Auflösung von Sonderschulen

Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 15-16. Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998
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Inhaltsverzeichnis

Auflösung von Sonderschulen

Die UNESCO fordert in ihrer Salamanca-Erklärung (1994) eine gemeinsame Schule für alle Kinder. Es waren nur die Vertreter der deutschsprachigen Länder (z.B. österreichische Ministerialbeamte und Beamte der Sonderschulbehörden), die bei der Formulierung der Erklärung auf eine Sicherung der Existenz der Sonderschulen drängten. Wenn in Österreich durch Beamte des Unterrichtsministeriums heute Einschränkungen des Ziels der Integration in der Salamanca-Erklärung gesehen werden, ist das nur die Wiederholung eigener Standpunkte.

Darüber hinaus sind die Formulierungen der Salamanca-Erklärung zur Sonderschule aber durchaus beachtenswert. Es ist dort das wichtige Prinzip zu erkennen, daß eine Sonderschulaufnahme nur eine Ausnahme sein kann und von einem Nachweis abhängt, der sich auf den Unterricht der Regelschule bezieht. Mit Entwicklung des Unterrichts ändert sich damit auch die Situation. Starr diagnostizierende Sonderschulzuweisungen können abgelehnt werden.

"Die Zuweisung von Kindern zu Sonderschulen - oder zu ständigen speziellen Klassen oder Abteilungen innerhalb einer Schule - sollte die Ausnahme sein. Dies ist nur in jenen seltenen Fällen zu empfehlen, wo deutlich gezeigt werden kann, daß ein Unterricht in einer Regelschulklasse den Lern- und sozialen Bedürfnissen eines Kindes nicht entsprechen kann bzw. wenn es für das Wohlergehen des Kindes oder anderer Kinder erforderlich ist." (Salamanca-Erklärung, P.8)

Hier wird von "seltenen Fällen" gesprochen, wo die Zuweisung zu Sonderschulen erfolgen könnte. Dabei ist aus Punkt 21 der Salamanca-Erklärung erkennbar, daß damit vor allem gehörlose und taubblinde Menschen gemeint sind. Nun gibt es Forderungen von gehörlosen Personen nach eigenen Schulen, insbesondere unter dem Aspekt der Wahrung der Gebärdensprache, die durch die Sonderpädagogik lange unterdrückt wurde. Aber ebenso gibt es ermutigende Erfahrungen zur Integration von gehörlosen Kindern und Jugendlichen, wobei die Entwicklung der Gebärde voll mitberücksichtigt wurde. Zur Integration der nun wirklich winzigen Gruppe von taubblinden Kindern gibt es in Österreich noch keine formulierten Erfahrungen, was aber nicht prinzipiell gegen die Integration ausgelegt werden kann, sondern wieder auf Integration als Erfahrungs- und Entwicklungsaufgabe verweist.

Lange Zeit wurde z.B. die Meinung vertreten, daß geistig behinderte Kinder und Jugendliche nicht integrativ unterrichtet werden könnten. Dies ist durch die Praxis der Integration in Österreich inzwischen völlig widerlegt und auch in der österreichischen Integrationsgesetzgebung wird nicht nach verschiedenen Behindertengruppen unterschieden, sondern der Nachweis eines (sonder-) pädagogischen Bedarfs verlangt. Damit ist Integration nicht eine Frage der Behinderung eines Kindes, sondern der Erfüllung eines pädagogischen Bedarfs.

Es gibt keinen Grund, das Sonderschulsystem als Ganzes aufrecht zu erhalten. Vielmehr ist es wichtig, den Schulentwicklungsprozeß so zu unterstützen und zu steuern, daß der Umbau vom traditionellen Sonderschulsystem zu einer integrativen Schule für alle Kinder und Jugendlichen gelingen kann. Dies ist in Österreich trotz vieler ermutigender Beispiele insgesamt weiterhin ein großes Problem. Trotz zunehmender Integration in Österreich erweist sich das Sonderschulsystem als relativ stabil und hat selbsterhaltende Mechanismen über eine informelle Ausweitung der Definition von Kindern mit (sonder-) pädagogischem Förderbedarf entwickelt. Der Umbau im Sinne kommunizierender Gefäße zwischen der Schultypen gelingt noch nicht, muß aber als bildungspolitisches Ziel durchgesetzt werden (jenseits der Sinnlosigkeit Systemverdoppelungen zu finanzieren und damit mögliche Ressourcen zu verschleudern). Besonders deutlich zeigen sich die strukturellen Probleme der österreichischen Schule am Beispiel der Allgemeinen Sonderschule (ASO).

Schwierigkeiten von benachteiligten Eltern: Das Eltern-Wahlrecht für die Integration ist in Österreich in der Praxis nur ein Antragsrecht, das zur Erreichung der Integration von Eltern behinderter Kinder ein hohes Maß an Kompetenz und Durchsetzungsvermögen erfordert. Gerade die Eltern dieser Kinder, die in Gefahr sind als lernbehindert eingestuft zu werden, sind meist aufgrund ihrer sozial benachteiligten Lage (wenig qualifizierende Ausbildung, niederes Einkommen, schwierige Wohn- und Lebensverhältnisse, Eltern mit nichtdeutscher Muttersprache) nicht fähig, die Integration ihrer Kinder durchzusetzen. Der Besuch der Sonderschule durch ihre Kinder bewirkt die Wiederholung von benachteiligten Lebenskarrieren.

Benachteiligungen durch ASO-Besuch: Der Status als Abgänger einer Lernbehindertensonderschule (ASO) ist für die gesamte Lebenskarriere der betroffenen Personen eine gravierende Einschränkung und Benachteiligung, wie schon Untersuchungen zu Beginn der 80er Jahre in Österreich nachgewiesen haben (Vergleich von Hauptschul-B-Zug-AbgängerInnen mit ASO-AbgängerInnen, Forster-Studie 1981; vgl dazu auch: Martin Jenewein: Stigma-Management. Fallstudien zur biographischen Identität von ehemaligen Sonderschülern. Diplomarbeit, Innsbruck 1997, in: http://bidok.uibk.ac.at/

ASO als schulstrukturelles Ausgleichsventil für Fehler im System: Da es immer "schwierige" Kinder in der Regelschule gibt und geben wird, ermöglicht die Existenz der ASO, diese "schwierigen" Kinder je nach strukturellem Bedarf in der Regelschule zu belassen oder in die Sonderschule zu überweisen. Die ASO wird dadurch vielfach zu einer von pädagogischen Ansprüchen losgelösten Ausgleichsstruktur für strukturelle Probleme der Schule (Schülerschwund, Schülerboom, Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von verschiedensten Begleitsystemen usw.). In diesem unflexiblen Schulsystem werden oftmals Verwaltungs- und Standesinteressen vorrangiger behandelt als das Wohl des Kindes.

Die ASO ist in den letzten Jahren auch zunehmend "Abstellplatz" für Ausländerkinder geworden.

Auf die ASO kann verzichtet werden: In vielen Europäischen Ländern ist die Sonderschule für Lernbehinderte nie in dem Maße eingeführt worden wie im deutschsprachigen Raum.

Die Lernbehinderten-Sonderschule ist einerseits die größte Sparte der Sonderschulen (über 60% der SonderschülerInnen sind in der ASO) und andererseits die wohl von ihrer internen Legitimation am problematischsten zu beurteilende Sonderschulsparte (vgl. Eberwein, Hans [Hg.]: Lernen und Lern-Behinderungen. Aneignungsprobleme. Neues Verständnis von Lernen. Integrationspädagogische Lösungsansätze. Basel / Weinheim - Beltz Verlag - 1996)

Vorschlag: Die Allgemeine Sonderschule sollte in einem geplanten Ablauf aufgelöst und ihre SchülerInnen in die Regelschule integriert werden. Ein sofortiger Aufnahmestopp für die ASO sollte den Umbau einleiten. Das gleiche gilt im Prinzip für alle anderen Sonderschulsparten. Hier sollte allerdings noch eine begrenzte Zeit weiter versucht werden, über die Stärkung der Position der Eltern und den Abbau der Widerstände im Sonderschulsystem bzw. den Abbau legistischer Barrieren (wie sie in diesem Weißbuch in großer Zahl aufgeführt sind) den Umbau des Schulsystems in Richtung Integration zu forcieren. Sollte das Sonderschulsystem sich weiterhin gegen selbststeuernde Umbauversuche restistent erweisen, müßte eine geplante Auflösung durchgeführt werden.

Quelle:

Integration:Österreich: Auflösung von Sonderschulen

Erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 15-16

Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 31.05.2005

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