Vermittlung elementarer Lese- und Rechtschreibkenntnisse bei einem ehemaligen Sonderschüler durch interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen gemeindenaher Psychiatrie und Behindertenpädagogik

Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erstveröffentlichung in G. Klein, A. Möckel & M. Thalhammer (Hrsg.): Heilpädagogische Perspektiven in Erziehungsfeldern. Bericht der 18. Arbeitstagung der Dozenten für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern vom 12. bis 14. Oktober 1981 an der Universität Würzbung. Heidelberg: Schindele 1982, S. 267-275. Abgesehen von eingefügten Zwischenüberschriften, Angleichungen an die neue Rechtschreibung und Korrekturen von Schreibfehlern wurde der Originaltext unverändert gelassen.
Copyright: © Hans Jacobi, Reimer Kornmann, Marianne Ort, Elke Stichs 1982

Anlass und organisatorischer Rahmen der Förderung

Vier Personen zeichnen als Autoren dieses Berichts über die Vermittlung elementarer Lese- und Rechtschreibkenntnisse an einen einzigen jungen Mann.

Hans Jacobi ist niedergelassener Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in einer Kleinstadt nahe Heidelberg. Er und seine Mitarbeiter bemühen sich, ein gemeindenahes Konzept psychiatrischer Versorgung zu verwirklichen. Vor etwa 3 Jahren kam der damals 21jährige Herr A. zusammen mit seiner Mutter in diese Praxis, um das notwendige Attest für die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises zu erhalten. Marianne Ort ist als Diplom-Psychologin fest angestellte Mitarbeiterin in der Praxis Dr. Jacobi gewesen. Sie hat Herrn A. eingehend psychologisch untersucht und die Vermittlung von Lese- und Rechtschreibkenntnissen als Teil einer umfassenden Therapie angeregt. Elke Stichs, heute Sonderschullehrerin, führte diesen Teil der Förderung während ihrer Abordnung zum Studium der Sonderpädagogik durch und schrieb hierüber ihre Staatsexamensarbeit. Reimer Kornmann hat als Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg diese Arbeit betreut. Die Zusammenarbeit zwischen der Praxis Dr. Jacobi und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg kam durch bereits bestehende persönliche Kontakte zustande.

Skepsis ist berechtigt: Da sind die "vielen Köche, die den Brei verderben" (so ein altes Sprichwort), da wird vor der "Schimäre Interdisziplinarität" gewarnt (so Jörg Schlee auf dieser Arbeitstagung), da könnten drei sich als "helfend" verstehende Berufsgruppen in wechselseitiger Absprache dreifach "klientelisiert" haben (so eine Kritik, die auch an die Sonderpädagogik gerichtet wird, z. B. von Belschner 1979). Es ist nun keineswegs unsere Absicht, diese Skepsis mit einem - wie wir meinen - gelungenen Gegenbeispiel zu entkräften. Wollten wir mit unserem Bericht nur auf die Richtigkeit der handlungsleitenden Theorie und unseres praktischen Ansatzes hinweisen, so wäre dies nicht ehrlich: Denn am Beginn der Arbeit bestand viel Unsicherheit sowohl hinsichtlich der Begründung als auch hinsichtlich der Ziele und Methoden des praktischen Vorgehens. Erst im Verlauf der Arbeit mit Herrn A. erlebten wir das, was wir für mitteilenswert erachten: eine tiefe Betroffenheit über die konkreten Bedingungen, unter denen menschliche Entwicklung verhindert, aber auch wieder freigesetzt werden kann. Die Betroffenheit hat sich bis heute gehalten, ja, sie verstärkt sich noch, wenn wir die Auswirkungen der hemmenden und der förderlichen Bedingungen registrieren. Diese förderlichen Bedingungen waren zum Teil auch sehr "einfache", oft ganz "unprofessionelle" Hilfen, was uns besonders nachdenklich machte.

Rückblick aus der Perspektive des Erfolgs

Heute ist Herr A. ein junger Mann, der - wie man so schön sagt - ein "ziemlich normales Leben" führt:

  • Mit seinem Verdienst als Hilfsarbeiter bestreitet er seinen eigenen Lebensunterhalt und trägt auch noch zu dem seiner Familie bei,

  • erliest jeden Tag Zeitung,

  • er besitzt den Führerschein und fährt Auto,

  • er knüpft selbständig Außenkontakte und pflegt bestehende Kontakte unter sensibler Berücksichtigung der Interessen seiner Partner,

  • er ist Mitglied eines örtlichen Vereins,

  • er betreut einen hilfsbedürftigen Menschen in seinem Wohnort. (In der Fachsprache der gemeindenahen Psychiatrie würde man ihn als "Laienhelfer" bezeichnen).

Vor drei Jahren wirkte er beim Erstkontakt in der Praxis wie ein "normaler Geistigbehinderter":

  • "plump, schwer, vor sich hinstarrend",

  • "die Mutter immer neben ihm mit der Hand auf der Schulter, als müsse sie ihn halten oder abhalten vor Ausbrüchen", (so die Eindrücke von Marianne Ort beim ersten Gespräch).

Diesen Eindrücken entsprachen auch die weiteren Beobachtungen und Berichte, die seine damalige Lebensführung betrafen:

  • Er wurde nur mit dem Vornamen angesprochen,

  • die Familie schirmte ihn vor Außenkontakten ab und übertrug ihm keine Arbeiten, die seine Entwicklung förderten,

  • er wurde in allen Lebensbereichen bevormundet

  • die Eltern hatten es aufgegeben, ihm noch etwas beizubringen,

  • seine sprachliche Äußerungsfähigkeit war erheblich eingeschränkt: er stammelte, sprach in unvollständigen Sätzen und hatte einen sehr eingeschränkten Wortschatz,

  • er traute sich selbst kaum etwas zu,

  • er besaß kaum Kenntnisse und Fähigkeiten, die ihn von der Hilfe anderer unabhängig machen würden, wie z. B. Lesen und Schreiben, Umgang mit Geld, Bedienung des Telefons usw.,

  • am Arbeitsplatz wurde er von den Kollegen nicht "für voll genommen"; die Kollegen übertrugen ihm die unangenehmsten Arbeiten, nutzten seine fehlende Lesefähigkeit für Späße aus usw.

Rekonstruktion der Lern- und Entwicklungsbedingungen

Nun wird ein solcher Entwicklungsstand oft als geradezu zwangsläufiges Ergebnis einer Schädigung des Zentralnervensystems betrachtet, für die es bei Herrn A. recht sichere Anhaltpunkte aus der Anamnese gab (siehe später). Dieser Erklärungsansatz entspräche dem individualtheoretischen Paradigma oder Medizinischen Modell (vgl. z. B. Kobi, 1977), von dem sich unsere Arbeit klar distanziert. Selbstverständlich wurde Herr A. eingehend neurologisch und elektroencephalographisch untersucht. Dabei ergab sich kein Anhaltspunkt für einen pathologischen Befund. Ein deswegen veranlasstes Computertomogramm in der nahe gelegenen Universität war ebenfalls unauffällig. Doch auch bei klinischen Anzeichen muss die gesamte Biographie eines Menschen umfassend rekonstruiert werden, wenn zu entscheiden ist, ob der augenblickliche Entwicklungsstand als Ergebnis eines gestörten oder störungsfreien Aneignungsprozesses anzusehen ist (vgl. Jantzen 1979, S. 33ff.). Würde man zu dem Schluss kommen, dass keine gravierenden Störungen der Entwicklung vorgelegen haben oder vorliegen, wären Maßnahmen zur Änderung der Lern- und Lebensbedingungen entbehrlich. Dies würde auch für den Fall gelten, dass bestimmte Störungen vorgelegen haben, welche inzwischen nicht mehr wirksam sind. Die umfassende Kenntnis der Entwicklungsbedingungen hilft aber in jedem Falle, die Situation der Lernenden aus deren eigener Sicht besser zu verstehen. Dies ist besonders dann wichtig, wenn Probleme und Schwierigkeiten in therapeutischen oder pädagogischen Vermittlungsprozessen auftreten und die Gefahr besteht, dass der Vermittler (also der Therapeut oder Pädagoge) dies ausschließlich den Lernenden (also dem Klienten oder Schüler) anlastet, sich also von ihm distanziert, ihn nicht mehr verstehen kann und ihn damit "pathologisiert", d. h., ihn für "verrückt" oder "dumm" erklärt.

Die Entwicklung von Herrn A. wurde vor allem durch folgende Informationsquellen rekonstruiert:

  • Die medizinische Akte

  • Gespräche von Marianne Ort und Elke Stichs mit Herrn A.

  • Gespräche zwischen der Mutter von Herrn A. und Elke Stichs.

Testunterlagen und Schulzeugnisse waren nicht mehr verfügbar, da die Schulzeit schon länger zurücklag und ein häufiger Schul- und Lehrerwechsel stattgefunden hatte.

Herr A. wurde 1957 geboren. Damals waren beide Eltern noch sehr jung, die Mutter 18 Jahre und der Vater 21 Jahre alt. Die Familie lebte in einer kleinen Einzimmerwohnung, in der das Kind dann auch zur Welt gekommen ist. Die Geburt sei durch Steißlage erschwert gewesen, doch habe sich das Kind zunächst normal entwickelt. Die Mutter erinnert sich aber, dass ihr Sohn erst mit 2 Jahren laufen gelernt habe. Wegen der engen Wohnverhältnisse sei er fast immer im Kinderbettchen geblieben, und im Bett habe er auch laufen gelernt. Die Mutter lese sehr wenig, nur Zeitschriften. Dem Kind habe sie aus Zeitmangel auch nicht vorgelesen. Mit 3 Jahren konnte der Junge sprechen, und erging bis zum 5. Lebensjahr in den Kindergarten. Während des Kindergartenaufenthaltes sei er nicht auffällig gewesen.

Im Jahre 1962, also noch vor Schuleintritt, hatte der Junge einen Unfall: Fahrradkollision mit einem Lastwagen. Dabei erlitt er eine Stirnverletzung. Die Mutter sagt, die Wunde sei so tief gewesen, "dass sie eine Windel hineingestopft" habe. Der Unfallarzt sei erst nach zwei Stunden gekommen. Ihr Sohn sei nicht im Krankenhaus behandelt worden, sondern vom Unfallarzt und anschließend von einem Kinderarzt. Nach dem Unfall habe er stundenlang phantasiert: "ich will fliegen, fliegen". Seit diesem Unfall habe das Kind oft unter starken Kopfschmerzen und Müdigkeit gelitten.

1963 wurde der Junge in eine Grundschule eingeschult. Nach seinen eigenen Aussagen sei das Verhältnis zur Lehrerin schlecht gewesen. Er habe oft nicht aufpassen können, weil er schnell müde geworden sei. Die Lehrerin habe sich kaum um ihn gekümmert. Nach einem halben Jahr wurde er in die Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen. Die Mutter erzählt, dass in der Unterstufe dieser Schule die ersten vier Klassenstufen zusammengefasst waren und der Unterricht in einem Klassenraum mit 40 Kindern abgehalten wurde. Ihr Sohn habe nicht verstanden, worauf es beim Lesen ankommt. Er habe die Buchstaben nicht zusammenziehen können. Der Lehrer habe keine Zeit gehabt, ihm etwas extra zu erklären. Ihr Sohn sei sehr ungern in die Schule gegangen und öfters krank geworden.

Anfang 1966wurde der Junge in die Geistigbehindertenschule überwiesen, nachdem eine testpsychologische Untersuchung stattgefunden hatte. Die Mutter berichtet, dass sich ihr Sohn seit der Einschulung in die Geistigbehindertenschule sehr verändert habe: erhabe aufgehört zu sprechen und zu spielen, sei niemals mehr allein runter auf die Straße gegangen und habe keinen Freund gehabt. Wenn er aus der Schule kam, sei er von den Nachbarn und Nachbarskindern stark gehänselt worden. Am Anfang sei er ein paar Mal handgreiflich geworden, worauf ihn der Vater - um weiteren Schwierigkeiten vorzubeugen - diszipliniert habe. Mit der Zeit sei der Junge immer stiller geworden. Die Familie A. wohnte damals in einem Mietshaus in enger Nachbarschaft zu anderen Familien, die sie wegen des "Geistesschwachen" gemieden hätten. Frau A. versuchte, ihn aus der Schule herauszubekommen, konnte sich aber wegen der Testunterlagen nicht durchsetzen. Darauf versucht es die Mutter mit Nachhilfeunterricht bei Studenten in K.., der jedoch scheiterte, weil die Hin- und Rückfahrten am späten Nachmittag zu umständlich und zu teuer waren.

Im Jahr 1970 zog die Familie in ihren jetzigen Wohnort. Dort baute sie in Eigenarbeit ein Haus. Für den Jungen gab es hier keine geeignete Schule, d.h. die Lernbehindertenschule nahm ihn nicht auf. So blieb er 7 Monate zuhause und arbeitete am Hausbau mit. Mit 13 Jahren und 5 Monaten erhielt er bei einer Firma am gleichen Ort zunächst eine Lehrstelle. Als sich herausstellte, dass er noch nicht 14 Jahre alt war, wurde er wieder entlassen und musste an einer Schule gemeldet werden. Am Ort blieb nur die Schule der Lebenshilfe übrig. Die Lebenshilfe war gerade im Aufbau und bestand nur aus einer Kindergartenabteilung, so dass der 14jährige Junge sein letztes Schuljahr mit 4 - 7jährigen geistigbehinderten Kindern verbrachte.

Seit dem 15 Lebensjahr arbeitet Herr A. bei einer Firma im Hof. Dort hat er unterschiedliche Arbeiten zu verrichten (Gabelstapler fahren, Ware verpacken und sortieren, Hof spritzen usw.). Erarbeitet täglich fast 9 Stunden, weil die Familie dringend Geld braucht. Nach der Arbeit in der Firma geht es beim Hausbau und im eigenen Garten weiter. Herr A. hält selbst viel auf seine Körperkräfte, seinen Fleiß und sein Durchstehvermögen.

Herr A. erzählt, dass er mit seinen Geschwistern sehr gut zurecht komme. Sie hätten ihn wegen seiner Behinderung niemals verachtet. Herr A. beklagt allerdings seine soziale und wirtschaftliche Abhängigkeit von seinen Eltern. Er darf nicht alleine einkaufen, muss sein Geld abliefern und hat kein eigenes Konto. Der Vater traue ihm nicht zu, dass er lesen lernt und hält die Vorschläge des Arztes für vergeudete Zeit. (Aus der sicher nicht unbefangenen Sicht des Vaters sind die Zweifel an den Entwicklungsmöglichkeiten seines Sohnes sowie seine entsprechenden Reaktionen durchaus verständlich; hierauf kann aber nicht näher eingegangen werden).

Diese Rekonstruktion ergab sich teilweise auch aus Gesprächen, die erst während der Förderung stattfanden. Eine objektive Überprüfung aller dieser Angaben war leider nicht möglich - gewisse Abweichungen möchten wir nicht ganz ausschließen. Doch dadurch wurde uns und Herrn A. selbst die Logik seiner Entwicklung bis zu dem Punkt, an welchem die Förderung einsetzte, zunehmend verständlicher. Die Bereitschaft, jeden Menschen als lern- und entwicklungsfähig anzusehen und in jeder Beziehung ernst zu nehmen, wurde Herrn A. von Anfang an sowohl von dem Arzt als auch von der Psychologin deutlich zu verstehen gegeben. So wurde er beispielsweise sofort danach gefragt, ob es ihm etwas ausmache, dass er als behindert gelte und nicht lesen und schreiben könne. Hierauf zeigte Herr A. unerwartet stark geäußerte Emotionen. Sie ließen deutlich erkennen, dass er ein großes Interesse an der Änderung seiner Lebensbedingungen habe, dass er sich aber nicht zutraue, dies zu schaffen.

Zielsetzungen und Methoden der Förderung

In weiteren Gesprächen versuchte Marianne Ort zusammen mit Herrn A. die Ziele für die Änderung seiner Lebensbedingungen zu konkretisieren. Eines dieser Ziele bestand darin, dass Herr A. gerne den Führerschein erwerben wollte. Dazu bemerkte er allerdings gleich, dass er dies für aussichtslos halte, weil er nicht lesen könne und dies auch nicht erlernen werde. In mehreren Gesprächen wurde daraufhin versucht, Herrn A. weniger skeptisch zu stimmen. Man traue ihm das sehr wohl zu, da er ja offensichtlich gern lesen lernen wolle. Um ihm auf jeden Fall negative Erfahrungen zu ersparen, die sich möglicherweise aufgrund einer unzureichenden Lehr-Methodik ergeben könnten, wurde erst mit dem Leselehrgang begonnen, als mit Elke Stichs eine geeignete Lehrerin gefunden wurde. Acht Wochen lang arbeitete sie in 24 Sitzungen mit Herrn A. Dabei wurden folgende Prinzipien berücksichtigt:

  1. Zunächst müssen die konkreten Anforderungen, welche der Leselernprozess stellt, genau analysiert und in Aufgaben transformiert werden.

  2. Diese Aufgaben müssen abgeprüft werden. Dadurch lassen sich die schon vorhandenen Lernvoraussetzungen und Teilqualifikationen feststellen.

  3. Der Vermittlungsprozess muss an den vorhandenen Lernvoraussetzungen und Teilqualifikationen ansetzen und schrittweise die Zone der nächsten Entwicklung ansteuern.

  4. Erzielte Lernfortschritte sind dem Lernenden ständig deutlich zu machen.

  5. Jede erworbene Kompetenzerweiterung muss möglichst sofort in der realen Lebenssituation erfahrbar gemacht werden.

Ähnliche Prinzipien hat inzwischen Marion Bergk (1980) aus der Aneignungstheorie abgeleitet und ausführlich dargestellt.

Der gesamte Vermittlungsprozess kann hier nicht wiedergegeben werden. Für jedes der genannten Prinzipien werden daher nur Beispiele genannt.

  1. Zur Struktur der Anforderungen

Wer lesen lernen will, muss zum einen die Bedeutung der Schriftsprache für sein eigenes Leben erkannt haben und zum anderen in der Lage sein, die verschiedenen Grapheme (Formen der Buchstaben) und Phoneme (Laute) zu unterscheiden und einander zuzuordnen.

Aufgaben für den Bedeutungsgehalt brauchten in unserem Falle nicht formuliert zu werden, da Herr A. sehr konkrete und realistische Vorstellungen von dem Gebrauchswert des Lesens besaß.

Wenn die Zuordnung von Phonemen zu Graphemen und umgekehrt gelingt, werden auch die einzelnen Grapheme und Phoneme sicher unterschieden. Daher bietet es sich aus ökonomischen Gründen an, zunächst Aufgaben für die Zuordnung zu formulieren. Für Herrn A. wurden zwei Klassen solcher Aufgaben gewählt:

  • Lesen von Buchstaben,

  • Zeigen von Buchstaben,

wobei die Buchstaben jeweils auf Tafeln vorgegeben waren.

Die Unterscheidungsfähigkeit für Grapheme wird durch Zuordnungsaufgaben geprüft (z. B. Sortieren gleicher Buchstaben, Auffinden und Ankeuzen von Buchstaben, welche mit dem jeweils als Muster vorgegebenen Buchstaben identisch sind, usw.).

Die Unterscheidungsfähigkeit für Phoneme kann am einfachsten durch Nachsprechen vorgegebener Laute überprüft werden. Bei manchen Sprachstörungen ist ein auffälliges Ergebnis allerdings nicht eindeutig interpretierbar: Das vorgesprochene Wort kann durchaus richtig gehört, aber nicht richtig wiedergegeben werden. In solchen Fällen empfiehlt es sich, spezielle Testverfahren einzusetzen (vgl. Kornmann et al., 1978). Für Herrn A. war dies nicht erforderlich.

  1. Einige Ergebnisse der Prüfung

Herr A. konnte einige wenige Buchstaben lesen und einige weitere durch Zeigen bestimmen. Die übrigen Grapheme, deren Bezeichnung ihm nicht bekannt war, konnte er jedoch sicher voneinander unterscheiden.

Bei der Überprüfung der Lautunterscheidungsfähigkeit traten einige Unsicherheiten auf. Herr A. hatte - offensichtlich bedingt durch mangelnde Sprachanlässe - eine sehr "verwaschene Aussprache". Er konnte, wenn er sich gut konzentrierte, alle Phoneme richtig nachsprechen, zeigte jedoch Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Phonemen innerhalb eines gesprochenen Wortes. Teilweise schienen diese Schwierigkeiten dadurch bedingt zu sein, dass er hochdeutsch gesprochne Wörter kaum kannte.

  1. Zur Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen bei der Gestaltung des Vermittlungsprozesses

Die Buchstaben, welche Herr A. kannte, wurden zunächst zu Wörtern zusammengesetzt, die Herrn A. ebenfalls geläufig waren. Er bekam die Aufgabe, sich einzelne Wortbilder einzuprägen, die er später auf einer Vorlage zu identifizieren hatte. Richtig identifizierte Wörter musste er sodann ebenfalls benennen. Da ihm dies keine größeren Schwierigkeiten bereitete, wurde auch die Kenntnis der (abstrakteren!) Buchstaben schrittweise erweitert, wobei mit jedem neu gelernten Buchstaben auch neue Wortbilder zusammengesetzt wurden.

  1. Zur Dokumentation der Lernfortschritte

Alle von Herrn A. beherrschten Buchstaben und Wörter wurden auf Karten, mit dem jeweiligen Datum versehen, notiert. Durch einfach Vergleiche konnte Herr A. sehr leicht erkennen, dass die Zahl der von ihm gelesenen Wörter stetig zunahm. Dies stärkte offenbar sein Selbstvertrauen und minderte seine anfänglich geäußerte Skepsis, dass er doch nicht das Lesen erlernen werde.

  1. Zur Erfahrung des Gebrauchswertes

Die Arbeitssitzungen fanden aus organisatorischen Gründen immer in der Arztpraxis statt. Herr A. wünschte jedoch, auch einmal in Heidelberg zu Elke Stichs zu kommen. Bisher war er allerdings noch nie allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln gereist. Auch dazu sollte er im Rahmen der Therapie befähigt werden. Um sich nun auf der bevorstehenden Reise besser orientieren zu können, wurden mit ihm die Bedeutung der Hinweisschilder und die Wortbilder der entsprechenden Aufschriften erarbeitet. Durch diese neu erworbene Kompetenz gelang Herrn A. die Hin- und Rückreise ohne Probleme.

Zwischenbilanz nach Abschluss der Förderung

Während der Arbeitssitzungen wurde nie ausschließlich Lesen und Rechtschreiben geübt. Der überwiegende Teil der Zeit war mit Gesprächen über Probleme und Erlebnisse des Alltags ausgefüllt. Diese Gespräche wurden von Elke Stichs nicht einseitig in bewusster therapeutischer Absicht und mit entsprechender Technik gelenkt, vielmehr empfand sie ein echtes Interesse an den Äußerungen von Herrn A. und wurde wohl so seinem großen Mitteilungsbedürfnis auf natürliche Weise gerecht. Diese Gespräche mögen wohl auch zur psychischen Stabilisierung von Herrn A. beigetragen haben.

Der Unterricht wurde abgebrochen, als Herr A. fähig war, ein in grammatikalischer und inhaltlicher Hinsicht sehr einfaches Buch zu erlesen. Formal war das Buch gut untergliedert, die Schrift groß und deutlich, der Text reich illustriert. Der Inhalt ist eine einfache Geschichte über ein italienisches Gastarbeiterkind, das Schwierigkeiten hat, sich in der neuen Umgebung einzuleben. Das Verstehen des Textes setzt kein bestimmtes Sachwissen voraus.

Es stellt sich jetzt die Frage, ob Herr A. mit der neu erworbenen Fähigkeit, ein Kinderbuch langsam zu erlesen, genügend Grundlagen besitzt, um sich selbständig im Lesen zu vervollkommnen. Geht man davon aus, dass das Lesenkönnen eine komplexe geistige Tätigkeit darstellt, bei der die Lesetechnik nur eine notwendige Voraussetzung ist, kann Herr A. in so kurzer Zeit nicht wirklich Lesen gelernt haben. Lesenkönnen verlangt vom Leser Leistungen wie Konzentration und Ausdauer, weiter ein Grundwissen, Interessen und Erfahrungen, um die gelesenen Inhalte verarbeiten zu können. Erst dann kann das Wissen durch Lesen erweitert werden. Die Ausbildung des Lesens ist immer zugleich untrennbar mit der Persönlichkeitsentwicklung des Lesers verbunden.

Herr A. war wohl nicht fähig, seine technischen Lesefertigkeiten selbständig zu verbessern. Eine weiterführender Leseunterricht war aber erforderlich, um die Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit zu gewährleisten.

Während des Erstleseunterrichts mussten die Artikulationsschwächen zunächst behoben werden, es wurde das Bewusstsein von Sprache und Schrift geschaffen, die Lesetechnik wurde vermittelt, aber es war nicht möglich, ein Programm zu entwickeln, mit dem das Sachwissen und die Erfahrungen gezielt hätten erweitert werden können. Daher war der Unterricht nur ein Beginn, der unbedingt einer Fortführung bedurfte. Dazu wurde ein Lehrer gewonnen, der ebenfalls Laienhelfer war.

Rückblick und Perspektiven

Hat sich aus der Sicht von Herrn A. etwas an seiner Situation durch den Lesekurs geändert?

Vor dem Leseunterricht war Herr A. der hoffnungslos zurückgebliebene, gutmütige aber dumme Handlanger im Betrieb und in der Familie. Keiner setzte sich mit seiner Situation und seinen Zukunftsperspektiven auseinander. Da er bis dahin nicht lesen gelernt hatte und auch kaum sprach, galt er als nicht mehr entwicklungsfähig. Ihm wurden Aufgaben erteilt, die vor allem körperliche Kräfte erforderten.

Die Einstellung gegenüber Herrn A. änderte sich zunehmend, seit die kompetente Autorität eines Arztes seine geistige Behinderung anzweifelte und er selbst durch den erfolgreichen Lesebeginn gezeigt hatte, dass er bildungsfähig ist.

Für Herrn A. stellt das bisher Gelernte einen Erfolg dar. Da sein Selbstbewusstsein und seine Selbstachtung gestärkt wurden, tritt er selbstbewusster und anspruchsvoller auf. Die Familienmitglieder, die diese Entwicklung verfolgen konnten, veränderten nun ihrerseits ihr Verhalten gegenüber Herrn A. Diese wechselseitige Beeinflussung hat für Herrn A. ganz konkrete Veränderungen zur Folge gehabt.

  1. Er hat während des Unterrichts seine Sprechhemmungen überwunden und teilweise seine Artikulationsschwächen behoben. Er beteiligt sich, nach den Aussagen der Mutter, aktiv an den Familiengesprächen. Dabei konfrontiert er die Eltern und Geschwister mit seinen Wünschen und Problemen. Herr A. möchte beispielsweise eine richtige Lehrstelle suchen und einen Schweißkurs mitmachen, damit er nicht immer Hilfsarbeiter bleiben muss. Die Familie muss sich mit seinen Äußerungen beschäftigen. Es hat sich langsam eine aktive Kommunikation entwickelt, durch die Herr A. endlich aus der totalen Isolierung heraustritt.

  2. Das Selbstbewusstsein von Herrn A. hat sich so weit gestärkt, dass er handelnd seine Situation zu verändern weiß. So schlägt er dem Arzt vor, ein gemeinsames Gespräch mit seinem Arbeitgeber zu führen,, um diesen über seinen Gesundheitszustand zu informieren. Damit erreicht er, dass sich die Mitarbeiter im Betrieb ihm gegenüber anders verhalten. Herr A. muss zwar noch die gleichen Arbeiten wie vorher verrichten, aber er wird jetzt wie ein erwachsener Mensch behandelt und angesprochen.

  3. Herr A. erreichte nach einer Aussprache mit den Eltern, die in Gegenwart des Arztes stattfand, dass er sein eigenes Konto erhält und ihm auch mehr Verantwortung zu Hause übertragen wird. Finanziell unabhängiger, kann Herr A. jetzt auch seine Freizeit selbständiger gestalten.

Literatur

Belschner, W.: Der Beitrag der Verhaltenstherapie zur Sonderpädagogik. Zeitschrift für Heilpädagogik 30 (1979), 729-746.

Bergk, M.: Leselernprozess und Erstlesewerke. Bochum 1980.

Jantzen, W.: Grundriß einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie. Köln 1979.

Kobi, E. E.: Modelle und Paradigmen in der heilpädagogischen Theoriebildung. In Bürli, A. (Hrsg.): Sonderpädagogische Theoriebildung - Vergleichende Sonderpädagogik. Luzern 1977, S. 11-24.

Kornmann, R., Billich, P., Reich, T.: Die Prüfung der auditiven Diskriminationsfähigkeit - ein dringendes Erfordernis bei der Diagnostik von Kindern mit Lernschwierigkeiten. Zeitschrift für Heilpädagogik 29 (1978), 603-606.

Quelle:

Hans Jacobi, Reimer Kornmann, Marianne Ort, Elke Stichs: Vermittlung elementarer Lese- und Rechtschreibkenntnisse bei einem ehemaligen Sonderschüler durch interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen gemeindenaher Psychiatrie und Behindertenpädagogik

Erstveröffentlichung in G. Klein, A. Möckel & M. Thalhammer (Hrsg.): Heilpädagogische Perspektiven in Erziehungsfeldern. Bericht der 18. Arbeitstagung der Dozenten für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern vom 12. bis 14. Oktober 1981 an der Universität Würzbung. Heidelberg: Schindele 1982, S. 267-275. Abgesehen von eingefügten Zwischenüberschriften, Angleichungen an die neue Rechtschreibung und Korrekturen von Schreibfehlern wurde der Originaltext unverändert gelassen.

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Stand: 12.05.2009

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