Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns - eine Kritik der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens

Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 02/2009 Zeitschrift für Inklusion (02/2009)
Copyright: © Clemens Dannenbeck, Carmen Dorrance 2009

1. Von der Gesellschaftsutopie zur kritischen Handlungsperspektive

Inklusion ist ein zu beschreitender Weg und markiert einen längeren Prozess. Inklusion braucht einen langen Atem, der sich für diejenigen, die sich entschließen, den Weg zu beschreiten, am Ende auszahlen wird. Von Inklusion profitieren wir alle, besonders aber unsere Kinder. Sie sollen in Verhältnissen leben können, in denen niemand mehr ausgeschlossen ist, in denen jeder Mensch seine Ressourcen und Kompetenzen einzubringen vermag und dafür individuelle Wertschätzung genießt und Anerkennung erhält.

Ein solchermaßen idealistisches Verständnis von Inklusion mag konsensfähig sein, selbst unter dem Gesichtspunkt, dass das Streben nach inklusiven Verhältnissen nicht nur eine schul- und bildungspolitische, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension haben soll[1]. Insofern erscheint Inklusion als eine auf normativen Wert orientierungen basierende, wünschenswerte Entwicklung, deren Realisierungschance und -dynamik von einer zunehmend in unterschiedliche Lebensbereiche hinein diffundierenden, auf Öffentlichkeitswirksamkeit zielenden, wachsenden und sich immer stärker vernetzenden Inklusionsbewegung[2] abhängt.

Aber Inklusion sollte weder als erreichter Zustand, noch als bloße Utopie gedacht werden. Sie kann gewissermaßen auch nicht als realistisches gesellschaftspolitisches Ziel dienen. Denn als praktisches Ziel einmal festgeschrieben, ist ein potenzielles Ende der kritischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen des eigenen Handelns bereits mitgedacht. Ein solcher Abschluss kritischer Reflexion steht jedoch im Widerspruch zum Inklusionsbegriff selbst. Wir möchten diesen provozierenden Gedanken mit einem Verständnis von Inklusion erläutern, das unserer Ansicht nach die besondere gesellschaftspolitische Brisanz dieser Kategorie, jenseits des im deutschen Sprachgebrauch bislang vorherrschenden Integrationsbegriffs[3], erst voll zum Tragen bringt.

Entsprechend soll an dieser Stelle praktische Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns verstanden werden, die nicht die Praxis selbst beschreibt, sondern deren theoretische Grundlage. Eine inklusive Perspektive in diesem Sinne würde dabei eine notwendige, unaufhebbare und permanente Kritik professionellen pädagogischen Handelns bedingen. Die pädagogische Praxis selbst, unter gegebenen Rahmenbedingungen als Ergebnis eines individuellen Entschlusses praktisch zu handeln, mag dabei suboptimal bleiben, möglicherweise auch Ergebnis von Kompromissen sein.

An einem Beispiel verdeutlicht: Sportunterricht in einer integrativen Klasse. Eine Mehrheit der Schüler/innen möchte Basketball spielen. Die pädagogische Herausforderung besteht darin, Wege zu finden, die ein Kind im Rollstuhl in dieser Situation nicht ausschließt. Gibt es in einer solchen Situation die eine, im Sinne von Inklusion "richtige" pädagogische Lösung? Wir möchten behaupten: Einerseits ist eine ganze Bandbreite von pädagogischen Entscheidungen in diesem Fall als legitim anzusehen (von der Strategie, sich an den Wünschen und Bedürfnissen des Kindes im Rollstuhl zu orientieren und mit ihm Rollenmuster zu erarbeiten, die eine seinen Ressourcen gemäße Beteiligung am Basketballspiel erlauben - bis hin zur Möglichkeit, die Schüler selbst entscheiden zu lassen, wie sie ihre Mannschaften zusammensetzen wollen, selbst wenn dabei der eine oder andere Schüler keinen Platz in einem erfolgsorientierten Team finden sollte). Entscheidend im Sinne von Inklusion ist hingegen der theoretische Ausgangspunkt, von dem aus hier pädagogisch begleitet wird. Das heißt, das pädagogische Vorgehen soll, egal wie es konkret ausfallen mag, in keiner Phase unhinterfragt bleiben, es muss fachlich begründbar sein und sollte sich nicht zu einem stereotypen Handlungsmuster verfestigen. Denn: Das Kind im Rollstuhl unter allen Umständen und in jedem Fall, zumindest symbolisch am Spiel zu beteiligen, mag letztlich ebenso problematisch sein, wie es vom Basketballspiel systematisch auszuschließen. Inklusion als Perspektive stellt ebenso eine Herausforderung für pädagogische Kreativität dar, wie sie eine Vielfalt von konkreten Handlungsoptionen beinhaltet. Inklusion in diesem Sinn bedeutet die Kritik und Auflösung stereotypen (sozial)pädagogischen Handelns als vermeintlich "richtiges" Handeln, unabhängig von Situation und Kontext.

Die Überzeugung jedoch, inklusiv gehandelt zu haben, setzt dieser Form der Kritik stets ein jähes Ende und reproduziert dabei ggf. unbeabsichtigt, weil unbedacht, exkludierende Verhältnisse. Der Wille, das eigene pädagogische (aber auch das bildungspolitische) Handeln unter einer inklusiven Perspektive zu hinterfragen, ist demgegenüber die einzige Möglichkeit, Exklusionsprozessen kontinuierlich entgegenzuarbeiten.



[1] In Bayern zum Beispiel hat die Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung seit Beginn des Jahres 2009 ein erstaunlich heftiges politisches Echo zur Folge. Seither wird kaum eine Gelegenheit ausgelassen, sich politisch zum Leitgedanken der Inklusion zu bekennen - ein Anspruch, der weit über die Forderung nach mehr Integration im Bildungssystem hinausgeht. Stellvertretend sei hingewiesen auf die Fachtagung "UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung - und die Kunst der Über-/Umsetzung" in Nürnberg sowie der Thementag "Inklusion - eine realistische Perspektive ?!" der Arbeitsgruppe 2 des Forum Soziales Bayern, veranstaltet vom Sozialministerium in München.

[2] Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Vernetzungsbekundungen von Inklusionsforschenden und praktisch mit Inklusionsprozessen befassten Teilnehmenden der Abschlusstagung zur Umsetzung des "Investitionsprogramms Zukunft Bildung und Betreuung" zur Entwicklung von Ganztagsschulen im Land Sachsen-Anhalt in Benneckenstein (Harz)

[3] Zu den Argumenten, in welcher Hinsicht und unter welchen Umständen inklusive Pädagogik über das bisherige Verständnis von integrativer Pädagogik, wie es in Deutschland vorherrscht(e), hinausgeht, vgl. Hinz (2008)

2. Der Preis der Entpolitisierung

Die Vorstellung von Inklusion als einer gesellschaftlichen Utopie ist nicht so sehr unrealistisch, als vielmehr eine theoretische Falle. In der Praxis äußert sich diese in der professionellen Selbstzufriedenheit, die von aufrichtiger (und natürlich berechtigter) Begeisterung über augenscheinliche Integrationserfolge getragen sein mag. Sie läuft jedoch im selben Maß Gefahr, die gesellschaftlichen Bedingungen ihres eigenen Nischendaseins - das scheinbar Richtige im Falschen zu machen - zu ignorieren.

Systemtheoretisch betrachtet bestand die Zukunft einer durch fortschreitende Differenzierung gekennzeichneten (post)modernen Gesellschaft nie in der Projektion einer zu verwirklichenden Inklusion (möglichst) aller. In fortgeschrittenen Gesellschaften ist Inklusion stets nur in Bezug auf sich immer weiter ausdifferenzierende Teilsysteme vorstellbar und immer nur graduell und partiell zu denken[4].

Die Wunschvorstellung einer inklusiven Gesellschaft suggeriert die Möglichkeit der (Re)Etablierung einer Gemeinschaft, deren notwendigerweise vormoderner Charakter wohl nicht zu hintergehen wäre[5]. Systemtheoretisch betrachtet ist Inklusion ein analytischer Maßstab unter mehreren zur Beschreibung des Verhältnisses gesellschaftlicher Teilsysteme zueinander und der Verortung von Individuen ihnen gegenüber. Beides verändert sich in dynamischer Weise.

Der Inklusionsbegriff taugt so gesehen kaum als normativer Orientierungspunkt für eine einzuschlagende Richtung gesellschaftlicher Veränderungen. Tony Booth (2008), Mitautor der englischen Originalfassung des Index für Inklusion[6], bringt das selbst auf den Punkt, wenn er die problematische Rede von Sozialer Inklusion kritisiert: "... es ist unmöglich, die Folgen von Armut zu lindern, ohne sie selbst zu verringern" (ebd. S. 57). Das aber heißt: Die Realisierung gesamtgesellschaftlicher inklusiver Verhältnisse scheitert allemal notwendigerweise an (fort)bestehenden sozialen Ungleichheitsstrukturen. (Man könnte ergänzen: Auch Demokratische Schulen finden allemal in realexistierenden rassistischen Gesellschaftsstrukturen ihren Meister.)

Was aber bedeutet die Forderung, pädagogisches Handeln unter einer inklusiven Perspektive als (selbst)kritisches Handeln zu verstehen?



[4] Vgl. dazu etwa Stichweh (2005), Farzin (2006), Stichweh und Wondolf (2008), Münch (2009)

[5] Vgl. hierzu die soziologischen Klassiker wie Tönnies (2005)

[6] Vgl. hierzu Dannenbeck (2002), Dannenbeck / Esser / Lösch (1999)

3. Permanente Reflexion professionellen Handelns

(Sozial)Pädagogisches Handeln erfolgt stets auf der Basis implizit unbewusster oder explizit konzeptioneller theoretischer Annahmen. Dabei ist es zugleich eingebettet in (und auch Resultat von) strukturell-organisatorischen und politisch hergestellten Rahmenbedingungen. Und schließlich sind auch die professionell Handelnden selbst stets Personen, die in komplexen Sozialisationsprozessen enkulturalisiert wurden und werden - ein Umstand, dem die gängigen Ansichten über die Bedeutung kultureller Differenzen gemeinhin analytisch nicht gerecht zu werden vermögen.

Diese drei Punkte schlagen sich im Aufbau des Index für Inklusion[7]nieder: Inklusive Perspektiven realisieren sich über kulturelle, strukturelle und praxisbezogene Reflexion[8]. Das aber bedeutet: Es geht sowohl um die individuellen Orientierungen der Pädagoginnen und Pädagogen, als auch um die politisch hergestellten Verhältnisse sowie um das professionelle Praxishandeln. Alle drei Ebenen sind miteinander verbunden, insofern sie sich wechselseitig beeinflussen. Dies zu ignorieren, gefährdet eine Inklusionsperspektive als Ganzes: Es reicht nicht aus, guten Willen, Motivation und Begeisterung für Integration zu zeigen, kein Kind durch eigenes pädagogisches Handeln mehr ausgrenzen zu wollen - es reicht auch nicht aus, die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit auf die Dimension ihrer politischen Bedingtheit hin zu reduzieren (und dann angesichts der offensichtlichen Trägheit politischer Entscheidungsstrukturen zu resignieren). Ebenso greift es aber auch zu kurz, die eine oder andere "progressivere", weil vorgeblich inklusivere, professionelle Methode in der Erwartung anzuwenden, damit inklusiven Verhältnissen bereits näher gekommen zu sein.

Demgegenüber bietet die Verfolgung einer reflexiven inklusiven Perspektive die Chance, binäre Denkpraxen kritisch zu unterlaufen. Es gibt möglicherweise kaum im Sinne der Inklusion eindeutig "richtige" und "falsche" Methoden (etwa der Unterrichtspraxis)[9], ebenso wie es keine per se "exkludierenden" und "inkludierenden" Integrationspolitiken als praxistaugliche Gesamtpakete geben mag. Stattdessen ist sowohl in Bezug auf die eigene professionelle Praxis wie in Bezug auf deren gesellschaftliche und politische Voraussetzungen eine kritische Analyse erforderlich, die sich den jeweiligen Exklusionstendenzen und Gefahren widmet und entgegenstellt. Der Index für Inklusion bietet die Möglichkeit, sich einer solchen Form kritischen Handelns zu verschreiben, von der auch immer ein gesellschaftspolitischer Auftrag ausgehen muss. Eine reflexive inklusive Perspektive ist so gesehen immer auch ein politisches Projekt.



[7] Boban, Ines / Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion - Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, zu beziehen über: hinz@paedagogik.uni-halle.de, als download: http://209.85.129.132/search?q=cache:yQX-SlXm7FUJ:www.eenet.org.uk/index_

[8] Vgl. zusammenfassend den Beitrag von Hinz, Andreas: Inklusion - mehr als nur ein neues Wort !? (http://www.gemeinsamleben-rheinlandpfalz.de/Hinz__Inklusion_.pdf)

[9] Boban, Ines / Hinz, Andreas: Qualitätsentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts durch den "Index für Inklusion". In: BEHINDERTE 4/5/2003, Seite 2-13

4. Vielfalt und Differenz

Immer wieder muss darauf hingewiesen werden, dass der Index für Inklusion nicht auf ein Instrument zur "besseren" Integration von Menschen mit Behinderung in Schule und andere gesellschaftliche Teilbereiche verkürzt werden sollte. Behinderung ist nur eine der denkbaren, wenngleich zweifellos eine wichtige, gesellschaftlich bedeutsam gemachte Differenzkategorie, deren Exekution zu Benachteiligungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen führen kann.

Einer reduktionistischen Wahrnehmung von Differenz(en) könnte zukünftig die Rezeption von intersektionellen Ansätzen, wie sie im Kontext der Disability Studies gegenwärtig andiskutiert werden, entgegenwirken[10]. Allerdings reicht der Blick auch unter dem Label der Intersektionalität, das sich als mehrdimensionaler Analyseansatz zur Erforschung sozialer Ungleichheit gegenwärtig einer Konjunktur erfreut[11], kaum so weit, als dass Behinderung nicht auch dort bestenfalls als zusätzlich zu berücksichtigende Ungleichheitsvariable erschiene. Gleiches gilt für Vieles, was unter der Bezeichnung Managing Diversity firmiert und seinen Weg aus einem ursprünglich betriebswirtschaftlichen Umfeld immer häufiger auch in Handlungsfelder wie etwa die der Sozialen Arbeit findet. Diese Entwicklung spiegelt nur den Trend zur Ökonomisierung des Sozialen wieder. Vorsicht ist dann geboten, wenn (etwa in vielen Angeboten so genannter "Interkultureller Trainings")[12] Heterogenität als notwendige Voraussetzung für effizientes soziales Handeln entdeckt wird und dabei in der Regel weitgehend unreflektiert einer Essentialisierung allen (vermeintlich) Fremden, Exotischen und Andersartigen gefrönt wird. Dann kann gegebenenfalls neben Frauen und Männern unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft durchaus auch ein "Mensch mit Behinderung" mit an den Tisch oder ins Team integriert werden, dessen Legitimation offensichtlich gerade nicht in seiner Genderzugehörigkeit, seinem kulturellen oder sozialen Herkunftsmilieu oder gar in seinen persönlichen Ressourcen, Kompetenzen oder Qualifikationen besteht, sondern eben vornehmlich in seiner Behinderung - für was diese auch immer Ausweis sein mag[13]. Die betriebswirtschaftliche Rationalität vieler Ansätze von Managing Diversity realisieren dabei kaum mehr als eine traditionelle Integrationsperspektive, die in einer Behinderung zwar nicht mehr ein kontraproduktives Defizit sehen, jedoch auch nicht mehr als eine "Bereicherung" , die (wirtschaftlichen) Erfolg, kreative Schübe und positive Außenwirkung verspricht. Damit trifft zu, was Boban / Hinz (2009) mit Blick auf die Integrationsbewegung feststellen:

"Die Integrationsbewegung zementiert mit ihrer Forderung nach ‚Integration von Menschen mit Behinderung' - oder der von MigrantInnen - die gesellschaftliche Konstruktion der Andersartigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen und damit ein statistisches Verständnis von Behinderung - oder die Fremdheit von MigrantInnen - dadurch, dass sie den Zugang dieser Gruppe in allgemeine Institutionen ... fordert" (ebd. S. 92f)

Es kann und darf bei der Inklusionsperspektive also nicht ausschließlich oder vornehmlich um eine definitorisch zu umreißende "Gruppe von Menschen mit Behinderung" gehen - schon allein deshalb nicht, weil eine solche Gruppe von Menschen wohl nicht mehr als eine statistische Einheit darstellen und in sich keineswegs Interessenhomogenität aufweisen würde. Diese Form des kategorisierenden Denkens trägt auch im Namen der Inklusion zur Reproduktion der Grenzziehungen zwischen integrierbaren und (möglicherweise noch nicht) integrierbaren Menschen bei.

Es geht aber auch nicht um eine merkmalsdefinierte Gruppe von Menschen, wenn Behinderung im Sinne des Projekts der Disability Studies als sozio-kulturelles Modell verstanden wird und nicht als individuelle Eigenschaft Betroffener. Demnach sind Behinderungen Resultate sozialer Prozesse und Beziehungen zwischen Menschen und/oder Institutionen. Und schließlich beschreibt eine Behinderung auch weder die Identität noch die Lebenswelt einzelner Menschen jeweils zur Gänze. Jeder Mensch bewegt sich im Spannungsfeld der weiteren Differenzen, die soziale Prozesse virulent werden lassen und die Menschen bisweilen mit Identitätszumutungen konfrontieren. Jeder Körper ist vergeschlechtlicht, kulturell codiert und sozial markiert[14]. Damit aber trifft zu, was Tony Booth (2008) wie folgt formuliert:

"Sie so zu behandeln, als ob die Teilhabe nur von der Überwindung der behindernden Aspekte eines Umfelds oder Systems abhinge, würdigt sie als Menschen herab, da andere Merkmale ihrer Identität ignoriert werden" (ebd. S. 54).

Eine reflexive inklusive Perspektive heißt vor allem, sich der Dynamik der sozialen und gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Differenz(en) zu stellen. Anerkennung von Vielfalt ist die eine Seite der Medaille, die Dekonstruktion von Differenzsetzungen ist deren Kehrseite. Denn Heterogenität ist nicht einfach da, sondern wird durch praktisches Handeln, durch Unterscheidung, Differenzierung und Kategorisierung immer auch erst hergestellt. Letzteres erfolgt über die machtvolle Durchsetzung von Lesarten, die es erforderlich macht, sich der Analyse der Machtprozesse, die den Kampf um die Bedeutung von bestimmten Differenz(en) (und deren Wechselwirkung) maßgeblich bestimmen, zu stellen.

Zu nennen wären auf jeden Fall Geschlechterdifferenzen, kulturelle Differenzen und soziale Differenzen - wobei jegliche (endliche) Aufzählung derselben in zweierlei Hinsicht suboptimal bleiben muss. Sie sagt zum einen nichts über die Beziehung der Differenzen zu- und untereinander aus und zum anderen läuft ihre Benennung Gefahr, anderes jeweils wieder systematisch aus dem Blickfeld zu verlieren. The subaltern cannot speak[15] - es sind immer die Nichtthematisierten, die ausschließlich unter der Voraussetzung einer permanenten Kritikbereitschaft pädagogischen Handelns die theoretische Möglichkeit erhalten, Repräsentationschancen wahrzunehmen. Jegliches Zur-Sprache-Bringen hingegen lässt das dabei nicht Ge- und Besprochene (wieder) verschwinden. Es repräsentiert die dunkle, weil unsichtbare, Seite auch des Handelns in inklusiver Absicht.



[10] Vgl. hierzu Raab (2007), die einerseits die auch in den Disability Studies bislang vorherrschende Konzentration auf die Kategorie Behinderung kritisiert und umgekehrt an der Intersektionalitätsforschung die weitgehende Nichtberücksichtigung der Kategorie Behinderung bemängelt.

[11] Vgl. hierzu den Überblicksbeitrag von Winkler / Degele (2009)

[12] Die Literatur hierzu ist inzwischen Legion. Vgl. ein zufällig ausgewähltes, weil aktuelles, Beispiel: Hecht-El Minshawi, Béatrice / Berninghausen, Jutta (2009)

[13] Die diesen Entwicklungen im Kontext der Interkulturellen Sozialen Arbeit bei weitem am kritischsten gegenüber stehende Analyse findet sich in Keisel / Eppenstein (2008)

[14] Vgl. hierzu beispielsweise Bruner (2005)

[15] Vgl. Spivak (2007)

5. Die kritische Inklusionsperspektive schärfen

Eine kritische inklusive Perspektive kann und darf sich so gesehen nicht in der gewissenhaften Befolgung eines endlichen kategorial bestimmten Wertekanons erschöpfen. Abgesehen davon, dass die Artikulation von verbindlichen Werten - auch wenn diese in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt sein mögen - unweigerlich eine (kritische) Debatte über deren implizit immanenten Universalitätsanspruch provozieren muss, suggeriert ein auf Werterealisation und -einhaltung verkürzter Inklusionsdiskurs, dass individuelles im Sinne der Inklusion korrektes pädagogisches Handeln und die jeweils eigene professionelle Orientierung bereits hinreichen könnten, um sich auf dem "richtigen" Weg der Inklusion zu wähnen.

Da gesellschaftliche Strukturen an sich jedoch keine Werte repräsentieren, sondern bestenfalls Ausdruck wertgebundener Entscheidungsmotive sein können, tendiert der Wertediskurs dazu, das gesellschaftspolitische Projekt der Inklusion (zumindest jedoch dessen kritisches Potenzial) zu torpedieren. Auch Booth (2008) spricht von drei miteinander zu verbindenden Ebenen: Der Perspektive auf die Teilhabe an Werten, der Perspektive auf die Teilhabe an Systemen und der Perspektive auf die Teilhabe von Individuen. Allerdings ist dabei der Rekurs auf die Teilhabe an Systemen zwar einerseits mit der Forderung nach Transformation verbunden -  was am Beispiel von Schule etwa heißt, dass die individuelle Zumutung der Assimilation an organisatorische Gegebenheiten durch die Forderung nach struktureller Veränderung der Institution(en) an die heterogenen Bedürfnisse der Einzelnen ersetzt wird - andererseits ist auch programmatisch immer von einem (notwendigerweise) unbestimmten allgemeinen theoretischen Mensch-Sein die Rede, das die Problematik dessen (in der Praxis ebenso unausweichlich notwendiger) Definition ausblendet: "Alle" waren noch nie gleich (und verschieden) - und können es in der Praxis auch nie sein. So können Werte auch nur Orientierungsbasis für Strukturen sowie individuelle und kollektive Praktiken sein.

"Gleichzeitig sind sie nicht nur einfach als Handlungen umzusetzen, sondern erfordern immer wieder Reflexion über eigenes Handeln. Und sie bedeuten auch immer wieder Diskussionen über ihre universelle Gültigkeit, ggf. auch in Konflikten zwischen unterschiedlichen Werten" (Boban / Hinz 2009, S. 94)

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Forderung nach Inklusion - wie sie etwa in den Positionen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung formuliert ist - politischer Vereinnahmung ausgesetzt wird. Es geht demnach in einer sich durchaus bereits als integrativ verstehenden Gesellschaft nicht mehr darum, sich politisch gegen Inklusion auszusprechen, sei es aus finanzierungstechnischen oder aus ideologischen Erwägungen. Im Gegenteil: Auch mit dem Inklusionsbegriff kann man sich bildungspolitisch heute prächtig schmücken. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn die vorhandenen strukturellen Gegebenheiten und rechtlichen Voraussetzungen des Bildungssystems bereits als ein idealer Rahmen für Möglichkeiten der Verwirklichung von institutioneller Integration (beispielsweise unter den Labels Schulentwicklung und Schulprofil) dargestellt werden. Integrationserfolge bleiben dabei abhängig vom Engagement, vom Mut und von der Kooperationsbereitschaft einzelner Schulleitungen, LehrerInnen und Eltern. Es ist jedoch zu erwarten, dass eine solche Entpolitisierung der Forderung nach Inklusion, sollte sie sich denn als erfolgreich erweisen, bestenfalls zu weiteren punktuellen Einzelerfolgen für die Teilhabe-, Mitwirkungs- und Repräsentationschancen von marginalisierten Menschen führen wird.

Literaturverzeichnis

Boban, Ines / Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion - Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2003. Zu beziehen über: hinz@paedagogik.uni-halle.de, als download: http://209.85.129.132/search?q=cache:yQX-SlXm7FUJ:www.eenet.org.uk/index_ (2. Auflage in Vorbereitung, voraussichtlich 2010

Boban, Ines / Hinz, Andreas: Qualitätsentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts durch den "Index für Inklusion".In: BEHINDERTE 4/5/2003, Seite 2-13

Boban, Ines / Hinz, Andreas: Inklusive Werte in allen Lebensbereichen realisieren. In: Gemeinsam leben. 2/2009, S. 92-99

Booth, Tony: Eine internationale Perspektive auf inklusive Bildung: Werte für alle? In: Andreas Hinz, Ingrid Körner, Ulrich Niehoff (Hg.): Von der Integration zur Inklusion. Grundlagen - Perspektiven - Praxis. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung 12/2008, S. 53-73

Booth, Tony / Ainscow: Index for Inclusion. Developing Learning and Participation in Schools. London: Center for Studies on Inclusive Education, London 2002

Bruner, Claudia Franziska: Körperspuren. Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen. Transcript Verlag, Bielefeld 2005

Dannenbeck, Clemens / Esser, Felicitas / Lösch, Hans: Herkunft (er)zählt. Befunde über Zugehörigkeiten Jugendlicher. Reihe: Interkulturelle Bildungsforschung 4, Waxmann Verlag, Münster, New York, München, Berlin 1999

Dannenbeck, Clemens: Selbst- und Fremdzuschreibungen als Aspekte kultureller Identitätsarbeit. Leske + Budrich, Weinheim 2002

Farzin, Sina: Inklusion / Exklusion: Entwicklungen und Probleme einer systemtheoretischen Unterscheidung, transcript Verlag Bielefeld 2006

Hinz, Andreas: Inklusion - mehr als nur ein neues Wort !? (http://www.gemeinsamleben-rheinlandpfalz.de/Hinz__Inklusion_.pdf), 08.09.2009

Kiesel, Doron / Eppenstein, Thomas: Soziale Arbeit interkulturell. Theorien Spannungsfelder reflexive Praxis. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2008

Münch, Richard: Das Regime des liberalen Kapitalismus: Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat, Campus Verlag München 2009

Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion: Studien zur Gesellschaftstheorie, transcript Verlag, Bielefeld 2005

Stichweh, Rudolf / Windolf, Paul: Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, VS Verlag Weinheim 2008

Hecht-El Minshawi, Béatrice / Berninghausen, Jutta: Interkulturelle Kompetenz; Managing Cultural Diversity. Das Trainingsbuch. Tranings-Handbuch. Kellner Verlag, 2. Auflage, Bremen 2009

Hinz, Andreas: Inklusive Pädagogik und Disability Studies - Gemeinsamkeiten und Spannungsfelder. Überlegungen in neun Thesen. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung im Zentrum für Disability Studies der Universität Hamburg, im Sommersemester 2008 (http://www.inklusionspaedagogik.de/index.php?option=com_content&task=blogcategory&id=87&ltemid=123), 01.09.2009

Raab, Heike: Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. In: Anne Waldschmidt / Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Transcript Verlag, Bielefeld 2007, S. 127-150

Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Turia und Kant Verlag, Wien, 2007

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, zuerst 1887, ab 2. Auflage unter selbigem Titel 1912

Waldschmidt, Anne / Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Transcript Verlag, Bielefeld 2007

Winkler, Gabriele / Degele, Nina: Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Transcript Verlag, Bielefeld 2009

Quelle:

Clemens Dannenbeck, Carmen Dorrance: Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns - eine Kritik der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens

Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 02/2009

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.12.2011

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