Die Zeit ist aus den Fugen

Autor:in - Wolfgang Jantzen
Themenbereiche: Rezension
Textsorte: Rezension
Copyright: © 1998

Titelseite:

Buchinformationen:

AutorIn/Hrsg.: W. Jantzen

Titel: Die Zeit ist aus den Fugen

Infos: Forum Wissenschaft Studien 44, Marburg: BdWi-Verlag 1988, 222 Seiten; DM 32,-- ; ISBN 3-934684-83-9

Themenbereich: Theoretische Grundlagen der Behindertenpädagogik

Kurzbeschreibung:

Buchbesprechung von Andreas Zieger

Es handelt sich um 12 Aufsätze und Vortragsmanuskripte aus den letzten 5 Jahren, die vom Autor, Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen, selbst zusammengestellt wurden. Die Beiträge kreisen um hochaktuelle Themen wie Menschenbild, Personsein, Subjektivität, Lebensrecht, Enthospitalisierung, verstehende Diagnostik, Wert und Würde menschlichen Lebens, Wissenschaftsfreiheit und postmoderne Ethik.

Die Zusammenstellung der Beiträge entwirft ein breit gefächertes Bild der im bioethischen Diskurs der letzten Jahre besonders deutlich gewordenen wissenschaftlichen und ethischen Verwerfungen einer aus den Fugen geratenen Zeit. Vordergründig stehen die einzelnen Beiträge für sich. Bei näherer Betrachtung entfaltet sich in ihnen ein gedanklicher roter Faden, welcher "Behindertenpädagogik" als Teil eines übergreifenden fundamental-demokratischen und kritischen Konzepts zur Verwirklichung der Forderung "für ein humanes Leben aller" begreift. Ein reichhaltiges Literaturverzeichnis und Quellennachweise bilden den Abschluß. Die Beiträge lassen sich vier Themenschwerpunkten zuteilen. Ausgehend von "Perspektiven der Behindertenpädagogik nach dem Systemwandel in Ost und West" (S. 15) werden in "Subjektivität, Vernunft, Gerechtigkeit" Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenhang des Betreuungsgesetzes angestellt (S. 33). Daran schließt sich "Humane Anerkennung von Behinderung und philosophisches System" (S. 55).

In drei weiteren Kapiteln geht es um das Verhältnis von Allgemeinem und Differenz in biologischer Psychiatrie und Pädagogik, in denen Jantzen konsequent auf die notwendige Ergänzung des aktuellen (neuro)biologisch eingeengten Diskurses um psychologische und sozialwissenschaftliche Befunde und Fragestellungen einsetzt und sich kritisch mit der Forderung von "Lebensrecht für Behinderte" als eine begriffliche Diskriminierung auseinandersetzt (S. 99).

Nach Enthospitalisierung und institutioneller Kontext" (S. 107) sowie "Enthospitalisierung und verstehende Diagnostik" (S. 127) kommt Jantzen in "Vernunft und Fundamentalismus: Bemerkungen zum Problem der Wissenschaftsfreiheit" (S. 147) zu einem zentralen Anliegen: nicht alles, was wissenschaftlich machbar ist, ist auch ethisch erlaubt.

Die Beiträge "Recht auf Leben - Recht auf Leben: Zur Situation der Behindertenpädagogik in der Postmoderne" (S. 157), "Weiß ich was ein Mensch ist ...?" (S. 179) und "Wie ist Ethik möglich?" bilden den Abschluß.

Hier wird Jantzens persönliches Anliegen wie auch zugleich versöhnliche Geste deutlich: die in einer einheitlichen, kritischen Theorie liegenden positiven, humane Potentiale für das Denken und Handeln verantwortlicher Pädagogen, Psychologen, Therapeuten und Ärzte zu benennen und gegen den augenblicklichen wieder im Aufwind befindlichen Trend eines biologischen Reduktionismus in Pädagogik, Psychologie und Medizin freizusetzen. Solange nicht gewußt wird, was ein Mensch eigentlich ist, sollte Zurückhaltung geübt werden vor jeder eilfertigen begrifflichen Verdinglichung dessen, was das Menschliche am Menschen ist. Insgesamt handelt es sich um ein wichtiges und äußerst lesenswertes, wenn auch nicht immer ohne Vorkenntnisse ohne weiteres verständliches Buch, das allen denjenigen, die kritische Denkanstöße und ein Hinterfragen gewohnter Positionen nicht scheuen, zur aufmerksamen Lektüre empfohlen wird.

Dr. med. Andreas Zieger, Oldenburg

Facharzt für Neurochirurgie, Rehabilitationswesen, Lehrbeautragter für Klinische Neuropsychologie und Rehabilitation, Universität Oldenburg

Quelle:

Rezensiert von Andreas Zieger

Entnommen aus: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 3/99

bidok-Rezensionshinweise

Stand: 16.03.2006

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