Vorwort, Einleitung, Nachruf

Autor:in - Edda Janssen
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 5 - 15
Copyright: © die Herausgeber 1996

Vorwort

Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Adriano Milani Comparetti war der Titel einer Fachtagung des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband, die 1985 stattgefunden hat. Milani und seine Mitarbeiterin, Frau Dr. E. Anna Gidoni waren zu dieser Fortbildungstagung nach Frankfurt gekommen. Von dieser Tagung gingen viele richtungsweisende Impulse aus, neue Fragen an die im Bereich der Entwicklungsförderung mit Kindern arbeitenden Berufsgruppen und Institutionen, ihre Kooperationsformen - auch mit Eltern - sowie an die Forschung wurden aufgeworfen.

Die in diesem Konzept enthaltenen Grundpositionen und Einzelaspekte fanden seither in vielen Fortbildungsangeboten des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband ihren Niederschlag und ihre Umsetzung.

Die Dokumentation der Fachtagung von 1985machte Milanis Konzept einem breiteren Kreis der Fachöffentlichkeit zugänglich und hat als eine der wenigen deutschsprachigen Publikationen zu dieser Thematik große Resonanz gehabt. Die darin veröffentlichten Beiträge boten eine wichtige Basis für die (Weiter-) Entwicklung von Konzepten der Entwicklungsförderung in Praxis, Forschung und Ausbildung/Lehre. Diese Dokumentation ist seit längerem vergriffen. Aufgrund ihrer fachlichen Bedeutung und der noch immer starken Nachfrage haben wir uns entschlossen, diese Texte wieder zu veröffentlichen und sie in den Kontext der aktuellen fachlichen Diskussionen zur Entwicklungsförderung zu stellen. Um das wissenschaftliche Arbeiten mit diesen Texten zu erleichtern, hat Hans von Lüpke in Abstimmung mit Anna Gidoni für diese neue Veröffentlichung ein erweitertes und aktualisiertes Literaturverzeichnis erstellt. Das Literaturverzeichnis der Dokumentation von 1986wurde in diese Bibliographie eingearbeitet.

Im Oktober 1995haben wir, - 10 Jahre nach dieser ersten Tagung - , unter dem Titel Entwicklungsförderung im Dialog. Überprüfung des gegenwärtigen Stands von Praxis und Forschung an der "Leitlinie Milani" in einer Fachtagung ein Forum dafür geboten, den gegenwärtigen Stand der Praxis und Forschung zu Fragen der Entwicklungsförderung mit Kindern, wie sie sich aus der Umsetzung und Weiterentwicklung des Konzepts von Milani ergeben haben, vorzustellen und zu diskutieren. Zentrale Aspekte aus Milanis Arbeitskonzept dienten dabei als Leitlinie, z.B. der Respekt vor der Eigenaktivität des Kindes, Milanis Grundhaltung "nicht Übung, sondern Erfahrung" sowie der Dialog und sein Einfluß auf Erfolg oder Scheitern von Entwicklungsförderung. Im Zentrum dieser Fachtagung stand die Frage, wie Konzepte weiterentwickelt werden können, die dem Anspruch gerecht werden, "... eine Haltung zu finden, welche die Zukunft der Person in ihrer Gesamtheit und mit ihren persönlichen und sozialen Bezügen im Blick hat; die einzige Haltung, die sich des realen Kindes voll bewußt ist." (Milani Comparetti)

Die Fachreferentinnen und -referenten haben für diese Veröffentlichung ihre Referate überarbeitet. Sie beschreiben - 10 Jahre danach - den aktuellen Stand ihrer fachlichen Überlegungen. Die Impulse Milanis haben, wie die einzelnen Beiträge aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen zeigen, Neues und Produktives entstehen lassen.

In Florenz hat sich die Situation grundlegend geändert. Das Centro Anna Torrigiani dient heute der Kurzzeitrehabilitation von Jugendlichen und Erwachsenen nach Erkrankungen wie Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall oder Herzinfarkt. Anna Gidoni arbeitet in einem Ambulatorium in Arezzo. Das Spektrum ihrer Arbeit reicht von Diagnostik und Therapie zerebraler Bewegungsstörungen bis zu Problemen der Kinder-Psychopathologie wie z.B. Autismus, Psychosen etc. Darüber hinaus ist sie weiterhin in der wissenschaftlichen Auswertung und in Fortbildungsseminaren tätig.

Die Positionen Milani Comparettis haben wichtige Impulse gegeben und neue Maßstäbe in die Praxis der Entwicklungsförderung hineingetragen. Sie stellen hohe Anforderungen an die in diesem Bereich tätigen Fachkräfte. Der Prozeß der Weiterentwicklung von Konzepten zur Begleitung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und ihren Familien ist keineswegs abgeschlossen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der hier dokumentierten Fachtagung wurden durch dieses Forum ebenso wie wir als Veranstalter ermutigt, angesichts der in Deutschland ebenso wie in Italien zunehmend begrenzter werdenden Möglichkeiten den mit der Milani-Tagung von 1985 eingeschlagenen Weg für unsere fachliche Arbeit im multidisziplinären Dialog weiterzugehen.

Einleitung - Teil I

In der Bundesrepublik beziehen sich Eltern, Praktikerinnen und Praktiker sowie andere Fachleute in den Bereichen Gesundheit und Rehabilitation häufig auf Arbeitskonzepte und Praxisbeispiele aus Italien. Dabei ist jedoch festzustellen, daß sie in diesem Zusammenhang nur über unzureichendes Wissen verfügen. Es ist schwierig, hierzulande darüber detaillierte Informationen zu erhalten.

Das Paritätische Bildungswerk Bundesverband hat daher im Mai 1985 in seiner neu eingeführten Veranstaltungsreihe "Zur Diskussion gestellt ...", den über die Grenzen Italiens hinaus in der Fachöffentlichkeit bekannten Prof. Dr. Adriano Milani Comparetti (Florenz) und seine Mitarbeiterin, Frau Dr. E. Anna Gidoni eingeladen und sie gebeten, über ihr Arbeitskonzept und die Praxis im ,Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani'[1] zu berichten, um Einblick in die Arbeit einer am Kind orientierten, umfassenden Gesundheitsförderung zu geben. Der in der Zwischenzeit verstorbene Professor Dr. Milani Comparetti hatte bis 1985 als Kinderarzt, Kinderneurologe und -psychiater die Leitung des genannten Zentrums inne. Frau Dr. Gidoni ist mit den entsprechenden Berufsfachrichtungen auch heute noch in diesem Zentrum tätig.

Hervorzuheben ist, und das liegt der Einladung zu dieser Fachtagung des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband zugrunde, daß es sich hier um ein Konzept ganzheitlicher Gesundheitsförderung von Kindern handelt, das auf medizinischer Erfahrung aufbaut und von Medizinern in enger Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen in jahrzehntelanger Arbeit erprobt und weiterentwickelt wurde.

Wesentliche Merkmale dieses Arbeitsansatzes sind:

  • Das Kind - insbesondere das Kind mit Behinderungen - steht ausdrücklich mit seinen Fähigkeiten, nicht mit seinen Defekten, im Mittelpunkt der Arbeit.

  • Das Kind und seine soziale Umgebung werden als untrennbare Einheit gesehen. Diese Ganzheit ist wichtigster Orientierungspunkt für die Förderarbeit: "Das Leben kann nicht in Therapie verwandelt werden, ohne seine Qualität als Leben zu verlieren."(Milani Comparetti [72]).

  • Der Therapeut ist nicht Handlanger einer imaginären Normalität, sondern Mittler bestimmter fachlicher Kenntnisse zur Förderung der je eigenen Möglichkeiten des Kindes, u.a. zur Entwicklung von Autonomie.

  • Die Qualität von Therapie ist daran zu bemessen, inwieweit sie Ausgrenzung aus dem alltäglichen Leben verhindert bzw. zur Integration in dieses beiträgt.

Diese Überlegungen, insbesondere die letztgenannte, sind im Hinblick auf die sozial- und gesundheitspolitische Diskussion in der Bundesrepublik von größter Aktualität und Bedeutung.

Die Arbeit Milani Comparettis zeichnet sich durch enge Verknüpfung von praktischer Tätigkeit mit wissenschaftlicher Forschung und, vor allem, durch eine stetige und konsequente Weiterentwicklung seiner Ideen aus, d.h. durch kritisches Hinterfragen sowohl der eigenen Tätigkeiten und theoretischen Annahmen als auch durch kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Ergebnissen und den Ansichten von Kollegen. Über ihn wurde gesagt: "Lui non si ferma mai. (Er bleibt nie auf einer Stelle stehen.)" (Aly, Aly u.Tummler 1981, 1. Aufl, S. 29).

Milani Comparettis Anregungen zu einer Reform der Medizin in Richtung auf eine "Medizin der Gesundheit" hatten sowohl in Italien als auch im Ausland großen Einfluß auf die sozialmedizinische Diskussion.

Diese ständige und konsequente Erneuerung der eigenen Ideen Milani Comparettis läßt sich auch an der Entwicklung des 'Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani' ablesen: 1957, bei seiner Übernahme, war das Zentrum eine stationäre Einrichtung zur Rehabilitation von Kindern mit Zerbralparese, ein Rehabilitationszentrum mit angeschlossener Sonderkindertagesstätte, Sonderschule und mit spezialisiertem Personal. Wie aus dem Nachruf deutlich wird[2], beurteilte Milani Comparetti in einem 1979 in Berlin gehaltenen Vortrag diese Arbeitsphase kritisch, weil seiner Meinung nach Rehabilitation mit dem Einbeziehen in das normale Leben beginne und ohne dies zum Scheitern verurteilt sei. Die oben angesprochene, konsequente Weiterentwicklung von Milani Comparettis Ideen bedeutete für das ,Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani', daß er 10 Jahre nach Einrichtung des Zentrums, d.h. nach eigener zehnjähriger Tätigkeit dort als Arzt, mit dessen schrittweiser Auflösung begann. Wenn es bei seiner Eröffnung im Jahre 1957 lediglich zwei Wochen gedauert habe, so berichtete Milani Comparetti, bis man das Zentrum mit behinderten Kindern voll belegt hatte, so habe man mehr als zehn Jahre gebraucht (von 1968 bis 1980), bis das letzte der ca.100 im Zentrum betreuten Kinder nach Hause entlassen werden konnte.

Diese schrittweise Auflösung des Reha-Zentrums ging jedoch keineswegs mit einer Schließung einher. Vielmehr wurde die Konzeption für die Arbeit im ,Centro di Educazione Motoria Torriligiani' völlig neu bestimmt. Ihr wurde eine grundsätzlich andere Sicht von Behinderung und Krankheit zugrundegelegt und daraus folgten auch völlig neue Herangehensweisen. Seitdem orientiert sich das Zentrum an Prinzipien der "Gesundheitsmedizin", wie sie hier dokumentiert werden.

Milani Comparettis Arbeit und seine Gedanken zur Reform der Medizin finden auch in der Bundesrepublik zunehmend Resonanz. Die dieser Dokumentation zugrundeliegende Tagung des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband im Mai 1985 ist Teil einer Reihe von Veranstaltungen, die zu einem intensiven Erfahrungsaustausch geführt hatten. Durch den plötzlichen Tod Milani Comparettis konnten weitere gemeinsame Pläne, u.a. auch für eine Gastprofessur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt im Wintersemester 1986/87 leider nicht mehr verwirklicht werden.

Auch für die Erstellung dieser Tagungsdokumentation haben sich dadurch inhaltliche, organisatorische, sprachliche und zeitliche Probleme erheblichen Ausmaßes ergeben. Zum Beispiel wurde es notwendig, das gesamte, von Eckhard Jäger auf der Basis von Tonbandmitschnitten der Tagung erstellte Manuskript nochmals dahingehend zu überarbeiten, daß auch ohne ausdrückliche Autorisierung Milani Comparettis die Veröffentlichung dieses Tagungsberichtes verantwortbar ist.

Auf der Grundlage der erwähnten Tonbandmitschnitte hat Eckhard Jäger, in seinen eigenen Formulierungen, die Wiedergabe des Referats von Milani Comparetti sowie der Diskussionsbeiträge für die Veröffentlichung erarbeitet. Wörtliche Zitate sind ausnahmslos publizierten Arbeiten von Milani Comparetti entnommen. Eckhard Jäger und Dr. Hans von Lüpke übernahmen die Übersetzung dieser Textstellen. Die Endfassung wurde mit Dr. Hans von Lüpke und mir intensiv durchgearbeitet.

Frau Dr. Gidoni hat für die Tagungsdokumentation eine Kurzfassung ihres Referats, das sieseinerzeitinEnglischgehalten hatte, in italienischer Sprache geschrieben. Eckhard Jäger und Dr. Hans von Lüpke haben diesen Text ins Deutsche übertragen und - wo zum Verständnis nötig - durch Anmerkungen kommentiert.

Diese Tagungsdokumentation ist nur durch die engagierte und tatkräftige Arbeit von Dr. Hans von Lüpke und Eckhard Jäger möglich geworden. Sie haben durch ihre Nähe zu Milani Comparetti, durch die Kenntnis seines Werks, durch ihr Wissen sowie die Kenntnis der Praxis im ,Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani' und - nicht zuletzt - durch ihre Sprachkenntnisse zu diesen Texten verholfen.

Das Paritätische Bildungswerk Bundesverband möchte mit dieser Veröffentlichung sowohl die innerverbandliche als auch die allgemeine fachliche Diskussion anregen. Wünschenswert ist, daß daraus im Interesse und zum Wohle der behinderten Kinder und ihrer Familien viele neue Fragen an die eigene Praxis und die anderer sowie an Wissenschaft und Forschung entstehen.

An dieser Stelle soll besonders betont werden, daß es sich bei dem hier dargestellten nicht um ein Modell handelt, das man kopieren könnte. Historische soziale, gesetzliche und auch traditionelle Bedingungen, die nicht in jedem Land gleich sind, haben zu diesem Arbeitskonzept geführt.

Es handelt sich hierbei um ein konzeptionelles Beispiel, aus dem wir - bezogen auf die aktuelle gesundheits- und sozialpolitische Situation in der Bundesrepublik - zwar viel lernen können, das aber im Hinblick auf die hiesigen Gegebenheiten zu überprüfen, auszuwerten und weiterzuentwickeln ist. In diesem Sinne verstehen wir die Veröffentlichung dieser Tagungsdokumentation als Beitrag zu einer wichtigen aktuellen Diskussion.

Frankfurt, im Dezember 1986

Edda Janssen

Bildungsreferentin beim

Paritätischen Bildungswerk Bundesverband e.V.



[1] 'Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani', CRI, Via di Camerata 8, 50133 Firenze.

[2] Siehe Nachruf in diesem Band

Nachruf für Professor Adriano Milani Comparetti

Im Alter von 66 Jahren starb am 12. April 1986 Professor Adriano Milani Comparetti in Florenz, ein Jahr nach seiner Pensionierung. Milani galt als einer der führenden Neuropädiater und Sozialmediziner. Seine kritischen Beiträge fehlten auf kaum einem der internationalen Kongresse. Von 1973-1978 war er Präsident der International Cerebral Palsy Society.

Mit einer Ausbildung als Pädiater, Neurologe und Psychiater wurde er 1957 Direktor des 'Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani', das sich in einer alten florentiner Villa unterhalb von Fiesole befindet. Dieses Institut, war zunächst eine stationäre Einrichtung zur Rehabilitation von C.P.-Kindern. Zentren dieser Art mit Sonderkindertagesstätte, Sonderschule und spezialisiertem Personal waren zu jener Zeit in Italien etwas neues. Milani schreibt dazu rückblickend: "Dies basierte auf der überkommenen Illusion, daß die Behandlung erst die Behinderung vermindern müsse, so daß dann später ein normales Leben möglich würde. Dagegen möchte ich betonen, daß Rehabilitation mit dem Einbeziehen in das normale Leben beginnt und ohne dies zum Scheitern verurteilt ist." Die Konsequenz daraus war für Milani die Auflösung aller Sondereinrichtungen, was dann Ende der 70er Jahre auch gesetzlich verankert wurde. Seitdem hat in Italien jedes behinderte Kind das Recht, eine Regeleinrichtung zu besuchen.

Dieses Konzept der Integration, besser der "Nicht-Aussonderung", ging einher mit einem Umdenken in der Medizin und führte zur "Medizin der Gesundheit": medizinische Diagnostik darf sich nicht im Aufspüren von Defekten erschöpfen, sondern muß von den vorhandenen Fähigkeiten ausgehen. Diese Fähigkeiten können nicht durch Auslösen von Reflexen ermittelt werden - für Milani war das Wort "Reflex"ein Reizwort, bei dem er jedesmal zusammenzuckte. Solche Methoden können nur Teilfunktionen erfassen, die keinerlei Aussagen über die Kompetenz des Kindes zulassen, mit seiner Umwelt in einen Dialog zu treten. Dialog bedeutet hier: eine gleichberechtigte Beziehung mit dem Kind entwickeln.

Wer Milani im Umgang mit Kindern erlebt hat, konnte beobachten, wie konkret dieses Konzept in seiner Praxis verwirklicht wurde: er sprach sogar mit den kleinsten Säuglingen. Einmal schlug er auf einer Station Alarm, weil ein Frühgeborenes ihm nicht antwortete.

Daraus ergab sich bei Milani für die Therapie, daß sie sich nicht auf Übungssitzungen reduzieren läßt, daß der Therapeut niemals "gezielt" auf vorher festgelegte Resultate hinarbeiten kann: "Auf ein Kind können Sie nicht zielen, Sie treffen nur einen kleinen Teil", sagt Milani.

Wenn Kinder, vor allem Säuglinge, sich anders verhalten, als wir Fachleute es von ihnen erwarten, sind wir leicht geneigt, allein dies schon als Zeichen für eine Störung zu werten. Dabei gehört zum Dialog im Sinne Milanis gleichzeitig die Freiheit, etwas mitzuteilen wie auch ein Geheimnis für sich zu behalten: "In der Tat ist das Geheimnis nicht nur das, was von der persönlichen Identität aufgrund inadäquater Kommunikationswege nicht mitteilbar bleibt, sondern stellt einen Bestandteil des Dialogs dar. Es ist die Nische der sprachlich nicht mehr faßbaren Subjektivität, unverzichtbar, um die Identität des Individuums im Kontext der Beziehungen zu etablieren". Bei diesem Zitat wird deutlich, wieweit Milanis Denken reichte. Sollte hier der Verdacht des Spekulativen aufkommen, so darf nicht außer Acht gelassen werden, daß solche Überlegungen nicht nur aus der tagtäglichen Arbeit hervorgegangen sind, sondern ebenso wie Diagnostik und Therapie über Jahrzehnte hin ständig in der Praxis überprüft wurden. Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis zeigte sich schließlich auch in der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Dr. E. Anna Gidoni, einem über viele Jahre hin praktizierten Dialog.

Im persönlichen Umgang konnte Milani gleichermaßen liebenswürdig und bescheiden wie kompromißlos radikal sein, wenn es um seine Ideen ging: "Dann schreiben sie eben nichts" sagte er zornig zu einem Journalisten, der fertige Rezepte von ihm verlangte.

Eine der letzten Erweiterungen seines Konzepts waren Gedanken über die Rolle der Abwesenden (Angehörige, Nachbarn, Lehrer etc.). Der innere Dialog mit ihnen kann Erfolg oder Scheitern einer Therapie beeinflussen. Durch zeitweilige Abwesenheit eines der Eltern entwickelt das Kind die Fähigkeit zur Symbolisierung, zur Sprache.

Wir haben nicht geahnt, wie schnell Milani selbst zum Abwesenden für uns werden sollte. Der schmerzliche Verlust verweist uns darauf, noch konsequenter als bisher sein Denken nicht als Methode zu mißbrauchen, sondern damit unsere eigene Sprache zu finden.

Monika Aly, Berlin

Hans von Lüpke, Frankfurt/M.

(veröffentlicht in Sozialpädiatrie 8 [1986], S. 502)

Quelle:

Edda Janssen et al.: Vorwort, Einleitung, Nachruf

Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti.

Herausgegeben von Edda Janssen und Hans von Lüpke im Auftrag des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband e. V., Frankfurt; Dez 1996

(1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 5 - 15

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2005

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