Eltern zwischen Recht und Realität

Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 17-20. Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998 Der Artikel enthält Auszüge aus dem Wahrnehmungsbericht an den Nationalrat (April 1996) "2 Jahre gemeinsamer Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder", verfaßt von der Aktion Menschenrechte für Staatsbürger mit geistiger Behinderung, einer Gemeinschaft der Lebenshilfe Wien und der Lebenshilfe Steiermark, unter Federführung von Helmut Spudich. I:Ö, INTEGRATION:ÖSTERREICH; Elterninitiativen für gemeinsames Leben behinderter und nichtbehinderter Menschen
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Eltern zwischen Recht und Realität

"Recht statt Gnade!" hieß der Slogan der Integrationsbewegung. Betroffene Eltern und einige engagierte LehrerInnen kämpften um das Recht auf Bildung. Ein Recht, das im Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolles der Menschenrechtskonvention von der Republik Österreich bereits vor Jahrzehnten ratifiziert wurde.

Die Elterninitiativen sehen die von der 15. und 17. SchOG-Novelle eingeleiteten Entwicklungen grundsätzlich positiv und im Interesse von Kindern mit Behinderungen wie ihrer Familien. Vor allem wurde dadurch erreicht, daß das Recht behinderter Kinder zum Besuch einer Volks- und Hauptschule sowie AHS-Unterstufe samt notwendiger sonderpädagogischer Förderung gewahrt ist und nicht, wie in den Jahren vor dieser Gesetzgebung, vom guten Willen der Behörden und der Verfügbarkeit von Schulversuchen abhängig ist.

Behinderte Kinder können dadurch in dem sozialen Verband bleiben, in dem sich ihre alltäglichen Beziehungen mit gleichaltrigen anderen Kindern und somit auch ihre soziale, emotionale und kognitive Entwicklung vollzieht. Dies ist unbestritten im Interesse jedes Kindes, insbesondere im Interesse von Kindern mit Behinderungen.

Den Eltern wiederum wird dadurch eine große Last genommen, da es bisher fast ausschließlich von ihrem Einsatz abhing, ob die Entwicklungschancen ihres Kindes im Rahmen der Volks- und Hauptschule sowie AHS-Unterstufe zustande kam, oder ihr Kind von seinen Lebensgefährten bei der Einschulung getrennt wurde.

Behörde interpretiert ihre Verpflichtung als Möglichkeit

Entgegen dieser eindeutigen gesetzlichen Lage haben die Elterninitiativen jedoch wiederholt von Situationen Kenntnis erlangt, wo die Schulbehörde derzeit nicht vorhandene Möglichkeiten (etwa notwendiger Zweitlehrer) als Begründung dafür verwendet, Kinder mit Behinderungen nicht an "normalen" Schulen aufzunehmen.

Die klare gesetzliche Bestimmung wird von Behörden wiederholt als Kann-Bestimmung ausgelegt, die nur zu erfüllen sei, wenn die Voraussetzungen vorhanden sind. Im Gegensatz dazu steht Integration:Österreich aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Formulierung auf dem Standpunkt, daß durch die 15. und 17. SchOG-Novelle Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. ihren Eltern oder gesetzlichen Vertretern ein Recht zum Besuch der Volks- und Hauptschule sowie AHS-Unterstufe eingeräumt wurde; analog entsteht für die Schulbehörde dadurch die Verpflichtung, die notwendigen Voraussetzungen jeweils entsprechend der Situation des Kindes zu schaffen.

Keinesfalls kann von den Eltern verlangt werden, daß sie diese Aufgabe der Behörde auf sich nehmen bzw. aufgrund im Augenblick fehlender Möglichkeiten ihre Entscheidung danach treffen.

Individuelle Mißstände bei Information und Beratung von Eltern

Besonders problematisch daran ist, daß all dies vielfach im Vorfeld formaler Entscheidungen passiert, indem Eltern nicht korrekt informiert werden. Dadurch kommt es zu Fristversäumnissen und Entscheidungsabläufen, wie sie nicht der Intention des Gesetzgebers entsprechen und später auch nicht mehr formal beeinspruchbar sind. Auch ist die Qualität der vom Gesetz verlangten sonderpädagogischen Gutachten von großer Bandbreite und drückt in einigen den Berichterstattern bekannten Situationen mehr den Wunsch der beteiligten Schulbehörde, aber nicht die objektive Situation des betreffenden Kindes aus. Die Elterninitiativen betonen jedoch, daß es sich dabei nicht um ein generelles, sondern ein nach Bezirken und Bundesländern sehr unterschiedliches Problem handelt. Parallel dazu hat sich der gemeinsame Unterricht bzw. die Zahl der Kinder an Sonderschulen sehr unterschiedlich nach Bundesländern entwickelt.

Entwicklung nach Bundesländern sehr unterschiedlich

Dieser Beobachtung großer individueller Unterschiede bei der Beratung und Unterstützung von Eltern und der restriktiven Auslegung des Gesetzes bei einigen Schulbehörden entspricht, daß es in der Schülerstromentwicklung (somit also im Vollzug des Gesetzes) gravierende Unterschiede in den einzelnen Bundesländern gibt. Dabei gibt es, wie man anhand des Beispieles des Bundeslandes Kärnten zeigen kann, paradoxerweise, beides:

Es gibt gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder, und es gibt gleichzeitig eine Zunahme der Kinder an den Sonderschulen.

In Kärnten verwies der zuständige Landesrat für Schulen, LHStv. Michael Ausserwinkler, darauf, daß im Schuljahr 94/95 240 Kinder voll integriert worden seien. Gleichzeitig wies Kärnten im Jahr 94/95 an den Sonderschulen sowohl in absoluten Zahlen als auch in relativen Zahlen (für die Schulstufen 1-4 plus 8,1 Prozent Sonderschüler gegenüber dem Jahr 89/90, während die Zahl der Volksschüler nur um 3,7 Prozent seit 1989/90 zunahm) einen Schülerzuwachs gegenüber den Jahren vor der neuen Gesetzgebung auf.

Die regionalen Unterschiede sind beträchtlich und reichen von einem Rückgang der Zahl der Sonderschüler seit 1989/90 um 26,6 % (im Burgenland) bis zu einer Zunahme (!) der Zahl der Sonderschüler um 14,4 % (in Salzburg). Noch schärfer werden die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Bundesländern, wenn man nur die Schulstufen 1-4 betrachtet, die vom Gesetz unmittelbar betroffen sind.

Aufgrund der unterschiedlichen Ausführungsbestimmungen der Länder zu den Bundesgesetzen ist es für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf mitunter entscheidend, in welchem Bundesland sie leben. In Niederösterreich läßt sich derzeit bereits eine paradoxe gesetzliche Situation ausmachen: Ein relativ positives Landesgesetz für die Volksschule und eine besonders beschämende restriktive Regelung für die Sekundarschule.

Die Einrichtung von Integrationsklassen an Hauptschulen wird an eine Mindestzahl von mindestens fünf bis sieben behinderte Kinder gebunden! Sind es "nur" ein, zwei, drei oder vier Kinder, dürfen sie die Hauptschule nicht besuchen, außer der Bezirksschulrat und das Schulforum sind einverstanden. Es wird abgestimmt, ob behinderte Kinder willkommen sind. Damit werden in Niederösterreich Eltern behinderter Kinder erneut zu Bittstellern und Herbergsuchern degradiert.

Spezial-Sonderschulen nehmen absolut und relativ zu

Ein eher alarmierender Trend zeigt sich in der Schülerstromverteilung zwischen Volksschule, allgemeiner Sonderschule und den zahlreichen Spezialsonderschulen. Während, auf ganz Österreich bezogen, die Zahl der Kinder an den Allgemeinen Sonderschulen rückläufig ist, hat sie in den diversen Spezial-Sonderschulen und insbesondere an der "Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder" (also der Sonderschule für Kinder mit geistiger Behinderung) zugenommen, und zwar weit über das Ausmaß des allgemeinen Schülerwachstums hinaus.

Die Schülerstromanalyse legt den Schluß nahe, daß die allgemeine Sonderschule Kinder an die Volksschulen abgibt; aufgrund der wachsenden Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den Volksschulen und deren Behinderungen, die den Elternselbsthilfe-Gruppen bekannt sind, ist auch der Schluß zulässig, daß die Spezial-Sonderschulen Kinder an die Volksschule abgeben.

Gleichzeitig aber dürften die Spezial-Sonderschulen sich als Ersatz für verlorene Schüler Kinder von den Allgemeinen Sonderschulen holen (daher deren klarer Schülerschwund), und das relativ erfolgreich, so daß die Spezial-Sonderschulen in Summe wachsen, was natürlich den gesetzlichen Intentionen völlig diametral entgegensteht.

Die Eltern sind daher insbesondere darüber besorgt, daß einerseits geistig behinderte Kinder positive Bedingungen des gemeinsamen Unterrichts vorfinden, andererseits aber bisher nicht so etikettierten Schülerinnen und Schülern diese Chance genommen wird.

Die Rolle der Elterninitiativen

Grundsätzlich folgt die gesetzlich ermöglichte Integration dem "Marktmodell": Wenn Nachfrage seitens der Eltern besteht, können Integrationsklassen für Behinderte und Nichtbehinderte angeboten werden. Angebote werden aber nur dort gemacht, wo es einen "Bildungsmarkt" gibt.

Die Marktideologie unterstellt jedoch, daß sich alle Marktteilnehmer rational verhalten, d.h. insbesondere auch: informierte Entscheidungen treffen können. Deshalb kommt der Öffentlichkeitsarbeit für Integration und speziell der Elterninformation eine herausragende Bedeutung zu. Inhaltlich geht es um eine umfassende Information der Eltern über das "Integrationsprogramm", über die Antrags- und Aufnahmemodalitäten usw.; zum anderen geht es um eine ausführliche Begründung des Integrationskonzeptes. Diese Aufgabe wurde großteils ehrenamtlich (!), fast zur Gänze von den Elterninitiativen in den Bundesländern übernommen.

Nicht vorhandene LehrerInnenausbildung

Letztlich hängt aber auch sehr viel von der Effektivität der LehrerInnenaus- und weiterbildung ab, die im "Jahre 5" nach den Volksschulintegrationsgesetzen und "Jahr 1" der Gesetze für die Schule der 10-14jährigen noch immer nicht diesbezüglich reformiert wurde.

Eine Gruppe von ExpertInnen arbeitete zwar ein Jahr lang an einer grundsätzlichen Reformierung der Lehrpläne, mit Veröffentlichung der Ergebnisse wurde die Initiative gestoppt - und bloß Empfehlungen an die PÄDAKs ausgesprochen: im Rahmen der Schulautonomie unter anderem auch integrative Inhalte einfließen zu lassen.

Oft sind die österreichweiten Symposien und bundesweiten Forumtreffen der Elterninitiativen die einzige Möglichkeit, Erstinformation über integrativen Unterricht zu erhalten, Erfahrungen über konkrete Unterrichtssituationen auszutauschen und didaktische Konzepte zu besprechen.

Auflösung der Sonderschule

Wenn das "Marktmodell" konsequent weitergedacht wird, gibt es wie bei jedem Konkurrenzkampf nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer.

Derzeit sind die Gewinner die Personalvertreter und das System Sonderschule.

Verlierer sind die Kinder und deren Eltern, sie werden durch die Verweigerungshaltung der Schulbürokratie weiterhin diskriminiert, indem die Bildungsmöglichkeiten nur stark reduziert angeboten werden.

Es ist die Institution Sonderschule, die auf der entscheidenden Dimension "Integration" nicht konkurrenzfähig ist - auch wenn sie durch Anpassungsversuche und "kosmetische" Modifizierungen ihren Startplatz behaupten und verbessern möchte. Dabei wird sie von der Schulbehörde unterstützt, indem die Auflösung von Sonderschule eben nicht am Programm steht, sondern ausdrücklich betont wird, daß bestimmte Behinderungsformen auch in Zukunft die Förderung in Sonderschulen erforderlich machen werden (für diese Behauptungen können allerdings keinerlei Beweise erbracht werden).

Dies kann eigentlich nur bedeuten, daß der Staat im Schulwesen das "Marktmodell" (inklusive Marketingkonzept) nicht riskieren will.

Wem dient das duale System, hier Sonderschule dort Regelschule?

Zumeist sind die leichter beeinträchtigten und behinderten Kinder nun in der Regelschule integriert. Die Sonderschule blüht weiterhin und holt sich neue "Kundschaft", etwa bei den AusländerInnen. Diese Menschen sind vielfach nicht in der Lage, dieses in der öffentlichen Wertschätzung so abgestufte duale System zu durchschauen.

Einerseits sind diese Personengruppen neu im Land und kennen sich als "Fremde" mit unserer Kultur nicht oder nur wenig aus. Aufgrund von Sprachschwierigkeiten und sonstigen sozialen Gegebenheiten können sich diese Eltern dann nicht dagegen wehren, wenn ihre Kinder auf gesellschaftliche "Abstellgeleise" geschoben werden.

Das paßt auch zu den jetzigen gesellschaftlichen Fronten mit Gesetzen und Verordnungen, die die Polarisierung "Inländer-Ausländer" beinhalten und Maßnahmen der Nicht-Integration verordnen. Das Festhalten an der (Aus)Sonderschulstruktur paßt gut in dieses Konzept.

Dazu paßt auch die Aussage von BM Elisabeth Gehrer: "Integration ist kein Menschenrecht, sondern eine erweiterte Möglichkeit der pädagogischen Handlungsweise."

Quelle:

Integration:Österreich: Eltern zwischen Recht und Realität

Erschienen in: erziehung heute, Sonderheft: Weissbuch Integration, Heft 3, 1998 / betrift:integration, Sondernr. 3a 1998, S. 17-20

Hrsg: Tiroler Bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.09.2006

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