Schulorte sowie die Angaben der Arbeitsstellen wurden verändert und in Abkürzungen angeführt.



[59] "Die allgemeine Einstellung unserer Probanden über den Besuch der Sonderschule wurde durch die Entscheidungsfrage "Ich bin in der Sonderschule lieber/nicht lieber als in der Schule vorher", erfaßt. Von 699 abgegebenen Antworten, davon 444 Knaben und 255 Mädchen, brachten 75,0% eine Zustimmung und 25,0% eine Ablehnung." [vgl. Weyermüller, Friedrich: Einstellungen von Schülern und Eltern zur Allgemeinen Sonderschule. ASO II (= Beiträge zur pädagogischen Psychologie 584-594) Wien (Pädagogischer Verlag Eugen Ketterl) 1980b, 9]

[60] Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, 190

[61] Dazu ermittelt Rudolf Weiss, dass der Prozentsatz von Sonderschülerinnen in den österreichischen Sonderschulen im Schuljahr 1977/78 in den einzelnen Bundesländern zwischen 37% und 44% liegt. [vgl. Weiss, Rudolf: a.a.O., 163] Weiss macht dazu folgende Anmerkungen: "Insbesondere aber fällt der wesentlich geringere Anteil der weiblichen Sonderschüler auf. Diese Erscheinung ist bekannt und auch in anderen Ländern feststellbar. Das Ausmaß an Schwachbegabung ist bei Mädchen nicht geringer. Schwachbegabung fällt jedoch bei Jungen sozial mehr auf und wird stärker als Beeinträchtigung empfunden. Mitunter dürften auch Mädchen Schwachbegabung durch besondere Bravheit und großen Fleiß verdecken." [Weiss, Rudolf: a.a.O., 164]

Auch Johanna Aab beschäftigt sich mit diesem Phänomen: "Die geschlechtsspezifische Selektivität zeigt sich in einer deutlichen Überrepräsentation der Jungen als Folge geschlechtsspezifischer Sozialisation: ausgeprägte Sprachschwierigkeiten der Jungen, größere Anpassungsbereitschaft der Mädchen als Folge ihrer größeren Feldabhängigkeit."[Aab, Johanna/Pfeifer, Tilo/Reiser, Helmut/Rockemer, Hans Georg: a.a.O., 38]

[62] Im Schuljahr 1990/91 betrug der Anteil der ausländischen Kinder an der betreffenden Sonderschule mehr als 50%. In den sieben Klassen mit insgesamt 57 SchülerInnen waren 30 Kinder mit türkischer, kurdischer sowie serbokroatischer Muttersprache.

[63] Aufgrund ihrer sozialen Stellung können türkische Schüler ihre türkischen Mitschülerinnen im Schulalltag nicht als gleichberechtigt anerkennen, denn die Notwendigkeit einer schulischen Ausbildung für Mädchen wird häufig in Zweifel gezogen. Als Vorgesetzte bevorzugen sie Lehrer und es fällt ihnen meistens schwer, die Autorität weiblicher Lehrpersonen zu akzeptieren.

[64] Goffman, Erving: a.a.O., 9-10

[65] Goffman, Erving: a.a.O., 50

[66] Goffman, Erving: a.a.O., 10

[67] Goffman, Erving: a.a.O., 68

[68] Goffman, Erving: a.a.O., 19.

[69] Goffman, Erving: a.a.O., 32.

[70] Goffman, Erving: a.a.O., 16

[71] Goffman, Erving: a.a.O., 43-44

[72] Goffman, Erving: a.a.O., 43

[73] Goffman, Erving: a.a.O., 22

[74] Trabandt, Henning: a.a.O., 55-56

[75] Thiersch, Hans: Stigmatisierung und Verfestigung des abweichenden Verhaltens. Ein Problem der Sozialpädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 4, 15. Jg., 1969, 381

[76] Thiersch, Hans: a.a.O., 383

[77] Erath, Peter: a.a.O., 128-129

[78] vgl. Ammann, Wiebke/Peters, Helge: Stigma Dummheit. Bewältigungsargumentationen von Sonderschülern, Rheinstetten (Schindele) 1981

[79] Erath, Peter: a.a.O., 129-130

[80] vgl. Mitscherlich, Alexander: Das soziale und das persönliche Ich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1966, 21ff

[81] vgl. Mead, George Herbert: Geist, Identität, Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1973

[82] Mollenhauer, Klaus: a.a.O., 104-105

[83] Erath, Peter: a.a.O., 130-131

[84] vgl. Wocken, Hans: Am Rande der Normalität. Untersuchungen zum Selbst- und Gesellschaftsbild von Sonderschülern, Heidelberg (G. Schindele) 1983

[85] Erath, Peter: a.a.O., 147

[86] Mollenhauer, Klaus: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, Weinheim/München

(Juventa) 41994, 159

4 Also ich finde, wir hätten da nicht hingehört

4.1 Die Einweisung in die Sonderschule

4.1.1 Deskription

Hannes fragte ich nach dem Zeitpunkt der Überweisung und nach den Erinnerungen, die er damit verbindet. In die Volksschule [ist er] ja nur bis (...) Weihnachten oder kurz nach Weihnachten gegangen, also nicht einmal ein halbes Jahr. Er führt diese Überstellung auf die Lehrerin, die [er] in der ersten Klasse Volksschule gehabt [hat] zurück. Weil, wenn [er] eine andere Lehrerin damals gehabt hätte, wäre [er] von vorneherein nicht in die Sonderschule gekommen. Hannes ist überzeugt, dass seine Einweisung in die Sonderschule ausschließlich mit der Lehrerin zusammenhängt, denn da hat sie durch das Problem, dass sie eben sicher nicht geeignet war für den Lehrerposten, hat sie zu wenig Geduld gehabt und dann gesagt, okay Hannes, der kommt nicht mit und in die Sonderschule, und da ist sie heimgekommen und hat krasserweise zur Mama auch noch so gesagt, also ihr wäre es recht, wenn [er] schon am nächsten Tag gar nicht mehr kommen würde. Hannes bekommt das später durch seine Tante oder durch eine Lehrerin sogar bestätigt, denn auch die hat eben gesagt, also (...) von dem her, vom Lernen, von der Leichtigkeit lernen, hat sie gesagt, ist es ihr ein Rätsel, wieso [er] überhaupt in die Sonderschule gehe. Also [er] hätte ohne weiteres die Volksschule und sicher auch die Hauptschule machen können.

Dass Hannes allerdings alle Jahre seiner Schulpflicht, mit Ausnahme des ersten Halbjahres in der Sonderschule absolviert hat, ist auf die Entscheidung der Volksschullehrerin zurückzuführen und außerdem liegt der Grund darin, dass [er] in die Sonderschule gekommen [ist] und dadurch von vornherein ja mit dem Sonderschulstoff, also den gelernt [hat]. Dadurch ist eine Rückkehr in die Regelschule praktisch unmöglich. Den Sonderschulstoff hält Hannes für unzureichend; das, was man dort lernt, sei zu leicht, meint er. Über die Umstellung von der Volksschule auf die Sonderschule meint er rückblickend, dass das keine schwierige Umstellung gewesen sei: Für [ihn] war das, nein, nein, für [ihn] war, wenn [er sich] recht erinnern kann, so ziemlich egal, weil [ihm], ob [er] jetzt in diese Schule oder in diese Schule [geht], war [ihm] damals egal. Und der Unterrrichtsinhalt des ersten Jahres der Sonderschule sei auch nicht gar so unterschiedlich zur Volksschule gewesen. Die Schwierigkeiten seiner ganzen Schullaufbahn führt er schließlich noch einmal auf diese Lehrerin zurück, weil es anscheinend nicht einmal notwendig gewesen wäre, dass [er] Sonderschule [geht].

Auch Christof erinnert sich nicht mehr so genau an die Zeit der Überstellung in die Sonderschule. Er kennt den genauen Zeitpunkt nicht mehr, zu dem er in die Sonderschule gekommen ist: In der Volksschule war [er] dritte, vierte Klasse. Dritte, [glaubt er], ja. Auf meine Frage, warum er in die Sonderschule gekommen ist, meint auch er, weil [er] schlecht war und die Lehrerin gesagt hat, [er] soll besser in die Sonderschule gehen. Dass er in den Hauptfächern nicht so gut war wie die anderen, [hat er] schon gewusst. [Er hat sich] halt härter getan. An das Gefühl zu dieser Zeit kann er sich erinnern: Ja, nicht fein. (...) Das hat [ihm] nicht gefallen. Die Lehrerin hat ein Gespräch mit der Mutter geführt, beim Elternsprechtag und so, und das war nicht so fein. An die Volksschule kann er sich nicht mehr erinnern, auch nicht an die Mitschüler dort, ebenso wenig an jene, die bereits in der Sonderschule waren.

Obwohl er über die Sonderschule nichts gewusst hat, war es für ihn befremdlich, in so eine komische Schule zu gehen. Er und seine Eltern waren jedenfalls darüber nicht so erfreut. Vom Lehrstoff her ist es in der Sonderschule schon leichter gewesen und besser erklärt eigentlich auch, weil jeder, weil weniger Leute in der Klasse waren, dann hat ein jeder besser erklären können. Die LehrerInnen haben mehr Zeit für ihre Schüler gehabt, und in der Schule habe er sich leichter getan. Dann fühlt man sich sicher besser (...). Wenn man sich leichter tut, ist immer fein. Trotzdem kann Christof nicht eindeutig seine Gefühle benennen: Angenehm war die Schulzeit in der Sonderschule auch nicht. Aber unangenehm war sie auch nicht. Er erläutert diese ambivalente Aussage mit Zuschreibungen und Etikettierungen, die an die Sonderschule gemacht werden und ihn als Sonderschüler somit auch betroffen haben.

David hat noch die Hauptschule besucht, bevor er in die Sonderschule gekommen ist. Die Hauptschulzeit hat er nicht unbelastet erlebt: Da ist es eher alles, alles mehr auf die harte Dings gegangen. Da hat es gleich geheißen, ja, schreibst du, (...) fünf, von mir aus fünf Seiten (...) irgendwas, von einem Heft oder was, oder nachsitzen. In der Sonderschule war es dann nicht so anstrengend, nicht so wie es in der Hauptschule war. Auch ihm ist es in der Sonderschule leichter vorgekommen: In den letzten zwei Jahren in der Sonderschule ist [ihm] das so vorgekommen als wie die Volksschule. Als wie die Volksschulzeiten, die erste, zweite, dritte, vierte Volksschule [...] von der Klassengemeinschaft her und von, von der, wie soll [er] sagen (...), die Art also, wie da getan worden ist und da ist alles mit Leichtigkeit gegangen. David hat sich in der Hauptschule sehr unwohl gefühlt und empfindet seine neue Schule aufgrund dieser Erfahrungen als Erleichterung. Wenn sich ein Kind hart, wenn man sich hart tut in der Schule, (...) dann (...) es, es (...), es geht ja, in der Sonderschule ist ja das, dass, dass es alles viel einfacher, also es wird schon auch so gelernt und dings, aber nicht so schnell. In der Hauptschule läuft das ja alles herunter ganz (...) als wie auf dem Band ganz schnell und in der Sonderschule ist doch ein, (...) ein dings drinnen, dass das ein bisschen langsamer alles geht, dass man mitkommt.

David meint, dass für ihn der Wechsel in die Sonderschule durch die Bedingungen in der Hauptschule jedenfalls eine Verbesserung seiner Lernsituation darstellte. Es wird ein jeder sagen, [er ist] halt einmal lernschwach und dings (...), aber, wie soll [er] sagen (...), jemand, der leichter lernt und dings, der fasst das alles viel schneller auf und dings. Aber wenn jemand langsamer ist, und etwas nicht gleich auf Anhieb versteht, (...) dann ist es schon ge..., dann ist es schon besser. (...). Das, (...) weil es gibt sicher auch in der Hauptschule, dass sie schnell, dass einer dabei ist, der das zwar begreift, aber das läuft bei ihm eher alles als wie ein Film. Dass er dann im Endeffekt auch nichts davon hat, wenn er von der Schule draußen ist. Jedenfalls resümiert David als Ergebnis seiner Schulbildung für sich: [Er] war vielleicht in der Sonderschule auch nicht gut, also gut, (...) aber (...) [er hat] das gelernt, was man im Leben braucht. David ist der einzige unter sieben Geschwistern, der die Sonderschule besucht hat. Alle [seine] Brüder haben sich leicht getan. [Er hat sich] eigentlich schwer getan (...) mit der Schule. Auf alle Fälle haben auch Davids Eltern in Gesprächen zu ihrem Sohn gesagt: Sei froh, dass du Sonderschule gegangen bist, so, so sagen sie das, ja (...), dass du in diese Schule gegangen bist. David fasst das Ergebnis seiner Auseinandersetzungen mit seiner Schulgeschichte sehr gegensätzlich zusammen: Ja, [er ist] schlechter, ja. Aber (...), aber (...) [er hat] etwas gelernt, und das ist (...) [sein] Vorteil, nicht der Vorteil von den anderen.

Robert hat zuerst die Vorschule besucht und ist im Laufe des ersten Volksschuljahres in die Sonderschule gekommen. Auch er erinnert sich nur ungenau an die Volksschule, erwähnt allerdings, dass ihm die Lerninhalte im ersten Schuljahr zu schwer waren, und zwar Schreiben, Schreiben weiß [er], ja. (...) Ja, genau, die Diktate immer und das ganze Zeug. In seiner Erinnerung war es in der Sonderschule jedenfalls leichter. Welche Gefühle er zum Zeitpunkt des Übertrittes in die Sonderschule hatte, weiß er nicht mehr so genau, dennoch schwingen negative Gefühle mit, wenn er meint: [Er] weiß nicht recht, nicht gar so. Seine um vier Jahre ältere Schwester war zu dieser Zeit bereits Schülerin der Sonderschule, was ihm den Übertritt in die Schule erleichtert hat. Auch er erinnert sich an den minimierten Lernstoff der Sonderschule, an die Hausaufgaben während der ersten Zeit, als er zur Probe die Sonderschule besucht hat. Und da haben [sie] halt dann Aufgabe bekommen. Da [hat er sich] gedacht, ja das (...), fünf Sätze oder so schreiben, oder? Da [hat er sich] gedacht, ja, oder waren es zwei Sätze, das ist ja egal, nicht? Auf jeden Fall [hat er] das halt nicht Wert gefunden wegen diesen zwei Sätzen eine Aufgabe zu machen, weil das halt so verdammt wenig war. Im Rückblick erscheint Robert die Sonderschule als wie eine Vorschule. Da waren eben auch alles komplett Schwache drinnen und genauso ist es jetzt. Da sind ziemlich alle Klassen so, [glaubt er] sogar.

4.1.2 Interpretation

Drei der vier Interviewpartner fallen bereits in der Volksschule als schlechte Schüler auf, indem sie von der üblichen Volksschulpopulation und deren Leistungsverhalten in irgend einer Weise abweichen. Nach der Feststellung der Devianz der Schulleistungen, richten LehrerInnen verstärkt ihr Augenmerk auf die ProblemschülerInnen, sie beginnen sich für die Abweichung genauer zu interessieren und personifizieren schließlich das Schulleistungs-versagen der SchülerInnen; der Etikettierungsprozess beginnt, und die Devianzkarriere der identifizierten SonderschülerInnen nimmt ihren Lauf:

5. Der Lehrer fällt ein Urteil über den Schüler. Er hält ihn für abweichend und stellt seine weiteren Aktivitäten und Erwartungen auf die mit der Benennung verknüpfte Bedeutung ein.

6. Für den Schüler ist die folgende Handlungskonsequenz nicht verständlich. Da er durch sie seine soziale Identität bedroht sieht, ist er bemüht, sich gegen diese Bedrohung zu wehren.

7. Irgendwann sehen Lehrer und Schule ihren Toleranzspielraum überschritten. Sie ergreifen eine grundlegende Maßnahme gegen den Schüler. Der Schüler wird zu einem offiziellen Fall. Es wird eine Akte über ihn angelegt. Möglicherweise wird der Schüler einer anderen Institution zugewiesen.

8. Der Schüler übernimmt die ihm angetragene Identität.[87]

Die Grundschule bereitet im wesentlichen diese Entwicklung vor, indem - ausgehend von einer Normvorstellung - abweichende SchülerInnen von GrundschullehrerInnen identifiziert werden. Die Sonderschule als Sammelbecken für SchulversagerInnen hat hiebei die Funktion der Entlastung der Regelschule von leistungsschwachen und schwierigen Kindern. Hannes und Christof jedenfalls sprechen von der Mitbeteiligung der LehrerInnen der Grundschule, Hannes schreibt seiner Lehrerin in seiner Bewältigungsargumentation sogar massiv die Schuld an seiner Devianzkarriere zu. Eine Studie von Amman und Peters belegt die von SonderschülerInnen geübte Kritik an ihren GrundschullehrerInnen.

Die verbreitete Kritik an den ehemaligen Grundschullehrern bleibt bestehen. Die Überweisung begründet kein Aufatmen: Gott sei Dank, die bin ich los! Es bleibt der Ärger und die Wut über das Versagen der Lehrer. Die Lehrer werden kritisiert, weil vor allem sie als verantwortlich gelten für ein schlimmes Ereignis.

Das Schlimme an dem Ereignis der Sonderschulüberweisung ergibt sich aus dem institutionellen Arrangement. Die Überweisung von einer Einrichtung, der Grundschule, in eine andere, die Sonderschule, begründet das zur Bewältigung zwingende Stigma.[88]

Die Kritik an den ehemaligen GrundschullehrerInnen ist ein dominanter Faktor, ihre Entscheidung wid als Ursache der Stigmatisierung gesehen. In der zitierten Umfrage äußern sich 40% (bei Nachfragen) und 18% (bei offenen Fragen) kritisch über ihre ehemaligen GrundschullehrerInnen, und damit nimmt diese Bewältigungsargumentation den ersten Rang ein.[89]

Für alle vier Schüler stellt die Überweisung in die Sonderschule eine Entlastung dar, denn die Lerninhalte der Regelschule werden insgesamt als überfordernd bewertet. Die Situation in der Grundschule perpetuiert ihre Versagenserlebnisse, sodass die Umschulung in die Sonderschule anfänglich durchaus als Erleichterung empfunden wird, zumal deren Leistungsanforderungen gegenüber der Regelschule deutlich verringert sind. Diese Funktion der Sonderschule wird bis heute als Wohltat für die SchülerInnen gesehen und daher nicht weiter hinterfragt. Dass dieses Gefühl der Entlastung jedoch nicht einmal durch die gesamte Pflichschulzeit anhält, sondern die damit verbundene Aussonderung zunehmend als belastend empfunden wird, darauf werde ich noch öfter zu sprechen kommen. Im übrigen wird der dezimierte Lehrstoff spätestens am Ende der absolvierten Schulpflicht zum massiven Problem, wenn die SonderschülerInnen ihren Leistungsnachteil gegenüber den HauptschülerInnen wahrnehmen. Hannes deutet hier bereits an, dass er nur den Sonderschulstoff gelernt habe, was ihm den Übertritt in eine andere Schulart von vornherein verunmöglicht habe. Auch Robert kritisiert den Lehrstoff der Sonderschule als zu leicht und vergleicht den Schultyp sogar mit der Vorschule. David vergleicht sie mit der Volksschule. Damit kann gesagt werden, dass die Sonderschule - wie in den Effizienzuntersuchungen bereits dargelegt - nicht in der Lage ist, den Leistungsrückstand aufzuholen sondern vielmehr den Rückstand ihrer SchülerInnen perpetuiert und fixiert.

Alle Interviewpartner schreiben sich selbst das Versagen in der Grundschule zu, sie wissen um ihre Schulschwäche, sie übernehmen die ihnen angetragene Identität des "Lernbehinderten", der folglich in die Sonderschule überwiesen werden muss. Damit bestätigen sie dominant defensive Bewältigungsstrategien, die auch Amman und Peters in ihrer Studie belegen.

Das Ergebnis eines sonderschulspezifischen Sozialisationsprozesses könnte die sukzessiver Übernahme der Fremddefinition, derzufolge die Sonderschuleinweisung auf das individuelle Versagen des Schülers zurückzuführen ist, in die Selbstdefinition sein.[90]

Dieses Prinzip der Selbstverschuldung scheint im Etikettierungsprozess gut verankert worden zu sein, denn alle vier Schüler suchen die erklärenden Faktoren für die Einweisung bei sich. Damit entsprechen sie dem Zuschreibungsprozess, sie kapitulieren vor den stigmatisierenden Beschreibung durch ihre LehrerInnen und identifizieren sich mit ihrer Disposition, indem sie sich als schlechte Schüler definieren. Bei Robert fällt auf, dass er alle SchülerInnen der Sonderschule als "schwach" bezeichnet und dabei sich selbst offenbar von dieser Zuschreibung distanziert, während in der Gesellschaft bis heute an der Vorstellung vom individuellen Defizit der SonderschülerInnen als Behinderte festgehalten wird. Die Voraussetzung zur Überstellung in die Sonderschule ist dagegen weit gefasst, wenn dabei das Unvermögen, dem Unterricht in der Volks- und Hauptschule zu folgen, als Definitionskriterium für "Lernbehinderung" steht. Dieses Kriterium ist nicht eindeutig und zudem in hohem Maße kontextabhängig, sodass ihm eine gewisse Willkür anhaftet. Außerdem wirkt auch das Angebot an Sonderschulen als Regulativ für die Einweisungspraxis. Die Statistik zeigt, dass eine erfolgte Einweisung mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer endgültigen Schullaufbahn in der Sonderschule mündet.

4.2 Die MitschülerInnen

4.2.1 Deskription

Hannes sieht seine Mitschüler und die Klasse so, wie eine Schulklasse eben ist. Allerdings die letzten Klassen waren sicher, also wie soll [er] sagen, ja windiger, lebendiger und ja, vielleicht nicht so, wie man sich unter Anführungszeichen eine typische Schulklasse vorstellt. Hannes meint nicht, dass es in der Klasse besondere Probleme gegeben hätte, weil an Schlägereien, [er meint], ja ab und zu einmal hat man natürlich schon gestritten, und da kann es schon passieren, dass der eine oder andere einmal eine Watsche bekommen hat, aber so krass, [glaubt er], war das nicht. Und sonst, Probleme mit den Mitschülern, (...) [er glaubt] nicht, dass [sie] da Probleme gehabt haben. Wie gesagt, Meinungsverschiedenheiten ja, ab und zu schon, aber so krasse Probleme nicht. Hannes erinnert sich gerne an seine MitschülerInnen, denn da gibt es wenige Erfahrungen, die [er] mit den Mitschülern gemacht hat, (...) wo [er] enttäuscht war.

Auch an Christof richtete ich die Frage, wie es ihm ergangen ist, wenn er sich mit der ganzen Klasse außerhalb des Schulhauses - etwa bei einem Lehrausgang - befunden hat. Er hat sich ab und zu schon geschämt, wenn manche so deppert getan haben im Bus drinnen oder so. In solchen Momenten wollte er schon eher nicht so zur Gruppe gehören. Auf die Frage, ob es ihm angenehm gewesen wäre, beim Lehrausgang einen Kollegen oder Freund zu treffen, meint er ganz entschieden: Nein, sicher nicht. Denn manchmal hätte man es der Gruppe schon angesehen, dass es sich um eine Sonderschulklasse handelt, wie sie sich aufgeführt haben, aber manchmal vielleicht auch nicht.

Für David stellt die Klassensituation in der Sonderschule, die sich aus mehr oder weniger "schwierigen" Schülern zusammensetzt, keine Besonderheit dar. Das ist eigentlich überall so in den Schulen. Er vergleicht die Klasse mit einer Fernsehserie und zieht Parallelen: Das ist, [meint er], in einer höheren Klasse ist das, [...] wenn wir jetzt so die Klasse anschauen, wie im Film Doktor Specht, der Lehrer Doktor Specht, das [schaut er] auch immer gerne, diese Sendung. Da geht es, [meint er], genauso zu, wie es bei [ihnen] war, [...] das ist, [meint er], normal. Er erinnert sich auch an seine Klasse, wie andere Schüler auch, es gab angenehmere und schwierigere Mitschüler.

Auf die Frage, ob es ihm in der Sonderschule gefallen habe, meint Robert ganz eindeutig: Nein, überhaupt nicht. Und zwar war es vorweg die Kollegschaft, die ihm nicht gefallen hat. Ein paar waren, die [er] gerne gemocht [hat], den C., den M. und den K. Den Rest hast du einfach vergessen können. Im weiteren Verlauf des Interviews gibt es immer wieder Passagen, in denen er zum Ausdruck bringt, dass die MitschülerInnen bzw. die Schulgemeinschaft ihm sehr unbehaglich waren.

4.2.2 Interpretation

Die schulische Isolation und die Bedingungen der Ausgrenzung schaffen ein eigenes Ghetto von SchülerInnen, die "anders" sind und dieses "Anders-sein" bedeutet zugleich immer etwas "Minderwertiges". Das wissen die SchülerInnen der Sonderschule, und es wird dann zum Problem, wenn dieses "Anders-sein" in der Öffentlichkeit auffällt. Das Schulhaus bietet Schutz; sich mit der Gruppe der "Anderen" in die Öffentlichkeit zu begeben, fällt aber oft schwer. Erst seit den 70er Jahren wird in der Literatur darauf verwiesen, dass die SonderschülerInnen eine klassenspezifische Herkunft und in den allermeisten Fällen ungelernte Arbeitskräfte bzw. HilfsarbeiterInnen als Eltern haben. Sie entstammen oft unvollständigen Familien und erst Ernst Begemann[91] weist darauf hin, dass die Ursache für das Schulversagen entsprechend den sozialen Verhältnissen in den Familien begründet ist. Mehrere AutorInnen bestätigen, dass die Sonderschulpopulation zu "80 - 90% [...] den unteren sozialen Schichten"[92] zugeordnet werden kann, und Lernbehinderung wird daher auch als soziokulturelle und sozioökonomische Benachteiligung verstanden. Wer den Leistungsanforderungen der Grundschule, die sich an der Mittelschicht orientiert, nicht entsprechen kann, wird von dieser ausgesondert.

Sonderschulbedürftigkeit entsteht somit als Ausdruck einer speziellen Erziehungs- und Bildungsbedürftigkeit, die vor allem durch die besonderen Bedingungen der Erziehungs- und Bildungsgenese in einem eigenen subkulturellen Lebensraum hervorgerufen wird.[93]

Wie wir schon bei der Geschichte der Sonderschule gesehen haben, liegt eine Ursache für die Entwicklung der Hilfsschule in der Entlastung der Grundschule von SchülerInnen, die die übrige Volksschulpopulation in ihrer Entwicklung "hemmt". SchülerInnen, die im Schulalltag ein wie immer geartetes abweichendes Verhalten zeigen, werden von LehrerInnen als "auffällig" diagnostiziert, wobei die Schuld für abweichendes Verhalten meist im Elternhaus und in den SchülerInnen selbst verdinglicht wird: Geringe Begabung ist durch die soziokulturelle Deprivation, Vernachlässigung durch die Eltern und fehlende intellektuelle Förderung verursacht, da die Kinder aus sozial deprivilegierten Familienverhältnissen stammen. Auch Henning Trabandt beschreibt die Zusammenhänge zwischen Armut und zugeschriebener "Dummheit" und zeigt, wie eben diese "Dummheit" in einem interaktionistischen Prozess hergestellt werden kann:

Mit der Armut gehen bestimmte Verhaltenweisen und Einstellungen einher. Sie entsprechen prinzipiell den Charakteristika, überschreiten sie aber im Ausmaß, die durchgängig als typisch für Unterschichtsangehörige beschrieben werden: restringierter Sprachcode, kurze Planungsperspektive und geringe Fähigkeit zum Befriedigungsaufschub, strikte Orientierung der Wahrnehmung an bisherigen Erfahrungen und Experimentierunlust.

Diese Einstellungen und Verhaltensweisen werden, wie immer wieder betont wird (vgl. zusammenfassend Begemann 1970, S. 109 ff), in der Primärsozialisation auf das Kind übertragen. Sie sind zwar wahrscheinlich für die Lebenslage des Kindes funktional, verhindern aber das Entstehen von Fähigkeiten und Motivationen, die die Schule als Mittelschichtinsitution voraussetzt.[94]

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Zusammenfassung einer SchülerInnenpopulation, die großteils einer sozial benachteiligten Schicht angehört, im interaktionistischen Sinne reproduzierend auswirkt. Die Grundschule, die sich mit devianten SchülerInnen nicht befassen muss, verlagert die Erziehungsproblematik an die Sonderschule - das Sammelbecken für Schulversager - in die sie deklassierte SchülerInnen einweist. Ob auf die individuelle Problematik jeder Schülerin und jedes Schülers in einer Gruppe deklassierter Personen leichter reagiert werden kann, wage ich zu bezweifeln. Vielmehr ist zu befürchten, dass durch diese Organisationsform die Defizite der SchülerInnen eher zunehmen, denn die Zusammenfassung von SchülerInnen eines gleich niedrigen Leistungsniveaus scheint ihre Entwicklungsmöglichkeiten nicht anzuheben, sondern eher zu senken. Ähnliches kann auch für das Verhalten angenommen werden, denn Kinder mit Störungen im Verhalten können unter ihresgleichen nur auf negative Stimuli reagieren. Das der SonderschülerInnenpopulation zugeschriebene Verhalten wird reproduziert, bis SchülerInnen die ihnen angetragene Identität annehmen und sich so verhalten, wie es die Öffentlichkeit ohnehin annimmt. Von öffentlichen Kontrollinstanzen (Fürsorge, PädagogInnen, Sozialamt, Polizei u.a.)

werden hier die in der Sonderpädagogik geläufigen negativen Typisierungen reproduziert und damit als Selektions- und Sanktionskriterien nahegelegt: Wer Rohheitsdelikte aufklären will, möge sich an Sonderschüler halten, weil sie dazu neigen, und wer Sonderschüler von Wiederholungen ihrer Taten abhalten will, möge schnell und hart eingreifen, weil sie hemmungslos und triebhaft sind.[95]

Es wundert also keineswegs, dass Christof mit einer SchülerInnengruppe, der Charakteristika dieser Art zugeschrieben werden, nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden will. Auch Robert distanziert sich im Laufe des Interviews mehrfach von MitschülerInnen der Schulgemeinschaft, ihm ist die Zugehörigkeit zu dieser devianten Gruppe unangenehm. Zu Normalisierungen ihrer Schulsituation neigen David und Hannes, wobei Hannes, der alle neun Jahre seiner Schulpflicht in der Sonderschule absolviert hat, keine Erfahrungen hinsichtlich der Zusammensetzung einer "normalen" Klasse sammeln konnte.

Bezüglich der soziokulturellen Herkunft meiner Interviewpartner möchte ich die statistischen Werte bestätigen. Fast alle SchülerInnen dieser Klasse stammen aus benachteiligten Familien, in denen meist beide Elternteile in einem angelernten Beruf tätig sind. Gemeinsam sind ihnen schlechte Wohnverhältnisse in zu kleinen Mietwohnungen und eine größere Geschwisterzahl, an deren Versorgung sie auch beteiligt sind. Die soziale Randständigkeit in der Gesellschaft reproduziert sich im Besuch einer randständigen Schule, die durch reduziertes Bildungsangebot die Randständigkeit weiter festschreibt und schließlich in den verminderten Berufs- und Lebenschancen ehemaliger SonderschülerInnen ihre Entsprechung findet. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass die SonderschülerInnen diesen sozialen Kontext nicht berücksichtigen, sondern vornehmlich die Schuld für die Überstellung in die Sonderschule bei sich selbst suchen. Amann und Peters weisen nach, dass nur vier Prozent der SonderschülerInnen zu Bewältigungsargumentationen der Kategorie "Sozial-kulturelle Deprivation" greifen:

Nur jeder 25. der von uns befragten Sonderschüler versucht also, sein Sonderschul-Dasein mit einer Klage über seine Herkunftsfamilie zu bewältigen. Die Herkunftsfamilie scheint für den größten Teil der Sonderschüler tabu zu sein. Über sie darf nicht schlecht geredet werden.[96]

4.3 Zum Image der Sonderschule und der SonderschülerInnen

4.3.1 Deskription

Den meisten Schülern war es unangenehm, in der Öffentlichkeit als Sonderschüler erkannt zu werden. Manchmal war das bei Lehrausgängen problematisch. Hannes kann sich an kein konkretes Beispiel erinnern, kann es sich aber gut vorstellen. [Ihm] persönlich, wie gesagt, hat das nichts gemacht, also (...) während [er] Schule gegangen [ist], [...] da ist [er] manchmal von Kollegen (...) ja, Vorwurf nicht, aber gehänselt worden wegen Sonderschule. Hannes betont öfter, dass ihm die Zugehörigkeit zur Sonderschule ziemlich egal war, dass er es sich allerdings bei manchen MitschülerInnen sehr gut vorstellen kann, dass die das nicht gar so mögen haben, dass die da vielleicht irgendwie (...), wie soll man da jetzt sagen, Minderheitskomplexe oder irgendwas gehabt haben. Betroffen davon waren für Hannes eher so lässige Typen, so Macho-Typen, so in dieser Art. Naja gut, Sonderschule, also das Image Sonderschule passt da halt nicht gar so dazu. Das ist, also das ist durchaus ein Vorurteil.

Also, wenn du jetzt sagst, du bist in die Sonderschule gegangen, dann ist das sicher beim einen oder anderen (...), nicht jetzt allgemein, also sicher nicht ein jeder, aber sicher viele denken sich da schon, also Sonderschule, naja gut (...). Wie soll [er] sagen, [er] möchte jetzt nicht gerade sagen, dass er sich denkt, dass du jetzt blöd bist, aber (...) es ist sicher so, dass sie, um es einmal so zu sagen, denken, naja gut, wenn du Sonderschule gegangen bist, dann ist er vielleicht ein bisschen hinten geblieben, um es so zu sagen, oder? Das heißt ja nicht, dass du blöd bist, aber (...) (...) und das ist halt doch irgendwie das Vorurteil, und das haben die sicherlich in irgendeiner Weise auch gewusst, dass das ein Vorurteil ist und das wird ihnen nicht gar so gepasst haben. Und wenn du jetzt dann noch natürlich in der Öffentlichkeit auch noch eine Wand bemalst, (...) da könnte es vielleicht, [er] weiß es nicht, was sie sich dabei gedacht haben, aber wenn [er sich] jetzt in diese Situation [hineinversetzt], könnte ja auch die Befürchtung auch da sein, ja gut, es könnte ja irgendein Kollege einmal zufällig vorbeikommen, der vielleicht gar nicht weiß, dass du in die Sonderschule gehst oder was. Und der sieht das und erfährt das und (...) [er meint], vielleicht dass solche Ängste oder so ähnliche Ängste bei Gewissen da waren.

Wie gesagt, [ihm] persönlich hat das nichts getan, weil (...) [er hat] da auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass [er] Sonderschule [geht] oder was oder, wenn einer gesagt hat "Du Sonderschüler" (...), entweder [hat er] das einfach überhört, also dass [er] da gar nicht reagiert [hat] oder [er hat] gesagt: "Ja, Sonderschule. Wieso, was gibt es denn gegen die Sonderschule?" (...) Also [ihm] persönlich war das eher gleich. [Er hat sich] da sicher nie, nie soviel daraus gemacht, dass [er] jetzt da Minderheitskomplexe gehabt [hat]. Zumindest, es hat einmal einer gesagt, [er] habe Minderheitskomplexe wegen dem, aber bewusst nicht. Also, ob [er] es im Unterbewusstsein oder was gehabt habe, möchte [er] jetzt nicht abstreiten, aber so bewusst [hat er] sicher keine Minderheitskomplexe wegen dem gehabt. Auch wenn Hannes keine Probleme mit der Sonderschule gehabt hat, so meint er doch jetzt im Nachhinein, wenn [er] darüber [nachdenkt], vielleicht im Unterbewusstsein irgendwie. Vielleicht dass es so im Unterbewusstsein irgendwo da war, in gewisser Weise, aber so bewusst, also wenn zu [ihm] jemand sagen würde "Du Sonderschüler" oder irgendwas, (...) dann hat er [ihn] weder beleidigt noch sonst etwas.

Christof benennt seine Probleme mit der Institution Sonderschule genauer. In diese Schule zu gehen, war für ihn nicht angenehm, denn manche haben halt gespottet darüber. Er bestätigt, dass es während der Schulzeit öfters vorkam, dass manche gesagt haben, du gehst ja Sonderschule, du bist da deppert oder so. Weil das ist sowieso, Sonderschule, denkt sich jeder, da sind eh nur alles Dumme drinnen.

Wenn David seiner Schulzeit in der Sonderschule auch durchaus positive Aspekte zuschreibt, so tauchen doch immer wieder kritische Anmerkungen zu seiner Schulgeschichte auf. Obwohl er die Hauptschule gern verließ, hat er sich doch anfangs vielleicht in der Öffentlich..., in der Öffentlichkeit vielleicht ein bisschen dings gefühlt, da, da [geht er] hinein (...), ein anderer geht in die Hauptschule und dings, sicher das ist (...). Durch die Türe der Sonderschule zu gehen, ist ihm nicht so leicht gefallen, zumal ihm dann klar war, dass [er] ja schlechter eben [ist] und dings. Mit seinen Geschwistern hat David offenbar nicht über seine Situation gesprochen, daher kann er nur Vermutungen darüber anstellen. Die werden sich schon seinen, ihren dings Teil gedacht haben, aber die (...), geredet haben sie darüber nie, (...) gar nie (...). Die werden sicher unter sich auch vielleicht, wenn [er] nicht da war, vielleicht geredet haben und dings, aber (...). Aber so eigentlich von der Nachbarschaft auch, [er ist] mit den Nachbarn ja auch und dings, die haben es auch gewusst, oder (...), und von [ihm] der Nachbar, der ist ja auch nachher hinuntergegangen, Sonderschule.

Für Davids Eltern war es nicht einfach, sich mit der Situation ihres Sohnes abzufinden, sie haben sich in Gesprächen damit auseinandersetzen müssen. Und sie haben auch, sie haben auch gesagt, damals, wie es in der Sonderschule, am Anfang war es ihnen vielleicht nicht so recht, weil (...) der Letzte in die Sonderschule, warum oder, (...) sicher war es vielleicht nicht recht, also was [er sich denkt], also, aber, aber (...) jetzt sagen sie immer noch, wenn [er] jetzt so (...) es ist schon länger her, dass [sie] einmal ein Gespräch, sei froh, dass du da drunten warst, und dass du da gelernt, dass du da noch etwas gelernt hast, und dass du so einen guten Lehrer gehabt hast und dings, wirklich (...) das, wie gesagt, weil (...) da hast du noch was lernen können. (...) Das sagen sie selber, aber am Anfang waren sie auch eher, mei, schau an, nein nicht, nicht schau an, aber [er] kann es [sich] so denken, wie sie gesagt haben, schau der Siebte geht jetzt da. (...) Alle anderen sind alle Polytechnisches oder, oder den Hauptschulabschluss gemacht (...), warum der Siebte?

In diesem Zusammenhang interessiere ich mich auch für die Haltung seiner Freunde im Dorf und seiner ehemaligen Mitschüler. Wie haben sie seinen Schulwechsel aufgenommen? David dementiert sehr heftig, damit jemals Probleme gehabt zu haben. Es kommt in seinem Heimatort nicht vor, dass sie einen hänseln oder so, [...], dass sie sagen, schau her, der ist in die Hilfsschule gegangen. (...) Keine. Keiner, überhaupt nicht (...), überhaupt nicht. Wenn das passiert wäre, würde er sich an diesem Ort nicht aufhalten.

Robert hat große Schwierigkeiten mit seiner Identität als Sonderschüler. Rückblickend kommt ihm seine Klasse als normale Gruppe vor, während ihm die anderen SchülerInnen der Schule so geistig beschränkt halt erscheinen. Ja, [ihm] kommt halt vor, [sie] waren nicht so, (...) wenn du jetzt hineinschaust, das sind ja ehrlich solche, die ehrlich dahin gehören, nicht? Also [er findet], [sie] hätten da nicht hingehört. (...) Weil [er glaubt] nicht, dass [er] auch so war, wie die da oben waren oder sind. Robert kommt durch seinen Beruf manchmal in die Sonderschule und sieht dort die SchülerInnen. Dagegen grenzt er sich entschieden ab. Nicht so leicht abgrenzen kann er sich gegenüber den Stimmungen, die bei seinen Eltern aufgrund des Sonderschulbesuches ihres Sohnes laut wurden.

Die Mama, [meint er], ist eher so, die Mama hat das halt genommen, wie es ist. Der Vater, [glaubt er], ist damit nicht ganz fertig geworden. Er zitiert dann seinen Vater, der im Alltag seinen Sohn beschimpft, indem er ihm seine Schulkarriere zum Vorwurf macht: "Du Trottel, du Depp du, du bist nicht ganz sauber! Weil umsonst bist, bist du nicht Sonderschule gegangen." Das ist für Robert natürlich sehr verletzend, und obwohl der Vater seine Tochter ähnliche beschimpft, meint Robert sehr gekränkt, dass er laufend der Trottel sei. Natürlich hadert Robert in solchen Situationen mit seiner Schulbiographie: Ja, [er] weiß nicht, [ihm] kommt es halt so vor, als wie wenn, (...) [er denkt sich] halt, was wäre gewesen, wenn das jetzt, (...) wenn [er] jetzt nicht in die Sonderschule gegangen wäre? (...) [Er] weiß es nicht. Außerhalb seines Elternhauses scheint Robert keine Probleme damit zu haben, dass er die Sonderschule besucht hat. Sicher kommt es manchmal vor, dass Witze über HilfsschülerInnen bzw. SonderschülerInnen gemacht werden, das geht halt manchmal daher. Aber dass [er] deswegen gleich ausgespottet worden wäre, oder dass [ihm] das einmal jemand vorgehalten hätte, (...) [er] könnte [sich] nicht erinnern. Das, was Robert in der Sonderschule gelernt hat, kann er jetzt brauchen, und er stellt fest, dass ihm von den LehrerInnen der Sonderschule geholfen wurde. Er sieht sich als durchschnittlichen Schüler, nicht so, dass [er] schlecht war, nein. In die Hauptschule zu wechseln war für ihn kein Thema, denn damit [hat er sich] gar nicht so befasst, so wie es ist, ist es halt.

Als ein Mitschüler einmal probeweise in die Hauptschule gegangen ist, hätte es [ihn] schon irgendwie gereizt, aber (...) es ist halt nicht gegangen. Die Hauptschule stellte er sich jedenfalls schwieriger vor und ein Wechsel erschien ihm nicht leicht möglich, zumal er auch Angst gehabt hätte davor. Einfach, einfach wieder andere Leute, und, und, du weißt ja, da bist du schon so ungern hingegangen, und da drüben ist es sicher noch schlechter, [hat er sich] immer gedacht. (...) Und [er ist] auch nie gerne, da sind [sie] immer auf den Jausenhof hinausgegangen, da war [er] nie gerne draußen. Und zwar deshalb, weil Robert im Schulhof von den HauptschülerInnen als Sonderschüler gesehen werden konnte: Ja, einfach, die einen schauen von dort unten herüber, und einfach, die schauen von dort oben herunter, und so halt, nicht?

4.3.2 Interpretation

Alle vier interviewten ehemaligen Schüler erleben sich im Rückblick auf ihre Schulzeit massiv als Außenseiter. In einem Strang ihrer Bewältigungsstrategien streiten zwar drei von ihnen eine offensive Ausgrenzung ab, beziehungsweise dementieren sie vehement, dass sie dadurch verletzt worden wären. Allerdings räumt Hannes ein, dass er eventuell unterbewusst "Minderheitskomplexe"[97] gehabt haben könnte und dass bestimmten Mitschülern das Image der Sonderschule ein Problem gewesen sein könnte. Christof benennt seine Schwierigkeiten mit der Zuschreibung "Sonderschüler": er kann sich daran erinnern, dem Spott ausgesetzt gewesen zu sein. Seine Identitätsproblematik hängt damit zusammen, dass die öffentliche Meinung jenen, die die Sonderschule besuchen (müssen), "Dummheit" attestiert. Auch David vermutet, dass sein Sonderschulbesuch für seine Familie problematisch war, wenn auch nie darüber gesprochen wurde. Obwohl er wegen seines Sonderschulbesuchs nicht öffentlich diffamiert worden ist, hat er sich in der Öffentlichkeit deswegen oft unwohl gefühlt. Robert äußert schwere Identitätskonflikte bezüglich seiner Rolle als ehemaliger Sonderschüler. Er argumentiert einerseits, dass er eigentlich nicht in diese Schule gepasst hätte, weil er nicht mit denjenigen verglichen werden kann, die aufgrund einer objektiv vorliegenden "Behinderung" diese Schule besuchen müssen. Immer dann, wenn er beruflich in der Sonderschule zu tun hat und dabei mit den SchülerInnen konfrontiert wird, grenzt er sich von ihnen ab. Er nimmt sie als "Lernbehinderte" wahr und distanziert sich von ihnen. Auch er weist also die ihm angetragene Identität als "Lernbehinderter" vehement zurück.

Sein Vater hingegen verwendet in Streitsituationen seine Sonderschulkarriere gegen ihn, indem er behauptet, dass es sicherlich einen Grund habe, dass sein Sohn die Sonderschule besucht hat. Das kränkt ihn massiv, und er fragt sich in solchen Momenten, ob nicht sein Leben mit einer normalen Schulkarriere einen anderen Verlauf genommen hätte. Obwohl auch Robert sich nicht daran erinnern kann, jemals wegen seines Sonderschulbesuchs verspottet worden zu sein, fürchtete er schon während seiner Schulzeit die Konfrontation. Er erinnert sich in diesem Zusammenhang daran, dass er den Aufenthalt im Pausenhof, der sich im Blickfeld der Hauptschule befand, scheute, weil er sich dabei als Sonderschüler unter seinesgleichen von den HauptschülerInnen beobachtet fühlte.

Sowohl der Status Sonderschüler als auch die Institution "Sonderschule" diffamieren die ausgesonderten SchülerInnen in der Öffentlichkeit, da im öffentlichen Bewusstsein das Bild des "behinderten Hilfsschülers" weiterlebt. Die Verwendung von diffamierenden Attributen durch fachkompetente Personen sowie die in der Umgangssprache benutzten stigmatisierenden Verunglimpfungen der SonderschülerInnen tragen wesentlich dazu bei, dass sich die "Minderheitskomplexe" manifest in der Identität ehemaliger SonderschülerInnen verankern. Auch wenn die Sonderschule durch Namensänderungen und Schulversuche (Schulversuch differenzierte Sonderschule, Schulversuch Hauptschulabschluss) ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu modifizieren versucht hat, ist es ihr bis heute nicht wirklich gelungen, ihre SchülerInnen stigmatisierende Prozesse zu verhindern.

Wenn es auch gelingen sollte, in der Binnenstruktur der Sonderschule die sonst in der Grund- und Hauptschule üblichen stigmatisierenden Prozesse gegenüber benachteiligten Schülern nicht zu reproduzieren, so erreichen sie diese Prozesse doch durch den Status der Institution, weil die personale Wert- und Einschätzung auch an der Gruppen- bzw. Institutionenmitgliedschaft orientiert ist.[98]

Diese Zuschreibung verfestigt die Stigmatisierung der SonderschülerInnen weiter und beeinflusst ihre Identität und damit ihre Lebensbewältigung erheblich. Daher ist auch verständlich, dass oft nicht einmal nahe Bekannte von der Schulkarriere ehemaliger SonderschülerInnen erfahren, denn die potentielle Stigmatisierung, die Diskreditierbarkeit durch die Umwelt zwingt die SonderschülerInnen in eine defensive Rolle, die sie wiederum leicht stigmatisierbar macht und häufig in die Isolation drängt. Interaktionistische Zuschreibungsprozesse erleichtern die Identitätsbildung der SonderschülerInnen nicht gerade, denn die Institution Sonderschule, von der sie sich immer distanzieren wollen, holt sie unentwegt wieder ein.

Einmal besuchen dumme, geistig unterbelichtete Kinder diese Schule; zum anderen werden diesen Attributen auch Ungeschicklichkeit, Verantwortungslosigkeit, Anomalität, Verschlagenheit, Bösartigkeit usw. beigeordnet (Farber 1968, S. 19). Die Öffentlichkeit verknüpft mit der Sonderbeschulung - unabhängig von der Kenntnis der Population - eine intellektuelle Abstempelung und eine diskreditierende charakterliche Einschätzung.[99]

Zusammenfassend läßt sich sagen, dass soziokulturell benachteiligte SchülerInnen, denen der Prozess der Anpassung an die schulischen Erfordernisse in der Grundschule nicht gelingt, erst bei erfolgter Einweisung in die Sonderschule eine totale Statuseinbuße erfahren, die ihnen ihrerseits nicht nur die Schulkarriere, sondern auch die beruflichen Möglichkeiten und damit die zukünftigen Lebenschancen vorzeichnet.

4.4 Sonderschule oder Hilfsschule?

4.4.1 Deskription

Während David als einziger für die benannte Schulart meistens den Terminus "Hilfsschule" wählt, spricht Christof von der Sonderschule. Er kennt auch den anderen Begriff, weiß allerdings nicht, welche Bezeichnung treffender ist. Nein, [er findet] fast 'Sonderschule'. (...) Ja, das ist schwer zu sagen, 'Hilfs-' klingt auch wieder so komisch, (...) [er] weiß nicht. 'Sonderschule' klingt schon, nein passt eigentlich eh irgendwie, ist ja eine besondere Schule. Neugierig frage ich nach der Besonderheit dieser Schule, und er meint, dass da einfach (...) alle halt, die schwächer sind, drinnen sind und weil sich halt der Lehrer eigentlich für jeden mehr Zeit nehmen kann. Auf meine Frage nach einem besseren Namen ist [ihm]eigentlich momentan nichts eingefallen. Mich interessiert, ob seiner Meinung nach ein anderer Name den Ruf der Schule verbessern könnte? Ja, mit (...), ja, mit der Zeit schon. Also die, die jetzt wissen, dass die Sonderschule jetzt anders heißt, die werden sich sicherlich noch denken, das ist eh noch die gleich komische Schule oder schwindlige Schule. Aber dann, die halt dann nicht mehr wissen, dass sie Sonderschule heißt, vielleicht einen besseren Namen haben,[...] wird es vielleicht dann schon besser werden.

David benützt wie selbstverständlich den veralteten Begriff "Hilfsschule", wahrscheinlich, weil ihn seine Eltern auch verwenden. Auch er jongliert hilflos zwischen den beiden Bezeichnungen hin und her, denn Sonderschule ist eher auch, eher (lacht). Diese Bezeichnung findet er noch komischer, denn Hilfsschule ist eher (...), sicher (...). Nach längerem Zögern zwischen Hilfsschule und Sonderschule resümiert David, dass das eigentlich der gleiche Begriff ist.

Obschon ihm die Sonderschule überhaupt nicht gefallen hat, hat Robert mit der Bezeichnung Sonderschule überhaupt kein Problem, und die Leute reagieren seiner Meinung nach darauf ganz normal.

4.4.2 Interpretation

Etikettierung geschieht über die Sprache, und die Benennung der Schule gibt dafür genügend Hinweise. Die Geschichte der Sonderbeschulung nimmt in Deutschland und Österreich eine ähnliche Entwicklung, und die jeweilige Bezeichnung und Umbenennung findet fast zeitgleich statt, von einer gewissen Verzögerung in Österreich abgesehen. Die in ihren Anfängen "Schwachsinnigenschule" genannte Anstalt rückt gegen Ende des 19. Jahrhunderts das pädagogische Konzept des "Helfens" in den Vordergrund und bestimmt damit die Namensgebung. Mit der Reformierung des Volksschulwesens 1870 findet die Bezeichnung Hilfsschule ihre erste Verbreitung. Allerdings ist keine einheitliche Regelung gegeben, in Wien heißt die Schule bis 1921 "Hilfsschule für schwachbefähigte schulpflichtige Kinder". Anfänglich angeschlossene "Hilfsklassen" weichen allmählich den "Hilfsschulen"; die soziale Diskriminierung ist allerdings von Anfang an nachzuweisen, denn der Volksmund spricht schon damals von der"Deppenschule" und (von den HilfsschullehrerInnen als) den "Deppenlehrern".[100] Im Schulorganisationsgesetz 1962 wird die Schulbezeichnung in Österreich auf "Allgemeine Sonderschule" (ASO) verändert. Diese Bezeichnung ist bis heute gängig, wobei sich im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus noch "Hilfsschule" nachweisen läßt. David spricht von der Hilfsschule, wenn er aus seiner Schulzeit erzählt, denn auch die Bezeichnung Sonderschule findet er nicht adäquat.[101] Schließlich resümiert er, dass das eigentlich der gleiche Begriff ist, und er trifft damit die Kritik einiger AutorInnen, die der Ansicht sind, dass Änderungen der Terminologie kosmetischer Natur sind, veränderte Etikettierungen also, die die Struktur der Schule nicht verändern, sondern lediglich als Reaktion auf gesellschaftliche Kritik zu verstehen sind. Die Umbenennung in "Sonderschule" im Jahre 1962 (in Deutschland wird die Schule zu dieser Zeit in "Sonderschule für Lernbehinderte" umbenannt) könnte ein Beleg dafür sein, dass schon damals auf die Kritik an der Institution mit einer Namensänderung reagiert wurde.

Daß der Name Sonderschule vom Großteil der Kinder und Eltern abgelehnt wird, ist bekannt. Das Wort "Sonder" hat in dieser Kombination [...] etwas Diskriminierendes (aussondern - ausscheiden) an sich. In der letzten Gruppe der Elterneinstellungen rangiert das Problem der Namensgebung bzw. Namensänderung (Abschaffung der Bezeichnung Sonderschule) mit einem Anteil von 32,6% an erster Stelle.[102]

In diesem Sinne könnte die Umbenennung der "Sonderschulen" in "Sonderpädagogische Zentren" durch das SchOG 1993 als Antwort auf die Integrationsbewegung und ihre implizite

Kritik an der institutionellen Sonderbeschulung gesehen werden. Ob diese sprachliche Neuregelung Eingang in die Umgangssprache findet, muss nach den Erfahrungen mit früheren Umbenennungen hier bezweifelt werden. In den Interviews wird deutlich, dass alle Schüler problematische Erfahrungen mit den Benennungen haben, und sie ziehen auch in Zweifel, ob die Umbenennung wirklich in der Lage ist, die gesellschaftliche Meinung über die fragliche Schule zu verändern. Roberts Aussage kontrastiert zu Bemerkungen, die er an anderen Stellen gemacht hat; sein Hinweis, dass seine InteraktionspartnerInnen eigentlich ganz normal auf die Bezeichnung reagieren, muss deshalb in diesem Zusammenhang als Normalisierungsversuch bzw. als individuelle Bewältigungsstrategie interpretiert werden.



[87] Homfeldt, Hans Günther: a.a.O., 45

[88] Ammann, Wiebke/Peters, Helge: a.a.O., 58

[89] vgl. Ammann, Wiebke/Peters, Helge: a.a.O., 30-31

[90] Ammann, Wiebke/Peters, Helge: a.a.O., 47

[91] vgl. Begemann, Ernst: Die Erziehung der sozio-kulturell benachteiligten Schüler. Zur erziehungswissenschaftlichen Grundlegung der "Hilfsschulpädagogik", Hannover 1970

[92] Erath, Peter: a.a.O., 40

[93] Erath, Peter: a.a.O., 39

[94] Trabandt, Henning: a.a.O., 6

[95] Trabandt, Henning: a.a.O., 68

[96] Ammann, Wiebke/Peters, Helge: a.a.O., 32

[97] Hannes prägte diesen Ausdruck und es ist anzunehmen, dass er eigentlich "Minderwertigkeitskomplexe" meinte. Dennoch bleibe ich bei seinem Diktum, weil es ihm damit gelingt, sehr gut zum Ausdruck zu bringen, dass ehemalige Sonderschüler im gesamten Schulsystem eine Minderheit darstellen und ihre Identitätsprobleme genuin damit zusammenhängen, dass sie als Minderheit von der "normalen" Schule ausgesondert werden.

[98] Homfeldt, Hans Günther: a.a.O., 91

[99] Homfeldt, Hans Günther: a.a.O., 94

[100] vgl. Aus der Schmitten, Inghwio: a.a.O., 150ff

[101] Der Terminus Sonderschule bewirkt, dass den Insassen der Sonderstatus anhaftet. Außerdem impliziert der Begriff die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung sowie einer institutionellen Absonderung von Individuen. Jüngere wissenschaftliche Arbeiten sprechen von der Notwendigkeit, alle "Sonder-Bezeichnungen" auf das ihnen inhärente Stigmatisierungspotential hin zu überprüfen, auch kürzlich eingeführte Terminologien wie "Sonderpädagogisches Zentrum" oder "Sonderpädagogischer Förderbedarf".

[102] Weyermüller, Friedrich: a.a.O., 1980b, 145

5 Einfach das haben, was die anderen auch alle haben

5.1 Der Hauptschulabschluss als Normalisierungsversuch

5.1.1 Deskription

Für Hannes steht fest, dass er von vornherein nicht in die Sonderschule gekommen wäre, wenn[er]eine andere Lehrerin damals gehabt hätte. Da er aber in die Sonderschule gekommen ist und von vornherein ja mit dem Sonderschulstoff befasst war, ist ihm der Übertritt in die Hauptschule nicht gelungen. [Er hat] dann die Möglichkeit gehabt, auf die Hauptschule umzusteigen. [Er hat] damals einen Test gemacht, aber der hat nicht funktioniert, (...) so dass [er] also bis zum Schluss die Sonderschule[gemacht hat]. An seinen Wunsch, in die Hauptschule umzusteigen, kann er sich erinnern. [Er hat] damals eigentlich wollen, ja (...), eben weil [er sich] gedacht [hat], [er] weiß ja nicht, wie es ist, wenn [er ausschult], vielleicht [macht er] eine Lehre, und dann ist sicherlich der Hauptschulabschluss besser. Aber das hat, wenn [er sich] recht [erinnert], nicht funktioniert (...) und somit hat sich die Sache erledigt. Allerdings meint Hannes ohne Zweifel hätteer mit dem Hauptschulabschluss mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Es ist möglich, dass [er] durchaus leichter Arbeit gefunden hätte. Er kann sich auch vorstellen, dass ein Arbeitgeber über einen Bewerber mit Sonderschulzeugnis nicht gar so begeistert ist. [Er] persönlich, [er hat] das nicht erlebt, wie gesagt, aber (...) mit Hauptschulabschluss tust du dir sicher leichter. Da [hat er] keinen Zweifel.

Christof hat an einer Sonderschule den Polytechnischen Lehrgang absolviert und im gleichen Schuljahr den Hauptschulabschluss geschafft. Er erzählt sehr euphorisch von diesem Jahr, Poly war super. [Er hat sich] leicht getan eigentlich im Poly. Schon gelernt, aber (...) eigentlich nicht so schwer gewesen. Und Hauptschulabschluss ist auch ganz gut gegangen. Wenn er den Hauptschulabschluss nicht gemacht hätte, hätte er seine Schulpflicht mit einem Sonderschulzeugnis abgeschlossen, was jedenfalls ungünstiger für ihn gewesen wäre. Ja, erstens hast du einmal mehr Chancen, dass du irgendwo hineinkommst. Weil das ist sowieso, Sonderschule, denkt sich jeder, da sind eh nur alles Dumme drinnen, oder so. [Er glaubt] schon, dass man da mehr Chancen hat. Dieses letzte Schuljahr hat ihm auf alle Fälle besser gefallen, weil im Poly [hat er] eigentlich ziemlich am meisten gelernt, in diesem Jahr. Mit einem Sonderschulzeugnis in die Berufsschule zu wechseln, wäre eher schwerer gewesen. Obwohl er während der Oberstufe der Sonderschule eigentlich nicht in die Hauptschule wollte, vertritt er jetzt die Auffassung, dass die Hauptschule eigentlich am besten gewesen ist, weil in der Hauptschule hast du am meisten eigentlich gelernt. Den Grund für seinen erfolgreichen Abschluss sieht Christof darin, dass du dich dann zusammenreißen musst oder so, dass du dann einen Polyabschluss hast und einen Hauptschulabschluss. Dann lernst du halt auch vielleicht mehr. In der Berufsschule hat sich Christof als Hauptschüler gefühlt, weil den Abschluss haben die anderen auch und haben auch nicht mehr als wie die, die ins Poly gegangen sind.

David hat nach zwei mühsamen Jahren in der Hauptschule kein gutes Bild von dieser Institution, denn da ist alles mehr auf die, die harte Dings gegangen. Die Hauptschule war ihm zu anstrengend, daher wehrt er auf meine Frage hin, ob er lieber wieder zurück in die Hauptschule gegangen wäre, ganz vehement ab: Nein, nein, nein. Trotzdem hat er sich in der Öffentlichkeit ein bisschen dings gefühlt, denn da [geht er] hinein, ein anderer geht in die Hauptschule. In der Hauptschule seines Heimatortes ist er durch die Vereine auch öfter drinnen. Dann erinnert er sich, dass er in der Hauptschule ein strenges dings gehabt hat eigentlich. [Er ist] einfach hingegangen und [hat sich] gedacht, die Schule ist vorbei. Dabei denkt er sich, zum Glück [ist er] aus der dings, weil Schule möchte [er] eigentlich nicht mehr so, Schulbank drücken. Auch den Polytechnischen Lehrgang wollte David eigentlich nicht machen. [Er ist] ja älter gewesen, [meint er], als alle anderen. [Er ist] ja sowieso zu alt schon gewesen vom dings her eigentlich. Anstatt noch einmal eine Schule zu besuchen, was für David auf der Basis der Freiwilligkeit möglich gewesen wäre, wollte er lieber etwas arbeiten.

Nachdem Robert sieben Jahre die Allgemeine Sonderschule besucht hatte, absolvierte er zusammen mit einem Mitschüler das Polytechnikum und hat den Hauptschulabschluss nachgeholt. Das ist für ihn eigentlich überhaupt kein Problem gewesen und er fand es auch nicht schwieriger als die Sonderschule. [Sie] waren eine kleine Gruppe, und wenn jemand nicht mitgekommen ist, dann ist er nicht einfach hintengeblieben deswegen. [Sie] waren ja nur zu viert oder zu fünft, [...] und es ist eigentlich schon geschaut worden, dass der nachkommt. Wenn sein letztes Zeugnis ein Sonderschulzeugnis wäre, dann hätte [er] es auch haben müssen. [Er meint] (...), es wäre aber sicher nicht so. Die große Bedeutung, die der Hauptschulabschluss für Robert hat, bekräftigt er doppelt: Ja, der ist [ihm] wichtig. Der ist [ihm] wichtig, ja. Die zentrale Rolle dieses Abschlusses liegt für Robert darin, dass er damit einfach das haben kann, was die anderen auch alle haben. Das ist noch wichtiger als wie die drei Jahre, wo [er] diese, diese Gesellenprüfung, also die Berufsschule gegangen [ist], das sagt [ihm] nicht so viel. Da sagt [ihm] der Hauptschulabschluss mehr, denn er stellt nun einmal die Grundausbildung dar. Während Robert die Sonderschule besucht hat, hat er sich mit dem Gedanken, in die Hauptschule zu gehen, gar nicht so befasst, so wie es ist, ist es halt. Wenn er erlebt hat, dass ein Mitschüler kurz hinübergekommen ist, dann hätte es [ihn] schon irgendwie gereizt, aber es ist halt nicht gegangen. Robert hätte Angst gehabt davor. Einfach wieder andere Leute, und, du weißt ja, da bist du schon so ungern hingegangen und da drüben ist es sicher noch schlechter, [hat er sich] immer gedacht.

5.1.2 Interpretation

Die Durchlässigkeit von Volksschule bzw. Hauptschule in die Sonderschule ist ungleich größer als umgekehrt, weshalb die meisten SonderschülerInnen auch ihre Schulkarriere dort beenden. Seit den 80er Jahren, als die Chancenungleichheit zwischen AbgängerInnenn der ASO und SchülerInnen, die die Hauptschule abgeschlossen haben, hinsichtlich des Arbeitsmarktes zunehmend kritisiert wurde, wurde durch die Schulorganisation die Möglichkeit des Hauptschulabschlusses für SonderschülerInnen eröffnet. Dabei absovieren SonderschülerInnen dieHauptschulprüfung in einem oder mehreren Fächern an einer Hauptschule, blieben aber weiterhin SchülerInnen der ASO. Ein Schulversuch dieser Art wurde an der ASO Innsbruck in der Siebererstraße eingerichtet, in dem SonderschülerInnen die Möglichkeit angeboten wurde, den Polytechnischen Lehrgang zu absolvieren und gleichzeitig den Hauptschulabschluss nachzuholen. Diese Möglichkeit nehmen immer wieder einige SonderschülerInnen wahr, wobei es jedoch immer noch vom Engagement der jeweiligen Lehrkräfte abhängt, ob Initiativen dieser Art gesetzt werden.

Die damit erstmals in größerem Rahmen ermöglichte und praktizierte Durchlässigkeit verschiedener Schultypen, [...] z.B. zwischen der Hauptschule und der Allgemeinen Sonderschule im einjährigen Lehrgang zur Erlangung des Abschlusses der vierten Hauptschulklasse (zweiter Klassenzug) für Schüler der Allgemeinen Sonderschule bedeuten eine echte Bemühung um den Sonderschüler im Angebot einer adäquaten Bildungslaufbahn und einer optimalen Ausschöpfung erreichbarer schulischer Qualifikationen (Hauptschulabschluß), die nach wie vor für das spätere Erwerbsleben bestimmend sind.[103]

Dieses freiwillige Zusatzjahr nahmen drei Schüler dieser Klasse in Anspruch und beendeten ihre Schulkarriere mit einem Hauptschulzeugnis bzw. einem Zeugnis des Polytechnischen Lehrganges. Zwei von ihnen sind unter den Interviewpartnern: Christof und Robert.

Hannes sieht seine Schullaufbahn durch die Volksschullehrerin und die im Zusammenhang mit seiner "Schulschwäche" erfolgte Einweisung in die Sonderschule geprägt. Da ihm in der Sonderschule nur ein dezimierter Lehrstoff angeboten wurde, ist sein Übertritt in die Hauptschule ohnehin kaum möglich. Der Wunsch, in die Hauptschule umzusteigen, ist bei den meisten SchülerInnen vorhanden, erscheint ihnen aber angesichts der Misserfolgserlebnisse und der erlebten Versagenskette unrealistisch. Hannes weiß zwar, dass ein Hauptschulabschluss jedenfalls günstiger für die Berufswahl und Berufsausbildung wäre, muss aber nach einem Umschulungstest resigniert feststellen, dass die Sache für ihn erledigt ist. Wie viele andere SonderschülerInnen wird er später die Benachteiligung durch den Besuch der Sonderschule erfahren, die sich desintegrierend bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt auswirkt. Rosemarie Köhler hat ehemalige SonderschülerInnen interviewt und die Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis veröffentlicht:

Ich weise sie darauf hin, dass sie [Maria, eine ehemalige Sonderschülerin, Anm. des Verf.] nicht so chancenlos sei, da sie ja ein gutes Abschlusszeugnis der Sonderschule erhalten hatte. Maria: "Ganz ehrlich, der Abschluss der Sonderschule hat mir bisher noch gar nichts genutzt. Einen Ausbildungsplatz habe ich jedenfalls nicht erhalten. Mir wäre ein Abgangszeugnis der Hauptschule viel lieber. Und meinem Kind würde ich lieber sagen, dass ich auf der Hauptschule war. Und eins weiß ich: Auf die Sonderschule kommen meine Kinder nicht! Eher gehen wir zurück nach Italien!"[104]

David hat schon früher resigniert, denn er hat die Hauptschule und seinen Versagensprozess dort erlebt, und aus dieser Erfahrung heraus empfindet er die Sonderschule als Erleichterung. Mit der Sonderschule schließt er seine Schulkarriere ab und ist so froh darüber, dass er aufgrund seiner negativen Erfahrungen keine weiteren Versuche mehr unternimmt, eine Schulausbildung nachzuholen oder gar eine neue zu beginnen. Wegen mehrmaliger Klassenwiederholungen empfindet er sich auch als zu alt für eine weitere Schulausbildung.

Christof kann nach der Sonderschule drei erfolgreiche Abschlüsse vorweisen: Polytechnischer Lehrgang, Hauptschule und Berufsschule. Er erzählt stolz, dass er in allen anderen Schultypen eigentlich mehr gelernt habe als in der Sonderschule, und er ist sehr erleichtert darüber, dass sein Schulabgangszeugnis von einer anderen Schulart stammt als von der Sonderschule. Dass er als einziger auch die Berufsschule positiv abschließt, kann in Zusammenhang damit gesehen werden, dass er sich die Identität eines Hauptschülers aneignen konnte, und somit seinen Status als Sonderschüler weitgehend nichtet. Er ist Hauptschüler so wie die anderen auch. Vom früheren Besuch der Sonderschule spricht er nicht mehr, das ist für ihn vorbei.

Interessanterweise findet Robert den Status "Hauptschüler" wichtiger als eine abgeschlossene Lehre, wenn er auch an anderer Stelle das Manko, keinen Lehrabschluss zu haben, beklagt. Dabei muss beachtet werden, dass auch für Robert der Hauptschulabschluss identitätsstiftend ist, denn ab diesem Zeitpunkt ist auch er kein randständiger Sonderschüler mehr, sondern hat einen Normalisierungsprozess durchgemacht und ist daher, wie alle anderen auch, ein Hauptschüler.

Während der Sonderschulzeit ist die Angst vor dem Übertritt in die weitgehend unbekannte Hauptschule bei allen latent spürbar, einerseits als Versagensangst, andererseits aufgrund der Vorstellung, von den neuen MitschülerInnen als ehemaliger Sonderschüler weiterhin diffamiert zu werden.

5.2 Die Zeugnisse

5.2.1 Deskription

Mit dem Sonderschulzeugnis als Schulabschlusszeugnis haben alle ehemaligen Sonderschüler große Probleme. Hannes' Abschlusszeugnis ist ein Sonderschulzeugnis, deshalb freut er sich im Zusammenhang mit der Arbeitssuche besonders, als ein Arbeitgeber die Wichtigkeit der Zeugnisse generell in Frage stellt. Er hat sein Zeugnis eigentlich an Arbeitsplätzen überhaupt (...) nur einmal herzeigen müssen, und das war die, wo [er angefangen hat], die Einzelhandelskaufmannslehre. Und da ist zwar also von wegen Bemerkung wegen Sonderschule oder was vom Chef her überhaupt nichts gesagt worden, da hat es überhaupt nichts gegeben. Es ist sogar gesagt worden, ja okay, er schaut sich die Zeugnisse an, aber legt auf Zeugnisse nicht viel Wert, weil ob da jetzt steht, [er hat] in (...) zum Beispiel Biologie oder irgendwas oder Rechnen oder was einen Fünfer, hat er gesagt, ja (...) hat er gesagt, [hat er] einen Fünfer, aber er legt da nicht viel Wert, weil ob [er] jetzt gut oder schlecht rechnen kann, hat nichts damit zu tun, ob [er] jetzt ein guter Verkäufer [ist] oder ein schlechter Verkäufer. Es ist entlastend für Hannes, dass sich der Arbeitgeber zwar das Zeugnis anschaut, aber Wert hat er gesagt, also auf Zeugnis legt er nicht gar so viel Wert. Hannes denkt ähnlich, wenn er meint, dass man Menschen nach anderen Maßstäben als nur nach dem Zeugnis bewerten solle. Weil ich denke mir so, wenn man die Leute einschätzt, was sie für eine schulische Ausbildung haben, dann magst du einmal ganz geschwind aufhören, weil oft einmal sind, [er sagt] jetzt einmal grad, Studenten überhaupt nichts wert und dafür einer, der überhaupt keine schulische Ausbildung hat - im krassesten Fall - ist der bessere Mensch als der eine, der vielleicht Medizin oder irgendetwas studiert hat. Also schulische Ausbildung ist für [ihn] kein Kriterium, nach dem [er] Menschen [beurteilt]. Nicht weil [er] Sonderschule gegangen [ist], sondern weil [er] einfach diese Einstellung [hat].

Christof hat bei Bewerbungen um eine Lehrstelle stets nur das Polyzeugnis und das Hauptschulzeugnis gezeigt, also eigentlich nur das Poly. Alle früheren Zeugnisse sind durch das Hauptschulabschlusszeugnis entwertet und haben ihre Gültigkeit verloren.

Davids Abschlusszeugnis ist auch ein Sonderschulzeugnis, das er offenbar nicht griffbereit verwahrt. Da müsste [er] suchen. Sicher irgendwo. [Er] hätte es hergerichtet für das Land, wenn [er] beim Land untergekommen wäre. Aber [er] weiß nicht, wo [er] das alles hingeräumt [hat], das ist alles schon, [meint er], am Dachboden oder irgendwo (...) in [seinem] Kasten am Dachboden. Er ist irgendwie froh, dass [er] das auch nie gebraucht hat, also [er hat] das nie hergezeigt. Auf die Frage, ob er nie den Wunsch gehabt habe, ein Abschlusszeugnis eines anderen Schultyps zu erwerben, meint er: Nein, eigentlich (...). Doch eigentlich, beim Land, wie [er sich] beworben [hat], [hat er sich] schon gedacht, das Zeugnis jetzt herzeigen, die lesen das sicher (...). Ein bisschen benachteiligt vielleicht. (...) Aber dazu ist es nie gekommen eigentlich, dass [er] es [herzeigt]. Wenn er sich allerdings jetzt wieder unter Vorlage seines Zeugnisses irgendwo bewerben müsste, hätte [er] eher wieder so ein Gefühl und er würde das nicht gerne tun.

Robert hat nur einen Teil seiner Schulzeugnisse aufbewahrt. Das Hauptschulzeugnis [hat er] noch, das Polyzeugnis, (...) die zwei von dir [damit meint er mich als seinen ehemaligen Lehrer,Anm. des Verf.] [hat er] noch (...) und das eine Berufsschulzeugnis, das zweite [hat er] nicht bekommen. Die übrigen Zeugnisse sind alle weg, Robert hat sie einfach verschlampt. Die Frage, ob er bei Bewerbungen seine Zeugnisse hat vorlegen müssen, verneint er spontan, erinnert sich aber gleich darauf: Bei der Stadt schon. (...) Da [hat er] aber auch nur das Hauptschul- und Polyzeugnis hergezeigt. (...) Und halt das eine Berufsschulzeugnis.

5.2.2 Interpretation

Zeugnisse dokumentieren die Schullaufbahn, je höher die absolvierte Schule, umso wichtiger ist das Dokument. Dass das Sonderschulzeugnis entsprechend der abgewerteten Schulart nicht viel gilt, verwundert nicht. Hannes und David haben nach der Sonderschule keinen weiteren Abschluss erreicht, so bleibt ihnen nur das Sonderschulzeugnis als Bestätigung über die Erfüllung der Schulpflicht. Da aber das Sonderschulzeugnis auch das Dokument der ihnen angelasteten "Lernbehinderung" bzw. "Schulschwäche" darstellt, ist das Schriftstück für sie entwertet, weil es ohnehin nur über ihr Schulversagen Auskunft gibt. Hannes musste sein Zeugnis einmal vorlegen, als er mit der Lehre zum Einzelhandelskaufmann begann.

Erfahrungen diskriminierender Art prägen das Verhalten der Jugendlichen über die Sonderschule hinaus und werden auch im Berufsleben relevant. Dies zeigt sich daran, daß fast alle ehemaligen Sonderschüler zunächst versuchten, den Betrieben gegenüber ihre Herkunft zu verschweigen; in den wenigen Fällen, in denen das gelingt, wird es als große Befreiung empfunden.[105]

Hannes ist in diesem Sinn beruhigt darüber, dass sich der damalige Chef weder abfällig über das Zeugnis äußerte, noch großen Wert auf Zeugnisse überhaupt legte. Denn Hannes fühlt sich durch dieses Zeugnis nicht so bewertet, wie er wirklich ist. Die Benotung im Sonderschulzeugnis sagt wenig über seine aktuale Identität aus. Fast appellativ bringt er zum Ausdruck, was er entweder befürchten muss oder gar schon erlebt hat: Ich bin kein schlechterer Mensch wegen dieses Zeugnisses, denn das Zeugnis ist kein Maßstab für die Beurteilung oder Aburteilung eines Menschen. Jemand mit einem guten Zeugnis könnte ebenso gut ein schlechter Mensch sein, wie ein Sonderschüler auch ein guter Mensch sein kann.

Die Zeugnisse, die Christof den Abgang vom Polytechnischen Lehrgang und der Hauptschule bescheinigen, sind nicht nur für sein Selbstbewusstsein, seine Identität sowie seine Berufs- und Lebenschancen von großer Bedeutung, sie eröffnen ihm auch die Möglichkeit, die ihm angetragene Identität als Sonderschüler endgültig abzustreifen. Die Sonderschulzeugnisse sind durch den Besitz von Zeugnissen einer aufgewerteten Schulart entwertet, sie haben ihre Gültigkeit verloren. Sie können daher nichts mehr über Christof aussagen, er ist nicht mehr diskreditierbar.

David hat seine Schulzeit in der Sonderschule beendet, sein Abgangszeugnis benötigt er nur dann, wenn er sich um eine Arbeitsstelle bewerben will. Sollte er das Zeugnis brauchen, müsste er danach suchen, denn er hat es irgendwo aufbewahrt. Auch ihm ist es angenehmer, wenn er das Sonderschulzeugnis nicht vorlegen muss, und er freut sich darüber, dass das noch nie vorgekommen ist. Da er weiß, dass ihn dieses Dokument benachteiligen könnte, hätte er kein gutes Gefühl, wenn er es jemandem zeigen müsste. David hat seine bisherigen Stellungen meist ohne unangenehme Formalitäten angetreten, daher hofft er, weiterhin ohne schriftliche Bewerbungen und Vorlage von Zeugnissen auszukommen.

Auch Robert scheint seinen Sonderschulzeugnissen wenig Bedeutung beizumessen, denn er hat die meisten verschlampt. Er verfügt allerdings wie Christof über ein Abgangszeugnis des Polytechnischen Lehrganges und ein Zeugnisformular, das seinen Hauptschulabschluss dokumentiert.



[103] Weyermüller, Friedrich: a.a.O., 1980a, 15-16

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass dieser Normalisierungsversuch kritisch gesehen werden muss, da er nur einem Teil der SonderschülerInnen zugänglich ist und zudem durch die Aufrechterhaltung der Institutionen auch den Status der Insassen perpetuiert. In diesem Sinne könnte man sagen, dass ein "Sonderschüler" einen Hauptschulabschluss gemacht hat, denn die besuchte Schulart bleibt die Sonderschule, was im übrigen auch auf dem Abgangszeugnis durch den Schulstempel vermerkt ist.

[104] Köhler, Rosemarie: Ich wäre lieber auf der Hauptschule gewesen. Gespräche mit ehemaligen Sonderschülerinnen und -schülern, in: Grundschule 2, 1997, 44

[105] Marquart, Regine: Sonderschule - und was dann? Zur Situation der Sonderschüler auf dem Arbeitsmarkt und im Beruf (= Arbeiten des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. München), Frankfurt/New York (Campus) 21977, 38

6 Das erste Jahreszeugnis in der Berufsschule war ein einziger Horror

6.1 Der Übertritt in die Berufsschule

6.1.1 Deskription

Hannes hat zwar die Lehre zum Einzelhandelskaufmann begonnen, er ist jedoch an der Berufsschule gescheitert. Wenn er über die Berufsschule spricht, meint er, da muss [er] lachen, denn das erste Mal, als [er] in die Schule gekommen [ist], also jetzt nicht gleich am ersten Tag, aber halt nach ein paar Mal Schule gehen, [hat er] wirklich gemeint, okay das ist jetzt wieder nichts, da muss [er] wieder das Handtuch werfen. [...] Speziell in Mathematik, da hat es [ihm] richtig die Haare aufgestellt, weil [er sich] gedacht [hat], ja, gut, was zeichnet jetzt die da an die Tafel, [er hat] so etwas noch nie gesehen. Der Übertritt in die Berufsschule war für Hannes sehr enttäuschend, zumal es ihm dort aussichtslos erschien, denn [er hat sich] am Anfang gedacht, [er] muss [sich] da einfach zu viel jetzt auf einmal selber beibringen. Niemand unterstützte ihn, also [hat er] wirklich selber lernen müssen und da [hat er] am Anfang wirklich gemeint, also das ist aussichtslos.

Dennoch hat er nicht gleich aufgegeben, sondern aus irgendeinem Grund doch weiter gemacht. Das hat dazu geführt, dass das erste Jahreszeugnis in der Berufsschule [...]ein einziger Horror war. [Er hat] in Religion einen Einser gehabt, in (...) Politischer Bildung einen Zweier oder einen Dreier und sonst alles Fünfer. Er kapituliert vor den hohen Anforderungen und meint sehr resigniert, dass es schon ein bisschen gar viel Fünfer waren, er aber andererseits sich persönlich nicht so viel daraus gemacht [hat],weil [er] gewusst [hat], also [er hat] gelernt, [er hat] getan, was [er] können [hat] und es war einfach zu viel neuer Stoff auf einmal. Auch die Unterstützung ist ihm versagt geblieben, denn er hat zwar den Bruder, die Eltern teilweise gefragt, aber die haben sich ja selber nicht mehr ausgekannt. Er beanspruchte in dieser Zeit professionelle Nachhilfe über das BFI, was ihm allerdings nicht viel genützt hat. Die Gründe dafür liegen für Hannes zum einen darin, dass der Nachhilfelehrer nicht speziell Zeit gehabt hat, weil es waren zu viele Schüler in einer Gruppe und jeder hat in einem anderen Fach Nachhilfe gebraucht. Und dann war das Problem, dass [er] ja doch, also Nachhilfe nicht in dem Sinne, wie es zum Beispiel die anderen gebraucht haben, sondern [er] hätte ja doch intensivere Nachhilfe gebraucht, jemandem, der [ihm] das intensiver erklärt. Hannes hat folglich natürlich die erste Klasse wiederholt, wobei es ihm diesmal in der ersten Klasse besser ergangen ist, weil er den Stoff ja schon gekannt hat. Was aber nicht heißt, dass es nicht schwierig war, also (...) auch das zweite Mal die erste Klasse war (...), ja Horror ist vielleicht ein bisschen zuviel jetzt ausgedrückt, aber es war verdammt schwer.

Obwohl er schon die erste Klasse wiederholen musste, hat er jedenfalls noch Chancen gesehen, den Lehrabschluss und die Prüfung zu machen, obwohl er zugleich diese Chancen sehr realistisch minimiert: Naja, ehrlich gesagt, Chancen, viel habe [er sich] nicht eingerechnet. In der zweiten Klasse, in die er schließlich aufgestiegen ist, hat er sich leichter getan, wobei Mathematik noch immer eine Schwierigkeit war, also Mathe war (...) ein einziger Horror. Dabei vertritt Hannes nicht einmal die Ansicht, dass die Anforderungen durch die Schule zu hoch waren, das ist [ihm] nicht vorgekommen, es ist nur gewesen, da ja [er] die Rechnungen nicht gekannt habe. In Mathematik ist es nicht um Rechnungen gegangen, die ihm von der Sonderschule her vertraut gewesen wären, sondern es ist ja dann gegangen, also Devisenrechnungen und das ganze Zeug und das natürlich noch auf kompliziertere Art und Weise als es hat sein müssen. Als Lehrling in einem Lebensmittelgeschäft am Land ohne Computerkassen hat er auch Geldbeträge in D-Mark umrechnen müssen. Du musst dir das wirklich jetzt auf dem Zettel ausrechnen (...), das ist, so gesehen eigentlich nicht so, dass sie zuviel verlangt haben.

Hannes wundert sich aber darüber, dass bestimmte Nebenfächer im Fächerkanon enthalten waren. [Er] habe [sich] nur gefragt, wofür Politische Bildung in der Berufsschule. Genauso ist Religion, also [ihm] kommt vor, solche Fächer in der Berufsschule ist [ihm] schon vorgekommen, könnten sie eigentlich weglassen. Neben Mathematik hatte Hannes auch Schwierigkeiten in Buchhaltung, obwohl Buchhaltung ist jetzt im Nachhinein [...] nicht schwer. Es ist aber dort wieder das gleiche Problem gewesen wie bei Mathe, da [er] ja hinten und vorne keine Ahnung gehabt habe. Zwar hatte er einige Vorkenntnisse wie Soll und Haben und Einnahmen, Ausgaben aufschreiben und so Zeug und auch Inventur zu machen war überhaupt kein Problem, das ist ja im Grunde genommen eine Plus-Minus-Rechnung, (...) aber dann die Verbuchung, also während des Jahres, die richtige Buchhaltung war ein bisschen kompliziert. Hannes hat viel gelernt und konnte sogar schwierige Rechnungen, wie er nicht ohne Stolz erzählt, lösen, was dem Lehrer ein Rätsel aufgab. Da hat der Lehrer einmal zu [ihm] gesagt, also das versteht er nicht, [er] habe nämlich lustigerweise die schwierigste Buchung, die es in der Buchhaltung überhaupt gibt, die habe [er] nach ein paar Mal, ohne viel nachzudenken gemacht, und zwar richtig. Also das war eigentlich lustig, das Schwierigste habe [er] ohne nachzudenken gemacht mit der Zeit und das Leichteste ist [ihm] einfach nicht eingegangen.

Christof hat als einziger die dreijährige Berufsschule erfolgreich absolviert. Er nahm Nachhilfeunterricht für Mathematik in Anspruch. Ja, in der ersten Klasse [hat er sich] härter getan, aber ist gut, halbwegs durchgekommen. Und in der Zweiten ist es [ihm] auch schon ein bisschen besser gegangen, (...) wahrscheinlich besser gegangen.In der Dritten war [er] eigentlich ziemlich gut, weil da [hat er] nicht einmal mehr Vierer drinnen gehabt. Und da [hat er] auch immer gleich vom Anfang an mitgelernt, dann tust du dich halt viel leichter, als wie du lässt ein bisschen zusammenwarten und dann erst (lacht) lernen. Christofs Mitschüler arbeiten alle in Anlernberufen, er ist der einzige, der die Lehre mit der Berufsschule abgeschlossen hat. Das macht ihn schon irgendwie stolz. [Findet er] schon gut.

David wollte nach seiner Schulzeit eigentlich mit der Lehre anfangen. Obwohl er die Schule nie besucht hat, ist er als Lehrling angestellt gewesen. Erst nach zwei oder drei Monaten hat er festgestellt, dass ihm der Beruf eines Einzelhandelskaufmannes nicht so zugesagt hat. Darauf hat er die Firma gewechselt und eine angelernte Tätigkeit ausgeübt. David hat sich zwar mit der Möglichkeit der Berufsschule gedanklich befasst, ist sich aber nicht so sicher, ob er sich den Schulbesuch zugetraut hätte, denn er hat das Scheitern seines älteren Bruders an der Berufsschule erlebt. [Er] weiß es noch von [seinem] Bruder, der war beim K., der wollte dings lernen, der hat ja auch nichts gelernt, [...] er ist auch so etwas wie [er]. David ist als einziger von seinen Geschwistern in die Sonderschule gegangen, und er weiß, dass er sich im Unterschied zu seinen Brüdern eigentlich schwerer getan hat mit der Schule. Und wenn schon sein Bruder, obwohl er hätte Hauptschule gehabt, den Anforderungen der Berufsschule nicht gewachsen ist, wie sollte er es dann nach der Sonderschule schaffen können? Das dritte Jahr hat er nicht mehr geschafft, das war zu schwer. (...) Und da [hat er] vom Bruder her gewusst, ja, er ist daheim gesessen und hat die Rechenaufgaben nicht und nicht lösen können, das war wirklich schwierig, und [...] darum [hat er sich] gedacht, wenn er das nicht schafft, solche Aufgaben. Dass sein Bruder in der Berufsschule gescheitert ist, hat David so abgeschreckt, dass er den Besuch der Berufsschule erst gar nicht versucht hat.

Robert hat eine Lehre als Gärtner begonnen und besucht die Berufsschule drei Jahre lang, beschließt aber seine Lehrzeit in der zweiten Klasse. Die Schule bezeichnet er als hart, er spricht eher resigniert von dieser Zeit. [Er ist] halt da hinaufgegangen, gehst du halt wieder Schule, ist egal, nicht? An zwei Tagen der Woche findet der Unterricht statt, Robert hat wenig Motivation und Zeit zum Lernen. Dann bist du heimgekommen, ja, heute ist Dienstag, mei, Mittwoch, lassen wir das Wochenende einmal kommen, dann wird man schon lernen, oder? [...] Dann hast du halt auch nicht lernen wollen und das Zeug ist halt da drinnen gelegen bis zum Sonntag. [...] Dann hast du halt hineingeschaut, jaja, jetzt bringts halt auch nicht mehr viel. Das ganze Zeug wieder hinein und gehen wir halt in die Schule hinauf, ist ja egal. Robert hatte auch mehrere negative Noten, und zwar Botanik war, Botanik, Bodenkunde ist so halbwegs gegangen. Ding war, Zierpflanzenbau, (...) Botanik, Zierpflanzenbau, was war, da war noch irgendwas, da war mehr, da war noch irgendwo ein Fleck? (...) Bodenkunde, ja Bodenkunde kann auch sein, im ersten Jahr Bodenkunde, ja. Natürlich hätte Robert durchhalten können und die Klasse wiederholen, aber auch er verliert jede Motivation durch die negativen Erlebnisse.

[Er] hätte noch einmal die Zweite machen können, aber [...] jetzt [hat er] schon zweimal die Erste gemacht. Dann hätte [er] noch einmal müssen zweimal die Zweite machen. Dann [hat er] nicht mehr mögen. Dann [hat er] es sein lassen. Robert denkt seitdem immer wieder darüber nach, ob er nicht den fehlenden Abschluss nachholen sollte. Ja, irgendwie, es ist, ja interessieren würde es [ihn] schon, aber [er hat] gesehen, was die anderen da zum Lernen gehabt haben. Bei [ihm] in der Bude einer, der hat es ebenso gemacht wie [er], der ist auch drei Jahre Schule gegangen. Dem hat die dritte Klasse nur gefehlt. Und bei [ihm] fehlt halt die Zweite, die Zweite hätte [er] ja, nicht? Aber die Dritte täte [ihm] auch noch fehlen, so wie bei ihm halt auch, bei [ihm] ganz genau gleich. Und er hat eben die dritte Klasse übersprungen und hat das alles zusammen gelernt und hat die Gesellenprüfung gemacht. Das ist halt allerdings so ein Stapel zum Lernen. Obwohl sich im Falle des Lehrabschlusses für Robert nicht allzuviel ändern würde, außer der Verdienst vielleicht um einen Tausender mehr, möchte er lieber den Status eines Gesellen haben. Aber darum geht es [ihm] nicht, [ihm] geht es nicht um den Tausender, [ihm] gehts ja (...) einfach um den Gesellenbrief. Obwohl ihm sogar der Vorgesetzte an seiner jetzigen Arbeitsstelle vorgeschlagen hat, die Lehre weiterzumachen und bei normalem Verdienst abzuschließen, hat sich Robert nicht mehr dazu aufraffen können. [Er] habe nicht mehr mögen, blöde wie [er] war.

6.1.2 Interpretation

Wenngleich der formelle Status der SonderschülerInnen eigentlich nur ein temporärer ist, der mit dem Ende der Sonderschulzeit aufhört, reichen doch die sozialen Folgen weit über die Schulzeit hinaus und bestimmen die weiteren Lebensabschnitte nachhaltig. Latent sind sie immer vorhanden, manifest werden sie an Nahtstellen, wo die schulische Qualifikation ein Zugangskriterium darstellt, etwa beim Übergang in den Beruf und damit verbunden beim Eintritt in die Berufsschule. Von allen SchülerInnen dieser Klasse hat nur einer die Berufsschule mit Erfolg abgeschlossen. Von meinen vier Interviewpartnern hat nur David die Berufsschule nie begonnen, Robert und Hannes haben zwar mit einer Lehre auch die Berufsschule angefangen, sind aber in deren Verlauf gescheitert und haben keinen Gesellenbrief erhalten. Nur Christof hat nach dreijähriger Berufsausbildung seine Lehre erfolgreich beendet und hat damit einen höheren Status gegenüber seinen Mitschülern, die eine angelernte Arbeit verrichten.

Wenn man bedenkt, dass gegen Ende der Sonderschulzeit, die als perpetuiertes Scheitern erlebt wurde, der Wunsch nach einer zufriedenstellenden Berufstätigkeit stark wird, dann kann man sich die Enttäuschung vorstellen, die sich beim nächsten Scheitern fast zwangsläufig einstellt. Hannes ist sehr enttäuscht über sein Versagen in der Berufsschule, er kapituliert, wiederholt die erste Klasse und begründet sein Scheitern schließlich mit Bewältigungsargumenten, die außerhalb seiner Person liegen. Erst in der Berufsschule sieht Hannes die langfristigen nachteiligen Auswirkungen seines Sonderschulbesuches (vgl. dazu 6.4). David erlebt seine Berufsausbildung als eine Versagenskette, er hat öfter die Firma gewechselt, ist zwar als Lehrling angestellt gewesen, hat aber die Berufsschule nie besucht, nicht zuletzt deshalb, weil auch sein Bruder an der Berufsschule gescheitert ist. Auch Robert ist bezüglich seiner Berufsschulerfahrungen deutlich demotiviert, kann aber den fehlenden Abschluss bis heute nicht richtig verwinden, denn er möchte eigentlich das haben, was alle haben, nämlich den Gesellenbrief, auch wenn sich deshalb hinsichtlich seiner jetzigen Arbeitssituation wenig ändern würde.

Rudolf Forster vergleicht in seiner Studie SonderschulabgängerInnen mit HauptschulabgängerInnen und kommt dabei zu Ergebnissen, die die Benachteiligung von SonderschülerInnen verdeutlichen: "Hinsichtlich des von der Schule bzw. über die Schule angebotenen Informationsausmaßes waren die Sonderschulabgänger gegenüber der Kontrollgruppe deutlich benachteiligt."[106]Nicht nur die schulische Vorbereitung der SonderschülerInnen auf das Arbeits- und Berufsleben ist unzureichend, auch die persönlichen Interventionsmöglichkeiten von SonderschulabgängerInnen und deren Eltern sind gegenüber der Kontrollgruppe nicht entsprechend.

Die im Eingangskapitel beschriebene soziokulturelle Benachteiligung der Familien von Sonderschulabgängern findet z.B. darin einen bemerkenswerten Ausdruck, daß sich unter ihnen nur etwa ein Drittel im eigenen sozialen Netzwerk von Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen über die berufliche Zukunft ihres Kindes beraten hatte, in der Kontrollgruppe aber etwa die Hälfte der Befragten.[107]

Regine Marquart hat sich mit der Berufseinmündungsphase als der wichtigsten Weichenstellung für das weitere Lebensschicksal von SonderschülerInnen befasst und sieht die Aussonderung von "Lernbehinderten" in diesem Lebensabschnitt perpetuiert.

Lernbehinderung ist als dynamischer lebensgeschichtlicher Prozeß zu sehen, der vorwiegend aufgrund sozialer Benachteiligung intellektuelle Defizite produziert. Dies bedeutet auch, daß Lernbehinderung prinzipiell durchaus korrigierbar, wenn nicht aufhebbar wäre. Eine im primären und sekundären Sozialisationsprozeß auftretende Lernbehinderung müßte damit nicht notwendig eine Benachteiligung der beruflichen Situation nach sich ziehen. Der Abschnitt im lebensgeschichtlichen Prozeß des einzelnen, in dem über diese Benachteiligung in seiner späteren Berufs- und Lebenssituation definitiv entschieden wird, ist die berufliche Einmündungsphase.[108]

Aufgrund der Möglichkeiten und Bedingungen der Berufswelt und aufbauend auf dem festgeschriebenen Status als SonderschülerIn ergibt sich für Marquart eine Zirkelthese, die für die ehemaligen SonderschülerInnen in einer prozeßhaften Zuweisung ihrer Berufsposition endet, da alle beteiligten Institutionen zur Reproduktion der schlechten Ausgangsbedingungen beitragen:

Weitgehend sozial bedingte Lernbehinderung bringt einen "sozialen" Sonderstatus hervor, der sich perpetuiert in der beruflichen Einmündungsphase. Objektiv schlechte soziale Bedingungen setzen sich individuell durch als verminderte Ausgangschancen. Diese Situation kann sich fortsetzen aufgrund mangelhafter institutioneller Einrichtungen und betrieblicher Interessen.

Damit ergibt sich die Festschreibung von Biographien auf beruflicher Ebene, auf der die Ausgangssituation fortgesetzt und zementiert wird mit der Bedeutung einer Verurteilung zu "sozialer Randständigkeit". Die verschiedenen Durchlaufstationen, wie sie sich in den Institutionen Schule, Arbeitsamt, Berufsschule und Betrieb zeigen, tragen dadurch, daß sie auf das Bild des Defizienten ausgerichtet sind, zur Reproduktion der schlechten Ausgangssituation bei. Sie produzieren ein berufliches Schicksal, dessen Arbeits- und Lohnbedingungen besonders negativ sind und dessen Existenz weithin ungesichert und von betrieblichen Interessen stark abhängig bleibt.[109]

6.2 Die Randständigkeit in der Berufsschule

6.2.1 Deskription

Hannes ist in der Berufsschule völlig unvorbereitet mit Englisch konfrontiert, zum Unterschied zu seinen MitschülerInnen hat er bisher keinen Englischunterricht erhalten. Die anderen haben es alle schon gehabt. Also dazumal [hat er] ja Englisch wirklich, so von der Lehre her, von der Schule nie gehabt. [Er hat] das Leichteste vom Leichtesten ja ein bisschen können, so ein paar Fragen, aber das war auch alles. In der Berufsschule hätte er nun nach ein paar Schulstunden schon Verkaufsgespräche machen sollen, was natürlich unmöglich war. Wieder ist Hannes damit konfrontiert, dass er keine Chancen hat, weil ihm die Grundkenntnisse fehlen, und er schätzt sehr realistisch ab, dass das einfach nicht machbar ist. [Er hat sich] nur am Anfang wirklich, also wie gesagt, gedacht, also das hat ja keinen Sinn, was soll das? Weil [...], daheim viel lernen, ja, ist alles gut und recht, aber was soll [er] daheim lernen, wenn [er] hinten und vorne keine Ahnung [hat]. Erst ein Jahr später, als Hannes die erste Klasse wiederholt, hat er eine sehr nette Lehrerin gehabt, die sich über seine Englischkenntnisse wundert und ihn fragt, ob er sich für Englisch nicht interessiere, weil ihr das nicht eingeht. Dass einmal jemand schlecht ist in Englisch, das hat sie schon öfters erlebt, aber dass jemand so überhaupt nicht weiterkommt. Im Laufe dieses Gesprächs ist eben herausgekommen, dass [er] Sonderschule gegangen [ist].

Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Englischlehrerin die Schullaufbahn von Hannes nicht gekannt. Sie war dann irrsinnig nett und meinte, dass das mehr oder weniger vom Direktor ein Wahnsinn sei, weil normalerweise dürfte [er] gar nicht in diesem Falle Englisch in diesem Unterricht haben. Das heißt, [er] müsste normalerweise vom Englischunterricht befreit werden, und das vom Anfang an. Hannes empfindet Englisch mehr oder weniger als Zusatzfach, da es zwar ein Pflichtfach ist, aber für den Beruf nicht unbedingt notwendig. Eine Befreiung vom Englischunterricht war in der Folge nicht mehr möglich, dadurch dass [er] ein Jahr ja schon Englisch gemacht [hat]. Da rechtlich gesehen eine Abmeldung zum Zeitpunkt des Schulbeginns erfolgen hätte müssen, hat Hannes drei Jahre den Englischunterricht besuchen müssen. Die Lehrerin hat sich allerdings um eine individuelle Lösung der Problematik bemüht, indem sie [ihn] nicht so bewertet hat, also sie hat da gesagt, wenn du etwas weißt einmal, dann ist es recht, dann kannst du dich natürlich melden, aber sie wird [ihn] da, die Schularbeiten und das nicht so streng bewerten. Diese Behandlung hat Hannes als sehr entlastend empfunden, obwohl sie natürlich, wenn sie bei der Schularbeit merkt, dass [er] alles falsch [hat], dann muss sie [ihm] einen Fünfer geben, das ist klar. Hannes hat in den Schularbeiten dann teilweise wirklich Vierer erzielt, weil es war dann so, dass [er] teilweise Englisch verstanden [hat] und auch teilweise reden habe können. Problematisch ist für ihn die Verschriftlichung gewesen, weil in Schreiben war [er] noch nie gar so gut, in Rechtschreibung und dann auch noch in Englisch schreiben, (...) da hat es hinten und vorne nicht gestimmt, und das hat sich auch nie geändert, (...) aber wie gesagt, da hat sie dann nicht so viel Wert darauf gelegt.

Christof hat Englisch im Polytechnischen Lehrgang gelernt, und es war für ihn eigentlich nicht so schwer, weil sie haben es ja von ganz vorne angefangen. Dieses Fach hat seine Randständigkeit nicht weiter festschreiben können, denn ich habe es nicht gehabt als Fliesenleger, weil was soll ich mit den Fliesen Englisch reden? Anders als Hannes hatte Christof mit keinem Fach in der Berufsschule besondere Probleme, er hatte jedoch im Polytechnischen Lehrgang eine gute Vorbereitung erfahren.

6.2.2 Interpretation

Hannes erfährt seine Defizite, die auf den Besuch der Sonderschule zurückzuführen sind, erst in der Berufsschule schmerzhaft. Da er noch nie Englischunterricht erhalten hat, wird seine Randständigkeit in der Berufsschule in diesem Fach überdeutlich. Auch in anderen Fächern erlebt er seine Defizite gegenüber seinen MitschülerInnen, die die Hauptschule besucht haben, denn er hinkt in seinen Kenntnissen deutlich hinter gleichaltrigen HauptschülerInnen her (vgl. 6.4). Nicht nur, dass die aufgrund des Schonraumcharakters der Sonderschule fehlenden Grundkenntnisse jetzt sichtbar werden, auch hinsichtlich des Lerntempos und des Lernstils wird in der Berufsschule keine Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse des Sonderschülers genommen. Von Anfang an kann Hannes mit seinen MitschülerInnen nicht Schritt halten, er kann sich auch von seinen Eltern und Geschwistern keine Unterstützung erwarten, er muss zum ersten Mal alleine lernen. Wenn sich die Englischlehrerin auch um Hannes bemüht, so kann sie das nur im institutionellen Rahmen der Berufsschule tun, die sich um AbgängerInnen der Sonderschule nicht speziell kümmert, wie auch Marquart darlegt:

Die Berufsschule reagiert auf die Lerndefizite der Sonderschüler im wesentlichen mit Gleichgültigkeit. Das Problem der Sonderschüler in der Berufsschule wird für den größten Teil der Berufsschullehrer überhaupt nicht relevant, die vorhandenen Probleme können oft nicht einmal benannt, geschweige denn angegangen werden. Bei einem Teil der Lehrer bestehen, soweit sie sich mit dem Problem befaßt haben, starke Vorurteile gegenüber der Leistungsfähigkeit und Herkunft der Sonderschüler. Auch die wenigen Lehrer, die klar die Defizite der Sonderschüler benennen können, nehmen in keiner Weise in ihrem Unterricht darauf Bezug.[110]

Hannes hat Defizite, die als seine persönlichen Mängel individualisiert und im Frontalunterricht der Berufsschule nicht weiter berücksichtigt werden. Marquart macht weiters darauf aufmerksam, dass das Konstrukt der praktischen Begabung bei mangelnden Theoriekenntnissen der Sonderschulpopulation weiterhin zur Benachteiligung beiträgt, da "die Befähigung zu einem von beiden von der wechselseitigen Durchdringung beider abhängt, und nicht von einer - wie auch immer gearteten - Begabung abhängig gemacht werden kann."[111]

Plötzlich wird ihm die praktische Begabung des Sonderschülers abgesprochen, wenn Theoriewissen ohne unmittelbar-sinnliche Anschauung vermittelt wird. Der Unterricht berücksichtigt die grundlegenden Defizite des Schülers nicht, sondern erklärt sich die mangelhaften Schulleistungen einfach mit der grundgelegten Theorieunfähigkeit eines Sonderschülers, ohne diese nach ihren Ursachen zu hinterfragen. Somit wird die Randständigkeit in der Berufsschule nach der Aufhebung des Schonraums Sonderschule und der damit verbundenen Wiedereinführung des Leistungsprizips wiederum sichtbar, die Betroffenen sind entmutigt und resignieren, wenn die Defizite von der Institution nur konstatiert werden, ohne dass an einer Möglichkeit zu deren Aufhebung wirklich gearbeitet würde. So können sich die betreffenden SchülerInnen erneut als VersagerInnen erleben, nachdem sie als Ursache für die perpetuierten Versagenserlebnisse, mit denen sie während ihrer gesamten Schullaufbahn konfrontiert wurden, eine individuelle Schuldzuweisung bereits internalisiert haben.

6.3 Die MitschülerInnen

6.3.1 Deskription

Hannes macht auch in der Berufsschule die vertraute Erfahrung, dass [er] so ziemlich der Schlechteste war. Darüber, dass er ein Sonderschüler ist, ist keine Aufregung gemacht worden, die haben es, [glaubt er], anfangs gar nicht gewusst. Die MitschülerInnen von Hannes haben erst durch seine mangelnden Englischkenntnisse und das Gespräch mit der Englischlehrerin erfahren, dass er Sonderschulabgänger ist, und zwar als einziger in der Berufsschulklasse. Dennoch scheinen seine MitschülerInnen darauf nicht besonders reagiert zu haben. Ja, also da hat es (...) eigentlich auch kein Problem gegeben, also [er ist] - soweit [er sich] erinnern kann - nie darauf angesprochen worden, auch im Nachhinein nicht, also oder (...), dass einmal eine Bemerkung gekommen wäre, ja von wegen Sonderschule oder sowas, also da hat es nie etwas gegeben.

Christof hat mit seinen MitschülerInnen in der Berufsschule eigentlich nie darüber geredet, welche Schulen er davor besucht hat, nur einer hat es schon gewusst, weil der ist ja auch Sonderschule gegangen. Dieser Mitschüler hatte die gleiche Schullaufbahn wie Christof, aber der hat sich hart getan, der ist gleich in der ersten Klasse oder in der zweiten Klasse sitzen geblieben. Eine unausgesprochene gegenseitige Abmachung hat darin bestanden, dass keiner die Schullaufbahn des anderen öffentlich macht, denn immerhin fein ist es nicht, wenn es jemand weiß, irgendwie, besser gesagt.

6.3.2 Interpretation

Der Status als Sonderschüler ist anfangs den MitschülerInnen in der Berufsschule nicht bekannt. Hannes wird erst durch seine fehlenden Englischkenntnisse enttarnt. Das ist auch mit ein Grund, dass Hannes nie eine Identitität als Berufsschüler aufbauen kann, sondern seine Randständigkeit ausbaut und weiterhin Sonderschüler bleibt. Wenn er auch nicht bezüglich seiner Schulausbildung diskreditiert wurde, so ist er dennoch als einziger Sonderschulabgänger "ziemlich der Schlechteste" seiner Klasse. Er bleibt während der Berufsschulzeit objektiv benachteiligt und die damit zusammenhängende Verunsicherung verstärkt seine Resignation. Dadurch verschlechtern sich zugleich seine Chancen hinsichtlich seiner Arbeitssituation. Dieser Kreislauf bestimmt von Anfang an den Prozess seiner Berufseinmündung und ist bis heute für seine Arbeitssituation kennzeichnend.

Anders verhält es sich bei Christof, der nach absolviertem Hauptschulabschluss das Schulausbildungsniveau seiner MitschülerInnen in der Berufsschule erreicht. Er empfindet sich daher nicht mehr als Sonderschüler und schafft die Berufsschule mit Nachhilfeunterricht, ohne dass gröbere Wissensmängel seine Randständigkeit innerhalb der Berufsschule deutlich gemacht hätten. Dennoch bleibt er diskreditierbar, da er mit einem Mitschüler aufgrund einer ähnlichen Schullaufbahn bekannt ist. Auch dieser hat nach der Sonderschule den Hauptschulabschluss gemacht. Damit ihre Schullaufbahn von den MitschülerInnen unerkannt bleibt, decken sie sich gegenseitig. Im Verlauf der Berufsschule muss dieser Mitschüler eine Klasse wiederholen, wodurch für Christof dieser verunsichernde Hinweis auf seine Diskreditierbarkeit wegfällt.

6.4 Kritik an der Sonderschule

6.4.1 Deskription

Hannes hat sich nicht grundsätzlich deswegen diskreditiert gefühlt, weil er die Sonderschule besucht hat. Aber seine ersten Unterrichtserfahrungen in der Berufsschule führen dazu, dass er sich denkt, es ist sinnlos, weil was [hat er] da, mit dem Stoff, den [er] in der Sonderschule gelernt [hat]. Obwohl er sich nicht grundsätzlich durch den Besuch der Sonderschule zurückgesetzt gefühlt hat, hat er am Anfang überhaupt keine Chance gesehen. Erst jetzt erlebt er die Nachteile von der Sonderschule, weil man so einen Stoff ja nie durchgemacht hat. Ein schlechter Schüler war [er] ja in der Sonderschule nicht und [er glaubt], auch in Rechnen war [er] ja recht gut. Hannes erinnert sich in diesem Zusammenhang, dass für ihn eigentlich Sonderschule gehen überhaupt kein Problem war, jedoch das Problem "Sonderschule" für [ihn] eigentlich in der Berufsschule angefangen hat, weil [er] dort gemerkt hat, dass doch die Sonderschule irgendwie ein Nachteil war.

Während seiner Sonderschulzeit hat er sich da nicht so viele Gedanken gemacht, erst in den letzten Schuljahren, wo [er sich] durchaus gedacht [hat], also diese Rechnungen, was soll das, in dieser Klasse? Erst dort, ja, sind die Folgen sichtbar geworden, weil in der Sonderschule [hat er] ja Probleme nicht gehabt, [er hat] den Stoff (...), ja von anderen Schulen, von der Berufsschule zum Beispiel, gerade jetzt in diesem Fall oder Hauptschule [hat er] nicht gekannt. [Er hat] zwar gewusst, dass die durchaus mehr Stoff haben, oder schwierigeren Stoff, aber (...) [er hat sich] da nicht so Sorgen oder Gedanken gemacht darüber. Die Folgen, oder (...) ja die Folgen sind [ihm] erst in der Berufsschule klar geworden, da [hat er] erst erkannt, dass doch Sonderschule ziemlich ein Nachteil war. (...) Weil [er meint], wenn du jetzt Hilfsarbeiter wirst oder irgendwas als Packlschupfer oder was, dann ist es egal, ob du jetzt da Wurzelziehen und so was kannst, aber wenn du eine Lehre machst, so wie [er], dann ist das sicher damals ein Nachteil gewesen. Er formuliert einen Vorwurf an die Sonderschule, ohne zu wissen, an wen [er] da den Vorwurf machen muss, vielleicht an die Inspektoren oder [er] weiß nicht, wer den Schulplan macht.

Hannes beklagt nun den Lehrstoff, den die Sonderschule vorsieht, und führt sein Versagen in der Berufsschule schließlich darauf zurück, dass du in der Sonderschule einfach wirklich bis zur letzten Klasse teilweise wirklich in Mathe zum Beispiel Stoff machst, was du in der [...] normalen Schule (...) schon teilweise in der Volksschule ja nicht mehr machst, weil wenn [er sich] so [erinnert], die Rechnungen, die [er] in der letzten Klasse gehabt [hat], da [hat er sich] wirklich gedacht, also (lacht) wofür ist da überhaupt noch Mathematikunterricht gut? Weil - grob gesagt - kannst du ja sagen, in der Sonderschule hast du ja nichts anderes getan, als wie halt die Grundrechnungen, also Mal, Plus, Minus, Dividieren (...) ja, und wenn es gut geht, halt zwei oder drei Rechnungen miteinander verbinden (...), also über zwei, drei Ecken, aber das war auch schon alles.

Die Sonderschule hat Hannes zu wenig auf die Berufsschule vorbereitet, und er fordert daher ein, dass zumindest gegen Schluss hin, auch wenn es Sonderschule ist, die Anforderungen höher eingestuft werden, also doch ein bisschen schwieriger gemacht werden. Sagen wir einmal, dass man sich doch an gewissen Berufsschulen orientiert, dass man schaut, was ist in der Berufsschule, was wird da verlangt, dass man ein bisschen den Stoff durchmacht. Vielleicht nicht so krass, als wie in der Berufsschule, schon klar, aber dass man doch immer wieder so gewisse Rechnungen, die man in der Berufsschule hat, doch vielleicht auch schon da lernen sollte. Nach seiner Einschätzung ist der Stoff sicher viel zu leicht, und seine Schulfrustrationen führt er schließlich auch darauf zurück, wenn [er] von vornherein in der Sonderschule mehr gelernt hätte, also wenn dort der Stoff wesentlich größer wäre, [...] dann hätte [er sich] in der Lehre leichter getan.

Hannes hat sich informiert und weiß, dass es sich ja mittlerweile sehr verbessert hat, weil sie haben jetzt Englischunterricht in der Sonderschule, sie haben EDV-Unterricht. Somit kannst du sagen, also die Schüler, die jetzt von der Sonderschule ins Berufsleben gehen, haben in der Lehre sicher, tun sich sicher leichter und haben mehr Chancen als wie, ja, [er] es noch gehabt habe. In Mathematik kennt er den Stoff der Sonderschule nicht, aber wenn der Stoff noch immer der Gleiche ist, (...) dann [sagt er] so, gut dann können sie halt Englisch, aber was tun sie in Kaufmännisch Rechnen? Weil dann werden sie sich da wahrscheinlich gleich schwer tun. Hannes meint, dass sich in der Sonderschule das Unterrichtsfach Berufskunde anbieten würde, um den Unterricht an der Berufsschule auszurichten, vielleicht Kaufmännisch Rechnen und Buchhaltung teilweise so ein bisschen schon heineinschnuppern. Man müsste den Unterricht auf die Berufe abstimmen, die die Sonderschüler ergreifen möchten und während des Jahres vielleicht diese Berufe vielleicht ein bisschen von der Berufsschule irgendwie einbringt. Hannes hatte allerdings am Ende der Sonderschule noch keine Vorstellung davon, welchen Beruf er ergreifen könnte. [Er] habe bis zum letzten Tag nicht gewusst, was [er] überhaupt tun soll. Nein, überhaupt nicht.

Ähnlich wie sein ehemaliger Mitschüler Hannes meint auch Christof bezüglich des Unterrichtsfaches Englisch, dass das schon gut wäre, wenn sie das auch mitmachen, das Fach. Weil vor allem, weil manche haben das in der Berufsschule auch, die tun sich dann total hart, oder? Oder vielleicht Buchhaltung wäre auch nicht schlecht. Auch er empfindet die Sonderschule nicht als gute Vorbereitung auf die Berufsschule, weil man lernt auch so in den anderen Fächern eigentlich eh alles anders, irgendwie, [meint er]. Fachkunde hat auch nichts zu tun gehabt damit, was [er] davor gelernt [hat]. Obwohl er nicht so betroffen war wie Hannes, würde auch Christof den Sonderschullehrplan den Anforderungen der Berufsschule angleichen, indem Englisch auf alle Fälle und Buchhaltung eigentlich auch unterrichtet wird, weil das brauchst du dann in der Berufsschule auch und (...) dass du nicht immer so nachhängst. Unterricht in Maschinschreiben und in der Arbeit mit Computern schlägt Christof noch ergänzend vor.

6.4.2 Interpretation

Weil Hannes wie auch seine Mitschüler während der Sonderschule keine Möglichkeit hatten, den angebotenen Lehrstoff mit anderen Schultypen zu vergleichen, wissen sie nur, dass es in der Volks- und Hauptschule schon irgendwie schwerer ist. Die Sonderschuldidaktik, die als Unterrichtsprinzip einen reduzierten Lehrstoff anbietet, wird somit erst nach Beendigung der Sonderschule mit dem Übertritt in eine andere Schule zum massiven Problem. Jetzt erst werden für Hannes die Defizite deutlich bemerkbar, und er kritisiert die Sonderschule, da ihm klar wird, dass dieses reduzierte Wissen seine Chancen in der Berufs- und Lebenssituation deutlich herabsetzt. Der Abgang von der Sonderschule bedeutet beim Übergang in die Berufsschule und den Beruf einen beträchtlichen Nachteil, sodass die Statistik nur einen geringen Teil von SonderschülerInnen mit abgeschlossener Berufssausbildung aufweist. Rudolf Forster etwa erwähnt zwei Faktoren, die für diese Tatsache bestimmend sind:

Selbstselektion, d.h. Verzicht auf eine weitere Ausbildung aufgrund persönlicher Gründe (Schulmüdigkeit, Geldorientierung, schlechte Einschätzung der eigenen Fähigkeiten etc.) oder situativer Gründe (ökonomische Erfordernisse, haushaltsbedingte Notwendigkeiten, Abraten von Bezugspersonen oder Beratern) oder Selektion durch Mechanismen des Lehrstellenmarktes, d.h. Scheitern beim Suchen nach einer Ausbildungsstelle.[112]

Nicht nur der Zugang zu Lehrberufen ist bei SonderschülerInnen gegenüber einer Vergleichsgruppe von HauptschülerInnen deutlich herabgesetzt, auch die Zahl derer, die nach einem gescheiterten Lehrverhältnis als unqualifizierte Arbeitskräfte im Arbeitsmarkt austauschbar bleiben, ist gegenüber der Hauptschulpopulation deutlich höher.

Für die Mehrheit der Sonderschüler läßt sich daher für die Einmündungsphase festhalten, daß sie sich mit den betrieblichen Ausbildungsleistungen oder den schulisch gezeigten Leistungen an ihre negativen Ausgangsbedingungen anpassen. Diese "Anpassung" ist deshalb von Nachteil, solange sie dadurch unqualifizierte Arbeitskräfte bleiben, die betrieblichen Anforderungen besonders gut entsprechen.[113]

Der Anteil der Sonderschule an dieser Entwicklung ist schon mehrfach beschrieben worden

und er wird von Hannes benannt. Die schlechte familiäre Ausgangsbasis wird von den SonderschülerInnen selten erkannt, wenngleich die Arbeits- und Lohnbedingungen des Familienernährers die sozioökonomische Situation der SonderschülerInnen weitgehend bestimmen und auch die spätere Arbeitssituation beeinflussen.

Aufgrund objektiver Bedingungen werden in der Familie Verhaltensweisen und Fähigkeiten erworben, die im Bildungssystem als defizitär behandelt, aber nicht ausgeglichen werden. Der erste analytische Schritt setzt deswegen an den Bedingungen der Familie an, um den sozialen Hintergrund der Berufseinmündungsphase sichtbar zu machen. In der Analyse der Bereiche Schule, Arbeitsamt, Betrieb und Berufsschule wird gezeigt, wie die Deprivilegierung der Jugendlichen weitergegeben und verfestigt wird. In ihrem Zusammenwirken wird ein Kreislauf sichtbar, der darin besteht, daß die Ausgangsbasis der Deprivilegiertensituation sich auf der beruflichen Ebene reproduziert.[114]

Hier erhebt sich die Frage nach der Funktion der Sonderschule als Vermittlerin zwischen Familie und Berufssituation. Kann die Sonderschule den ausgesonderten SchülerInnen in ihrem Schonraum eine hinreichende Ausbildung vermitteln, die in einer günstigen Berufssituation ihren Niederschlag findet oder verstärkt sie die soziale Benachteiligung und verschärft somit den Übergang in die Berufsschule und Berufswelt? Marquart und andere AutorInnen bestätigen bezüglich dieser Fragestellung, dass die Festschreibung von Defiziten durch die Institution Sonderschule und ihre methodisch-didaktischen Unterrichtsprinzipien zu einer weiteren Benachteiligung der SonderschülerInnen führt:

Für die Mehrzahl der Sonderschüler erweist sich die Einweisung in die Sonderschule zusätzlich zu ihrer Lernbehinderung als weitere Benachteiligung. Zwar wird hier auf die Lernbehinderung Rücksicht genommen, die Form, in der dies geschieht, zielt jedoch nicht ab auf die Aufhebung oder den Ausgleich der Defizite. Generell zeigt sich das an der Reduzierung des Lerntempos und der Verringerung des Umfangs des Lehrstoffes bei insgesamt gleicher Dauer der Schulpflichtzeit für Sonderschüler und Hauptschüler. Eine intensivere oder extensivere Ausbildung findet nicht statt. Im Vergleich zu den Hauptschulabgängern werden damit die Sonderschüler aufgrund der später an sie gerichteten beruflichen Grundbildungsanforderungen benachteiligt.[115]

Die schwierigen Bedingungen in der Sonderschule führen dazu, dass aufgrund verstärkt auftretender "Verhaltensauffälligkeiten" sowie der individuell als schlecht eingeschätzten Möglichkeiten und des Zusammenwirkens dieser Faktoren, die SchülerInnen am Ende ihrer Schullaufbahn zusätzlich diskriminiert sind: "ihre schulischen Leistungen [haben] größtenteils etwa den Stand von Elf- bis Zwölfjährigen erreicht."[116]Wie wir bei Hannes gesehen haben, ist ihm und wohl auch anderen SchülerInnen dieser reduzierte Leistungsstand durchaus bewusst und verstärkt das negative Selbstbild. Die unterdurchschnittliche schulische Qualifikation bestätigt die negative Einstellung, die die gesellschaftliche Meinung gegenüber der Sonderschule vertritt.

Die Diskriminierung durch den Besuch der Sonderschule wird von den Kindern real erfahren und wirkt zusätzlich verstärkt als Projektion. Aufgrund des dauernden Versagens in der Hauptschule und der Erfahrung, daß andere sie als Sonderschüler abwertend beurteilen, bildet sich bei den Sonderschülern ein negatives Eigenbild. Diese Vorstellung entspricht zum Teil realen Erfahrungen, das heißt, sie ist das Ergebnis von Vorurteilen anderer und schlägt sich nieder in der gewohnheitsmäßigen Vorstellung, wie die Umwelt sie perzipiert.[117]

Gerade das Fehlen von Hilfestellungen beim Übertritt in die Berufsschule und weiterführender Unterstützungen in der Berufsschule sowie die Tatsache, dass "die gesetzlich vorgesehene Vorbereitung der Sonderschüler auf das Arbeits- und Berufsleben offensichtlich unzureichend [ist]"[118],läßt das Versagen der Institutionen als individuelles Versagen der Sonderschülerin und des Sonderschülers erscheinen.

6.5 Von der Schule die Nase voll

6.5.1 Deskription

Das Ende der Schullaufbahn ist für Hannes eine Erleichterung, da die Schulerfahrungen insgesamt mit vielen Frustrationen verbunden sind. Also [er] war wirklich froh, als [er] von der Schule herausgekommen [ist]. Also, bei der letzten Zeugnisverteilung [hat er sich] geschworen, nie wieder Schule, also, bei Gott, sicher nie wieder [setzt er sich] in eine Schule hinein. [Er] war heilfroh, dass [er] das hinter [sich] gehabt [hat]. Dabei meint er die Beendigung der Pflichtschulzeit in der Sonderschule. Nachdem er dann noch in die Berufsschule gewechselt hatte, war[er]sogarim Nachhinein erstaunt, dass [er] überhaupt eine Lehre angefangen [hat]. Also Lehre [hat er] nie etwas dagegen gehabt, aber um Gottes Willen ja nie mehr in eine Schule hineinsitzen, [er hat] so die Nase voll gehabt. Noch am Beginn seiner Lehrzeit hat [er sich] sogar direkt gefreut, dass [er] eine Lehre machen kann.

Diese hohe Motivation ist allerdings nach den ersten Berufsschulerfahrungen zunichte gemacht und am Ende der Berufsschule ist sich Hannes sicher: [Er hat sich] geschworen, also nach der Berufsschule sicher keine, nichts mehr, also da [geht er] sicher nicht mehr Schule, dass [er] da jetzt noch [anfängt] Abendschule oder was gehen, dass[er sich] noch weiterbilde, [hat er sich] gedacht, nein, nein sicher nicht mehr, weil es ist so, wenn du jetzt Berufsschule gemacht hast, [er hat sich] da schon schwer getan und was soll [er] jetzt schon für eine Schule machen? Dabei hat sich Hannes durchaus Gedanken über eine Weiterbildung gemacht und sich überlegt, das Diplom als Pfleger zu machen, wie es auch sein Bruder absolviert hat. Aber aufgrund seiner Schulerfahrungen weiß er, wenn der sich da schon so schwer tut, also dann [braucht er] es nicht einmal probieren. Obwohl er durchaus selbstbewusst Berufsmöglichkeiten überlegt, ist sein Selbstvertrauen nach der Berufsschule zerstört. [Er] weiß nicht, vielleicht [traut er sich] in diesem Punkt vielleicht zu wenig zu, aber (...) sagen wir einmal so, wenn [er sich] in der Berufsschule leichter getan hätte, wäre es möglich gewesen, dass [er] vielleicht (...) [sich] einmal entschieden hätte, noch einmal irgend etwas zu lernen, also Abendschule oder irgendetwas weiterbilden.

Die abgeschlossene Berufsschule und Lehre wertet Christof entschieden auf, sodass er über die Schule nicht so resümiert wie Hannes. Er könnte sich eine Umschulung in einen anderen Beruf durchaus vorstellen. Da müsste [er] nur mehr ein Jahr Schule gehen und eine Fachpraxis haben, dann wäre [er] normal, [glaubt er], umgelernt. Seine Schulerfahrungen haben nach der Sonderschule eine Wende zum Positiven erfahren, sodass er sich sogar vorstellen könnnte, noch eine Ausbildung zu machen. Wenn [er] irgend etwas anderes machen will, dann [macht er] sicher noch eine Schule. Also, wenn [er] zum Beispiel sagen würde, [er lernt] jetzt um auf irgend etwas anderes oder [er] möchte das tun und da braucht man halt das Wissen oder diese Schule, dann würde [er] das sicher machen. Weil erstens kann sie [seine Freundin, Anm. des Verf.] [ihm] einmal helfen oder [seine] Schwester oder sonst jemand. Also würde [er] das schon probieren. Er hat das Selbstvertrauen und würde sich das zutrauen, und wenn [er] es nicht [schafft, schafft er] es halt nicht.

Die Schulerfahrungen seines Bruders, der die Berufsschule nicht beendet hat, haben David davon abgehalten, noch einmal eine Schule zu besuchen. Auch Robert ist an der Berufsschule gescheitert und hat sich, als er bei einem Kollegen gesehen hat, wieviel dieser lernen musste, den Abschluss der Lehre nicht mehr zugetraut.

6.5.2 Interpretation

Aufgrund der speziellen sozioökonomischen Bedingungen und der als Schulschwäche individualisierten und subjektivierten Zuschreibung "Lernbehinderter", gefolgt von der Einweisung in die Sonderschule, erlebt der Schüler eine Versagenskette. Da er auf die eigentlichen Ursachen nicht analysierend reagieren kann, internalisiert er sein Schulversagen im Verlauf der Sonderschule. Schon am Ende der Sonderschulzeit resignieren Hannes und David, sodass für sie keine weitere Schulausbildung in Frage kommt. Da das Selbstbewusstsein durch die eigenen Schulleistungen minimiert ist, traut sich David den Besuch der Berufsschule von vorneherein nicht zu, er nimmt die ihm zugeschriebene Hilfsarbeiterposition an und reiht sich damit in die Gruppe derer ein, die als SonderschulabgängerInnen in ungelernten oder angelernten Tätigkeiten vom jeweiligen Arbeitsmarkt abhängig sind. Hannes verhält sich dazu ambivalent, indem er zwar eine Lehre machen möchte, aber nach seiner Schulzeit in der Sonderschule den Sinn eines weiteren Schulbesuches anzweifelt; tatsächlich scheitert er an der Berufsschule. Letztendlich hat diese Erfahrung auch bei ihm zu resignativen Tendenzen geführt. Er ist endgültig ausgeschlossen, und kann nur die abhängige Stellung eines Hilfsarbeiters annehmen. Obwohl er durchaus ambitionierte Vorstellungen über mögliche Berufe entwickelt, hat er die Karriere seines Scheiterns an der Schule verinnerlicht und ist sich nunmehr sicher, dass er nie wieder eine Schule betreten möchte.

Ganz anders verhält es sich bei Christof, der nach der Sonderschule den Hauptschulabschluss erfolgreich absolviert und dadurch aufgewertet wird. Mit dem Selbstbewusstsein des Hauptschulabsolventen gelingt ihm als einzigem der Abschluss der Berufsschule. Damit erreicht er das, was den meisten HauptschülerInnen möglich ist: eine abgeschlossene Lehre. Nur Christof ist die Berufseinmündung so geglückt, dass er sich noch weitere Ausbildungen und damit zusammenhängend berufliche Veränderungen vorstellen kann. Alle anderen haben den Prozess des Scheiterns vom Hilfsschüler zum Hilfsarbeiter durchlebt, ihr Status "Sonderschüler" bestimmt die generell bestehenden Beschränkungen des Zugangs zu einer beruflichen Ausbildung und hat für sie als Angehörige einer "schwachen" Gruppe unqualifizierter Arbeitskräfte nachhaltig negative Auswirkungen.



[106] Forster, Rudolf: Normalisierung oder Ausschließung - Über die Berufsfindung und das Lebensschicksal von Sonderschulabgängern. Endbericht, Februar 1981, unveröffentlicht, 32

[107] Forster, Rudolf: a.a.O., 35

[108] Marquart, Regine: a.a.O., 10

[109] Marquart, Regine: a.a.O., 12-13

[110] Marquart, Regine: a.a.O., 82

[111] Marquart, Regine: a.a.O., 83

[112] Forster Rudolf: a.a.O., 45

[113] Marquart, Regine: a.a.O., 23

[114] Marquart, Regine: a.a.O., 25

[115] Marquart, Regine: a.a.O., 37

[116] Marquart, Regine: a.a.O., 37

[117] Marquart, Regine: a.a.O., 38

[118] Forster, Rudolf: a.a.O., 33

7 Die Arbeit war sowieso das Letzte vom Letzten

7.1 Berufstätigkeit und Arbeitsbedingungen

7.1.1 Deskription

Hannes hat während eines Berufsvorbereitungskurses beim Berufsförderungsinstitut (BFI) schon Schnupperkurse absolviert und verschiedene Arbeiten verrichtet. Zuerst arbeitete er in einem Hotel als Mann für alles, also so Koffer tragen [...], Lohndiener, also die richtige Bezeichnung. Diese Arbeit hat er nach zwei Wochen aufgegeben, weil es [ihm]zu wenig Arbeit war. Also [er hat sich]gedacht, nein, das ist total sinnlos, was willst du da, (...) die ganze Zeit nur herumstehen, und, und fünf Mal am Tag kannst du auch nicht den Boden saugen oder was, dann [hat er sich]gedacht, nein, das (...) bringt ja nichts. Anschließend versuchte er sich als Stallbursche im Reitstall, weil [ihn]Rösser interessiert haben und (...) von der Arbeit her war [ihm]das egal, ob das jetzt dreckige Arbeit ist oder eine stinkige mit Mist oder das, das war [ihm]egal. Ungefähr einen Monat lang verrichtete er diese Arbeit. Bei diesen beiden Praktika war Hannes über das BFI sozialversichert.

Auch die zweite Schnupperlehre hat er abgebrochen, weil [er]da einfach zu viel Arbeit gehabt hat. 34 Rösser alleine, und das, da war die Arbeitszeit, [...]die war zu kurz, also die Arbeit selber war nicht zu viel, aber zu kurze Arbeitszeiten. (...) Darüber hinaus [hat er]dann noch erfahren, dass der nur 4000 Schilling zahlen würde im Monat, und das war ein bisschen gar wenig. Obwohl er beide Arbeitsstellen hätte behalten können, wechselte er innerhalb kürzester Zeit zu einem Industriebetrieb, wo er in der Schleiferei arbeitete. Da [hat er]aufhören müssen nach zwei Monaten und zwar, weil [er] in der Schleiferei die Luft nicht vertragen [hat], und zwar den Glasstaub, der sich durch das Schleifen erzeugt hat. Diese Arbeit hat ihm eigentlich gefallen, aber ein Arzt riet ihm dringend zu einer anderen Arbeit, weil er durch den Glasstaub körperliche Symptome gezeigt hat. Da ist [ihm]andauernd schlecht geworden, und [er hat sich]gedacht, das bringt es auch nicht, wenn [er]jetzt da zwei Stunden [arbeitet], und dann muss [er]wieder eine Viertelstunde in die frische Luft gehen. Dabei hätte[ihm]die Arbeit an und für sich gefallen, obwohl [er]sicher in gewissem Sinne dreckig geworden ist, so staubig und so zeug halt, aber das war [ihm]immer gleich. Auch der Verdienst war recht gut im ersten Monat mit achttausend, und es wäre nach einem Jahr eine Lohnerhöhung gewesen, [...] [er glaubt]auf neuntausendfünfhundert oder sowas.

Nach dieser Kündigung folgte eine zweimonatige Arbeitslosigkeit, und schließlich hat er über das Arbeitsamt eine Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann in einem Geschäft gefunden, wo [er]den Chef persönlich gekannt [hat]. Hannes stellte sich vor und wurde gleich als Lehrling aufgenommen. Er blieb ein paar Monate über die dreijähige Lehrzeit hinaus in diesem Betrieb, konnte aber aufgrund seiner Schwierigkeiten in der Berufsschule die Lehre nicht mit dem Gesellenbrief abschließen. Da der Geschäftsinhaber lieber wieder einen Lehrling einstellte, wurde Hannes nach der Behaltefrist gekündigt und war darauf einknappes Monat arbeitslos. Darauf wechselte er zu jener Firma, bei der er zum Zeitpunkt des Interviews seit fast drei Jahren tätig war. Seine Arbeit bei dieser Firma als Angestellter im Sicherheitsdienst beschreibt er unverblümt als wirklich der - krass ausgedrückt - der letzte Dreck. Wenn du in diese Firma versetzt wirst, dann kannst du das gleichstellen mit einer Strafversetzung. Also das ist, als wie sie früher die Sträflinge nach Sibirien hinübergeschickt haben. Das ist eher für ältere Leute, die noch zwei, drei Jahre bis zur Pension haben, aber für junge Leute ist es wirklich Strafversetzung nach Sibirien.

Seine Tätigkeit besteht aus 98, 90 Prozent Nachtdienst, im Rad wechseln sich Ofendienst und Portierdienst ab, wobei derHochofen in gewissem Sinne sogar noch langweiliger als wie der Portierdienst ist. Aber um etliches gefährlicher, also beim Ofen, da ist wirklich, ja es ist Routine, aber (...), ja wenn du Pech hast, kann es dir wirklich einmal das Leben kosten, [...] wenn du Pecht hast, beim Ofen ist gleich einmal etwas passiert, und da können aber die Folgen gleich einmal ziemlich hoch sein. Hannes, dem der Portierdienst lieber ist, kann bezüglich des Dienstplans zwar beim Chef die Wünsche äußern, aber im Endeffekt wird der Chef das einteilen, wie er es meint. Hannes hatte seit Beendigung der Schulzeit fünf verschiedene Arbeitsplätze inne und mich interessiert, ob er einen fünfmaligen Arbeitsplatzwechsel ungewöhnlich findet. [Er hat]es am Anfang viel gefunden, weil da [hat er]doch relativ schnell oft gewechselt, aber eigentlich seit der Lehre (...) nicht mehr, weil die drei Lehrjahre sind normal, und dann [hat er]eigentlich bis jetzt eh ständig den gleichen Job. Eigentlich würde er jetzt nicht mehr gerne als Lebensmittelkaufmann arbeiten, aber im Verhältnis zum jetzigen Job, muss [er]sagen, ist es auch nicht schlechter, weil jetzt der Job, den [er]jetzt [hat], der ist ja auch, (...) ja, der ist ja eigentlich auch, ja, brutal. Da seine derzeitige Arbeit zum größten Teil aus Anwesenheitsdienst besteht, findet Hannes, dass das total unterbezahlt ist, wenn[er]die Stunden, die [er]arbeitet, rechnet. Ich frage ihn, welche Bezahlung er angemessen findet? Vierzehntausend Schilling, sagen wir einmal so, ist recht gut.

Christof hat nach dem Polytechnischen Lehrgang eine Lehre als Fliesenleger gemacht. Bei dieser Firma ist er als Geselle noch ungefähr ein Jahr geblieben. Dann wechselte er zu einer anderen Firma. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er das vierte Jahr dort angestellt. Der Beruf gefällt ihm ganz gut, wenn er einmal zu spät kommt, ist es dem Chef total egal und abhauen tun [sie]eigentlich auch schon immer früher, um vier statt um fünf. Und da sagt eigentlich niemand etwas, weil das ist einfach auf Quadratmeter. [Tut er]weniger, dann [verdient er]auch weniger. Sein Einkommen ist eigentlich ganz gut, Christof kann auch Überstunden machen, aber [sie]pfuschen meistens nur. Seinen Verdienst hält er für relativ gut, weil wo bekommst du heutzutage schon sechzehntausend Schilling, verschieden, einmal weniger und einmal mehr, aber so im Schnitt dreizehn [hat er]immer. Pfuschen kann [er]auch viel, und dann bringt man ganz nett etwas auf die Seite.

Noch während der Schulzeit hat David eine Schnupperlehre bei einem Maler absolviert, denn eigentlich wollte [er]Maler lernen. Nach den Erfahrungen einer Schnupperwoche hat er damit gar nicht angefangen. [Er gibt]dem Meister die Schuld, weil die ganze Woche arbeiten und keinen Pinsel und nichts, keine Farbe sehen, nur Türstöcke und Türstöcke schleifen, das [hat ihm]keinen guten Einblick gegeben. Seinem Bruder, der auch Maler ist, hilft er zwar gerne, aber so eigentlich malen oder beruflich möchte [er]das nicht. David räumt zugleich ein, dass [er]das Arbeiten sowieso ganz für fremd aufgefasst habe zu der Zeit, als [er]von der Schule heraußen war, aber zugleich war dieser Maler sowieso der Falsche.

Nach der Schule wollte David die Lehre zum Einzelhandelskaufmann machen, er ist als Lehrling angestellt worden, hat aber die Berufsschule von Anfang an nicht besucht. Dieser Beruf hat ihm nicht so zugesagt, nach zwei, drei Monaten [hat er]das gemerkt. Anschließend wechselte er zu einem Versandhaus ins Lager, wo bereits einige seiner Mitschüler angestellt waren. Nach dem Bundesheer arbeitete er bei einer Getränkefirma als Lagerarbeiter, danach bei einer Lebensmittelkette im Lager, und zum Zeitpunkt des Interviews ist er als Staplerfahrer bei einer Baufirma beschäftigt. Er bewältigt diese Arbeit gut, er bekommt Fax, muss auch wieder Neubestellungen aufnehmen, muss auch rechnen, zählen und rechnen. Er hat bei dieser Firma Selbstvertrauen entwickelt, weil [er sich]im Baugewerbe leichter [tut]als wie im Handel, weil im Handel mit dem Haufen Zahlen, ist eher Verwirrung herausgekommen. Auch Davids Eltern sind mit ihm zufrieden, weil sie sehen, dass [er]in der Firma auch gut [ist], das wissen sie auch, weil [er erzählt]auch daheim manchmal, wie es [ihm]in der Firma immer geht und dass [er]Stress [hat], und dass [sie]viel Arbeit haben und wie es halt ist.

Robert absolvierte eine dreijährige Gärtnerlehre, ohne allerdings den Abschluss der Berufsschule zu schaffen. Danach wurde er noch weiter in dieser Firma beschäftigt, nach der Lehre hat sich nur das Finanzielle halt verändert. Da, wo [er]die Lehre gemacht [hat], das war Privatwirtschaft, das war einfach wahnsinnig, da bist du nur da zum Arbeiten, gemma, volles Rohr, nicht? Von der Früh bis zum Abend und Überstunden, wo es geht. Und halt hinunterdrücken, nichts bezahlen und volle arbeiten, Nicht? Da bist du halt als Lehrbub nur der Trottel. Da sein Vater erkrankte, musste Robert diese Stelle kündigen, und war darauf ein halbes Jahr arbeitslos. Während dieser Zeit betrieb er anstelle seines Vaters den elterlichen Bauernhof. Als [er]dann irgendwann nach einer Arbeit geschaut [hat], traf es sich zufällig, dass gerade da jemand in Pension gegangen ist von [ihnen]in der Bude, er bewirbt sich bei der Stadtgemeinde und bekommt die Stelle als Gärtner. Dieser zweite Arbeitsplatz gefällt ihm total, und obwohl sich bei einer abgeschlossenen Lehre gar nichts ändern würde, außer vielleicht der Verdienst um einen Tausender mehr, wäre ihm der Status eines Gesellen lieber. Hilfsarbeiter ja, was soll ich denn sagen, wenn mich einer fragt, was ich bin?

Diese Unsicherheit beunruhigt ihn, denn es ist ja so, wenn [er]jetzt hinausgeworfen [wird], dann [wird er]halt hinausgeworfen, und was [macht er]dann? Was soll [er]tun, wenn sie [ihn]jetzt ehrlich da hinauswerfen? Sicher findest du Arbeit, in die Fabrik hinein gehen, schichteln und so. Geht sicher, aber dafür [ist er]nicht der Typ, das gefällt [ihm]nicht. Für ihn allein reicht sein Gehalt, aber eigentlich findet Robert, dass es zu wenig ist. Auf alle Fälle, ja, fast zwölftausend Schilling, ein bisschen über zwölftausend, nicht? [Er meint], zum Alleineleben geht es locker, aber wenn du jetzt eine Familie ernähren musst. [Er meint], bei [ihm]geht es auch mit der Familie, aber wenn du jetzt hernimmst, andere Leute bezahlen achttausend Schilling Miete, oder neuntausend Schilling, da fällt ja ein Gehalt schon weg für die Miete. Dann hast du noch ein Auto, [er]würde [sich]da nicht darüber hinaussehen.

7.1.2 Interpretation

Die Berufseingangsphase von Hannes und David veranschaulicht, wie durch das Zusammenwirken ihrer familiären Situation und der schulischen Aussonderung sowie der von diesen beiden Faktoren vermittelten eingeschränkten Perspektiven der Berufsorientierung und Berufsausbildung, eine Eingliederung in das Erwerbsleben am "unteren Ende" der Berufsmöglichkeiten - in den sogenannten "dead-end-Berufen" - erfolgt. Die Väter beider Schüler verrichten angelernte Tätigkeiten, die ungünstige sozioökonomische Situation ihrer Familien ist vergleichbar, und beide nehmen aufgrund der institutionell vermittelten Zuschreibung "Lernbehinderung", die individuelles Versagen und genetisch bedingte Defizite signalisiert, einen schlechten Status ein, der über ihre weitere berufliche Zukunft maßgeblich bestimmt. Ihre familiäre und schulische Ausgangssituation wird auf beruflicher Ebene perpetuiert und mündet in einer festgeschriebenen Randständigkeit im Beruf, wodurch wiederum ihre Lebenschancen deutlich herabgesetzt werden. Alle Kriterien des fast durchgängigen Prozesses des Scheiterns, wie sie Marquart in ihrer Studie für SonderschülerInnen belegt, lassen sich auch bei der Berufseinmündung von Hannes und David ausmachen:

Die Kriterien für das Scheitern sind:

der nicht erfolgreiche Abschluss einer Berufsausbildung;

die Art des Arbeitseinsatzes und

die längerfristig negativen Lohn- und Arbeitsbedingungen.[119]

Von der ganzen Klasse hat lediglich Christof eine Berufsausbildung abgeschlossen, Hannes und Robert haben eine begonnene Ausbildung nicht erfolgreich beenden können und David ist unmittelbar nach der Sonderschule in eine unqualifizierte Tätigkeit eingestiegen, ohne sich die Alternative einer Lehre überhaupt zuzutrauen. Forster vergleicht in seiner Studie HauptschülerInnen mit SonderschülerInnen bezüglich einer abgeschlossenen Lehrausbildung und weist dabei signifikante Unterschiede zwischen den Kontrollgruppen nach:

Nur etwa die Hälfte bis maximal zwei Drittel der ehemaligen Sonderschüler - gegenüber ca. 80% der ehemaligen Hauptschüler - und nur ein Zehntel bis ein Viertel der ehemaligen Sonderschülerinnen - gegenüber der Hälfte bis zwei Drittel der ehemaligen Hauptschülerinnen - erreichten eine abgeschlosene Berufsausbildung.[120]

Wie hoch der Anteil der SonderschülerInnen ist, der sich auf Un- bzw. Angelernte sowie auf Lehrberufe verteilt, wird in hohem Maße von verschiedenen Faktoren mitbestimmt: der Wirtschaftsentwicklung, der Arbeitsmarktsituation, den unterschiedlichen regionalen Bedingungen sowie dem persönlichen Engagement von LehrerInnen und Eltern u.a.m. Dennoch bestätigen die meisten Untersuchungen die negativen Einschätzungen hinsichtlich des tatsächlichen Lehrabschlusses:

Die Ergebnisse empirischer Arbeiten sind weniger positiv: Nach Klauer treten 90% der Lernbehinderten in ein Arbeitsverhältnis ein. 50% beginnen als Ungelernte eine Tätigkeit; von den 40%, die eine Lehre beginnen, ist nach Klauer nur etwa ein Neuntel erfolgreich. (Vgl. Josef Klauer u.a., Berufe- und Lebensbewährung ehemaliger Hilfsschulkinder, Berlin 1963)[121]

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein hoher Anteil der SonderschülerInnen im Bau- und Baunebengewerbe, sowie in traditionellen Handwerksberufen ausgebildet wird. Die weitgehend schlechte berufliche Situation von (ausgebildeten) SonderschülerInnen zeigt sich bei Forster, wenn er in seiner Studie belegt, dass "sich von den Sonderschulabgängern über die Hälfte, von den Hauptschulabgängern etwa zwei Fünftel nicht wieder für diesen Beruf entscheiden [würden]", wobei "zu große Belastungen - v.a. durch die Art der Tätigkeit - und zu geringe Bezahlung der Hauptgrund ihrer Unzufriedenheit [waren]."[122]

Ähnliches bestätigt auch Marquart, und sie meint, man müsse berücksichtigen, dass

der überwiegende Teil der Auszubildenden in Handwerksberufen ausgebildet wird: etwa 80%. Im wesentlichen kommen - nach ihren Aussagen [damit sind Vertreter des Arbeitsamtes gemeint, Anm. des Verf.] - nur folgende Bereiche von Ausbildungsberufen für Sonderschüler in Frage: Bau- und Baunebenberufe (Maler und Lackierer, Zimmerer etc.), Schlosser- und Mechanikerberufe, diverse Ausbildungsberufe wie Bäcker, Gärtner, Friseur, Verkäufer (für die beiden letzteren kommen vor allem Mädchen in Betracht). Auch die Ergebnisse einzelner Untersuchungen zeigen deutlich, daß die Auszubildenden unter den Sonderschülern nur den untersten Bereich der Ausbildungsmöglichkeiten abdecken.[123]

Mit Ausnahme von Christof, der als gelernter Facharbeiter im Baunebengewerbe arbeitet, sind alle Interviewpartner in angelernten Bereichen tätig, und zwar ausschließlich in solchen, wie sie auch oben von Marquart zitiert werden. Wenn sogar jene SonderschülerInnen, die eine Berufsausbildung absolviert haben, mit ihren Arbeits- und Lohnbedingungen und der Art des Arbeitseinsatzes unzufrieden sind, so muss das vermehrt für jene zutreffen, die als ungelernte Erwerbstätige den unspezifischen Randbereichen auf dem Arbeitsmarkt zugeordnet werden.

Die Trennung von Schule und Arbeitswelt ist beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass eine "Schnupperlehre" für SonderschülerInnen nicht vorgesehen ist, obwohl gerade dieses Angebot verstärkt Beziehungen zwischen beiden Bereichen herstellen könnte. Davids freiwillige Schnupperlehre während der Semesterferien seines letztes Schuljahres in einem Malereibetrieb stellen in diesem Zusammenhang eine Besonderheit dar. Seine Erkenntnis, dass er diesen Beruf nicht erlernen möchte und der abrupte Übergang von der "besonderen" Schulsituation in die "normale" Arbeitswelt machen ihm in der Berufseinmündungsphase jedoch zusätzliche Schwierigkeiten, zumal er, der eigentlich Maler werden wollte, jetzt in der Berufswahl alleingelassen und überfordert ist. David probiert daher mehrere Arbeitsmöglichkeiten aus und wechselt die Betriebe relativ häufig, wodurch er in eine Situation gerät, die Marquart als "weitgehendes Scheitern, unstetige, ungelernte Erwerbstätigkeit"[124]definiert:

Der ehemalige Sonderschüler, dem in der ersten Arbeitsstelle gekündigt worden ist oder der selbst gekündigt hat, ist für den Arbeitsmarkt in spezifischer Weise definiert und wird marginalen Bereichen zugeordnet, in denen sich die Betriebe seine schwache Arbeitsmarktposition zunutze machen können. Der betriebliche Einsatz an Arbeitsplätzen mit besonders schlechten Arbeitsbedingungen erhöht wiederum seine Bereitschaft, eher zu kündigen oder - durch negatives Arbeitsverhalten - die Gefahr, eher gekündigt zu werden.[125]

Wenn David einen Arbeitsplatz verlässt oder verlassen muss, dann ist er sehr bemüht, sofort wieder eine Anstellung zu finden. Arbeitslos zu sein, würde seine Identität noch mehr in Frage stellen, daher nimmt er auch Angebote an, die ungünstig hinsichtlich der Art der Tätigkeit und des Lohnniveaus sind. Ähnliches gilt auch für Hannes, der als Berufsschulabbrecher den Status eines Gesellen nicht erreicht hat und anschließend in verschiedenen Tätigkeiten beschäftigt war. Auch bei äußerst ungünstigen Arbeitsbedingungen und geringem Lohn ist er sehr bemüht, seine Arbeit möglichst gut zu verrichten, denn jede neuerliche Kündigung und Arbeitslosigkeit entwertet auch ihn in seiner Identität. Wenn er schon in der Berufsschule versagt hat, so muss er umso mehr beweisen, dass er zu einer Beschäftigung fähig ist, auch wenn die Bedingungen so schlecht sind, dass sich ihm der Vergleich mit einer Strafversetzung nach Sibirien aufdrängt. Marquart würde seine Situation als "teilweises Scheitern, stetige ungelernte Tätigkeit"[126]beschreiben:

Diese Situation gilt für mehr als die Hälfte der ehemaligen Sonderschüler. Sie betrifft vor allen Dingen die als Jungarbeiter beschäftigten Sonderschüler, die nicht auffällig werden, die geringe Zahl der Lehrabbrecher und die große Zahl der potentiellen Lehrabbrecher, das heißt die Jugendlichen, die vermutlich die Lehrausbildung nicht schaffen, aber dennoch von den Firmen weiterhin als billige Arbeitskraft beschäftigt werden, obgleich es unwahrscheinlich ist, daß sie die Abschlußprüfung schaffen.[127]

Es ist bemerkenswert, wie Robert, David und Hannes es schaffen, unauffällig zu bleiben: Sie weisen sehr geringe Arbeitslosenzeiten auf und gehen als fleißige Arbeitnehmer ihrer Tätigkeit nach, beschweren sich kaum über die Arbeitsbedingungen und verhalten sich ihren Arbeitgebern gegenüber loyal. Auch ihre Eltern sind erfreut darüber, dass sie sich in den normalen Arbeitsmarkt integriert haben und nicht daran gescheitert sind. Das Scheitern wird offensichtlich erst bei länger anhaltender Arbeitslosigkeit vermutet. Alle drei Sonderschulabgänger haben sich an die Bedingungen des Arbeitsmarktes angepasst, nicht zuletzt deshalb, weil sie große Angst vor einer drohenden Beschäftigungslosigkeit haben.

Tatsächlich erscheint diese Gruppe zunächst als integrierter Teil der Berufswelt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß ihre Arbeits- und Lohnbedingungen äußerst negativ sind. Außerdem ist sie in ihrer Arbeitsplatzsicherheit extrem gefährdet und in ihrer Mobilität auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt.[128]

Die Sonderstellung, die Christof durchgängig einnimmt, korreliert mit seiner sozialen Herkunft sowie damit, dass es ihm gelungen ist, den Status "lernbehinderter Sonderschüler" zu überwinden. Beide Elternteile und seine Schwester arbeiten in erlernten Berufen, seine Familie unterstützte und unterstützt ihn in finanzieller und ideeller Hinsicht. Seine Schwester hat eine weiterführende Schule besucht und konnte ihm daher auch bei schulischen Problemen zur Seite stehen, darüber hinaus organisierten die Eltern Nachhilfeunterricht für ihren Sohn. Seine sozioökonomische Sonderstellung unter seinen MitschülerInnen erklärt, dass er als einziger bereits vor seinem Schulabschluss eine Lehrstelle in Aussicht hatte, die er tatsächlich angetreten und auch abgeschlossen hat. Sein Verhalten und das seiner Familie ist uncharakteristisch, verglichen mit dem größeren Anteil von SonderschulabgängerInnen und deren Eltern, "die sich (noch) nicht über Berufs- oder Tätigkeitsmöglichkeiten für ihr Kind informiert hatten".[129]Hinsichtlich der Berufsinformation ermittelt Forster eine Chancenungleichheit zwischen Hauptschul- und SonderschulabgängerInnen, die durch ihre familiäre Situation mitverursacht ist.

Die Eltern von Sonderschülern hatten eher niedrige berufliche Stellungen inne; der Anteil unqualifizierter Arbeiter lag unter Müttern und Vätern von Sonderschulabgängern bei durchschnittlich 56 % bzw. 44 % und war damit um je ca. 20 % höher als in einer Vergleichsgruppe von Hauptschülern. [...] Die Väter der Sonderschüler waren häufiger aktuell nicht erwerbstätig bzw. im Laufe ihres Lebens nicht immer erwerbstätig gewesen. Der niedrigeren beruflichen Stellung der Sonderschüler-Eltern entsprach ihre durchschnittlich geringere Schulbildung.[130]

Wenn man Christofs Berufssituation mit der seiner MitschülerInnen vergleicht, so scheint sie jedenfalls ungleich günstiger zu sein; sein Status und seine Verdienstmöglichkeiten sind besser, auch andere berufliche Möglichkeiten scheinen ihm offenzustehen. Er zählt zu jener Minderheit von ehemaligen SonderschülerInnen, die eine Berufsausbildung schaffen und damit bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Marquart bezeichnet den Abschluß einer Berufsausbildung dennoch nur als relativen Erfolg für SonderschülerInnen, weil trotzdem für sie gewisse Einschränkungen am Arbeitsmarkt weiter bestehen.

Eine Minderheit stellt die Gruppe unter den Sonderschülern dar, die ihre Ausbildung schafft. Die Schätzungen aufgrund empirischer Untersuchungen reichen hier von 5 bis 25% der Auszubildenden bei Sonderschülern. Diese ehemaligen Sonderschüler gelten nach Ausbildungsschluß als qualifizierte Arbeitskräfte, für sie ist der Status der Lernbehinderung nach erfolgreicher Beendigung der Lehre faktisch aufgehoben. Unter den ehemaligen Sonderschülern nehmen sie eine relativ privilegierte Stellung ein, da es ihnen gelungen ist, ihre Defizite auszugleichen und den Status des "Behinderten" loszuwerden. Innerhalb der qualifizierten Arbeitskräfte besetzen sie allerdings nur den untersten Bereiche. So erhalten sie fast nur Lehrausbildungen im Bereich des Handwerks, oft in sogenannten Dead-end- oder unattraktiven Berufen.[131]

Robert hat nur einmal den Arbeitsplatz gewechselt. Er weiß um seine Stellung als Hilfsarbeiter am Arbeitsmarkt und schätzt seine Chancen sehr realistisch ein. Die sozioökonomische Situation seiner Familie - der Vater führt einen landwirtschaftlichen Betrieb, die Mutter arbeitet zusätzlich in einer Fabrik - hat ihn während seiner gesamten Schul- und Berufsausbildungszeit schon belastet, da seine Arbeitskraft am elterlichen Bauernhof notwendig war. Bis heute arbeitet er neben seiner Berufstätigkeit zu Hause mit.

Christof verdient nicht nur am meisten von den vier Interviewpartnern, er findet seine Bezahlung auch angemessen. Neben den schlechten Arbeitsbedingungen kritisieren die drei anderen vor allem die schlechte Entlohnung, die sich aller Voraussicht nach nicht verbessern wird. Gerade in Zeiten konjunkturschwacher Wirtschaftsentwicklung ist eine Anpassung an den Arbeitsmarkt geboten, denn die unteren Einkommensgruppen sind permanent mit drohender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Hannes, Robert und David haben sich offenbar in der Zwischenzeit an die schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen gewöhnt und ihre Randständigkeit in der Arbeitswelt internalisiert.

Laut Marquart ist die Berufseinmündungsphase von SonderschülerInnen sowie deren Arbeitssituation durch negative Selektivität gekennzeichnet:

Diese negative Selektivität äußert sich in einem geringen Angebot an möglichen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen von betrieblicher Seite und in einem erschwerten Zugang zu vielen Betrieben, in verminderten Verdienstchancen, in schlechten Arbeitsbedingungen, in geringen Möglichkeiten, nachschulische positive Lernprozesse zu durchlaufen, in minimalen Erfolgschancen in beruflichen Laufbahnen und Berufsabschlüssen.

Die negative Selektivität der Berufseinmündungsphase findet ihre Entsprechung in materiellen, sozialen und psychischen Einengungen und Unsicherheiten.[132]

Robert erachtet seinen Verdienst als unzureichend, denn dieser würde für eine Familie mit den üblichen Standards kaum ausreichen. Die schlechte Einkommenssituation der drei Interviewpartner mag mit ein Grund dafür sein, dass sie alle noch in der elterlichen Wohnung leben und keinen eigenen Haushalt führen.

7.2 Arbeitslosigkeit, Arbeitssuche, Bewerbungen und Lebenslauf

7.2.1 Deskription

Hannes war nie lange arbeitslos, insgesamt höchstens drei Monate innerhalb von sieben

Arbeitsjahren. Da er hochmotiviert war, einen Arbeitsplatz zu finden, ist ihm das stets sehr schnell gelungen. Wenn er eine Arbeitsstelle verloren hat, konsultierte er entweder das Arbeitsamt oder schaute in der Zeitung nach. Auch mit Vorstellungsgesprächen hatte er eigentlich nie Probleme, und zwar weil [er]da sicherlich recht positiv eingestellt [ist], weil [er sich denkt], wenn [er sich]vorstellen [geht], es gibt im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Entweder [er bekommt]den Job oder [er bekommt]ihn nicht. Er freut sich, wenn er den Job bekommt, und wenn das nicht der Fall ist, dann geht die Welt auch nicht unter, aufhängen [wird er sich]auch nicht gleich. Er ist auch ziemlich selbstsicher bezüglich seiner Schulkarriere, denn er hat nichts zu verheimlichen und damit ist das sicher kein Problem, das Vorstellen. Obwohl Hannes das Problem nie hatte, kann [er sich]durchaus vorstellen, dass, wenn du dich jetzt vorstellen gehst für eine Lehre und, ja Sonderschule, also dass der Arbeitgeber da nicht gar so begeistert ist. Allerdings hat er einmal erlebt, dass bei einer Bewerbung ein Fragebogen ausgefüllt werden musste, wo nach besonderen Fähigkeiten des Bewerbers gefragt wurde. [Er hat]dann gefragt, was da gemeint ist mit den besonderen Fähigkeiten. Ja, ob [er] (...) Schreibmaschine schreiben zum Beispiel kann. Das haben [sie]ja auch nicht gehabt. Also gewisse Firmen haben schon Kriterien, wo wirklich du als Sonderschüler an der Mauer stehst, wo du sagst, tut mir leid, also die und die Forderungen kann ich nicht erfüllen. Also sicher, von der schulischen Ausbildung her ist es sicher vom Arbeitsmarkt her nicht optimal, weil einfach der Stoff viel zu wenig war.

Auch Christof war nie arbeitslos. Charakteristisch für eine Tätigkeit im Baunebengewerbe ist allerdings eine Winterpause, was sich negativ auf sein Einkommen auswirkt. Blöd ist dann jetzt die Zeit, so ja Weihnachten, da muss man oft stempeln, wenn wenig Arbeit herum ist. Letztes Jahr [hat er]dreieinhalb Monate gestempelt. Natürlich ist eine dreimonatige Arbeitspause nicht von Vorteil, weil man viel Geld braucht und aufpassen muss, dass man nicht ins Minus kommt. Christof hat nur einmal die Firma gewechselt, und zwar zu einem ehemaligen Mitarbeiter, der sich selbständig gemacht hat. Sie kannten sich ein bisschen, und bei der Bewerbung hat Christof eigentlich gar kein Zeugnis vorgelegt und so. [Er ist]hingegangen, vorgestellt, hat mich eh gekannt noch vom Sehen. Dann hat er gesagt, kannst dann kommen. Bei der Bewerbung um die Lehrstelle hat Christof nur das Polyzeugnis und das Hauptschulzeugnis gezeigt, und das war ganz okay, der hat mich gleich genommen. Einen Lebenslauf musste Christof nie verfassen, außer nur in der Schule, und in der Berufsschule haben [sie]es auch gelernt.

Auf die Frage, was er bezüglich seiner Schulkarriere hineingeschrieben habe, meint er, dass [er]das gar nicht mehrweiß, aber wenn [er]jetzt einen schreiben würde, dann würde [er]es auch nicht hineinschreiben, dass er die Sonderschule besucht hat. Er würde diese Schulzeit auf alle Fälle nicht erwähnen, weil [er]ja einen Hauptschulabschluss [hat]. Damit ist die Schulzeit in der Sonderschule aufgehoben. [Er ist]einfach acht Jahre Pflichtschule, oder vier Klassen Volksschule, vier Klassen Hauptschule und danach besuchte [er]das Poly. Und fertig. Weil nach den anderen wird er nicht nachfragen, nach den vier Klassen und die anderen sind, ist eh das wichtigste das vierte Zeugnis und das Poly.

David hat einmal einen Lebenslauf verfasst, ungefähr den gleichen wie in der Sonderschule, nur den Wortsatz ein bisschen geändert. Sein Bruder hat ihm dabei super geholfen,was [er]da alles [braucht]und wie [er]schreiben soll. Auf diese schriftliche Bewerbung hat David nie eine Antwort erhalten, wahrscheinlich wegen dem Aufnahmestop, da dürfen sie keine mehr aufnehmen beim Land. Bei einem Bewerbungsgespräch hätte David das Abschlusszeugnis der Sonderschule vorlegen müssen, und dabei hat er sich schon gedacht, das Zeugnis jetzt herzeigen, die lesen das sicher. Da hat er sich schon ein bisschen benachteiligt vielleicht gefühlt, aber dazu ist es nie gekommen eigentlich, dass [er]es [herzeigt].

Auch bei den anderen Firmen hat [er sich]einfach beworben, und sie haben gesagt, sie rufen [ihn]zurück. Im Personalbüro haben sie die Daten alle aufgenommen, aber von der Schule eigentlich her, haben sie [ihn]eigentlich, nie eigentlich so gefragt. Und darüber ist David natürlich auch froh gewesen, weil es ihm nicht angenehm war, seine Schulkarriere zu veröffentlichen. David hat seinen Arbeitsplatz seit seinem Schulabschluss fünfmal gewechselt. Obwohl seine Brüder den Arbeitsplatz nicht so oft gewechselt haben, findet er es nicht ungewöhnlich, den Arbeitsplatz häufig zu wechseln, denn es ist halt mühsam, bis man das Richtige findet, wo man halbwegs drinnen ist. Es ist auch nicht seine Schuld, denn [er]wäre bei der Getränkefirma vielleicht auch geblieben, aber dann haben sie halt die Leute abgebaut, genauso wie in der folgenden Firma, das war auch nur vorübergehend, weil sie eben Leute abgebaut haben. Arbeit hat David immer gehabt, sogar unterm Bundesheer hat er sich beworben, damit er gleich nach dem Abrüsten wieder einen Arbeitsplatz hat. Arbeitslos war ich nie. Nein. Gar nie, gar nie. Arbeitsplätze sucht er über das Arbeitsamt und über die Zeitung, wenn eine Annonce in der Zeitung ist, hat David einfach angerufen.

Nachdem Robert seinen ersten Arbeitsplatz gekündigt hat, war er ein halbes Jahr arbeitslos. Einmal [hat er sich]schriftlich beworben, da bekommt man ein Formular zum Ausfüllen. Für seine Bewerbung bei der Stadtgemeinde hat er einen Lebenslauf verfasst. [Er hat]die Vorlage gehabt, [sie]haben ein Buch gehabt von der Berufsschule, da war so eine Vorlage drinnen, so ungefähr gleich [hat er]den dann abgeschrieben. Für Robert war es kein Problem, im Lebenslauf seine Schullaufbahn anzuführen. Während seiner Arbeitslosigkeit hatte er keine Angst davor, keine Stelle mehr zu finden. [Er]wollte den Staplerschein machen und [hat sich]beworben und alles, dann wäre [er]halt so wie der D. ins Lager gegangen oder so. Also dass [er]keine Arbeit [findet], davor hätte [er]nie Angst gehabt. [Er hat]auch jetzt keine Angst, also wenn [er]jetzt gekündigt würde oder was, das wäre für [ihn]kein Problem. Das hängt auch damit zusammen, dass Robert immer schon am elterlichen Bauernhof mitarbeiten musste und daher auch daheim bleiben kann. Neben seiner Erwerbsarbeit arbeitet er mindestens drei Stunden am Tag am Bauernhof. Da [geht er]auch heim essen schnell und dann noch ein bisschen arbeiten auch. Dann das ganze Wochenende halt und der Sonntag halt. Sonntag in der Früh, dann am Sonntag das Futter herrichten und am Sonntag abends wieder. Der ganze Urlaub (...) und der Zeitausgleich.

7.2.2 Interpretation

Robert weist die längste durchgängige Arbeitslosigkeit auf, weil er die Arbeitskraft seines Vaters, der wegen eines längeren Krankenhausaufenthaltes verhindert war, am elterlichen Bauernhof ersetzen musste. Aufgrund seiner zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeit am Bauernhof nimmt Robert auch eine drohende Arbeitslosigkeit eher gelassen zur Kenntnis. Hannes und David dagegen sind bemüht, nicht durch längere Arbeitslosigkeit aufzufallen. Da ihnen schon während ihrer Schulzeit "Schulleistungsschwäche" attestiert wurde und sie auch an der Berufsausbildung scheiterten, liegt es nahe, dass sie die an sie herangetragene Identität des Versagers von sich weisen. Beide wissen um ihre schlechte Stellung am Arbeitsmarkt und bemühen sich daher umso mehr, die Zuschreibung "arbeitslos" oder "arbeitsscheu" nicht Teil ihrer Identität werden zu lassen. Gerade weil sie in der Schule versagt haben, wollen sie allen beweisen, dass sie etwas leisten wollen und können.

David beteuert im Zusammenhang mit dem häufigen Wechsel seines Arbeitsplatzes, dass ihn daran keine Schuld trifft, denn die Firmen haben als betriebliche Maßnahme Arbeitskräfte abgebaut. Dabei kommt zum Ausdruck, dass David dazu neigt, Kündigungen als eigenes Versagen zu objektivieren, auch wenn sie aus strukturellen Gründen ausgesprochen werden. Entsprechend der schulischen Versagenskette, die David ausschließlich in seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit begründet sieht, perpetuiert er dieses Denken in seinen Arbeitsverhältnissen. Obwohl er durchaus einen Zusammenhang zwischen seiner Schulausbildung und den späteren Arbeitsmöglichkeiten sieht - was darin zum Ausdruck kommt, dass er sich durch das Sonderschulzeugnis benachteiligt fühlt - kann er im Alltag sein individuelles Versagen nur durch ein verstärktes Leistungsverhalten am Arbeitsplatz wettmachen. Wenn er ein Arbeitsverhältnis beenden muss, dann unternimmt er alles, um möglichst bald wieder einer geregelten Beschäftigung nachgehen zu können. Mittlerweile ist er auch routiniert darin, über das Arbeitsamt und einschlägige Annoncen in der Zeitung eine neue Beschäftigung zu finden.

Auch Hannes hat seine Austauschbarkeit am Arbeitsmarkt bereits erlebt und hat daher wie David ein gewisses Maß an Wendigkeit erreicht, wenn es darum geht, eine Anstellung zu finden. Weil auch er seine Beschäftigungsmöglichkeiten am unteren Ende angesiedelt sieht, ist Hannes eher offensiv bezüglich der Offenlegung seines Sonderschulbesuches. Durch den Verweis auf nur kurze Phasen von Arbeitslosigkeit und dadurch, dass ihm grundsätzlich keine Tätigkeit zu minderwertig ist, kann er beweisen, dass er ein hochmotivierter Arbeiter ist. Vorstellungsgespräche sieht er als gute Möglichkeit, sich einem Arbeitgeber, der über den Sonderschulbesuch des Bewerbers eventuell nicht begeistert ist, als selbstbewusster und fähiger Arbeiter zu präsentieren. Bemerkenswert ist hier wiederum, dass Hannes den Zusammenhang zwischen der schulischen Ausbildung und den Möglichkeiten am Arbeitsmarkt durchaus sieht. Er kritisiert, dass der minimierte Lehrstoff der Sonderschule ihn auch hinsichtlich des Angebotes am Arbeitsmarkt beschränkt, sodass also auch strukturelle Gründe für seine schlechte berufliche Stellung maßgebend sind.

Christof hat den Status "Sonderschüler", der ihm eine Lernbehinderung und damit eine Sonderstellung zuschreibt, hinter sich gelassen. Aufgrund seiner abgeschlossenen Berufsausbildung hat er innerhalb seiner Tätigkeit denselben Status erreicht wie alle, die mit ihm zusammenarbeiten. Bei Bewerbungen legte er seine letzten Schulzeugnisse vor, was nur zwei Mal der Fall war, denn seine relativ günstige Stellung macht es nicht erforderlich, den Arbeitsplatz häufig zu wechseln. Die Frage, ob er schon einmal einen Lebenslauf im Zusammenhang mit einer Bewerbung verfasst habe, verneint Christof und schließt zugleich aus, dass er seinen Sonderschulbesuch in einem Lebenslauf erwähnen würde. Christof ist intensiv bemüht, den Status, den er erreicht hat, nicht zu gefährden. Durch seinen Hauptschulabschluss ist er nicht mehr so leicht diskreditierbar wie alle übrigen Interviewpartner und gewissermaßen sogar dazu berechtigt, im Lebenslauf seine Schullaufbahn umzuschreiben. Er setzt in jedem Lebenszusammenhang alles daran, die ihm früher einmal angetragene Identität eines Sonderschülers abzuwehren und ist bemüht, nicht in einer Art aufzufallen, die seine Identität als "normaler" junger Facharbeiter gefährden könnte.

7.3 Berufsvorstellungen und Wunschberufe

7.3.1 Deskription

Hannes hat bis zum Ende seiner Sonderschulzeit nicht gewusst, was [er]überhaupt tun soll, wobei nach den frustrierenden Schuljahren der Wunsch nach einer Arbeitsstelle deutlich in den Vordergrund rückte. Ja, freilich. Das war klar, also arbeiten gehen schon. Also arbeiten gehen schon, das war immer schon klar, nur [hat er sich]bis zum Schluss nicht Gedanken gemacht, ja was eigentlich? Sein Traumberuf war Tankwart, der Beruf hat [ihn]irgendwie fasziniert, obwohl er weiß, dass sich das irgendwie komisch anhört. Aber das ist deshalb gewesen, weil [er]drei Onkel [hat], die Tankwart sind und [er]viel auf der Tankstelle war. Hannes hat zwar weniger durch eigene Mithilfe als durch Zuschauen eine genaue Kenntnis der Tätigkeiten eines Tankwartes: So Auto putzen mit dem Dampfstrahler und Auto putzen also und tanken und kassieren nachher und teilweise auch so verkaufen. Natürlich weiß er auch, dass das kein Beruf war, den man erlernt. Es war eigentlich Anlernberuf, kurz gesagt Hilfsarbeiterberuf, aber irgendwie,hat [ihn]das fasziniert.

Im Gespräch mit einem Freund wurde Hannes darauf hingewiesen, dass das eine schmutzige Arbeit sei. Aber für Hannes war es nie ein Kriterium einen Job auszusuchen nach dem, ob [er]jetzt dreckig [wird]oder nicht, weil das war [ihm]immer egal, ob das eine dreckige oder eine saubere Arbeit ist. Hannes erwähnt, dass er einmal Metzger werden wollte, bis er eines Tages ein Foto von einem Metzger gesehen habe, wo auch eine Kuh so verkehrt dagehangen ist, ohne Kopf und in der Mitte aufgeschlitzt. [Sein]Wunsch Metzger zu werden, hat sich mit einem Schlag erledigt. Als weiteren Berufswunsch äußert Hannes, was [er]dann gerne gemacht hätte, nach Tankwart, wäre irgendetwas gewesen, wo [er]den Leuten helfen kann. Sei es jetzt in einem Altersheim, in einem Kinderheim, irgend etwas, wo [er sich]wirklich (...) jetzt nützlich machen kann, nicht in dem Sinn, dass [er]jetzt einen Kasten [macht]oder irgendwas, sondern wirklich den Leuten nützlich sein kann. Dass [er]jetzt alten Menschen [hilft]oder kranken Leuten [hilft]oder so etwas, also das wäre für [ihn]danach auch noch gewesen.

Um die Arbeit in einem Sozialberuf weiß Hannes gut Bescheid, weil sein Bruder gerade die Ausbildung zum Diplomkrankenpfleger absolviert hat und sein Vater als Pflegehelfer in einem Krankenhaus arbeitet. Beide reden zwar nicht über ihre Tätigkeit und die Arbeit selber kennt Hannes daher nicht, nur in so groben Umzügen, den Leuten teilweise das Essen bringen, aufwecken, trocken machen teilweise, mit den Patienten spazieren gehen, so grob gesehen schon. Und auch die Tatsache, dass diese Arbeit seinen Vater wirklich psychisch total teilweise fertig gemacht hat, weil er andauernd diese Leute sieht, die sich wirklich nicht mehr helfen können, die total verloren sind, hat Hannes überhaupt nicht abgeschreckt. Arme Leute schrecken [ihn]nicht ab, sondern im Gegenteil, wenn [er sieht], okay, der Mensch ist jetzt total hilflos, das schreckt [ihn]nicht ab, sondern eher, wie gesagt, zieht [ihn]an, weil [ihm]vorkommt, irgend jemand muss ja diesem Menschen helfen. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass Hannes sich überaus liebevoll um seine jüngere Schwester, die körperlich und geistig behindert ist, kümmert. Auch die Nähe zu seiner Schwester, die seine größte Freundin ist, hat möglicherweise diesen Berufswunsch mitbestimmt, wobei [er]aber damals schon nicht in so einen Beruf hineingekommen [ist], wiederum wegen der Sonderschule, also weil du überall da spezielle Schulen brauchst.

Christofs Vater ist Schlosser und einmal ist er mit ihm zu dessen Arbeitsplatz mitgekommen, aber Schlosser hat [ihn]nicht interessiert. Seine Eltern haben ihm die Entscheidung über den richtigen Beruf selbst überlassen. Obwohl Christof mit seiner beruflichen Situation zufrieden ist, kann er sich gut vorstellen, dass er einmal den Beruf wechselt. Ich glaube schon, dass sich das noch einmal ändert. (...) Also, [er]kann [sich]nicht vorstellen, dass [er]es fünzig oder vierzig Jahre [macht], wegen den Knien auch. Derzeit weiß [er]eigentlich nicht, was er noch machen könnte, aber wenn [er]etwas umlernen würde, würde [er]zuerst beim Arbeitsamt schauen, was es alles gibt. Der Beruf seiner Schwester, die im Sporthandel tätig ist, würde ihm auch gefallen. Es wäre schon toll, irgend etwas mit Sport machen, zum Beispiel als Vertreter von Geschäft zu Geschäft fahren, das wäre auch ganz lässig, eigentlich.

Die Arbeit, die David jetzt macht, passt [ihm]schon ganz gut, aber sie ist auch nicht vielleicht das. [Er]möchte so Kraftfahrer oder so, das wäre schon etwas, LKW-Fahrer oder so etwas. Er verfügt nur über den B-Führerschein, aber wenn der Chef von sich aus sagt, [er]soll den LKW-Schein machen, dann [macht er]ihn. Leider wird David in seiner Firma als Staplerfahrer und nicht als LKW-Fahrer gebraucht. Wenn [er sagt], jetzt [geht er]LKW fahren, dann heißt es: "Ja gut, dann gehe, weil da brauche ich keinen LKW-Fahrer." Das täte[er]gerne, aber aufgrund der Umstände muss es momentan so bleiben. Hätte sich David eine Lehre aussuchen können, wäre er gerne Maurer geworden. Auch sein Vater, der als angelernter Hilfspfleger in einem Krankenhaus arbeitet, möchte gerne, dass er Maurer gelernt hätte. Er hat mehrere Häuser gebaut, und er redet immer nur mehr vom Hausbauen und Mauern und das ist eben für ihn sein Leben. Er hat schon einmal gesagt, wenn er noch einmal jung wäre, dann würde er Maurer lernen.

Robert weiß, dass er durch seine abgebrochene Lehre als Hilfsarbeiter am Arbeitsmarkt sehr geringe Chancen hat. Deshalb hadert er immer noch mit sich, ob er nicht die Lehre abschließen soll, denn es geht ihm einfach um den Gesellenbrief. Zusätzlich zu seinem Beruf ist er im elterlichen Nebenerwerbsbauernhof tätig. Von den Berufen seiner Schulkollegen würde ihm am ehesten der von David zusagen, als Staplerfahrer bei einer Baufirma. Der Portierposten von Hannes sagt [ihm]überhaupt nichts, nein, gar nichts. Seine Angst vor der eigenen Austauschbarkeit kommt auch zum Ausdruck, wenn er meint, dass man sicherlich jederzeit irgendeine Arbeit finden könne. Sicher findest du Arbeit, in die Fabrik hineingehen schichteln und so. Geht sicher, aber dafür [ist er]nicht der Typ, das gefällt [ihm]nicht.

7.3.2 Interpretation

Unter den SonderschülerInnen besteht gegen Ende ihrer Schulpflicht häufig eine ungenaue Vorstellung hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft, nur wenige haben zu diesem Zeitpunkt bereits einen fixen Ausbildungsplatz organisiert. Rudolf Forster hat bezüglich des Wissens über die eigene berufliche Zukunft von SonderschülerInnen folgendes ermittelt:

In der Kontrollgruppe [der Hauptschüler, Anm. des Verf.] gaben fast alle befragten Schulabgänger kurz vor Schulende sowohl einen Berufswunsch als auch eine voraussichtliche berufliche Tätigkeit an. Unter den Sonderschulabgängern lag der Anteil von Personen, die keinen Berufswunsch angaben bei 10%, über ihre voraussichtliche Tätigkeit konnten 13% der Sonderschulabgänger keine Angaben machen. [...] Bei den Eltern der Sonderschulabgänger war die Unklarheit über die berufliche Zukunft ihrer Kinder ebenfalls stärker ausgeprägt als bei den Eltern der Kontrollgruppe: So äußerte etwa ein Viertel der Befragten keinen Berufswunsch für ihr Kind, das waren durchschnittlich doppelt so viele wie in der Kontrollgruppe.[133]

Auch Hannes hat keine genaue Berufsvorstellung, sondern nur den unspezifischen Wunsch, arbeiten zu gehen. Es fehlen ihm das Bewusstsein über seine eigenen Fähigkeiten sowie eine genaue Vorstellung von der Arbeitswelt. Alle vier orientieren sich an den Berufsdispositionen, die sie in ihrer Familie vorfinden. Christof hat als einziger schon vor Schulende einen Ausbildungsplatz, Robert findet seinen Ausbildungsplatz erst etwas später, und für Hannes und David beginnt nach der Schulentlassung ein Berufsfindungsprozess, der von einer gewissen Hilflosigkeit gekennzeichnet ist.

Zwar besteht generell eine Hilflosigkeit und Diffusität der Jugendlichen beim Übergang von der Schule in den Beruf - die Desorientierung schulentlassener Jugendlicher bei der Berufswahl ist hinlänglich bekannt -, bei den Sonderschülern ist dies jedoch in verstärktem Maße der Fall. Der Sonderschüler besitzt im Hinblick auf den Berufswahlprozeß und der damit verbundenen Probleme äußerst geringe Informationen. Eine eigene Informationsbeschaffung ist aufgrund der familiären Bedingungen kaum möglich. Die Folge ist, daß reflektierte Berufswünsche und

-vorstellungen nicht über das unmittelbar in der Nähe Vorfindbare hinausgehen können; die Restriktionen psychischer und materieller Art schränken den Gesichtskreis stark ein. Die Berufe der Eltern, ebenso wie die von Bekannten und Verwandten sind zumeist die einzigen Berufsmöglichkeiten, die überhaupt bekannt sind. Das gleiche gilt auch für die Kenntnisse und die typischen Vorstellungen von Betrieben.[134]

Hannes nimmt in mehrfacher Hinsicht bei seinen Verwandten Anleihe. Die Tätigkeit seiner Onkel, die eine Tankstelle betreiben, erlebt er als überschaubar und nachvollziehbar. Indem er Beobachtungen anstellt, kann er sich die Arbeitsgänge gut vorstellen, andere Berufe, die er nicht aus der Anschauung kennt, verlieren sich ins Abstrakte. Auch die Vorstellung, den Beruf eines Metzgers zu ergreifen, verwirft er erst, als er durch ein anschauliches Bild Einblick in den Vorgang einer Tierschlachtung erhält.

Hannes erwähnt einen weiteren Berufswunsch, der der Kategorie "Helferberufe" angehört; seine Vorstellung, dadurch anderen Menschen nützlich sein zu können, ist dabei motivationsleitend ist. Obwohl Hannes beobachten kann, dass sein Vater als Hilfspfleger den im Zusammenhang mit seiner Arbeit auftretenden starken psychischen Belastungen nur mit Mühe standhält, äußert er sich positiv optimistisch zu einer derartigen Tätigkeit. Auch Marquart stellt diese Tendenz zu Tier- und Kinderpflegeberufen bei einem Teil der SonderschülerInnen fest und vermutet dahinter kompensatorische Motive. In Helferberufen hätte Hannes mit Menschen zu tun, die, wie er selbst, auf eine bestimmte Art vom gesellschaftlichen Prozess depriviert und auf Unterstützung durch andere Menschen angewiesen sind. "Dahinter scheint die Hoffnung zu stehen, die eigene Hilflosigkeit relativieren zu können, angesichts der Abhängigkeit"[135] der Menschen, die in einer psychischen oder physischen Verfassung sind, die sie auf die Hilfe anderer verweist. Die Hilflosigkeit anderer erlebt Hannes als Anreiz zu helfen, zumal auch hier zutrifft, was weiter oben schon dargelegt wurde: Die Arbeit im Pflegebereich ist ihm bekannt und überschaubar, da sein Bruder und sein Vater einer derartigen Tätigkeit nachgehen und darüber hinaus auch seine Schwester, die physisch und geistig behindert ist, pflegende Hilfe braucht. Diesen Berufswunsch muss Hannes einmal mehr deshalb verwerfen, weil er dafür Ausbildungen absolvieren müsste, die ihm aufgrund seines Sonderschulbesuches jedoch nicht zugänglich sind.

Auch David bezieht sich hinsichtlich seines Berufswunsches auf den Vater. So wie dieser eigentlich Maurer werden wollte, aber keine Gelegenheit hatte, den Beruf zu erlernen, möchte auch David, wenn er es sich aussuchen könnte, diesen Beruf ergreifen. Zwei Gründe scheinen dafür ausschlaggebend zu sein: Zum einen spricht sein Vater häufig und gern über diesen Beruf, und zum anderen kennt David die entsprechende Tätigkeit gut aus der eigenen Anschauung, da er bei mehreren Brüdern auf der Baustelle mitgeholfen hat, als diese ihre Einfamilienhäuser errichteten. Als realistische Möglichkeit nennt er den Erwerb des LKW-Führerscheins, was im Zusammenhang mit seiner derzeitigen Tätigkeit als Staplerfahrer in einem Bauhof verständlich ist. David hat die Aufgabe, Lastkraftwagen mit Baumaterialien zu beladen. Vielleicht verbirgt sich hinter dem Wunsch nach dem Führerschein die Hoffnung, von seinem derzeitigen Arbeitsplatz wegzukommen, um eine interessantere Tätigkeit auszuführen? Jedenfalls schätzt er seine Möglichkeiten realistisch ein und perpetuiert ein Charakteristikum, das für SonderschülerInnen spezifisch ist: "Eine geringfügige Orientierung auf dem Arbeitsmarkt und das Fehlen einer langfristigen Berufsperspektive."[136]

Zusammenfassend läßt sich für den größten Teil der Sonderschüler feststellen, daß ihnen ihre reduzierte Umwelt kaum Möglichkeiten gibt, berufliche Orientierungen zu entwickeln; wenn dies doch der Fall ist, dann werden in der Mehrzahl nur solche Vorstellungen entwickelt, die vorwiegend aus kompensatorischen Bedürfnissen entspringen und die mit den realen Gegebenheiten wenig übereinstimmen. Das häusliche Niveau schränkt bei den Kindern die Herausbildung von auf die berufliche Entwicklung gerichteten Interessen ein; die materiellen Restriktionen reduzieren zusätzlich die Vorstellungen auf genau die Möglichkeiten, die in ihrer sozialen Umwelt gegeben sind. Auf diese Weise reproduziert die Mehrzahl in der Berufsvorstellung überwiegend nur ihre Sozialwelt, ohne über ihre Ausgangsposition hinausgelangen zu können.[137]



[119] Marquart, Regine: a.a.O., 15

[120] Forster, Rudolf: a.a.O., 49

[121] Marquart, Regine: a.a.O., 17

[122] Forster, Rudolf: a.a.O., 50

[123] Marquart, Regine: a.a.O., 17

[124] Marquart, Regine: a.a.O., 20

[125] Marquart, Regine: a.a.O., 20

[126] Marquart, Regine: a.a.O., 21

[127] Marquart, Regine: a.a.O., 21-22

[128] Marquart, Regine: a.a.O., 22

[129] Forster, Rudolf: a.a.O., 35

[130] Forster, Rudolf: a.a.O., 21-22

[131] Marquart, Regine: a.a.O., 23

[132] Marquart, Regine: a.a.O., 24

[133] Forster, Rudolf: a.a.O., 36

[134] Marquart, Regine: a.a.O., 43

[135] Marquart, Regine: a.a.O., 46

[136] Marquart, Regine: a.a.O., 46

[137] Marquart, Regine: a.a.O., 47

8 Ich erzähle niemandem, dass ich in der Sonderschule war

Im folgenden beschäftige ich mich mit der Etikettierung der ehemaligen Sonderschüler in spezifischen Alltagsinteraktionen, in denen ihre Stigmatisierung aufgedeckt und weiter festgeschrieben wird. Alle Interviewpartner haben im Alltag gelernt, ihre Schulgeschichte als Sonderschüler möglichst nicht zu veröffentlichen. Sie meiden Situationen, in denen sie als deviant identifiziert werden könnten, tarnen sich im Alltag und täuschen ihre Umwelt hinsichtlich ihrer Schulgeschichte. Sie betreiben sehr sorgfältig Stigma-Management, denn sie könnten leicht diskreditiert werden und sind im Alltag stets darauf bedacht, möglichst unauffällig zu sein, um eine weiterführende Ausgrenzung zu vermeiden, so gut es eben geht.

Auch Rudolf Forster hat das in seiner Studie festgestellt:

Ein Indikator für das Stigmatisierungspotential eines früheren Sonderschulbesuchs ergab sich in dieser Studie aus der Bereitschaft ehemaliger Sonderschüler, gegenüber einem unbekannten Interviewer, der die Anonymität der Angaben zusicherte, über dieses Faktum Auskunft zu geben: Nur knapp die Hälfte der erfaßten Sonderschulabgänger 1970 gab ihren Sonderschulbesuch bei der Frage nach ihrer schulischen Ausbildung an, weitere ca. 10% erst auf explizite Nachfrage. D.h. mehr als ein Drittel dieser Personen versuchte selbst für diese einmalige und folgenlose Interaktion der Einstufung als ehemaliger Sonderschüler zu entgehen.[138]

8.1 Die alltägliche Stigmatisierung

8.1.1 Deskription

In Alltagsinteraktionen, wie der Kontaktaufnahme mit anderen Menschen, ist Hannes

zwischen zwei Positionen zerrissen. Er vermeidet es nicht grundsätzlich, über seinen Sonderschulbesuch zu sprechen, aber er berichtet darüber auch nicht unmittelbar, wenn er jemanden kennenlernt. [Er sagt] es ihnen so, in der Richtung nicht sofort, dass [er] jetzt [sagt]: "Du horch, wir gehen jetzt ein paarmal aus, ich möchte, dass du das und das weißt." Also das nicht. Wenn jetzt aber zum Beispiel [er] jetzt, nehmen wir jetzt grad einmal her, jemanden kennenlernen täte und [sie] gehen aus, und es stellt sich die Frage, was [er] eigentlich für eine Schule [hat], um das jetzt einmal so zu sagen, dann [sagt er], ja, ganz normal die neun Jahre [ist er] Sonderschule gegangen, halt, also das [sagt er] schon, da [redet er] nicht lange um den heißen Brei herum. Weil, wie gesagt, [ihm] ist das egal, [er macht sich] da nichts draus.

Christofs Alltagsverhalten ist diesbezüglich konsequenter, denn er spricht grundsätzlich mit niemandem über seine frühere Schulbildung, da er ohnehin durch seinen Hauptschulabschluss und seine abgeschlossene Lehre "normalisiert" ist. Schon in der Berufsschule hat es nur einer gewusst, weil der ist ja auch Sonderschule gegangen. Die zwei Mitschüler haben sich gegenseitig gedeckt, denn fein ist es nicht, wenn es jemand weiß, irgendwie, besser gesagt. Von sich aus spricht er eigentlich nicht darüber, dass er in die Sonderschule gegangen ist, auch bei Bewerbungen und im Lebenslauf verschweigt er die Sonderschulzeit und keiner seiner Arbeitskollegen weiß davon. Auch seine Freunde, mit denen er seine Freizeit beim Snowboarden verbringt, wissen eigentlich nicht, dass Christof einmal die Sonderschule besucht hat. Er spricht mit niemandem über seine Schulzeit, denn die ist ohnehin vorbei und damit vergessen. Ja, genau. Ich frage Christof noch, ob er jemanden über die Schullaufbahn eines ihm bekannten Sonderschülers informieren würde. Nein, nein, sicher nicht, wehrt Christof ab, und er begründet sein Verhalten damit, dass vielleicht alle ein falsches Bild haben und meinen, da sind nur die Depperten drinnen oder so.

David kann über sich sagen, dass [er] in der Hauptschule gewesen [ist] und eben zwei Jahre nachher noch die Hilfsschule besucht [hat]. Aber eigentlich spricht auch er nicht darüber, außer man fragt [ihn], aber das fragt [ihn] jetzt eigentlich auch niemand. Auch bei Bewerbungen haben sie [ihn] eigentlich nie so gefragt, und darüber [ist er] auch froh gewesen. Auch David ist irritiert, als ich ihn frage, ob er neue Freundinnen und Freunde über seine Schullaufbahn informiert. Nein, nein, lieber nicht darüber reden. Und wenn es aber doch irgendwie zum Thema wird? Ja, dann [sagt er], wie es ist. Also, dass [er] halt Volksschule und die Hauptschule, die Hauptschule [hat er] nicht geschafft. Dann [hat er] halt doch (...), dann muss [er] es halt doch sagen. (...) Aber lieber (...) [läßt er] es im Dunkeln.

Robert zeigt in diesen Zusammenhang eine ambivalente Einstellung. Einerseits hat ihm die Sonderschule überhaupt nicht gefallen, andererseits hat er mit der Erwähnung, dass er in die Sonderschule gegangen ist, kein Problem, und die Leute reagieren darauf ganz normal. In dieser Eindeutigkeit kann es aber auch Robert nicht stehen lassen. Aber allen [sagt er] es nicht, [...] die [ihn] kennen, die wissen es eh alle, nicht? Und es sind sicher, die meisten haben es sicher schon wieder vergessen, oder, aber es ist ja egal, aber gesagt [hat er] es halt. Wenn Robert jemanden kennenlernt, dann sagt auch er das nicht gleich, nur dann, wenn es sich ergibt.

8.1.2 Interpretation

Die Devianzkarriere ist offensichtlich nur während der Schulzeit nachweisbar und beschränkt sich auf diese Zeit, da sie vorher und nachher nicht ohne weiteres sichtbar ist. Verhält sich das Kleinkind vor dem Schulbesuch noch sozial unauffällig, bleibt in den Schuljahren eine entdeckte Diskrepanz zu den gleichaltrigen MitschülerInnen nicht folgenlos. Die Auffälligkeit wird definiert ("Lernbehinderung"), verschriftlicht ("Einweisungsverfahren") und im Laufe der Schuljahre zur anhaltenden Normabweichung verfestigt. Die Institution (Sonder-) Schule und ihre LehrerInnen fixieren - wie schon oben erläutert - die Zuschreibung, und erst mit Beendigung der Schulpflicht sollen sich die Verhaltensweisen der SonderschülerInnen wieder an die der "Normalen" angleichen. Um diese Identität überhaupt herstellen zu können, ist es für die betroffenen SchülerInnen unabdingbar, die Karriere einer Abweichung im normalen Alltag zu nichten. Mit steigendem Abstand zur Schulzeit wird diese immer unwichtiger[139], immer weniger Menschen fragen danach, die angestrebte Tarnung als "normaler" Mensch wird leichter. Viel einfacher ist dieser Prozess für SchülerInnen, die nach der Sonderschule eine Normalisierung durch den erworbenen Hauptschulabschluss erreicht haben. Der letzte Abschluss nichtet die Schulzeit davor, die als unangenehm erlebt wurde und in sozialen Interaktionen oft zu unmissverständlichen Zuschreibungen geführt hat.

Die ehemaligen SonderschülerInnen geraten zwangsläufig in einen Identitätskonflikt, denn sie müssen den Status "Lernbehinderte", der ihnen während ihrer gesamten Schulzeit angetragen wurde, nach dem Ende der Schulpflicht ablegen und gegen einen neuen Status und damit eine neue Identität austauschen: Wenn man das Zeugnis nicht herzeigt und nicht sozial auffällig ist, dann ist man "normal" wie alle anderen auch. Die Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Identität und der durch den Sonderschulbesuch nachhaltig eingeschränkte soziale Handlungsspielraum machen Lavieren, Täuschen und Tarnen weiterhin erforderlich. Die Diskreditierbarkeit bleibt aufrecht, denn man muss immer in Betracht ziehen,

daß die schwere Diskriminierung, als die der Sonderschulbesuch von Schülern und Umwelt wahrgenommen wird [...], aus beider Bewußtsein nicht spurlos verschwinden wird. Der Sonderschulbesuch gilt als Makel, der das Subjekt zu bestimmten Verarbeitungs- und die Umwelt zu bestimmten Rechtfertigungsstrategien nötigt.

Subjektiv ist der Sonderschulbesuch ein Stigma, ein Merkmal also, das die Umwelt auffordert, seinen Träger als abweichend zu behandeln. Wenn diese Gefahr droht, wird der Stigmatisierte alles tun, um das Stigma nicht offenkundig werden zu lassen, seinen Eindruck auf die Öffentlichkeit zu manipulieren, sie zu täuschen.[140]

Nicht nur in Situationen, die Einsicht in die persönliche Biographie erfordern (Arbeitssuche, Lebenslauf, Musterung, u.a.), versuchen ehemalige SonderschülerInnen ihre Schulkarriere zu verbergen, auch und vor allem in Alltagssituationen erachten sie es als günstiger, nicht über die eigene Schullaufbahn zu sprechen. Denn das Schulversagen könnte von öffentlichen und privaten Instanzen jederzeit sanktioniert werden, sodass ihre Chancen auf Teilnahme am öffentlichen Leben weiterhin herabgesetzt bleiben. Dabei ist es natürlich sehr schwer für die Betroffenen, ein konformes Selbstbild gegenüber den Erwartungen ihrer Umwelt durchzuhalten.

Identität wird in Interaktionen mit anderen erworben und aufrechterhalten, und die Erwartungen der anderen sind dem Individuum noch in deren Abwesenheit präsent (Mead 1968, S. 148). Je massiver diese Erwartungen und je bedeutsamer die Personen, die sie vertreten, desto näher liegt es, die Identität zu wandeln und dabei, wo nötig, selbst die eigene Vergangenheit im Sinne der neuen Identität umzuinterpretieren.[141]

Die erlebte schulische Isolierung hat also weitreichende Folgen für die Lebensbedingungen der jungen Erwachsenen, sie müssen diese Stigmatisierung in Alltagszusammenhängen nachhaltig nichten. Die Sonderbeschulung läßt während der Dauer der Schulpflicht Freizeit- und Schulbereich auseinanderklaffen, indem die Förderung in künstlicher Aussonderung stattfindet. Folge davon ist die Stigmatisierung des Kindes als SonderschülerIn. Die spätere soziale Integration wird somit zusätzlich erschwert, und in allen Lebensbereichen werden ehemaligen SonderschülerInnen neue Interpretationen ihrer Identität abverlangt.

8.2 Der Schulbus

8.2.1 Deskription

Hannes und Christof wohnen in dem Dorf, in dem sie die Sonderschule besuchen, und sie müssen daher nicht den Schulbus in Anspruch nehmen. David und Robert sind auf ihn angewiesen und erleben die tägliche Schulfahrt als Manifestation ihrer Abweichung. Das war schwierig, meint David, als ich ihn nach der Fahrt mit dem Schulbus frage, denn die HauptschülerInnen des Nachbarortes sind im gleichen Bus mit ihm zu jenem Dorf gefahren, in dem David jedoch die Sonderschule besuchte. David fühlte sich ausgeschlossen. Da [ist er] halt eingestiegen und [hat sich] schon irgendwie komisch gefühlt, mit denen kann [er] nicht Schule gehen, und [er ist] da ein anderer halt gewesen. [Er] kann [sich] mit denen ja nicht unterhalten, weil die gehen in die Hauptschule. Dass David in die Sonderschule geht, habensie seiner Meinung nach nicht gewusst. Das haben sie nicht gewusst, sicher, [er hat] ja auch eine Schultasche gehabt. Mit der Zeit hat es sich so ergeben, dass man auch ein paar Leutekennenlernt und dass man mit jemandem redet, aber nicht so (...), eher im Bus [hat er sich] immer einfach, einfach immer als, mehrer dings zurückgesteckt, eigentlich mehr, also. David stockt, wenn er von dieser Erfahrung spricht und bejaht meine Frage, ob er sich selber deshalb zurückgenommen hat, weil er Angst hatte, dass ihn jemand fragen könnte, welche Schule er besucht. Eben das war sein Problem bei der täglichen Fahrt im Schulbus, aber seine Angst stellte sich als unbegründet heraus, denn er ist nie aufgedeckt worden. Nein, (...) nein. Das ist nie so gewesen und (...) das war halt, im Bus war es halt einfach so.

Robert hat durch den Schulwechsel in die Sonderschule seine früheren MitschülerInnen als FreundInnen verloren, er ist nicht mehr mit seinem Freund aus der ersten Klasse Volksschule heimgegangen. Ja, von der Schule heimgegangen, [...] das hat sich halt, das wäre nicht mehr gegangen, nicht? Weil andere Zeiten waren und die Schule, du weißt ja. Zur Hinfahrt in die Schule hat Robert den Schulbus benützt, nach der Schule ist er zu Fuß nach Hause gegangen. Im Unterschied zur Gruppe der Volksschulkinder hat Robert nun einen anderen Stundenplan und andere Schulerlebnisse, das verhindert den Austausch auf dem Schulweg. Im Volksschulalter, als Robert schon Sonderschüler war, hat er mit gleichaltrigen Nachbarskindern nicht mehr als wie auf der Bushaltestelle geredet und dann (...) nichts mehr.

Der Grund dafür, warum er im Bus alleine saß, liegt vermutlich darin, dass die anderen die Volksschule besucht haben. Robert hat nicht mitreden können, [ihn] hat das nicht interessiert, sagt er heute.Schwieriger ist es für ihn im Hauptschulalter geworden, weil der Unterricht in der Hauptschule früher begonnen hat als in der Sonderschule. Da war es so: Natürlich die Hauptschüler, die fangen um halb acht an, oder? Die sitzen ja in dem Bus um acht Uhr nicht mehr drinnen. Jetzt sitzt [er] als einziger und [muss] mit dem Bus um acht Uhr da hinein fahren. (...) Ja, fein, oder? Daher könnte es eben auffallen, dass Robert kein Hauptschüler ist, wenn er sich mit den Volksschulkindern im gleichen Bus befindet. Das hat [ihn] gestört. Während dieser Zeit glich die Sonderschule den Unterrichtsbeginn an die Hauptschule an, weil beiden Schulen gemeinsam nur ein Turnsaal zur Verfügung stand. Aber dann haben [sie] eben auch um halb acht Uhr Schule gehabt. Das hat [ihm] dann schon wieder besser gepasst. Da [ist er] dann mit dem Rad hineingefahren. Das hat [ihm] dann wieder besser gepasst. Endlich ist Robert im Bus nicht mehr aufgefallen, das war ihm lieber, obwohl [er] mit dem eigentlich nie so konfrontiert worden [ist]. Also nicht dass einer gesagt hätte, hey schau, ein Sonderschüler, oder so. Einfach mehr, (...) [er] weiß auch nicht. Und meint wohl eher die Angst vor der Vorstellung, dass das jemand hätte sagen können.

8.2.2 Interpretation

Hannes und Robert sind diskreditierbare Sonderschüler, sie könnten als solche erkannt und damit zusätzlich stigmatisiert werden. Ihr Alltag ist durch Täuschen und Tarnen gekennzeichnet, sodass die meisten InteraktionspartnerInnen nichts von ihrem Sonderschulbesuch und der Zuschreibung "Lernbehinderung" wissen. Da sie dessen natürlich nie sicher sein können, sind sie auf Vermutungen darüber angewiesen, vor allem in öffentlichen Interaktionen. Denn die Zuschreibungen und Definitionen können im Alltag zwar "privat" bleiben, im Schulbus aber werden sie öffentlich. Jetzt wird ihre unsichtbare "Behinderung" plötzlich sichtbar, sie sind als Sonderschüler enttarnt. Obwohl keine offene Kommunikation stattfindet, interpretieren beide Schüler im Kontext des Zuschreibungsprozesses, dass sie potentiell als Sonderschüler erkannt werden könnten. Daher meiden beide bewusst jede Kommunikation, sprechen mit niemandem und verhalten sich während der Busfahrt möglichst unauffällig. Obwohl, und das scheint mir wichtig, Bekanntschaften der beiden Sonderschüler zur Gruppe der FahrschülerInnen durchaus bestanden, war die Kommunikation im Bus, dem Ort der vermuteten Veröffentlichung der Stigmatisierung, nicht möglich. Goffman weist in diesem Zusammenhang darauf hin,

daß der Täuscher sich zwischen zwei Bindungen zerrissen fühlt. Er wird einige Fremdheit gegenüber seiner neuen "Gruppe" fühlen, weil es unwahrscheinlich ist, daß er sich mit ihrem Verhalten gegenüber dem, als was er, wie er weiß, überführt werden kann, vollständig zu identifizieren vermag.[142]

Der schwere Makel als Sonderschüler und die Furcht vor der Enttarnung prägen den Alltag, in jeder Alltagshandlung muss der Stigmatisierte alles unternehmen, damit seine Devianz nicht öffentlich wahrgenommen werden kann.

Drittens scheint angenommen zu werden und dies offensichtlich zu Recht, daß der Täuscher sich solcher Aspekte der sozialen Situation bewußt sein muß, mit denen andere nicht kalkulierend und nachlässig umgehen. Was für Normale unbedachte Routineangelegenheiten sind, kann für den Diskreditierbaren zu Management-Problemen werden.[143]

8.3 Das Schulhaus

8.3.1 Deskription

Obwohl das Schulhaus mitten im Dorf, neben der Kirche und an zwei Hauptstraßen liegt, meint David auf meine Frage, ob er manchmal am Schulhaus vorbeigehe, nein, gar nie. Ich bin eigentlich gar nie vorbeigegangen. [Er geht] zwar immer die Gasse hinunter, wenn [er] dort einkaufen muss oder irgend etwas [braucht]. [Er kauft] eigentlich im Dorf wenig ein, da [geht er] eher selten. Letztendlich meidet er den Weg am Schulhaus vorbei, weil [er] dort eigentlich nie etwas zu tun [hat]. Auch meine Frage, ob er sich nicht das Schulhaus gerne wieder einmal ansehen wolle, wehrt er unmissverständlich ab. Nein, [er hat] es eigentlich so in Erinnerung noch, und (...) [er] weiß, wie es war. Auch zu einem Klassentreffen möchte er sich nicht in der Schule treffen, denn es kommen dann so schon wieder die Erinnerungen. Gerne erinnert er sich dagegen an den Kindergarten, von dem er seinen Neffen oft abholt. [Er hat] ihn vom Kindergarten abgeholt und [ist] hineingegangen, als wie wenn [er] zwanzig Jahre jünger [wäre]. Es war, Kindergarten war für [ihn] auch (...) schön eigentlich. Auch die Volksschule möchte er schon einmal wieder anschauen, und in die Hauptschule geht er ohnehin öfter durch die Vereine. Nur in der Sonderschule möchte er sich nicht mit seinen MitschülerInnen treffen, auf meine Frage diesbezüglich meint er eindeutig: Nein, nein (...). Nein.

Robert hat manchmal aus beruflichen Gründen in der Sonderschule zu tun, da er als Gärtner Blumen in die Schule liefern muss. Im Jahr zwei, drei Mal, wenn [sie] die Pflanzen hinaufliefern, das reicht vollkommen. Auch er möchte nicht, dass ein Klassentreffen in der Schule stattfindet. [Er ist] in der Schule zwei, dreimal gewesen, aber (...) es ist immer (...), [er] weiß auch nicht. Da gehst du hinauf und denkst dir, mei, Scheiße, da warst du einmal herinnen, (...) das ist einfach ein Wahnsinn, [er meint] (...), wenn [er] da [hineingeht], das ist so, als wenn [ihn] jemand in einen Raum einsperren würde. Das, [er] weiß nicht, [ist] total komisch. Er erinnert sich ebenso ungern an die Schulzeit in der Sonderschule. Und alleine schon dort unten vorbeizugehen. Nur beim Gebäude vorbeigehen. [...] Nur da unten vorbeizugehen, das ist oft [...] einfach total komisch. Auf die Frage, was ihm einfällt, wenn er an seiner ehemaligen Schule vorbeigeht, meint Robert sehr emotional: Wäh, die Schule, wäh, (...) eigentlich nur so, aber [er] möchte da nicht mehr hinein.

8.3.2 Interpretation

Die Schule, der Ort der erlebten Ausgrenzung, ruft bei zwei ehemaligen Schülern massive negative Erinnerungen hervor, die von einer starken Emotionalität getragen sind. Nun ist es durchaus so, dass viele SchülerInnen - auch Regel- und GymnasialschülerInnen - nicht ausschließlich Wohlgefühle beim Anblick ihres ehemaligen Schulhauses empfinden. Die Assoziationen Roberts sind aber sehr emotional und lassen Ohnmacht und Unsicherheit erkennen. Interessant ist auch, dass David die Volksschule und die Hauptschule, die er beide durchlebt hat, in seinem Freizeitverhalten frequentiert. Aber in die Sonderschule will er nicht mehr hineingehen, ja er geht nicht einmal mehr daran vorbei, um sich vor negativen Erinnerungen zu schützen. Dabei muss bedacht werden, dass auch die Hauptschule bei David aufgrund seiner Erfahrungen negative Assoziationen hervorruft, weil er an dieser Schule eine Reihe von Versagenserlebnissen bis hin zum endgültigen Scheitern erlebt hat. Womit begründet sich also die massive Ablehnung des Ortes der erfahrenen Aussonderung?

Der Selektionsmechanismus jeder Schule und die damit verbundene Identifizierung jedes davon betroffenen Individuums ist hinreichend bekannt. Dennoch besteht offenbar ein charakteristischer Unterschied zur Sonderschule, dem Schultyp in unserem Schulsystem, der das Schulversagen eines Kindes festschreibt, ein Ort, an den man überwiesen wird, wenn man den Anforderungen der Regelschule nicht gewachsen ist. Zumindest das Verfahren der "Einweisung" legt den Verdacht nahe, dass die Institution Sonderschule Merkmale einer totalen Institution aufweist, wie sie Goffman[144] beschreibt. Wenn wir Hans Günther Homfeldt folgen, der Stigmatisierungen von Insassen totaler Einrichtungen dreifach definiert, so treffen diese zumindest ansatzweise auf die Devianzkarrieren ehemaliger SonderschülerInnen zu:

Totale Institutionen stigmatisieren ihre Insassen oder Gruppen mehrfach,

- indem sie diese einer Sozialisation unterziehen, die eine erfolgreiche Lebensbehauptung nach der Entlassung schwer werden läßt;

- mittelbar, indem die Öffentlichkeit gegen die Institution selbst und die Gruppen in ihr eine Vielzahl z.T. unzutreffender negativer Vorstellungen entwickelt hat, gegen die aber die Institution ihre Insassen nicht abschirmt;

- indem die entlassenen Personen den Status des 'Ehemaligen' mit ins Leben nehmen; nach der Beendigung des Aufenthalts in der totalen Institution erhalten die Personen keinen neuen, sie rehabilitierenden Status.

Eine aus diesen drei Aspekten zustandekommende Benachteiligung erfaßt quasi das ganze Rollenpotential der Person und ist daher total zu nennen.[145]

8.4 Die MitschülerInnen

8.4.1 Deskription

Nach der Schulzeit ist der Kontakt unter den ehemaligen MitschülerInnen aus der

Sonderschule fast zur Gänze abgebrochen, obwohl nahezu alle noch im gleichen Dorf wohnen. Hannes befrage ich nach den Berufen seiner MitschülerInnen. Weiß [er] nicht, den [hat er] schon so ewig lange nicht mehr gesehen. [Er hat] einmal den M. vor ein paar Monaten gesehen, aber was er macht, weiß [er] auch nicht.(...) (...) [Er] weiß nur, dass der C. Fliesenleger gelernt hat.

Auch Christof unterhält fast keine Kontakte mehr zu seinen SchulkollegInnen. Eigentlich den einzigen, den [er] ab und zu [sieht], ist der D. Den R. eigentlich auch eher noch, den [er] öfter [sieht], was heißt oft, wenn [er] den im Jahr viermal [trifft], ist es auch schon viel. Den K. [sieht er] eigentlich überhaupt nicht mehr, und die M. [hat er] überhaupt schon urlang nicht mehr gesehen. Eigentlich die nicht so, nein. Dass er den Kontakt nach der Schulzeit nicht unbedingt aufrecht erhalten wollte, hängt auch damit zusammen, dass [er] halt viel mit den Snowboardern zusammen [ist] und so, da [hat er] eigentlich Kollegen genug. Es war ja auch früher schon immer so, wo [er] noch in der Sonderschule war, oder auch Hauptschule und auch in der Lehrzeit, da war [er] auch immer mit den Kollegen zusammen, die auch HTL gegangen sind oder so. Einen Mitschüler, mit dem er doch eigentlich schon recht gut befreundet war, [hat er] halt ab und zu bei Festen gesehen, aber sonst [hat er] ihn echt nicht mehr gesehen.

David hat eigentlich nur zum R. Kontakt. Ja, so hin und wieder, wenn [er] ihn [sieht] und dings, dass [sie] etwas trinken gehen und dings (...), aber manchmal kommt er in [seiner] Firma daher, weil er bei der Stadt ist, und bringt ein Material von [ihm] zurück, und dann unterhalten [sie sich], (...) aber so eigentlich, mit den anderen (...) weniger. Den C. [sieht er] sowieso nicht mehr (...), [er] weiß nicht. Meinen Vorschlag, dass wieder einmal alle zusammenkommen könnten, nimmt David gerne auf. Ja, sicher, das würde [er] gerne einmal, oder ein Gespräch würde [er] sicher einmal, [er] würde gerne einmal den H. oder was so dings treffen. Es gibt durchaus MitschülerInnen, mit denen ihn keine angenehme Erinnerung verbindet, aber [...] mit dem C. würde [er] gerne wieder einmal reden, mit dem H. würde [er] gerne wieder einmal reden.

Robert möchte bestimmte MitschülerInnen, mit denen er schon in der Schule Probleme gehabt hat, nicht treffen, die will [er] nicht sehen, da [ist er] froh, dass [er] die nicht [sieht]. D., mit dem [ist er] ab und zu weggegangen. (...) H. im Fasching manchmal, K. halt nicht mehr, aber sonst, den Rest eigentlich (...), den M. [glaubt er], ist [ihm] vorgekommen, [er hat] ihn einmal gesehen, aber [er ist sich] nicht ganz sicher, [er] (...) [glaubt], [er] würde ihn gar nicht mehr kennen. [Er ist] auch froh, wenn [er] (...), D. und die okay, aber den Rest. (...) [Er meint], wenn [er] jetzt den H. [trifft] und mit denen [redet er] allen, [er meint], es freut [ihn] auch, wenn [er] sie [sieht]. Aber den Rest, das ist gerade, lieber nicht mehr.

Seine Freundin hat in einem Ortsteil gelebt, wo auch mehrere ehemalige MitschülerInnen wohnten, da waren eben auch viele von der Schule her und so, das hat [ihm] eigentlich nicht gepasst. [Er hat] sie gesehen, doch doch, [er hat] sie oft genug gesehen. Er will mit manchen MitschülerInnen nichts mehr zu tun haben und drückt das auch drastisch aus: Wenn jemand sagt, dort drüben ist der R., dann [macht er] einen großen Bogen herum, weil wenn [ihn] grad keiner anredet, das ist [ihm] das liebste. Vor einem Klassentreffen hat Robert Überlegungen angestellt, ob er hingehen soll oder nicht. Da hineingehen, und keinen mehr kennst du und mit keinem weißt du eigentlich, was du reden sollst. [...] Nein, [er hat sich] einfach gedacht, was [macht er] jetzt da, wenn da echt, du weißt ja, du hast sie alle ewig lange nicht mehr gesehen, keinen kennst du und so, da hineinsitzen, [er weiß] nicht, sicher komisch irgendwie so, oder?

8.4.2 Interpretation

Der Großteil der ehemaligen SonderschülerInnen dieser Klasse wohnt noch im gleichen Ort, meist bei den Eltern, und auch ihre Berufs- und Freizeitaktivitäten konzentrieren sich auf dieses Dorf. Nach der langen gemeinsam verbrachten Schulzeit lassen sich aber kaum Sozialkontakte untereinander ausmachen. Es ist verwunderlich, dass nur wenige Freundschaften die Schulzeit überdauern und sogar Alltagskontakte selten hergestellt werden. Bei einem Klassentreffen konnte ich beobachten, dass es tatsächlich nur sehr selten zu einem Austausch untereinander kommt, und manche haben sich seit dem Ende ihrer Schulzeit aus den Augen verloren.

Das ist teilweise dem Zufall zuzuschreiben, andererseits deutet manches auf ein strategisches Verhalten hin, in dem Sinne, dass Kontakte bewusst nicht mehr aufrecht erhalten werden. Ein Indikator dafür ist das Verhalten von Christof, der den Status des "Sonderschülers" hinter sich lassen konnte und aus diesem Grund vermutlich die Bekanntschaft zu jenen meidet, denen dieser Status immer noch irgendwie anhaftet. Seine FreundInnen - das betont er im Laufe des Interviews immer wieder - haben eine normale Schullaufbahn vorzuweisen oder sogar weiterführende Schulen besucht. Manche seiner FreundInnen haben sogar maturiert, und durch den freundschaftlichen Kontakt zu ihnen ist Christof in seiner Identität aufgewertet. Der weiterbestehende Kontakt zu ehemaligen SonderschülerInnen hingegen würde ihn nur mit seinem früheren, mittlerweile abgewehrten Status konfrontieren.

Diese Abwehr spricht auch Robert offen aus. Er war während seiner Sonderschulzeit häufig Kränkungen und Beleidigungen ausgesetzt, sodaß er heute jeden Kontakt zu gewissen ehemaligen MitschülerInnen vermeidet. Damit bringt Robert eine die Sonderschule charakterisierende Problematik zum Ausdruck, die darin liegt, dass viele in sie eingewiesene SchülerInnen, die unter ihrem Schulversagen und der damit verbundenen Ausgrenzung leiden, ihre unbearbeiteten Probleme in der Schule ausleben. Im Schulalltag verdichten sich individuelle Probleme zu einem aggressiven Potential, das sich häufig an schwächeren MitschülerInnen entlädt. Auch der individuelle ökosoziale Hintergrund läßt sich nicht vom Schulalltag entkoppeln. LehrerInnen wie SchülerInnen befinden sich in einer Ghettosituation, von deren Problematik sich die Gesellschaft, die eine starre Meinung über die SonderschülerInnen entwickelt hat, abwendet. In der Meinung, das bestmögliche zur Förderung von schwachen SchülerInnen veranlasst zu haben, wird von der Schulorganisation zu wenig beachtet, dass sich sogenannte Verhaltensstörungen in dieser Ghettosituation potenzieren können. Schließlich entstandene manifeste Verhaltensauffälligkeiten können dann als Bestätigung der vorgefertigten Meinung über die SonderschülerInnen gelten.

8.5 Die Musterung

8.5.1 Deskription

Hannes dankt dem Herrgott auf Knien, dass [ihm] dieser Verein erspart geblieben ist. Weil Hannes weiß, dass sie [ihn] so schon nicht haben haben können, und daher [hat er sich] gedacht, sicher ist sicher, ein bisschen nachhelfen. [Er hat] den Psychotest extra langsam gemacht und beim Sehtest absichtlich noch weniger gesehen, als [er] so schon gesehen [hat]. [Er hat] absichtlich beim Farbtest ein paar Farben verwechselt, also ist herausgekommen, dass [er] farbenblind [ist]. [Er hat sich] auf die Lippen beißen müssen, dass [er] nicht [lacht]. Ja, aber [er hat sich] gedacht, nein, Bundesheer, das ist etwas, also nein, das hat [ihn] immer schon gegraust, also [hat er sich] gedacht, grad nicht diesen Verein, alles ist [ihm] egal, aber nicht das Bundesheer. Bei der Musterung hat er Angst, dass er eventuell B-tauglich[146] sein könnte, wenn es blöd ausgeht. Hannes sagt zu sich selber, du siehst eh schon schlecht, also wahrscheinlich bist du eh untauglich [...], aber hilf trotzdem lieber ein bisschen nach. Bei verschiedenen Tests [hat er] es ein bisschen ärger gemacht, als wie es ohnehin ist. Für den Fall, dass er B-tauglich sein sollte, überlegt sich Hannes, dann [macht er] Zivildienst, [...] aber er hat Gott sei Lob und Dank sofort untauglich gesagt.

Das Bundesheer ist auch für Christof ein Blödsinn, [er hat] nicht hin müssen, weil er zu wenig gehört hat. [Er hat] als Kind eine Operation gehabt, und da wäre [er] ja fast daran gestorben [...] und deshalb [hört er] ja auf einem Ohr schlechter. Ja, und deshalb [hat er sich] auch schwer getan. Dass Christof gleich bei der Musterung als untauglich ausgemustert wurde, war super, superfein, im Falle der Tauglichkeit hätte [er] doch vielleicht Zivildienst gemacht, aber so [hat er sich] dasgar nicht mehr weiter überlegt.

Nachdem David seine Tauglichkeit attestiert wurde, [hat er] das Bundesheer gemacht und dabei alles leicht erlernt, die Waffen und alles. Über Schulbildung und Lehre hat er mit seinen Kameraden gar nichts, nein, gar nichts geredet, das haben [sie] überhaupt nicht besprochen. Ihm hat das Bundesheer auch Spass gemacht.

Robert war untauglich wegen den Augen und wegen dem Kreuz halt auch, und darüber war er froh. Der Selektionsprozess der Musterung wurde für ihn allerdings zu einem unvergesslichen Erlebnis, über das er jetzt noch gekränkt ist. Das war das erste Mal, wo [er sich] echt beschissen vorgekommen [ist] mit dem Sonderschulzeugnis, das war beim Mustern total zäh. Da hockst du ja in dem Psychotest drinnen, nicht? [Ihn] haben sie dann am zweiten Tag noch einmal hereingeholt. Dann sitzt du da drinnen mit einem Psychoiat, Psychoding da, mit dem Psychiater da. Dann stellt der ein paar Fragen, dann hat er die Tageszeitung vor sich liegen gehabt. Dann legt er [ihm] die Tageszeitung her und sagt: " Lies mir etwas vor!" Ob [er] lesen kann. [Er] solle ihm etwas vorlesen. Robert erzählt die Geschichte mehrfach, wie besessen, und er findet nicht die richtigen Worte, so sehr hat ihn das gekränkt. Ja, das war total, das, sowas, (...) das [wird er] sicher nie vergessen, das war total (...). Den Inhalt des Psychotests und andere Fragestellungen weiß [er] eigentlich gar nicht mehr so genau, [er] weiß nur noch das, das mit der Zeitung, das, das, weil da ist [ihm] etwas heraufgestiegen. Robert fühlt sich als Sonderschüler diskriminiert durch diese Leseprüfung, die er natürlich auf seinen Sonderschulbesuch zurückführt, denn das wissen sie ja. Da musst du ja, bekommst ja ein Heft, nicht? Zugeschickt, das musst du ausfüllen, oder? Welche Schule du gegangen bist, was du hast, welche Krankheiten du gehabt hast, nicht? Und das ganze Zeug. Da haben sie halt gewusst, dass [er] in die Sonderschule gegangen [ist]. (...) Sie haben nie etwas gesagt von dem, oder? Aber [er ist sich] sicher, dass es damit zusammenhängt. (...) Weil er hat ja gefragt, in welche Schule [er] gegangen [ist], genau. (...) Das auch noch hat er [ihn] gefragt, dann hat er [ihm] die Zeitung hingelegt. (...) [Er] soll ihm da etwas vorlesen, hat er gesagt. (...) Das war schon makaber.

Robert musste nicht als einziger noch einmal zum Psychiater hineingehen, aber nur ihm ist es passiert, dass er etwas vorlesen musste. Das war krass. [...] Das hat sicher weh getan auch, nicht? Er hat später mit einem Mitschüler darüber gesprochen, daher ist er sich sicher, dass der Psychiater das sonst bei keinem verlangt hat. Unter dem Druck des Musterungsverfahrens hat Robert auch keine Chance für eine adäquate Reaktion gesehen. [Ihm] ist das so vorgekommen, wenn [er] etwas gesagt hätte, dann nimmt er echt an, [er] kann nicht lesen. (...) Deshalb [hat er] ihm etwas vorgelesen, weil [er sich] gedacht [hat], [er] muss ihm das Gegenteil zeigen, oder? Dann [hat er] ihm halt etwas vorlesen müssen, nicht? Dann hat er gesagt, passt. Total krass, nicht?

8.5.2 Interpretation

Drei der vier ehemaligen Sonderschüler sind untauglich für den Wehrdienst. Da ich in meiner Interpretation davon ausgehe, dass nach der devianten Schulkarriere alles hinsichtlich einer Angleichung an bestehende gesellschaftliche Normen unternommen werden muss, um nicht weiterhin aufzufallen, bin ich erstaunt, dass alle über die attestierte Untauglichkeit erfreut sind.[147] Alle begründen ihre Untauglichkeit mit dem Hinweis auf einen physischen Defekt, indem sie Leiden an den Sinnesorganen bzw. am Bewegungsapparat als Ursache angeben. Christof deutet auch einen ursächlicher Zusammenhang zwischen Operationen, denen er sich als Kind unterziehen musste, und der späteren Schulentwicklung an. Hannes weiß zwar, dass er wegen seiner Sehschwäche ohnehin untauglich ist, setzt aber bei der Musterung alles daran, um das Bundesheer auch ganz bestimmt nicht absolvieren zu müssen. Wenn man sich die weiter oben gemachten Äußerungen im Zusammenhang mit Wehr- und Wehrersatzdienst vor Augen hält, dann ist es bemerkenswert, dass Hannes und Christof in ihren Überlegungen auch den Zivildienst als Alternative in Betracht ziehen. Anders verhält es sich bei David, dessen Brüder alle das Bundesheer absolviert haben, er fühlt sich durch seine Tauglichkeit den Brüdern gleichgestellt. Zusätzlich entlastet ihn, der als einziger unter seinen Brüdern die Sonderschule absolviert hat, dass er bei diversen Schulungen während des Präsenzdienstes alles leicht erlernt hat.

Besonders eindringlich ist die Geschichte von Robert, der im Verlauf der Musterung ein Erlebnis hatte, das von ihm eindeutig als Folge seiner Schulgeschichte interpretiert wird. Das Verhalten des Psychiaters stigmatisiert Robert durch die ihm zugeschriebene Dummheit, denn der Psychiater nimmt offensichtlich an, dass Robert nicht lesen kann. Das Attribut, das ihn abwertet, und die durch die autoritäre Struktur dieser Interaktion zusätzlich verstärkte Ohnmacht machen ihn beinahe handlungsunfähig. Da er nicht endgültig diskreditiert werden will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als dem Psychiater seine Lesefertigkeit zu beweisen. In dieser sozialen Situation wird Robert als diskreditierbare Person, deren Problemtik von Verheimlichung und Enthüllung zum alltäglichen Management gehört, im kriminologischen Sinn identifiziert.

8.6 Zwei Alltagsgeschichten

8.6.1 "Wie ein Hilfsschüler!"

Auf meine Frage nach eventuellen Inkriminierungen als "Sonderschüler" erinnert sich Robert an eine Geschichte aus seinem Arbeitsalltag. Sie beschreibt die Reaktion der Kollegen, wenn ein Mitarbeiter einen Arbeitsgang ungeschickt erledigt. Ja, es ist schon, wenn man mit den Kollegen zusammensitzt, oder? Und auf einmal, du weißt ja, da redet man halt so, oder? Und dann halt "Wie ein Hilfsschüler!" oder "Wie ein Sonderschüler!", so halt, oder? [Er meint] (...), sicher machst du auch mit, weil es halt einfach schon zu lange her ist wahrscheinlich, aber im Hintergrund denkst du dir dann, (...) du weißt eh, [er meint], die anderen brüllen sich dann zu Tode, oder? Und du sitzt halt da und grinst halt.

8.6.1.1 Interpretation

An diesem Beispiel kann man die ambivalente Situation, die für das stigmatisierte Individuum im Alltag charakteristisch ist, erkennen. Hier wird eine diskreditierende Bemerkung gemacht, wodurch der Betroffene für einen Moment zwei Identitäten hat: einerseits gehört er zur Gruppe, die sich auf der Basis eines gemeinsam ausgehandelten Wissens diskreditierend äußert, andererseits ist er auch ein Mitglied jener Gruppe, die gerade stigmatisiert wird. Ein Zerrissener zwischen zwei Bindungen, denn, will er täuschen, muss er handlungskonform zum Gesagten sein und sich zugleich von seiner Identität als "Sonderschüler" distanzieren.

Vermutlich wird er auch unter Gefühlen von Illoyalität und Selbstverachtung leiden, wenn er nicht gegen "offensive" Bemerkungen einschreiten kann, die von Mitgliedern der Kategorie, in die er sich hineintäuscht, gemacht werden gegen die Kategorie, aus der er sich heraustäuscht - besonders dann, wenn er selbst es gefährlich findet, sich dem Einstimmen in diese Schmähungen zu enthalten.[148]

8.6.2 "Ah, Sonderschule"

Es ist [ihm] einmal passiert, (...) die Person hat nichts gesagt, aber [er hat] gemerkt, dass also sie ist, ja, schockiert nicht, aber das ist ein bisschen, sagen wir einmal so, enttäuscht. Also da ist auch die Rede gegangen, ja, schulische. Dann [hat er] halt offen und ehrlich gesagt, also zuerst [ist er] zwar ein halbes Jahr in die Volksschule gegangen, [hat er] gesagt, aber das kannst du nicht rechnen. Dann [ist er] eigentlich die ganze Pflichtschule in die Sonderschule gegangen. Und da hat sie zwar schon reagiert, also das war eine Frau - was [hat er] zu der für ein Verhältnis gehabt eigentlich? - (...) ja, also es war nicht direkt eine Freundin, sagen wir einmal so, es war eine Freundschaft, aber nicht eine Freundin in dem Sinne, was man unter einer Freundin versteht. Ja und da [hat er] eben gesagt wegen der Sonderschule, und da war sie doch ein bisschen enttäuscht und hat so abwertend, mehr oder weniger " Ah, Sonderschule" gesagt. Also [er hat] zwar gemerkt, okay, sie ist jetzt davon nicht begeistert, aber das hat [ihn] kalt gelassen, also das war [ihm] egal. Weil [er sich] gedacht [hat], ja gut, wenn es ihr nicht passt, dass [er] Sonderschule gegangen [ist], [...] das ist ihr Problem, [er macht sich] da nichts draus deswegen. Weil [er denkt sich] so, wenn man die Leute einschätzt, was sie für eine schulische Ausbildung haben, dann magst du einmal ganz geschwind aufhören, weil oft einmal sind, [er sagt] jetzt einmal grad Studenten überhaupt nichts wert und dafür einer, der überhaupt keine schulische Ausbildung hat - im krassesten Fall - ist der bessere Mensch als der eine, der vielleicht Medizin oder irgendetwas studiert hat. Also schulische Ausbildung ist für [ihn] kein Kriterium, nach dem [er] Menschen [beurteilt]. Nicht weil [er] Sonderschule gegangen [ist], sondern weil [er] einfach diese Einstellung [hat].

8.6.2.1 Interpretation

Die Einweisung in die "Hilfsschule" wird nicht selten von unbeherrschten LehrerInnen als Drohung verwendet, und auch Eltern sehen im Hinweis auf die Hilfsschule ein Druckmittel, um ein erwünschtes Lernverhalten ihres Kindes durchzusetzen: "Lerne mehr, sonst kommst du in die Hilfsschule!" Solche Sätze lassen sich beginnend bei meiner eigenen Schulzeit bis in den heutigen Schulalltag nachweisen. In Gesprächen mit ehemaligen VolksschülerInnen fiel mir auf, dass Kontakte zwischen HilfsschülerInnen und Regelschulkindern sogar dann verunmöglicht werden, wenn sich beide Schultypen im gleichen Schulhaus befinden. Daher verbinden auch SchülerInnen, die keine SonderschülerInnen persönlich kennen, häufig das Bild von HilfsschülerInnen mit einschlägigen Attributen.

In der Sozialisation als SchülerIn lernt man, unter dem Status "HilfsschülerIn" allerlei Normabweichungen zu subsumieren. Dieses Konstrukt läßt das Bild von faulen, unwilligen, dummen, streitsüchtigen, ja sogar kriminellen SchülerInnen entstehen, um nur einige Begriffe zu nennen. Wenn auffällige Kinder und Jugendliche zu SonderschülerInnen diffamiert werden, werden auch die Institution Sonderschule und ihre LehrerInnen mit ähnlichen Ausdrücken belegt: Hilfsschule, Dummenschule, Idiotenanstalt, Behindertenschule usf. Homfeldt zitiert Untersuchungen von Kaufmann (1966 und 1970) und Jones (1972), die die soziale Stellung von HilfsschülerInnen sehr drastisch belegen:

64 % der befragten Sonderschüler wären lieber nicht in der Sonderschule. Als Begründungen wurden genannt: Die Volksschule habe einen besseren Namen (41 %); man lerne dort mehr und erreiche einen besseren Beruf (30 %); in Volksschulen sei es eben schöner, besser (21 %).

[...] Auch durch gleichaltrige Kinder sind Sonderschüler erheblicher Stigmatisierung ausgesetzt (Jones 1972, S. 561). Hilfsschüler zu sein, so fanden befragte Volks- und Oberschüler, sei dikreditierend wegen des Fehlens der beruflichen Perspektiven (30 %), der besonderen Eigenschaften der Sonderschüler, nämlich dumm, geistesgestört, Schlägertypen zu sein (27 %) und wegen des Sozialprestiges (19 %). So wurde u. a. festgestellt: "Die Schüler sind dort meistens dumm, und dann wird man automatisch noch dümmer als man ist - weil man auf der Hilfsschule nichts dazulernt."[149]

Diese Überlegungen geben der Kernaussage der Erzählung "Ah, Sonderschule" eine Nuance, die Aufschluss über die dahinterstehenden Assoziationen gibt. Sonderschüler wie Hannes wissen um ihre Diskreditierbarkeit in sozialen Interaktionen, haben dem wenig entgegenzusetzen und geraten dadurch häufig in die soziale Isolation. Diese potentielle Stigmatisierung zwingt ihn auch in diesem Beispiel in eine defensive Verteidigungsstrategie, denn er kann sich nicht wirklich wehren und resigniert schließlich. Fast hilflos versucht er das Kriterium schulischer Ausbildung zu nivellieren, indem er postuliert, dass ein Mensch darüber nicht definieren werden kann. Da er aber ausgerechnet als einer, der eine im öffentlichen Ansehen negativ bewertete Schulbildung erhalten hat, eine solche Meinung vertritt, könnte er leicht missverstanden werden. Deshalb betont er nachdrücklich, dass dies seine persönliche Einstellung, unabhängig von seinem Sonderschülerstatus sei. Auch in diesem Beispiel bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine Identität zu splitten.



[138] Forster, Rudolf: a.a.O., 28

[139] Zugleich wird mit steigendem Abstand zum Schulaustritt die rückblickende Bewertung des Sonderschulbesuchs immer schlechter: "Waren noch knapp die Hälfte der Abgänger 1978 bei ihrem Schulaustritt der Meinung, ein Sonderschulbesuch sei für sie besser gewesen als ein Regelschulbesuch und nur ein Viertel der gegenteiligen Auffassung, so waren bei einer Rückschau nach ca. 9 Jahren nur mehr ein Viertel zurvergleichsweise positiven Einschätzung bereit und über ein Drittel äußerten sich negativ." (Forster, Rudolf: a.a.O., 28-29)

[140] Trabandt, Henning: a.a.O., 55-56

[141] Trabandt, Henning: a.a.O., 70

[142] Goffman, Erving: a.a.O., 111-112

[143] Goffman, Erving: a.a.O., 112

[144] vgl. Goffman, Erving: Über die Merkmale totaler Institutionen, in: Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1973, 13-124

[145] Homfeldt, Hans Günther: a.a.O., 110-111

[146] "B-Tauglichkeit" bedeutet bedingt tauglich und verpflichtet zu einem entsprechenden Wehrdienst unter erleichterten Konditionen.

[147] An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass bei der männlichen Landbevölkerung Untauglichkeit bis heute eine soziale Stigmatisierung bedeuten kann, denn damit ist jemand hinsichtlich seiner körperlichen Unversehrtheit diskreditierbar. Zudem können Männer, die die Initiationsriten des Bundesheeres nicht miterlebt haben, an der Kommunikation über diesen Lebensabschnitt nicht partizipieren. Im übrigen ist auch das Ansehen des Wehrersatzdienstes bei der ländlichen männlichen Landbevölkerung nicht sehr hoch; Zivildienstleistende stammen bis heute vorwiegend aus dem städtischen Bereich und weisen im Durchschnitt längere Schulausbildungszeiten auf.

[148] Goffman, Erving: a.a.O., 1990, 112

[149] Homfeldt, Hans Günther: a.a.O., 91-92

9 Normalisierungsversuche im Alltag

9.1 Führerschein, Mobilität und Freundschaft

9.1.1 Deskription

Christof hat den Führerschein mit zwanzig gemacht und gleich beim ersten Mal A und Bgeschafft. Das war eigentlich leicht, obwohl er beim Kurs meistens in der letzten Bank geschlafen hat. Er hat den Führerschein zusammen mit dem anderen Kollegen gemacht, der auch HTL gegangen ist. Aber der hat [ihm] schon auch ein bisschen geholfen, aber sonst ist es [ihm] eigentlich nicht so schwer [...] vorgekommen. Das einzige, was ein bisschen schwer ist, weil du halt alles genau nach der Schrift sagen musst. Also, wenn ein Buckel ist auf der Straße, kannst du nicht sagen, ein Buckel auf der Straße, sondern Unebenheiten auf der Fahrbahn oder so. Das ist ein bisschen, aber da haben sich, [glaubt er], andere auch nicht so leicht getan. Weil es halt so (...) Juristenköffer sind, und die möchten das halt genau so, wie es im Buch steht. Obwohl man für die Führerscheinprüfung schon viel lernen muss, hat Christof eigentlich nicht so viel gelernt, weil [er] zu faul war zum Lernen. Aber [er hat] es geschafft.

Daniel betont auch, dass der Führerschein eher leicht war, obwohl er die Prüfung nicht auf Anhieb geschafft hat. Beim ersten Mal [hat er], [ist er] beim Polizeilichen geflogen, [hat er] den technischen [Teil, Anm. des Verf.] gemacht und beim zweiten Mal [hat er] dann den polizeilichen gemacht. Daran, dass er beim ersten Mal gescheitert ist, war aber nur die Prüferin schuld, weil sie [ihn] nervös gemacht hat. Sie hat [ihn] mit den Nebenfahrbahnen, hat sie [ihn] total durcheinandergebracht, hat sie [ihn] total verwirrt und beim zweiten Mal ist das sssst gegangen. Daniel erwähnt das Auto auch, als ich ihn nach Kontakten zu gleichaltrigen HauptschulkollegInnen seines Ortes befrage. Früher habe er wenig Kontakte gehabt, aber jetzt, also in den letzten fünf, sechs Jahren, seit [er] von der Schule heraußen [ist], oder seit [er] das Auto [hat], kann man eigentlich sagen, dass [er] im Dorfeigentlich mehr [ist] und dass [sie] etwas trinken gehen oder so.

Auch Robert benennt den Zusammenhang zwischen der durch Führerschein und Autobesitz erreichten Mobilität und dem Aufbau neuer Freundschaften. Der Kontakt zu einem ehemaligen Mitschüler hat wieder angefangen, [er] weiß nicht mehr, wie das war. Auf einmal ist halt der D. dagewesen, sein Auto hat er, den Führerschein hat er gehabt, ein Auto hat er gekauft. Und auf einmal ist er bei [ihm] vor der Tür, sein Auto zeigen, das war total lässig. Zu diesem Zeitpunkt besitzt Robert den Führerschein noch nicht, [er hat] ihnerst mit neunzehn gemacht.

Dabei hat es ihn zuerst gar nicht interessiert, das Interesse war einfach nicht da, [er] hätte nicht gewusst wozu. Aber ein Kollege hat ihn dazu motiviert, den Führerschein zu machen, und wenn er nicht gewesen wäre, [er] hätte ihn wahrscheinlich erst noch später gemacht. Er hat den Kurs besucht, hat aber die vier Wochen nicht gelernt, also so schwer war es nicht. Die Führerscheinprüfung war gar nicht schwierig, und es war ganz ein gutes Gefühl, wenn du beim ersten Mal durchkommst und den Zettel in der Hand hast. [Er hat] den Führerschein gemacht, nicht? Da kommst du einmal in einen Kollegenkreis hinein, und jeder hat mit achtzehn Jahren den Führerschein. Durch den Besitz des Führerscheines hat sich für Robert total viel verändert, [er hat] viele Kollegen kennengelernt dadurch und kann es sich jetzt aussuchen,mit wem er weggehen will. Das hängt zwar nicht nur mit dem Auto zusammen, aber es ist halt so, mit dem Auto kommst du halt weiter herum.

9.1.2 Interpretation

Drei der vier Interviewpartner haben den Führerschein erworben und betonen im Zusammenhang mit der Führerscheinprüfung, dass diese nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden gewesen sei. Die Erfahrung, die Fahrschule mit einem positiven Abschluss absolviert zu haben, verschafft Sicherheit und vermittelt das Gefühl, eine anerkannte Prüfung abgelegt zu haben. Die bestandene Prüfung wertet sie auf, denn sie haben etwas geschafft, wie ein Großteil der Gleichaltrigen auch. Mit dem Führerscheinerwerb ist nach der als isoliert erlebten Schulzeit auch eine Möglichkeit der Kontaktherstellung zu jungen Erwachsenen gegeben. Vor allem David und Robert weisen direkt auf den Zusammenhang zwischen Führerscheinerwerb, Autobesitz und die damit mögliche soziale Kommunikation mit Gleichaltrigen hin. Auch zwischen den beiden entwickelt sich über Davids Auto, das er seinem ehemaligen Mitschüler zeigt, eine neue Freundschaft. Robert, der an anderen Stellen öfter über seine Einsamkeit während der Sonderschulzeit klagt, gewinnt im Zusammenhang mit dem Führerschein neue FreundInnen und freut sich darüber. Die Mobilität, die durch ein Auto gegeben ist, erschließt neue Möglichkeiten des Sozialkontaktes, sodass Robert und Daniel aufgrund dieser neuen Kommunikationschancen einen Normalisierungsversuch erfolgreich erledigen konnten.

9.2 Über die Schule spricht man nicht mehr

9.2.1 Deskription

In allen Alltagszusammenhängen sprechen meine vier Interviewpartner nicht mehr über die Schule. Christof meint, man erkundigt sich bei Freunden und Bekannten nach dem Beruf, man fragt höchstens, was machst du?

Auch David fragtdas jetzt eigentlich auch niemand, und in seiner Freizeit, im Gasthaus oder mit FreundInnen, da reden [sie] überhaupt nie über das. Seine FreundInnen und Bekannten wissen es zwar eigentlich alle, aber die sagen es auch nicht weiter. Die schweigen auch. Wenn sich Robert und David treffen, dann reden [sie] über Schule überhaupt nichts mehr, nein, nur über die Arbeit. Über früher eigentlich nur noch , was (...) ab der Schule weg war. Sie sprechen über die Arbeit, aber was in der Schulzeit, über die Schulzeit reden [sie] nicht mehr. David ist jetzt wieder mit seinen ehemaligen HauptschulkollegInnen zusammen, er trifft sie im Dorf und ist zusammen mit ihnen bei örtlichen Vereinen Mitglied. Hinsichtlich seiner Schullaufbahn sagen sie gar nichts, wiewohl sie wissen, dass[er] da hinunter gekommen [ist]. Auch mit seinen engen FreundInnen redet man über die Schule sowieso nicht mehr, man redet eher darüber, wie es bei der Arbeit läuft und so, über die Schule redet man sowieso wenig. Auch beim Bundesheer wurde überhaupt nicht über die Schulausbildung gesprochen.

Robert spricht nur ganz selten über die Schule, man spricht eher über die Arbeit. Und was eben auch oft ist, oft [trifft er] ja noch Kollegen von der ersten Klasse Volksschule. Die kommen alle her zu [ihm], hey, hallo, wie gehts und so, und ganz normal reden. Fragen [ihn], was [er] jetzt [macht] und so, ganz normal. Also es hat jeder akzeptiert.

Und einmal war [er] auf einem Ball, da kommt einer her zu [ihm], mit dem war [er] jeden Tag, mit dem [ist er] heimgegangen und in der Schule [Volksschule, Anm. des Verf.] der beste Freund und so, nicht? Da war [er] auf einem Ball und auf einmal kommt er zu [ihm] her: "Ja kennst du mich nicht mehr?", "Nein", "Kennst du mich echt nicht? Schule sind wir gegangen.", "Ja möglich, ich kenne dich nicht." Dann hat er seinen ehemaligen Schulfreund wiedererkannt. Ja, nein wirklich. Während der Sonderschulzeit war Robert eher alleine, seine FreundInnen aus der Volksschulzeit hat er damals verloren. Das hat sich jetzt wieder geändert. Also keiner von denen, die [er kennt], also es sind drei, vier, aber es ist keiner dabei, der [ihn] nicht grüßt oder der nicht stehen bleibt und mit [ihm] redet.

9.2.2 Interpretation

Mit dem größer werdenden Abstand zur Schulzeit verliert das Gespräch darüber an Bedeutung. Im Mittelpunkt der sozialen Beziehungen steht der Austausch über die Berufstätigkeit der jungen Erwachsenen. Mit allen FreundInnen und Bekannten verbindet sie die Notwendigkeit der Anpassung an die Arbeitswelt, das gemeinsame Thema bedingt Gemeinsamkeiten. Darüber, dass die Schulzeit in einem sozial ausgehandelten Prozess mehr und mehr in den Hintergrund rückt und tabuisiert wird, sind alle erleichtert. David spricht offen aus, dass die Schullaufbahn in sozialen Interaktionen von allen Beteiligten verschwiegen wird. Der bestehende Zusammenhang zwischen der Schulbildung und der später ausgeführten Tätigkeit bleibt bei allen Interviewpartnern unerkannt und wird demnach nicht thematisiert. Robert freut sich darüber, dass er mit dem Ende der Schulzeit auch zunehmend nicht mehr mit dem Gespräch darüber konfrontiert wird. Nach der Zeit der schulischen Segregation macht er die positive Erfahrung, dass seine früheren FreundInnen aus der Volksschule und die NachbarInnen wieder den Kontakt zu ihm aufgebaut haben. Daraus schließt er, dass seine Sonderschulzeit allgemein Akzeptanz gefunden hat oder, dass er trotz seines Sonderschulbesuches akzeptiert wird. Die wiedergefundenen Freundschaften sind ein Beweis für seine nunmehrige Normalität, denn alle sprechen mit ihm, als wäre er kein ehemaliger Sonderschüler mit allen Implikationen.

9.3 Aufwertung durch Freundinnen und Freunde

9.3.1 Deskription

Christof hat seit zwei Jahren eine Freundin, mit der er in ihrer Wohnung zusammenlebt. Sie hat die Matura an der Handelsakademie gemacht und studiert nun an der Universität. Wie empfindet Christof diesen Unterschied, dass er seit seinem sechzehnten Lebensjahr arbeitet, während sie jetzt noch die Schulbank auf der Hochschule drückt? Nein, eigentlich nicht, [...] dass sie irgendwie meint, [er] kann nichts und sie studiert und ist gut oder so. Christof beeindruckt schon eher, ein bisschen halt schon, dass seine Freundin an der Uni studiert. Weil oft ist es ganz fein, wenn sie mit dem Rechnen oder so, oder wenn irgend etwas ist, dann hilft sie [ihm] auch und so. Und dann hat halt jeder was Gutes. In diesem Zusammenhang spricht Christof auch von seinen Qualitäten und seinen Fähigkeiten. Sie bewundert halt, dass [er] halt gut sporteln kann, das macht sie total rasend, weil [er] alles besser kann. Und halt auch handwerklich, also so Bilder aufhängen und so.

Auch wenn beim Auto etwas zu reparieren ist, kennt sich Christof besser aus als seine Freundin. Ja, Haushalt [macht er] eigentlich weniger, aber wenn halt irgend etwas anfällt (...), etwas richten, oder halt Silikon [hat er] herumgemacht bei der Dusche, dass nichts mehr herausrinnt oder halt Bild aufgehängt und Satellitenschüssel montiert und halt, oder die Lampe ist einmal hingeworden bei ihrem Auto. Da [ist er] zuständig, was [er] kann. Über seine Schulgeschichte weiß seine Freundin nicht Bescheid, sie kennt sie nicht und Christof möchte sie ihr eigentlich nicht erzählen, denn sie braucht sie nicht wissen. Ich frage Christof, ob er glaubt, dass sich in ihrer Beziehung etwas ändern könnte, wenn sie es wüßte? Nein, nein, ja. Ja, (...) nein, [er] täte es ihr nicht sagen. Christof war schon einmal in der Uni mit ihr, aber nur im Pausenraum. Er stellt sich die Uni schon lockerer vor, man muss nicht immer hingehen, lang ausschlafen. Jedenfalls ist Christof froh, dass sie keine Fachplauscherin ist, also sie, sie mag das nicht, mit so richtigen Studenten, die nur über Ding reden, sondern das regt sie immer auf, dann geht sie lieber.

Viele seiner Freunde haben die HTL besucht oder an einer anderen höheren Schule maturiert. Außerdem ist Christof halt viel mit den Snowboardern zusammen und hat daher eigentlich Kollegen genug. Schon während seiner Schulzeit in der Sonderschule war er immer mit Kollegen zusammen, die auch HTL gegangen sind. Viele dieser Freunde und Freundinnen bezeichnet Christof als Snowboarder, die teilweise auch Rennen fahren und mit denen war [er] früher halt viel fahren. Unter diesen hat er auch einen Superkollegen gehabt, von dem [er] eigentlich auch viel gelernt und der [ihm] eigentlich auch viel beigebracht hat. Und der ist echt, mit dem war [er] vier Jahre, fünf Jahre guter Kollege. Der ist jetzt (...) bei der UNO. Bezogen auf seine schulischen Leistungen hat Christof in seiner Schullaufbahn oft negative Erfahrungen gemacht, anders als beim Sport, wo er sich immer als toller Sportler erleben konnte. Er ist begeisterter Snowboarder, kann gut schwimmen und ist beim Eis laufen sowieso gut, und er vertritt die Ansicht, dass Sport immer wichtig ist. Ja, [glaubt er] schon, ist ein Ausgleich (...). Man kommt auch in andere ding Kreise und vergisst eigentlich auch, weil du bist ja da beim Sport und hast vielleicht auch Spass.

Seinen Führerschein hat er mit dem anderen Kollegen gemacht, der auch HTL gegangen ist. Seine Schwester hat sogar HAK angefangen, hat es aber auch aufgehört und dann hat sie halt eine Lehre als Großhandelskauffrau gemacht. Christof denkt zwar eher nicht daran, Profisportler zu werden, aber er liebäugelt damit Rennen zu fahren und dann vielleicht in eine Zeitschrift zu kommen. Aber so [bekommt er] halt das Material momentan. Das ist auch schon super, weil das Material ist auch teuer. Und [er] möchte halt, dass sie dann im nächsten Jahr die Unterkunft zahlen. Christof ist auf jeden Fall schon dadurch aufgewertet, dass er mit Profisportlern zu tun hat, denn so [kennt er] jemand, der es richtig professionell macht. Ein Kollege von [ihm] hat jetzt eh, [...] vor fünf Tagen ungefähr hat er eh den Weltcup gewonnen. Dann hat er sechzigtausend Schilling bekommen, halt super. Er hat es gar nicht fassen können. Christof schwärmt wiederholt von einem Kollegen, der war auch beim Bundesheer, und jetzt ist er bei der UNO, und dann möchte er den Flugschein machen. Von dem [hat er] eigentlich viel gelernt und so. Weil er war super in der Schule, hat immer alles Einser gehabt in der Volksschule und auch in der Hauptschule ziemlich gut. In der HTL hat er dann nicht mehr so mögen, da hat er dann schon lieber ein bisschen freigenommen und so. Aber mit dem [ist er] super ausgekommen, mit dem [hat er] auch viel gemacht. Er erzählt auch noch von einem anderen Freund, der gerade maturiert hat. [Er glaubt], das erste Mal hat er es eh nicht geschafft, hat er noch einmal antreten müssen. Jetzt macht er einmal Zivildienst. Schließlich stellt Christof zusammenfassend fest, dass sein Kollegenkreis sich aus Personen zusammensetzt, die eine Schullaufbahn absolviert haben, die sich von seiner eigenen Schulgeschichte stark unterscheidet. Die Kollegen sind eigentlich auch alles, der andere Kollege ist auch HTL gegangen, hat auch fertig gemacht. Eigentlich alles solche Kollegen [hat er].

9.3.2 Interpretation

Christof ist in seiner Identität durch Freunde und Freundinnen aufgewertet, die durch eine gesellschaftlich anerkannte Ausbildung einen höheren Status erreicht haben. Schon während seiner Schulzeit tendiert er zu FreundInnen, die eine normale bzw. gehobene Schulkarriere durchlaufen. Dass einige von ihnen die Matura an höheren Schulen abgelegt haben, wertet auch ihn - den ehemaligen Sonderschüler - auf. An mehreren Stellen des Interviews betont Christof, dass er mehrere solche FreundInnen hat und dass er vor allem durch Sport Anschluss an normale junge Leute, denen nicht das Stigma der "Lernbehinderung" anhaftet, gefunden hat. Eine ihm angemessene Identität hat Christof als Sonderschüler nicht entwickeln können.

Zur Abwehr des ihm angetragenen Status "Lernbehinderter" hat er sich in seinem Freizeitverhalten andere Identitäten angeeignet; er hat sein Versager-Image durch sportliche Leistungen kompensiert. Da in der Bewertung der Jugendlichen sportliche Spitzenleistungen ganz oben rangieren, kann sich Christof durch diese Aktivitäten Anerkennung verschaffen. Durch seine SportsfreundInnen hat er sogar Zugang zu Jugendlichen, die an der Hochschule studieren, was auf keinen der übrigen Befragten zutrifft.

Christof ist durch das Hochschulstudium seiner Freundin einerseits in seiner Identität aufgewertet; andererseits veranlasst gerade diese Tatsache ihn zur Abwehr seiner eigenen Schulgeschichte, er möchte seine Freundin nicht über seine Schullaufbahn aufklären. Ihren schulischen Leistungen stellt er seine sportlichen und handwerklichen Fähigkeiten entgegen, und seine Freundin bewundert seine Leistungen entsprechend. Diese eher unübliche Verbindung - wie sie aufgrund der Entmischung unserer Gesellschaft und der unterschiedlichen Biographien nur selten entstehen kann - verlangt von Christof allerdings etwas Grundsätzliches ab: Er muss - will er diesen Zustand aufrechterhalten - seine Freundin über seine Schulgeschichte hinwegtäuschen. Auch wenn er sich Normalität angeeignet hat, liegt hinter ihm eine deviante Schullaufbahn, die er nicht einmal in seinem engsten Freundeskreis veröffentlichen will. Nicht nur seine Freundin, auch viele seiner Kollegen wissen über die früher an ihn herangetragene Identität als Sonderschüler nicht Bescheid. Sein Alltag erfordert weiterhin Management im Sinne einer Korrektur seiner Biographie. Spuren des Tarnens und Täuschens bleiben für seinem Lebensentwurf notwendig.

9.4 Freizeit und Urlaub

9.4.1 Deskription

Hannes geht in seiner Freizeit recht wenig Gasthaus. Er hat eigentlich wenig FreundInnen, mit denen er seine Freizeit verbringen könnte, eher verbringt er diese Zeit mit seiner Familie zu Hause. Musik horchen, Computer, [er geht] reiten, also es ist schon auch so, dass [er] Freizeit, hobbymäßig, je nach Jahreszeit und Wetter wandern [geht]. Früher ist er manchmal in die Disco gegangen, aber jetzt nicht mehr. Also das ist teilweise dienstbedingt, weil [er] ja teilweise oft am Wochenende Dienst [hat], und [...] [er hat] eigentlich in letzter Zeit auch keine Lust mehr. Das hängt mit dem Tod seines besten Freundes, eines Mitschülers aus der Sonderschule, zusammen. Weil der R. war ja [sein] bester Kollege, [sein] bester Freund, mit dem [hat er] auch viel unternommen, mit dem [hat er] viel erlebt. Und (...), ja, jetzt, seit der R. nicht mehr ist eigentlich, ist es auch bei [ihm] ziemlich ruhig geworden. Nach dem Unfall seines Freundes [hat er] sowieso überhaupt keine Lust gehabt, und dann ist [er] einmal alleine gegangen, aber alleine ist es nicht so interessant, so spannend wie zu zweit natürlich.

Den Urlaub hat Hannes bisher auch immer alleine oder mit seiner Familie verbracht. [Er ist] nach Kärnten hinunter einmal, das war der allererste Urlaub von [ihm], den [er] allein gemacht [hat].[...] Ganz alleine. Dann [ist er] auch ganz alleine nach Mallorca hinunter geflogen, das war toll.[...] Und jetzt [ist er] mit der Schwägerin und mit dem Bruder heuer Türkei geflogen. In Kärnten war es zwar nicht direkt langweilig, aber doch eher ruhig.[...] Aber [er hat] da einen Deutschen kennengelernt, mit dem [hat er] eine Radtour gemacht, und in Mallorca [hat er] auch einen kennengelernt, da haben [sie] dann eine Inselrundfahrt gemacht auch.

David verbringt seine Freizeit mit einem Kollegen, mit dem Arbeiten, viel mit arbeiten eigentlich. Er ist in seinem Ort Mitglied bei einem Fußballverein. Da sind [sie] so eine Stammrunde, so Altherren, Altherrenrunde, alles Ältere, [er ist] der Jüngste. Manchmal kommt es vor, dass [er] da [mitspielt]. Sie sind alle im Alter von fünfundvierzig, fünfzig Jahren, so eine Gasthausrunde machen [sie] dann, Freitag ist immer Gasthausrunde. Mit dieser Runde ist David Urlaub geflogen, eine Woche Teneriffa. Das war ganz lustig, zu acht ohne Frauen. Sonst ist er noch nirgendwo gewesen, außer eigentlich so einkaufen, nach Rosenheim oder so mit dem Auto. Zum Zeitpunkt des Interviews plant er mit dem Kollegen eine Flugreise. [Er hat] auch die Prospekte schon. Aber [sie] wissen noch nicht wohin. Aber [sie] werden fliegen, [er] weiß jetzt nicht, wer will, kann da mitfahren. (...) Das ist dann egal, das ist nicht beschränkt, wer da mitfährt.

Robert arbeitet zuhause am elterlichen Bauernhof mit und hat daher kaum Freizeit. Diese Arbeit beansprucht den ganzen Urlaub und den ganzen Zeitausgleich. Einmal war er in Italien, das war ein Wochenende oder so. Aber Urlaub machen, irgendwo am Meer liegen oder so, noch nie. Vor zwei Jahren waren [sie] in Imola unten und da [hat er] zum ersten Mal das Meer gesehen. Weil da sind [sie] halt, das war auch nur zufällig, weil [sie] noch Zeit gehabt haben, sind [sie] in Rimini unten gewesen, und auf einmal stehen [sie] halt vor dem Meer.

Robert ist bei mehreren Ortsverbänden Mitglied, bei den Jungbauern, der Feuerwehr und einem Jugendverein. Der letztgenannte Verein organisiert für die Jugendlichen Busfahrten, und daher ist Robert Mitglied, weil man einmal im Jahr nach Imola fährt und halt einmal im Jahr fährt man nach München, und das ist halt interessant. Auch mit den Jungbauern hat Robert Fahrten gemacht, Oberösterreich waren [sie], Brixen waren [sie] zweimal, so Feste halt. Robert ist bei den Vereinen nicht sehr aktiv, weil er zu wenig Zeit hat und sich nicht so gerne engagiert. Aber so die Kameradschaft ist lässig, nicht? Und die Möglichkeit, gemeinsame Reisen zu unternehmen, gefällt ihm auch. Im Feuerwehrhaus haben [sie] immer Sitzungen und dann das Dorffest einmal im Jahr. Und mit dem Geld halt fahren [sie] halt dann Schwimmen, Rodeln, Skifahren, Törggelen und solche Sachen. Und ein, zweimal im Jahr fahren [sie] halt irgendwohin, für zwei Tage, für ein Wochenende.

Als Robert noch in der Sonderschule war, hatte er kaum Kontakt zu gleichaltrigen FreundInnen im Dorf. Das hat sich alles erst viel später entwickelt. [Er] war eine Zeit lang überhaupt alleine, [hat] überhaupt keinen gehabt nach der Schule. Und dann, du weißt ja, mit sechzehn arbeiten gegangen, da [hat er] auch keinen gehabt, das hat total lange gedauert bei [ihm]. Erst dann mit der Zeit, [er] weiß auch nicht, durch die Nachbarn eigentlich, [er hat] immer gefragt, ja was macht ihr denn heute? Im Gegensatz zu seiner Schulzeit, als Robert viel alleine war, ist er jetzt in das Dorfgeschehen eingebunden. [Er ist] keiner, der alleine irgendwohin geht, überhaupt so alleine irgendwo hineingehen, das, nein, ganz selten, dass [er] das [tut]. [Er ist] überhaupt nicht gerne allein. [Er ist] nicht gern alleine. (...) [Er] mag das nicht. Früher war es [ihm] egal, nicht? Wenn du immer so einen Haufen Leute herum hast, dann gewöhnst du dich daran. Und [er ist] auch nie daheim. [Er ist] keinen Tag alleine am Abend, [er ist] immer weg.

9.4.2 Interpretation

Hannes, Robert und David wohnen noch bei ihren Eltern. Im Freizeit- und Urlaubsverhalten

kommt ihre Sonderstellung gut zum Ausdruck. Die ökosoziale Situation seiner Familie erfordert Roberts Mitarbeit am elterlichen Bauernhof, wodurch längere Urlaubsfahren unmöglich sind. Seine spärlichen Auslandsreisen unternimmt er zusammen mit seinen FreundInnen, die mit ihm in Vereinen und Ortsverbänden organisiert sind. Seine früher erlebte Einsamkeit weist er im Interview entschieden von sich, indem er wiederholt darauf hinweist, dass er mittlerweile gut in das Dorfleben eingebunden ist. Er ist froh, nicht mehr aufgrund seines Status isoliert zu sein, sondern am Gemeinschaftsleben partizipieren zu können. Auch an anderen Stellen verweist Robert darauf, dass er viele FreundInnen hat und dass die Zeit der Einsamkeit, in die er während seines Sonderschulbesuches gedrängt wurde, endgültig vorbei ist.

Urlaubsreisen hat David mit einem Verein, bei dem er loses Mitglied ist, unternommen. Er lacht ein bisschen über sich, wenn er erzählt, dass er bei einer Altherrenrunde der Jüngste ist. Auch wenn es etwas seltsam anmutet, dass David nicht mit Gleichaltrigen seine Freizeit verbringt, ist er offenbar in dieser Runde akzeptiert, und das wertet ihn auf. Die Urlaubsreise, die er gerade mit einem Kollegen vorbereitet, ist noch offen für TeilnehmerInnen; David hat also noch Platz für neue FreundInnen, seine Freundschaftsbeziehungen sind noch nicht fixiert.

Auch Hannes' Sozialkontakte sind minimiert, er unternimmt Urlaubsreisen entweder mit seinen engeren Familienangehörigen oder alleine. Er berichtet von zwei Urlaubsreisen, die er alleine unternommen hat, wobei es ihm gelungen ist, für einzelne Unternehmungen Anschluss zu finden.

Bei allen dreien kommt die Einsamkeit, die sie in ihrer Freizeit erleben oder zu überwinden suchen, zum Ausdruck. Der früh erlebte Ausschluss aus dem sozialen Leben durch die Einweisung in die Sonderschule, beschränkt sie offenbar nachhaltig in ihrer Möglichkeit, Freundschaften einzugehen. Wenn jemand - so wie Hannes - bei keinem Verein Mitglied ist, dann sind die Kontaktmöglichkeiten stark reduziert. Er ist auf seine Familie angewiesen oder auf zufällige Bekanntschaften, die er im Urlaub macht. David versteht seine geplante Urlaubsreise auch als Einladung an andere, daran teilzunehmen, und Robert ist froh darüber, dass er im Rahmen der Vereine gemeinsam mit anderen Reisen unternehmen kann.

Insgesamt kommt in ihrem Freizeit- und Urlaubsverhalten zum Ausdruck, dass die Bildung langanhaltender Freundschaften durch die schulische Stigmatisierung erschwert wurde. Die soziale Isolation, die durch den Sonderschulbesuch erlebt wurde, bleibt sichtlich nach Beendigung der Schulpflichtzeit aufrecht. Abseits der Sozialgefüge ihres Arbeitsplatzes und ihrer Familien unterhalten die ehemaligen Sonderschüler eher lose Sozialkontakte, es kommen kaum stabile Beziehungsstrukturen zur Sprache, auf die sich die Interviewpartner stützen könnten. Die freundschaftlichen Beziehungen im Alltag sind offenbar minimiert und zudem leicht austauschbar. Mit Ausnahme von Christof, der in einer festen Partnerschaft lebt, haben die drei anderen Interviewpartner derzeit keine partnerschaftliche Beziehung.

10 Zusammenfassung

Meine vier Interviewpartner haben die Allgemeine Sonderschule vor nunmehr acht Jahren abgeschlossen, zwei davon erfüllten ihre Schulpflicht in dieser Institution, zwei andere haben in einem weiteren Schuljahr das Polytechnikum absolviert und den Hauptschulabschluss nachgeholt. Alle vier ehemaligen Sonderschüler sprechen nicht gerne über ihre Schulzeit und wenn sie es tun, kommt die dadurch erfahrene, belastende Diskriminierung deutlich zur Sprache. Die Zeit von der Einweisung in die Sonderschule bis zur Beendigung der Schul-pflicht ist offenbar von einem sozialen Ausschluss gekennzeichnet, der in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zuschreibung "Lernbehinderung" gesehen werden muss.

Die Sonder-schule versucht zwar, den Kindern und Jugendlichen, die von der allgemeinen Schule ausgeschlossen werden, eine ihren besonderen Bedürfnissen adäquate Bildung zu vermitteln und die Lerninhalte durch besondere Methodiken und Didaktiken aufzubereiten.

Durch die verminderte KlassenschülerInnenzahl soll ein individualisierender Unterricht gewährleistet werden mit dem Ziel, die SchülerInnen in das Berufs- und soziale Leben zu (re)integrieren. Kritiker der Schulart stellen allerdings in Frage, ob die soziale Integration über den Weg der Aussonderung überhaupt erreicht werden kann. Zugleich muss auch befürchtet werden, dass die strukturellen Bedingungen einer Sonderinstitution per se zum Ausschluss der als behindert bezeichneten Kinder und Jugendlichen beitragen. Denn die SchülerInnen der ASO sind nachhaltig gezwungen, ihren interaktiv vermittelten Status "SonderschülerInnen" ("Lernbehinderte") abzuwehren, um nicht in ihrer Identitätsentwicklung gefährdet zu sein. Ein historischer Abriss der Sonderpädagogik zeigt, dass sie als Disziplin bis heute dazu beiträgt, Menschen, die nicht einer gesellschaftlich vermittelten Normvorstellung entsprechen, auf ein vorliegendes Unvermögen (Behinderung) zu reduzieren. Schon der Terminologie der SonderpädagogInnen haftet etwas Diskriminierendes an, wenn unreflektiert von "Behinderten", "Geistigbehinderten", "Lernbehinderten" und "Verhaltensgestörten" die Rede ist, und zugleich zugegeben werden muss, dass eine wissenschaftlich abgesicherte Definition dieser auf Arbeitsbegriffe reduzierten Termini nicht möglich ist. Der Mensch mit "Behinderung" wird zum Objekt reduziert, die Behinderung wird verobjektiviert und soziale sowie psychische Folgen dieser Interaktion bleiben zu wenig beachtet.

Bei meinen Gesprächspartnern wird deutlich, wie die persönliche Diffamierung durch die schulisch erfolgte Aussonderung für die Lebens- und Sozialisationsverhältnisse negativ prägend wirkt. Die Ausgliederung aus der Regelschule und die Sonderbeschulung wird als identitätsgefährdender Einbruch empfunden und schlägt sich in der Folge im Bewusstsein der ausgegrenzten HilfsschülerInnen nachhaltig prägend nieder. Die Sonderschule kann offenbar eine gravierende Störung der sozial-gesellschaftlichen und individuellen Identität ihrer ehemaligen SchülerInnen trotz eines schülerorientierten, differenzierenden und individualisierenden Paradigmas nicht verhindern.

Die Konstruktion des Status "Lernbehinderte" perpetuiert sich über die gesamte Schulzeit und wirkt sogar darüber hinaus. Die schlechte Position von SonderschülerInnen wird von den Betroffenen wahrgenommen und internalisiert. Nach dem Abschluss der Schule, die oft als "Schonraum" gesehen wird, treffen die AbsolventInnen der Sonderschule die realen gesellschaftlichen Bedingungen mit voller Härte. Die Chancengleichheit im Bildungswesen ist von Anfang an nicht gegeben, und die Randstellung, die sie als HilfsschülerInnen im Schulsystem eingenommen haben, wird im gesellschaftlichen Leben perpetuiert. Spätestens bei der Berufsfindung wird klar, dass die Sonderschule, die als ein Bildungsziel die Integration ihrer SchülerInnen in den Arbeitsmarkt verfolgt, diese nicht zufriedenstellen gewährleisten kann. Die SchülerInnen sind nicht nur in ihrer Berufswahl behindert, auch ihre Berufs- und Lebenschancen sind deutlich reduziert. In den Gesprächen lassen sich fast durchgängig Hinweise darauf finden, dass die Zuschreibung von "Dummheit" und der Etikettierungsprozess weit über die Schulzeit hinaus nachwirken. Der Sonderschulbesuch wird als Makel erlebt, der das betroffene Individuum zu bestimmten Verarbeitungsstrategien nötig, die mit den Rechtfertigungsstrategien der Umwelt korrelieren.

Die diskreditierbaren ehemaligen HilfsschülerInnen sind im Alltag zu permanentem Stigma-Management gezwungen, was sich auch bei meinen Interviewpartnern in fast allen Lebensbereichen nachweisen läßt. Die erfahrene Aussonderung determiniert ihren Sozialstatus und zwingt die jungen Erwachsenen schließlich in marginale Arbeitsbereiche; Arbeitslosigkeit und Austauschbarkeit sind kennzeichnend für ihre Randstellung am Arbeitsmarkt. Damit sind zugleich die Teilnahmechancen am sozialen Leben herabgesetzt, Gefühle der Einsamkeit stehen in enger Verbindung mit dem ihnen zugewiesenen Platz am Rande der Gesellschaft. Sogar Christof, der als einziger einen erlernten Beruf ausübt, muss sich im Alltag durch Identitäts-Management bemühen, der sozialen Stigmatisierung zu entkommen. Täuschen und Tarnen bleiben somit über die Schulzeit hinaus bestimmend und die Kette der Versagenserlebnisse mündet nicht selten in Enttäuschung und Resignation.

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Quelle:

K. Martin Jenewein: Stigma-Management. Fallstudien zur biographischen Identität von ehemaligen Sonderschülern

Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, eingereicht bei: a.o. Univ. Prof. Dr. Reinhold Popp, Innsbruck, im September 1997

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 07.09.2006

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