Es gibt keine richtige Pädagogik in falschen gesellschaftlichen Verhältnissen

Widerspruch als Grundkategorie einer Behinderungspädagogik

Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 01/2013 Zeitschrift für Inklusion (01/2013)
Copyright: © Hazibar, Mecheril 2013

Es gibt keine richtige Pädagogik in falschen gesellschaftlichen Verhältnissen

Immer da, wo Unterschiede zwischen Menschen behauptet und diese Unterschiede fortlaufend durch vielfältige institutionalisierte Praxen der Naturalisierung des Unterschieds gesellschaftlich abgesichert werden, Unterschiede, die systematisch zu signifikanten Ungunsten bestimmter Menschen beitragen, haben wir es, so unsere an Adornos Gegenüberstellung von „richtig“ und „falsch“ erinnernde Grundannahme, mit Gewalt-, mithin falschen Verhältnissen zu tun. Das Richtige aber bleibt unbestimmt, gleichwohl notwendig, da es als imaginärer Bezugs- und Ausgangspunkt der Kritik unselbstgefälliges Engagement gegen das erkennbar Falsche motiviert.

1. „Inklusion“ als Anzeichen eines politischen Begehrens

Die von Friedrich Herbart (terminologisch) begründete Allgemeine Pädagogik bezieht sich auf „Zöglinge“, die bestimmte Normalitätskriterien, welche durch diese Konzeption gesetzt werden, erfüllen. „Alle anderen sind keine `Zöglinge´, sondern Sonderfälle“ (Oelkers 2012, S. 4). Schulorganisatorisch wurde die Aussonderung der Beschulung von Kindern, für die in heutiger Nomenklatur ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht, im deutschsprachigen Raum mit der Entwicklung der leistungsorientierten Volksschule Anfang des 19. Jh. ermöglicht, für die staatlich vorgegebene Lehrpläne und damit Leistungsstandards bindend waren. „Erst mit dem Durchsetzen des Prinzips der gestuften Mehrklassigkeit in größeren Schuleinheiten sowie der Verfeinerung der Leistungsdiagnose wurde es möglich, `Sonderklassen´ zu führen für die Kinder, die nicht imstande waren, den Lernanforderungen zu folgen“(ebd. S. 10).

Die kulturelle Legitimität des Verständnisses jener formalen Bildung, die als allgemeine oder regelhafte bezeichnet jene ausschloss und ausschließt, die nicht dem exkludierenden Normalitätsschema des vermeintlich Allgemeinen, faktisch Partikularen (und damit das Allgemeine verfehlend) entsprechen, ist in eine Turbulenz geraten. In dem Bereich, der durch die soziale und kulturelle, mithin kontingente Unterscheidung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung strukturiert ist, ist durch die Autorität der UN-Behindertenrechtskonvention das vermeintlich Allgemeine als eine allgemeine Krisengestalt deutlich geworden. Die vornehmlich in den letzten zwei Jahrzehnten formulierten Rechte der Gleichstellung, insbesondere die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, haben einen umfassenden Aktionsrahmen für Menschen mit sogenannten Behinderungen geschaffen, der sozialstrukturelle Ungleichbehandlung durch öffentlich wirksame Thematisierung ins Bewusstsein der politischen Auseinandersetzung rückt. Gesellschaftliche Diskriminierungs- und Benachteiligungsstrukturen und institutionelle Handlungspraxen, die daraus erfahrenen Begrenzungen und Beschränkungen von Menschen, sind unter dieser Perspektive mit einem sozialpolitischen Auftrag verknüpft. „Menschen mit Behinderungen nicht länger als Objekte zu sehen, die des Mitleids und der Fürsorge bedürfen, sondern als Subjekte, die selbstbestimmt alle Menschenrechte […] selbst verwirklichen können sollen“, dies benennt Marianne Schulze, die Vorsitzende des österreichischen Monitoringausschusses zur Umsetzung der UNBRK, als die zentrale Kernaussage der Konvention (ebd. 2011, S.15). Dies erfordert geeignete Maßnahmen und Interventionsstrategien bereitzustellen, um Barrieren abzubauen, die auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichsten Ebenen Menschen, die dem kulturell hegemonialen Bild des Allgemeinen nicht entsprechen, daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Inklusion ist durch diese Entwicklungen zu einem politischen und pädagogischen Zeichen geworden[1], in dem Ziel und Weg eines gemeinhin als wünschenswert gehandelten gesellschaftlichen und darin zentral pädagogischen Umstandes adressiert werden.

Was heißt nun „Inklusion“? Inklusion, so formulieren es Hinz und Boban, wird „als gesellschaftliche und pädagogische Vision verstanden, die Heterogenität in all ihren Facetten wahrnimmt, wertschätzt und produktiv nutzt und dabei pädagogisch stigmatisierende Kategorisierungen vermeidet“ (ebd. 2008). Zugleich wird im Rahmen der praktischen Umsetzung des Inklusionsgedankens häufig ein lediglich räumliches Bei- und Nebeneinander oder die Verlagerung von Sonderklassen als Inklusion bezeichnet (Hinz 2002, S. 355). Insbesondere auf der Ebene des politischen Diskurses zeigt sich, dass unter dem Label der Inklusion häufig selektive Integration betrieben wird und nur jene, die als integrierbar gelten, von der sogenannten Inklusion profitieren.

„Inklusion“ ist mithin eine ganze Menge, beispielsweise: ein leerer, multipel instrumentalisierbarer Signifikant; eine modische Formel, die (wissenschafts-)kulturell mittlerweile in bestimmten Feldern bedient werden muss; ein professionelles Karrierefeld; eine aktuelle Möglichkeit, die eigene (wissenschaftliche) Expertise wirksam und öffentlich werden zu lassen. So finden sich „die Widersacher der Inklusion“ (Wocken 2010) versteckt auch unter denen, die das Label Inklusion affirmativ nutzen. „Die große Gefahr“, schreibt Theresia Degener mit Blick auf den Umgang mit der UNBRK bestehe darin, „sich dem [semantischen] Trend der Zeit anzuschließen ohne sich ernsthaft mit dem Menschenrechtsmodell von Behinderung auseinander zu setzen“ (Degener 2009, S. 283). Wie aus anderen Zusammenhängen bekannt, droht auch Inklusion zu einer Markierung auf einem Markt zu werden, unter der politische und pädagogische Praxen versammelt sind, die teilweise wenig mit dem, was Inklusion programmatisch sinnvoll meinen kann, zu tun haben und unter dem Ausdruck Inklusion etwa segregative Praxen und den Vorteil, den einige Institutionen wie Akteure davon haben, konservieren.

Jenseits des unklaren und widersprüchlichen empirischen Gebrauchs von „Inklusion“ und in Absehung dieses Gebrauchs kann Inklusion idealisiert als politisches Begehren verstanden werden, also als Zeichen, in dem sich der nachdrückliche Wunsch und die Vorstellung einer guten politischen Ordnung in einer Weise artikuliert, die Handlungsweisen mobilisiert und energetisiert. Auf dieser Ebene muss festgehalten werden, dass Inklusion Teil der Entwicklung eines mittlerweile weltweiten Prozesses der Sukzession der Verwirklichung von Rechten auf Teilhabe und auf die Entwicklung je spezifischer würdevoller Versionen des Lebens darstellt. Zwei Dimensionen der Sukzession können hier unterschieden werden. Die Sukzession der inhaltlichen Reichweite von (Bürger-)Rechten (a) und die Ausweitung des sozialen Raums der Geltung dieser Rechte (b).

(a) Die klassische Formulierung konkreter Bürgerrechte stammt von Thomas H. Marshall. Er hat, erstmals 1950 publiziert, den Prozess der historischen Profilierung von Bürgerschaft als aufeinander aufbauende sukzessive Konstitution von bürgerlichen oder zivilen, politischen und sozialen Rechten beschrieben. In dieser Entwicklung konkretisiert sich das für postkonventionelle Gemeinwesen charakteristische Auseinanderfallen von individuellen Rechtsansprüchen und sozialen Statuszuschreibungen. Die Abfolge der Entwicklung der Rechtsordnung kann als Versuch gelesen werden, ein universelles Gleichheitsprinzip auf der Ebene der (Staats-)Bürgerrechte zu realisieren. Das bürgerliche Element des Staatsbürgerstatus, schreibt Marshall in einer oft kommentierten Passage (1992, S. 40), „besteht aus jenen Rechten, die notwendig sind, die individuelle Freiheit zu sichern: Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschließen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren. [...] [Die] Institutionen, die unmittelbar mit den bürgerlichen Rechten verbunden sind, [sind] die Gerichtshöfe [...]. Mit dem politischen Element bezeichne ich das Recht auf die Teilnahme am Gebrauch politischer Macht, entweder als Mitglied einer mit politischer Autorität ausgestatteten Körperschaft, oder als Wähler der Mitglieder einer derartigen Körperschaft. Die entsprechenden Institutionen sind Parlament und Gemeinderat. Mit dem sozialen Element bezeichne ich eine ganze Reihe von Rechten, vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards. Die am engsten mit ihm verbundenen Institutionen sind das Erziehungswesen und die sozialen Dienste.“ Die schrittweise Erweiterung der Bürgerrechte hin zum umfassenden Bürgerstatus nimmt nach Marshall ihren Ausgangspunkt in den negativen zivilen Rechten, die der Person Schutz auf der Ebene leiblicher Unversehrtheit, Eigentum und Freiheit zusprechen, und entfaltet sich über positive Rechte der Teilnahme an den Prozessen politischer Entscheidungs- und Willensfindung, sowie schließlich über positive Rechte der Partizipation an der Verteilung sozialer, kultureller und ökonomischer Güter zum rechtlich vollen Bürgerstatus.

(b) Intellektuelle Traditionen, die in einem engen Zusammenhang zu sozialen Bewegungen stehen, haben in den letzten Jahrzehnten gesellschaftliche Verhältnisse kritisch als Verhältnisse gekennzeichnet, in denen sich im Zeichen eines Universellen partikulare Lebensformen machtvoll als Normalität und Referenzpunkt von beispielsweise Bildungsinstitutionen setzen. Die hier bedeutsamen Diskurse stehen im Kontext der Auseinandersetzungen, die um Anerkennung von Vielfalt geführt werden. Die Auseinandersetzung um die Frage der Anerkennung von Differenzen und Identitäten ist eine Frage, die soziale Zusammenhänge der jüngeren Gegenwart kennzeichnet. Diese Entwicklung muss auch verstanden werden vor dem Hintergrund dessen, dass „Klasse“ in den letzten Jahrzehnten (mindestens bis zur offenkundigen und breit diskutierten Krise des kapitalistischen Systems, deren Zeuginnen wir seit einigen wenigen Jahren sind) durch Gruppenidentität als Hauptmedium politischer Mobilisation mindestens ergänzt wurde (vgl. etwa Fraser 2001). Die Frauenbewegung, das Einfordern von Rechten für Schwule und Lesben und das Ringen um Anerkennung seitens ethnisch-kultureller Minderheiten sind hier signifikante Beispiele (vgl. etwa Benhabib 1999), aber auch die Krüppelbewegung und weitere das Selbstbestimmungsrecht Behinderter in den öffentlichen Raum einbringende und gesellschaftliche Normalitätsordnungen beunruhigende Bewegungen sind hier zu nennen. Kämpfe um die Geltung allgemeiner und zum Teil spezifischer Rechte für alle sozialen Geschlechterpositionen, Forderungen nach Rechten für ethnisch-kulturelle Minoritäten oder für Menschen mit Behinderungen können als Versuche interpretiert werden, den sozialen Raum der Geltung von Rechten auszuweiten. Die Zeit zwischen der Deklaration der französischen oder US-amerikanischen Verfassung und heute kann auch als Zeit beschrieben werden, in dem der faktische Geltungsbereich der Bürgerrechte immer weiter erweitert wurde. Soziale Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte und Gegenwart haben diesen Prozess maßgeblich befördert.

Inklusion kann somit als Zeichen verstanden werden, in dem ein politisches Begehren nach Ausweitung von Rechten in dem markierten doppelten Sinne zum Ausdruck kommt. Für dieses Begehren sind die Systeme formaler Bildung und insbesondere die Schule in besonderer Weise von Bedeutung, da Schulen in signifikanter Weise auf Bildungschancen Einzelner (sowohl im Sinne von Selbst-Entwicklungsmöglichkeit als auch im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe) wirken, aber auch, weil Schulen Praxis und Idee der Ausweitung des Bereichs des Allgemeinen in einer wirkungsvollen Weise performativ realisieren und stärken können.

Nun werden sowohl politische als auch pädagogische Debatten, die sich auf das von der Unterscheidung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung strukturierte Feld beziehen, sehr leidenschaftlich und streitbar geführt. Ähnlich wie im Feld der Geschlechterverhältnisse oder auch im Feld der Unterscheidung zwischen (Staats-)Bürgerinnen/Nicht-Migrantinnen/Einheimischen und Nicht(Staats-)Bürgerinnen/ Migrantinnen/Ausländern werden hier intensive Debatten um den angemessenen approach geführt. Das Feld der Analyse von gesellschaftlich konstitutiven Unterscheidungs- und Herrschaftsverhältnissen (Behinderung und Nicht-Behinderung) ist immer dann - vor allem, wenn sie mit politischer oder pädagogischer Konsequenz und Ambition verbunden ist -, ein erhitztes Feld, weil niemand unverdächtig sein kann, Partei in der Auseinandersetzung zu sein, und weil es Grundlegendes (das Verständnis der Welt und der eigenen Position in ihr) zu verlieren, seltener zu gewinnen gibt.

In Texten beispielsweise, die sich explizit den Disability Studies zurechnen, finden sich Abgrenzungen von inklusiven Ansätzen. Zu „Not-Disability-Studies“ zählt Markus Dederich mit Linton interventionistische Ansätze, „die ihrem […] gesellschaftlichen Auftrag nach auf Erziehung, Bildung, Intervention, Heilung, Förderung, Kompensation usw. hin angelegt sind“ (Dederich 2007, S. 26). Die Kritik richtet sich vor allem auf jene Formen des historisch und gesellschaftsanalytisch unreflektierten Gebrauchs der Unterscheidung von „Behinderung“ und „Nicht-Behinderung“, die denen dienlich ist, die, wie etwa jene einem Paternalismus strukturell verpflichteten Professionen, von dem Unterscheidungsschema profitieren. „Nun ist aber“, schreibt Dederich, „allen Abgrenzungen zum Trotz, die Kritik der Disability-Studies am Behinderungsbegriff der auf Interventionen abzielenden Disziplinen derjenigen, wie sie beispielsweise aus der Inklusionspädagogik heraus formuliert worden ist, sehr ähnlich“ (Dederich 2007, S. 27). Die Disability Studies böten also nicht so sehr „neues Wissen“, sondern „eine neue soziale Konstellation“ (Dederich 2007, S. 28). „Inklusion ist ein Leitziel der Disability Studies, und dies gilt selbstverständlich auch für ein inklusives Schul- und Bildungswesen“ (Dederich 2007, S. 28).

Das Verständnis von Inklusion grenzt sich hier in besonders klarer Weise von Konzeptionen ab, die in erster Linie paternalistisch auf die Verbesserung der Situation behinderter Kinder bezogen sind, und zielt in einer tatsächlich radikalen Verschiebung auf die Situation aller. Wenn wir diesen politischen Einsatz der Disability Studies verstehen als nachdrückliche Erinnerung inklusiver Ansätze an ihre eigentliche Aufgabe, nämlich jene, die nie herrschaftsfreie Differenz zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung ohne Unterlass zu problematisieren, dann umfasst das „Leitziel“ (Dederich) einer Pädagogik, die sich mit dem kulturell formierten Sachverhalt der Unterscheidung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung kritisch auseinandersetzt einige zentrale Aspekte.

Um nicht in den wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Distinktionsspielen (die ihren Sinn haben[2]) missverstanden zu werden, sprechen wir im weiteren nicht von Inklusion oder inklusiver Pädagogik, sondern fassen diese in sich bereits widersprüchlichen Aspekte als Anliegen eines pädagogischen Approachs, den wir Behinderungspädagogik nennen. Behinderungspädagogik ist ein Kunstwort, unter dem wir jene in Ansätzen der Integrativen Pädagogik, der Inklusiven Pädagogik sowie der Disability Studies diskutierten Maximen und Prinzipien fassen, die unseres Erachtens für eine pädagogische Auseinandersetzung mit (Nicht)Behinderung unerlässlich sind. Sie lauten:

  • Grundlegender Einsatz für weniger gewaltvolle Handlungsweisen aller in einer Welt, die zwischen Menschen in der Hinsicht Behinderung und Nicht-Behinderung unterscheidet, insbesondere aber für das Selbstbestimmungsrecht Behinderter

  • Verständnis von Behinderung als spezifisches Potential und nicht als Defizit

  • Verständnis von Behinderung als Konstruktion oder: Notwendigkeit der radikalen Kritik der hegemonialen Differenzordnung, in der zwischen mit und ohne (Behinderung) unterschieden wird

  • Notwendigkeit des grundlegenden Umbaus der Routinen, der Strukturen, des Habitus gesellschaftlicher Institutionen

Dies als das politische Begehren einer angemessenen Behinderungspädagogik verstanden, wollen wir nun in einem zweiten Schritt jene Widerspruchsverhältnisse markieren, die dieser Pädagogik inhärent sind. Inwieweit also ist eine (Erziehungs-)Wissenschaft der Behinderung, welche „die Leitvorstellung [verfolgt], gesellschaftliche Sichtweisen und Praktiken so verändern zu können, dass Menschen mit besonderen körperlichen Merkmalen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein voller Subjektstatus und uneingeschränkte Partizipation möglich wird“, wie es von Waldschmidt und Schneider (2007, S. 13) formuliert wird, von einem impliziten Widerspruch geprägt , der sowohl Grenzen als auch produktive Gestaltungsmöglichkeit anzeigt?



[1] Der systemtheoretische Inklusionsbegriff freilich steht zu diesem pädagogisch-politischen Gebrauch der Vokabel Inklusion in einem Spannungsverhältnis, da Inklusion hier als nur je subsystemrelativ und im Sinne der spezifischen Inklusionslogik des gesellschaftlichen Teilsystems erfolgen kann. Die Schwierigkeit des systemtheoretischen Inklusionsbegriffes besteht darin, dass mit diesem Exklusion als individuelle und kollektive Lebensrealität empirisch kaum in den Blick kommen kann(vgl. z.B. Schönwiese 2009)

[2] Wir gehen davon aus, dass eine fruchtbare Perspektive auf wissenschaftliche Dispute, wie jenem zwischen Inklusiver Pädagogik und Sonderpädagogik oder jener Auseinandersetzung zwischen Disability Studies und Heilpädagogik, darin besteht, in diesen Beobachtungsposten zu erkennen, die sich komplementär an jeweilige für das Feld kennzeichnende Spannungsverhältnisse erinnern (z.B. Affirmation des Gegebenen vs. Akademismus, Paternalismus vs. Ignoranz).

2. Behinderungspädagogische Widersprüche

Es lassen sich zwei Grundtypen von Widersprüchen ausmachen, die konstitutiv für eine mit dem Themenkomplex Behinderung befasste (Erziehungs-)Wissenschaft/Pädagogik sind. Von diesen und ähnlichen Widersprüchen ist jedoch nicht nur dieses Feld gekennzeichnet. Alle, die sich in irgendeiner Weise mit Menschen beschäftigen, sich also notwendig mit real erlebten sozialen Ungleichheits- und Differenzlagen professionell auseinandersetzen, in denen sich Selbst- und Fremdverständnisse und („special“) Bedürfnisse formen, agieren in einem Feld der Widersprüche. Diese zeigen sich zuweilen aber besonders deutlich. In der Behinderungspädagogik beispielsweise.

Teilhabe

Der Abbau von Zugangsbarrieren zu gesellschaftlich relevanten Räumen kann als ein grundlegendes Prinzip der Behinderungspädagogik gelten. Werden Barrieren unter medizinisch-individualistischen Gesichtspunkten als ein der Person innewohnendes „Unvermögen“ beschrieben, welche zu überwinden die Person aufgrund eines körperlichen „Merkmals“ nicht in der Lage ist, so fokussiert der Blick, den eine Behinderungspädagogik in Hinblick auf Zugangsbeschränkungen einnimmt, die behindernden gesellschaftlichen Verhältnisse, in welchen Menschen leben, durch welche Menschen behindert werden und sich als „nicht normal“ erfahren. Unter dem Stichwort „Barrierefreiheit“ werden all jene Dimensionen von Barrieren kritisch adressiert, die Menschen mit Behinderungen systematisch aus gesellschaftlichen Teilhabebereichen ausschließen. Barrierefreiheit, wie im Kontext der UNBRK formuliert, meint dabei die Beseitigung physischer, kommunikativer, intellektueller, ökonomischer als auch einstellungsbezogener Barrieren, sowie den gleichzeitig notwendigen Ausbau umfassender Unterstützungssysteme, die eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Eine solche Blickverschiebung hat erhebliche Auswirkungen auf die sozialen und politischen Praktiken, die festlegen, mit welchen Zuschreibungen Behinderung jeweils versehen, „verwaltet“ und von Betroffenen erfahren wird.

Insbesondere Menschen mit Behinderungen und ihre Interessensvertretungen sind es, die auf die exkludierenden und diskriminierenden Praktiken aufmerksam machen, die Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse sind, und die weitreichende ökonomische, politische und soziale Konsequenzen für die jeweiligen Leben von Menschen mit Behinderungen aufweisen (vgl. Naue 2006). Menschen mit Behinderungen sind es auch, die an Gesetzgebungsprozessen mitwirken, wodurch in den letzten beiden Jahrzehnten die rechtliche Situation von Menschen mit Behinderungen durch die Formulierung von Anti-Diskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzen teilweise verbessert werden konnte[3]. Eine umfangreiche Aufarbeitung der in besonderem Maße von Armut, sozialer Isolation und Benachteiligung gekennzeichneten Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen erfolgt in der UNBRK. In ihr konkretisiert sind das Recht auf Arbeit, Wohnen, Bildung, Sexualität etc. Rechte, die bereits von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erfasst wurden, die Menschen mit Behinderungen aber letzthin deshalb, weil sie „vielfach als Objekte der Fürsorge und nicht als autonome Bürgerinnen und Bürger, mit innewohnender und unteilbarer Würde, wahrgenommen werden“(Plangger 2009) in erhöhtem Maße vorenthalten sind.

Diesen Grundsätzen folgend zielt Behinderungspädagogik auf die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Alltag. Als normatives Ziel formuliert Behinderungspädagogik nicht die formale, institutionelle Eingliederung in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse. Vielmehr muss sie danach streben, gesellschaftliche Verhältnisse so zu verändern, dass den demokratischen Grundwerten der politischen Teilhabe und sozialen Gerechtigkeit Rechnung getragen wird und die je unterschiedlichen Bedürfnis- und Lebenslagen Minderheitsangehöriger anerkannt werden.

Das Anliegen der Behinderungspädagogik besteht demnach nicht lediglich darin, die Umsetzung von Inklusion im Bildungsbereich und die Umsetzung von Chancengleichheit für einzelne Gesellschaftsmitglieder zu fordern, sondern muss unter Bedingungen zunehmend fragmentierter Gesellschaften notwendigerweise auf gesamtgesellschaftliche Prozesse des Einbezugs in den unterschiedlichen Lebensbereichen gerichtet sein.

In Hinblick auf das Leitziel einer Verwirklichung gesamtgesellschaftlich „inklusiver“ Verhältnisse allerdings, so argumentieren Clemens Dannenbeck und Carmen Dorrance, droht eine inklusive Praxis „die gesellschaftlichen Bedingungen ihres eigenen Nischendaseins - das scheinbar Richtige im Falschen zu machen -“ (ebd. 2009) zu verkennen und „allemal notwendigerweise an (fort)bestehenden sozialen Ungleichheitsstrukturen“ zu scheitern.

Behinderungspädagogik ist widersprüchlich. Sie ist einerseits durch das Ansinnen, wesentliche Voraussetzungen von Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen zu erkennen, einzufordern und mitzugestalten, charakterisiert. Zugleich wird Behinderungspädagogik durch den Umstand gekennzeichnet, dass Teilhabe erstens disziplinierende Anpassungs- und Einschließungsmomente von Individuen in moderne Gesellschaften, zweitens mit all ihren Exklusionsrisiken umfasst.

Die Vorstellung des modernen Individuums als Subjekt ist eng mit dem Gedanken der Autonomie und Selbstbestimmung verbunden. Beide gelten als grundlegendes Charakteristikum des eigenen Subjektstatus. Das Gleichheitspostulat bildet dabei die gesellschaftliche und rechtliche Voraussetzung, jene Freiheit der autonomen und selbstbestimmten Lebensführung für sich einzufordern. Waldschmidt allerdings führt an, dass wenn die „Lebenslage Behinderung“ ins Augenmerk rücke, sich Voraussetzungen, Möglichkeiten und Restriktionen in der Konstituierung als selbstbestimmtes Subjekt besonders deutlich zeigen. Wenngleich Selbstbestimmung nie losgelöst vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext verwirklicht wird, somit immer bestimmten hegemonialen Bedingungen unterliegt, so gelten diese für Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise. Der Selbstbestimmungsgedanke scheint hier ganz oder teilweise außer Kraft zu treten (vgl. ebd. 2012, S. 17). Dass Menschen mit Behinderungen Autonomie über Jahrhunderte hinweg verwehrt wurde und auch heute selektiven Bedingungen unterliegt, führt Waldschmidt darauf zurück, dass der Idee von Subjektivität der Maßstab der Vernunft zur Seite gestellt wird. Je nach Autonomievermögen, das Menschen zugestanden wird, gilt ein differenzierter Zugang zum Selbstbestimmungsrecht. „Krank und Patient sein heißt, in der Hoffnung auf Gesundung und Heilung sich einem institutionellen Machtapparat einzufügen, sich unterzuordnen, sich in Geduld und Passivität zu üben, einen Objektstatus zu akzeptieren, kurz, wenigstens zeitweilig gerade nicht ein selbstbestimmtes Subjekt zu sein“ (ebd., S. 24).

Dass nun auch Menschen mit Behinderungen Selbstbestimmungsrechte für sich einfordern können, ist einerseits nicht nur Ausdruck, sondern auch Motor gesellschaftlicher Bedingungen eines erweiterten Individualismus. In ihm verschmelzen die Forderungen nach Vielfalt, Freiheit und Teilhabe der Individuen, allerdings mit denen eines globalisierten Marktes, der darauf trachtet, „die Zirkulation von Waren und Arbeitskräften zu beschleunigen und das Verhalten der Menschen zu flexibilisieren“ (ebd., S. 46). Erst in der erweiterten liberalen Moderne wird es Menschen mit Behinderungen also möglich, ihren Subjektstatus einzufordern. Menschen mit Behinderungen erhalten Zugang zum Bildungssektor und beispielsweise zum Arbeitsmarkt. Dieser ist aber selektiv und benachteiligend strukturiert, verteilt mithin Teilhabe und Selbstbestimmung, aber auch Mitgestaltung wieder differentiell entlang von Kriterien wie beispielsweise jenen von „Employability“, einem Leitbild, das die unbeeinträchtigte Funktionsfähigkeit von sich der Entwicklung dieser Fähigkeit verpflichtenden Menschen zum Maßstab erhebt. Die individualisierte Gesellschaft kennzeichnet, „dass die Subjekte nicht nur normativ, sondern faktisch auf sich selbst verwiesen werden; der Gewinn der Inklusionsstrategie verkehrt sich also gegen sie“ (Winkler 2010). Selbstbestimmung erscheint in gegenwärtig kapitalistischen Verhältnissen nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht der Eigenverantwortung für das Gelingen des eigenen Lebensentwurfs. Solange bedarfsgerechte Sicherungssysteme, die die Brüchigkeit sozialer Verhältnisse aufzufangen vermögen, nicht umfassend bereitgestellt sind, bleiben Strategien der Selbstbemächtigung ambivalent. Die zu Inkludierenden, vormals Exkludierten scheinen so jederzeit von einem Scheitern und neuerlichen Ausschluss bedroht (ebd.).

Unter den skizzierten gesellschaftlichen (Inklusions-)Bedingungen, insbesondere „den modernen Anforderungen an eine selbstbestimmte und flexible Lebensführung“, so schreibt Gudrun Wansing, „sind Menschen mit Behinderung besonders hohen bzw. mehrfachen Exklusionsrisiken ausgesetzt, weil sie vielfach nicht über die materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen verfügen, die erforderlich sind, um die strukturell gegebenen Teilhabeoptionen zu realisieren“ (ebd. 2007, S. 281).

Pädagogische Angebote sind da illusionär, wo sie unausgesprochen versprechen, durch beispielsweise schulische Bildung zu einem gleichberechtigten Einbezug in und Teilhabe an gesellschaftliche(n) Teilbereiche(n) derer beizutragen, die aufgrund der Normalitätsannahmen und Anforderungen der Teilbereiche (z.B. Arbeitsmarkt) weiterhin schlechter gestellt bleiben. In einem mehrgliedrigen, sozial hoch selektiven Schul- und Bildungssystem, welches zunächst formal die gleichen Zugangsbedingungen vorgibt, lässt sich das Versprechen auf die Realisierung gleicher Teilhabechancen nicht halten.

Teilhabe am gegebenen gesellschaftlichen und kulturellen Leben bedeutet insofern auch immer ein Einstimmen in gesellschaftlich herrschende Grundprinzipien. In gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen wird die Frage, wer als mit Selbstbestimmungs- und Teilhaberechten ausgestattetes Subjekt gilt und als solches nicht nur agieren kann, sondern sich als agierendes Subjekt zu verstehen lernt, über differentielle Adressierungen als zurechnungsfähiges, intelligibles Subjekt hergestellt.

Anerkennung

Besonders vor dem Hintergrund eugenischer Diskurse und Praxen in Bezug auf Behinderung kommt der Anerkennung von Menschen mit Behinderungen als Person und als Rechtssubjekt, welche den Ausgangspunkt für eine gerechtere politische Gestaltung der Gesellschaft bildet (vgl. Fragner 2001), eine besondere und unübergehbare Bedeutung zu. Die größte Bedrohung für Menschenwürde und Lebensrecht sieht Georg Feuser in der Apersonalität menschlicher Existenz (ebd. 1998). Die einklagbare Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten bildet insofern einen wichtigen institutionellen Rahmen für den Schutz grundlegender Bedingungen der Menschenwürde (vgl. Fragner 2001). Darin aufgehoben ist die Notwendigkeit der Anerkennung von Menschen mit Behinderungen als politische Subjekte, deren Handlungsfähigkeit letztlich auf Strukturen gesellschaftlicher und politischer Partizipationsmöglichkeiten gründet.

Wenn Teilhabe und Partizipation von Minderheitenangehörigen nicht allein auf das Recht der Teilhabe an einer in beispielsweise den Bildungsinstitutionen repräsentierten dominanten Lebensweise beschränkt werden soll, sondern vielmehr die Notwendigkeit der Veränderung des Bildungssystems in Richtung einer differentiellen Ansprache minoritärer (Lern-)Dispositionen in den Vordergrund rückt, dann liegt den pädagogischen Überlegungen implizit oder explizit zumeist der Gedanke der Anerkennung zugrunde.

Allgemein zielt Anerkennung unter Bedingungen von Differenz auf Verhältnisse, die den Status der und des je Anderen als Subjekt ernstnehmen. Im hier bedeutsamen Subjektbegriff geht es nicht um das Herausstellen einer wesenhaften Eigenschaft von Individuen, sondern um die Frage, in welchen Weisen Individuen Möglichkeiten zukommen, ihr sozial vorstrukturiertes Vermögen wirksam werden zu lassen und sich in affirmative und transformative Welt- und Selbstverhältnisse zu begeben. Wo Individuen sich in solchen Bildungsräumen und Handlungskontexten wiederfinden und aufhalten, entwickeln sie den Status als Subjekt. "Subjekt" ist ein Begriff, der ein spezifisches Verhältnis eines Individuums zu einem sozialen Zusammenhang benennt. Der relationale Ausdruck gibt Auskunft über die (wandelbare) Position, die ein Individuum in einem sozialen Kontext einnimmt und aufgrund derer ihm bestimmte Ansprüche erwachsen.

Anerkennungsansätze treten für eine Regelung pädagogischer Angelegenheiten ein, die die Handlungsfähigkeit Einzelner fördert und ermöglicht, indem Strukturen geschaffen und zugestanden werden, in denen Einzelne ihren basalen Handlungsdispositionen und ihrem Selbstverständnis entsprechende Bedingungen der Möglichkeit zum Handeln vorfinden. Für eine Pädagogik der Anerkennung (siehe ausführlicher Mecheril 2005) kann dies nun prinzipiell dreierlei bedeuten: Welchen Beitrag kann eine Pädagogik der Anerkennung zur Anerkennung des Gegenübers der pädagogischen Situation leisten? Welchen Beitrag kann eine Pädagogik der Anerkennung zur Anerkennung des konkreten und verallgemeinerten Gegenübers in seiner Alltagswelt leisten? Welchen Beitrag kann eine Pädagogik der Anerkennung dazu leisten, dass eine Kultur der Anerkennung allgemein sinnvoll, attraktiv und nützlich erscheint?

Im Subjektbegriff kommen vorrangig jene Bedingungen individueller Selbsterkenntnis und -anerkenntnis in den Blickwinkel, die sozialer Art sind. Denn erst in sozialen Verhältnissen der Anerkennung kann der Subjektstatus erworben werden. Individuen werden unter gesellschaftlichen Bedingungen der Anerkennung zu Subjekten. Mit dem Subjektstatus ist idealerweise zugestanden, dass das Individuum sich in unterschiedlichen Sphären der intersubjektiven Realität entfalten und darstellen kann. Dieser hier in der idealen Struktur des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft skizzierte Subjektbegriff markiert ein normatives Konzept.

Die Forderung nach Anerkennung der Individuen als Subjekte verlangt aber von diesen, dass sie sich in jener vorherrschenden gesellschaftlichen und diskursiven Struktur darstellen, einordnen, begreifen und artikulieren, in der Subjekt-Sein überhaupt und dieses je spezifische Subjekt-Sein möglich ist.

Anerkennung ist somit eine produktive Praxis, „sie ist ein Beitrag dazu, Individuen auf eine bestimmte Weise hervorzubringen: als entrechtet, missachtete,, angesehene, wertgeschätzte usw. Dabei sind es konkrete empirische Merkmale wie beispielsweise Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Schönheit, Hautfarbe, ethnische, soziale oder religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung usw., die als Kriterien fungieren, ob und in welcher Hinsicht jemand anerkannt wird oder nicht“ (Dederich 2011, 116f

Damit sind Spannungen, Widersprüche und Paradoxien angesprochen, die kennzeichnend für den Umgang mit Differenz und Identität sind. Der Bezug auf Differenz, der wie in Anerkennungsansätzen von einer Bejahung der Differenzen getragen wird, reproduziert und bestärkt die Verhältnisse der Differenz, die immer auch als Verhältnisse der Dominanz, der Über- und Unterordnung verstanden werden müssen. Da, wo Pädagogik einen Beitrag beispielsweise zur Anerkennung von Menschen mit Behinderungen leistet, bestätigt die Anerkennungspraxis das machtvolle Schema, das zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen unterscheidet und diese gesellschaftliche bedeutsame Differenzordnung hervorbringt. Durch Anerkennung weise ich dem und der Anderen nicht nur eine Identität zu, „die ihren Platz im Rahmen einer sozialen und symbolischen und machtdurchsetzen Ordnung hat (Dederich 2011, 122), sondern bestätige auch diese Ordnung, in der auch ich selbst einen Ort beanspruche und habe. Kulturell und gesellschaftlich Andere, so sie an-erkannt werden wollen, müssen hierbei zunächst lernen, ihre Erfahrungen so zu kodieren, einzuschränken und auszulegen, dass sie in der hegemonialen Struktur vernehmbar werden. Zudem sind sie gehalten, da dieser zu- und eingeschriebene Status ein signifikanter Aspekt ihrer selbst ist, fortwährend auf ihr Anderssein Bezug zu nehmen; dies können sie nur in den Kategorien bewerkstelligen, die ihnen in den dominanten Diskursen, in denen sie verstrickt und mit denen sie ambivalent verbunden sind, angeboten werden. Der Versuch Anderer, sich als "Subjekt" zu verstehen, zu artikulieren und einzubringen, reproduziert mithin genau jene Struktur, die mit der Kategorie dieses Anderen operiert und das Andere erst hervorbringt.

Das Motto „Nichts über uns ohne uns“, mit dem die Forderung nach Anerkennung des politischen Subjektstatus von Behinderten insbesondere in Diskursen, die Behinderung zum Gegenstand haben, von Behinderten formuliert wird, verweist auf den Widerspruch der Anerkennung. Erst in der Dopplung des behinderten Subjekts (Behinderte fordern den Subjetstatus von Behinderten) konstituiert sich das behinderte Subjekt und bezieht sich im selbstidentifizierenden Personalpronomen, in diesem Akt der Selbstkonstitution auf das hegemoniale Unterscheidungsschema, das die Gruppe der Behinderten von der Gruppe der Nicht-Behinderten unterscheidet.



[3] Zugleich werden die gegenwärtigen Auseinandersetzungen im Rahmen der gesellschaftlichen Grunddifferenz behindert-nichtbehindert auch durch biopolitische Positionen und Argumente gekennzeichnet, die sich in Lebenswertdebatten und Praktiken der Pränataldiagnostik wiederspiegeln.

3. Schluss

Behinderungspädagogik geht mit Spannungen und Dilemmata einher, die kennzeichnend für professionelle Praxis sind und nicht schlicht überwunden werden können. Bedeutsam ist insofern im Sinne einer reflexiven Professionalität, das singuläre Handeln im Blick auf seine Effekte und Bedingungen zu thematisieren und beständig so zu verändern, dass dieses Handeln die Machtverhältnisse, von dem dieses Handeln vermittelt wird, erkennt und wenn möglich schwächt. Wenn das politische Begehren, das wir hier unter dem Ausdruck Behinderungspädagogik in seiner widersprüchlichen Struktur skizziert haben, nicht als vorrangig pädagogische Aufgabe, sondern als gesamtpolitische Notwendigkeit zu sehen ist (Dederich 2007, 30), dann heißt dies freilich nicht, dass eine Behinderungspädagogik der falsche Ansatz ist - aber dieser sollte im Wissen um die Grenzen des pädagogischen Einflusses, weiterhin im Wissen um die hegemoniale Ordnung, die Behinderung von Nicht-Behinderung scheidet, ein seiner Grenzen und seiner Widersprüche bewusster, mithin bescheidener sein.

4.Literatur

Feuser, Georg (1998): Pädagogik im Spannungsfeld von Bioethik und Menschenwürde. Eröffnungsvortrag im Rahmen der Tagung "Betroffen von Biomedizin und Bioethik - Bedrohung der Menschenwürde?" an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Online verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/feuser-bioethik.html

Fragner, Josef (2001): Von der Anerkennung zur Kooperation am "Gemeinsamen Gegenstand“. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, Nr. 2., S. 11-18. Online verfügbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh2-01-fragner-kooperation.html

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Dannenbeck, Clemens/ Dorrance Carmen (2009): Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns - eine Kritik der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens. In: Zeitschrift für Inklusion, Nr. 2/09. Online verfügbar unter: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/issue/view/8

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Quelle

Kerstin Hazibar, Paul Mecheril: Es gibt keine richtige Pädagogik in falschen gesellschaftlichen Verhältnissen. Widerspruch als Grundkategorie einer Behinderungspädagogik

Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 01/2013. http://www.inklusion-online.net/ , ISSN 1862-5088

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.05.2016

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