Community Care und bürgerschaftliches Engagement: Chancen und Risiken

Autor:in - Michael Wunder
Themenbereiche: Recht, Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Zeitschrift für Inklusion-online 02/2006 Zeitschrift für Inklusion (02/2006)
Copyright: © Michael Wunder 2006

Einleitung

Der folgende Beitrag ist die schriftliche Fassung des gleichnamigen Referats am 17. Nov. 2006 im Rahmen der Vortragsreihe "WOHN(T)RÄUME für junge Menschen mit Assistenzbedarf - mittendrin in guter Nachbarschaft [1].

Community Care ist nicht nur ein mittlerweile populärer Begriff, es ist auch ein voraussetzungsvoller Begriff.

Care bedeutet zunächst einmal Sorge, Fürsorge und Verantwortung und Community Care bedeutet somit, dass die Gemeinde und die Gemeinschaft diese soziale Sorge übernehmen sollen. Das klingt populär. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass die Großinstitutionen als Monopolisten der sozialen Sorge Aussonderung und Abhängigkeit produziert haben und abgeschafft gehören. Der Gedanke "Zurück in die Gemeinde", was immer "Gemeinde" dabei eigentlich bedeuten mag, ist nicht nur bei den Betroffenen und ihren Kommunikationspartnern zustimmungsfähig, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung.

Aber zwischen dem Leben in der Gemeinde und dem Leben als Teil der Gemeinde ist ein gewaltiger Unterschied, zwischen der Sorgezuständigkeit der Gemeinde und der Sorgezuständigkeit der Gemeinschaft. Den Konzepten von Dezentralisierung, Anstaltsauflösung, Einzug in gemeindenahe Angebote und Abschaffen der Großinstitution kann man heute schnell zustimmen und Community Care als Prinzip der Lokalität in der Gemeinde missverstehen. Hier liegt eine große Gefahr, weil Marginalisierung, insbesondere in der Gestalt von Vereinsamung und Ausschluss von Teilhabe, natürlich auch gerade inmitten der Gemeinde stattfinden kann. Wichtiger noch als der Community-Gedanke ist also ganz offensichtlich der Care-Gedanke.

Care heißt Verantwortung übernehmen für die Integration, für die Ermöglichung von Teilhabe. Care bedeutet auch das bewusste Bemühen, Menschen, die von Marginalisierung bedroht sind, in die Gemeinde zurückzuholen, sie zu beteiligen, sie wertzuschätzen durch Integration auch ihrer tätigen Beiträge in der Gemeinde. Care und somit Community Care kann nicht heißen: Du bist jetzt frei und selbständig. Sorge für Dich selbst.

Community Care geht einen großen Schritt weiter als die Ziele Anstaltsauflösung und Leben in der Örtlichkeit der Gemeinde. Community Care stellt die Frage: In welcher Gesellschaft möchten wir leben?

Folgerichtig müssen mit dem Community Care Konzept die Themenfelder Dritter Sozialraum, Gemeinwesenorientierung und social networking, zusammengefasst unter dem Begriff Community Living, diskutiert werden und darauf aufbauend die Fragen, welchen Anteil in dieser Community-Entwicklung die professionell ausgebildeten sozialen Berufsinhaber und welchen Anteil die anderen Bürger die bürgerschaftlich Engagierten, haben sollen, zusammenzufassen unter dem Begriff Community Building.



[1] Die Vortragsreihe wurde organisiert von Eltern beraten Eltern e.V., Zukunftssicherung geistig Behinderter e.V. und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).

1 Die Rolle der Professionellen

Zunächst zur Rolle der Professionellen, deren Entwicklung in dieser Diskussion meist unter dem Schlagwort "Vom Betreuer zum Assistenten" zusammengefasst wird.

Bis in die 90er Jahre hinein hatten wir eine Diskussion in der Behindertenhilfe, die man aus heutiger Sicht vielleicht als die der Hochprofessionalisierung bezeichnen könnte. Der Mensch mit Behinderung galt im Gegensatz und als Antithese zur vorherigen Epoche der Verwahrung als therapiewürdig, aber - und das ist das, was aus heutiger Sicht besonders ins Auge fällt - auch als im umfänglichen Sinne therapiebedürftig. Alltägliche Tätigkeiten mit Menschen mit Behinderung wurden zu Therapien. Es gab Gartentherapie, Balltherapie, Tanztherapie und letztendlich sogar Freizeittherapie. Nicht nur Mitarbeiter in den Einrichtungen wurden in großem Maßstab zu "Therapeuten" - Pädagogen wurden zu "Heil"-Pädagogen - auch Eltern von Kindern mit spastischen oder athetotischen Lähmungen werden sich erinnern, dass sie beispielsweise von den berühmten Bobaths aus England zu Co-Therapeuten gemacht wurden, wenn sie Zuhause bestimmte Haltungen oder Übungen mit den Kindern weiter praktiziert haben.

Betrachten wir es historisch:

Die Phase der Verwahrung war die Phase des Ausschließens, des Wegschließens, des Verweigerns von Zuwendung, von Normalität und von Dazugehören. Aber im Paternalismus war auch bei aller meist praktizierten Übergriffigkeit der Gedanke der Fürsorge, des Sich - Kümmerns, der Sorge enthalten.

Die Phase der Therapeutisierung kehrte dies um: Der Verwahrpaternalismus nahm die Gestalt der lebenslänglichen Therapie und Förderung an. Fremdbestimmt war beides, das alte Gewaltverhältnis wurde mit anderen Mitteln fortgesetzt. Aber in der Therapeutisierung lag bei aller Übertreibung und Besserwisserei auch der Gedanke der Unterstützung, der Wiederbefähigung, der Verantwortung für die bestmöglichen Entwicklungschancen ohne untere Grenze.

Die jetzt einsetzende Phase der Community Care versteht sich als Antithese zu beidem: zur Verwahrung und zur Therapeutisierung. Sie läuft dabei aber Gefahr, sowohl dem Begriff der Sorge als auch dem Konzept der Förderung ohne untere Grenze verständnislos gegenüber zu stehen und mit Sprachfloskeln aus dem Wirtschaftsleben, wie "Kunde" und "Service" zu ersetzen. In einer oft unheimlich anmutenden Allianz mit den Haushältern der Sozialbudgets sprechen Protagonisten der Community Care von Entprofessionalisierung und Abschaffung aller spezialisierten Dienste als Sonderdienste als erstrebenswerte Ziele.

Richtig und unterstützenswert halte ich auf jeden Fall den Ansatz, dass alle Leistungen, die ein Mensch mit Behinderung braucht, in der Gemeinde erreichbar sein müssen (nach Möglichkeit - es wird immer Dienste geben, zu denen es weitere Wege gibt). Standardangebote sollten integriert und nicht in Sonderwelten vorgehalten werden. Des Weiteren gilt sicherlich, dass vieles an alltäglicher Begleitung des Behinderten nicht professionalisiert werden muss und durchaus in Netzwerken nachbarschaftlicher Hilfe oder - ich komme darauf zurück - bürgerschaftlichem Engagement genauso gut, wenn nicht sogar besser erbracht werden kann.

Es gibt jedoch zwei Warnschilder, die ich hier deutlich aufstellen möchte. Das eine betrifft, dass spezialisiertes Wissen nicht abgeschafft werden darf und dass es durchaus eine Berechtigung von besonderen Versorgungsangeboten gibt. Das andere betrifft die absolute Notwendigkeit von hoch professionellen Mitarbeitern, gerade wenn Nachbarschaftsnetzwerke und bürgerschaftliches Engagement stärker einbezogen werden sollen, aber auch schwerer behinderte Menschen Nutznießer dieser Entwicklung werden sollen. Umbau statt Abbau von Professionalität ist hier das Stichwort.

2 Zur Notwendigkeit spezialisierter Dienste

nenne ich hier das Beispiel der Psychiatrischen und Psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Behinderung, das ich selber so gut vertreten kann, weil im es Angebotsbündel des Beratungszentrums Alsterdorf eine psychiatrisch psychotherapeutischer Ambulanz für Menschen mit Behinderung gibt. Und wir sind stolz auf diese Zulassung, weil ihr die Kämpfe darum vorausgegangen sind, ob Menschen mit Behinderung überhaupt psychotherapiefähig seien. Dieses wurde von Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung in Hamburg über 2 Jahre abgestritten. Wir konnten es bezogen auf die internationale Debatte und unsere praktischen Erfahrungen seit über 15 Jahren auf diesem Gebiet widerlegen. Die nächste Frage war sodann, ob diese Angebotsform nicht von den niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten erbracht werden kann, also von den nicht spezialisierten Standarddiensten. Wie es so üblich ist bei entsprechenden Zulassungen, wurden diese befragt und es kam heraus, dass diese ehrlicherweise gesagt haben, dass sie damit überfordert wären. Würde man jetzt also der These derer folgen, die sagen, alle Dienstformen müssen im normalen Durchschnittsangebot erbracht werden, würde man hier zu einer tatsächlichen Entprofessionalisierung kommen. Die Leistung würde aber schlechter, halbherzig, oft wahrscheinlich gar nicht und vielleicht sogar im Einzelnen diskriminierender erbracht, als in einer besonderen Ambulanz für Menschen mit Behinderung. Ähnliches gilt auch für andere gesundheitliche Versorgungsbereiche, z.B. stationäre Krankenhausversorgung. Ich glaube, dass hier aus praktischer Erfahrung einfach die Grenze eines Konzeptes ist, dass schlicht nur die Integration aller spezialisierten Dienste in die Standardangebote fordert. Dieses Konzept führt dazu, dass Leistungen einer besonders bedürftigen Gruppe vorenthalten werden.

3 Zur Wahrung der Professionalisierung in der Behindertenhilfe

Ich glaube, dass professionelle Helfer eine hohe Verantwortung haben, die immer notwendiger werdenden, nicht professionellen Hilfen mit den professionellen Hilfen sinnvoll zusammenzubinden und zu einem Ganzen für den Assistenznehmer zu organisieren. Professionalität in der Behindertenhilfe bedeutet schon seit langem nicht mehr, paternalistisch oder überfürsorglich dem Anderen etwas überzustülpen, sondern zu wissen, wie der jeweilige Mensch mit Behinderung ein Mehr an Selbstbestimmung und Bedeutung für andere erlangen kann. Gerade hier ist der Mensch mit Behinderung kein "Kunde" und die Arbeit des Professionellen kein "Service". Professionell heißt nie, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sich mit Floskeln über die Autonomie des jeweils Anderen herauszureden. Professionell heißt immer wieder in die Beziehung hineinzugehen, immer wieder die Impulse des Andere individuell aufzuspüren und Übertragung und Gegenübertragung - was ist meins, was ist deins? - auseinanderhalten zu können. Professionell heißt, sich der Ungleichheit der Beziehung von Helfer und Klient bewusst zu sein, das Gefahrenpotential des Missbrauchs zu kennen. Nur so kann sich die Ungleichheit in einem Prozess langsam und nur im besten Fall egalisieren. Professionalität besteht gerade darin, zu wissen, wie dieser Prozess zu begleiten ist, wie das richtige Maß an Fürsorge und Loslassen, das Verhältnis von Verantwortungsübernahme und Verantwortungsübergabe zu gestalten ist. Die Kunst der Professionellen ist, sich stets selber wieder in Frage zu stellen und zu kontrollieren und immer so viel wie möglich nicht professionelle Betreuung, Hilfe, Kontaktgestaltung in den Alltag des Menschen mit Behinderung einzubinden, zu organisieren und einzupassen im Sinne eines Community - Building - Prozesses. Hier zeichnet sich der notwendig werdende Umbau im Berufsbild der professionellen Helfer in der Behindertenhilfe (Heilpädagogen, Behindertenpädagogen, Sozialpädagogen usw.) ab.

4 Zur Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements

Für die Entwicklung von Community Care wird die Frage des bürgerschaftlichen Engagements in zweifacher Hinsicht zu einer zentralen Frage:

a) Auf dem Wege der Deinstitutionalisierung und der Integration von Menschen mit Behinderung in das Community Living, wird das bürgerschaftliche Engagement vieler Mitglieder der Gesellschaft gebraucht. Dies gilt sowohl quantitativ, weil das Mehr an Stunden, das die Menschen mit Behinderung für diesen Weg brauchen, in Zeiten knapper öffentlicher Haushalte und schwindender Ressourcen im Sozialbereich kaum mehr alleine aus dem Staatshaushalten zu finanzieren ist, zum anderen qualitativ, weil damit eine andere Ebene der Direktheit und der Alltäglichkeit in die Arbeit mit Menschen mit Behinderung hineinkommt, die die professionelle Arbeit ergänzen muss.

b) Bürgerschaftliches Engagement vieler Mitglieder der Gesellschaft wird auch gebraucht als Zukunftssicherung der Bürgergesellschaft. Immer mehr Menschen wollen und sollen sinnvoll für Bürgergesellschaft aktiv werden. Ohne dieses Engagement ist die Entwicklung einer sozialen und menschlichen Gesellschaft nicht möglich. Community Living ist erst möglich, wenn dieses in einem Prozess von Community Building neu gestaltet wird, in dem sich eine Gesellschaft vielgestaltig und von einer Verantwortlichkeit ihrer Mitglieder getragen entwickelt.

5 Motivationen und Definitionen des bürgerschaftlichen Engagements

Fragt man freiwillige Helfer, warum sie in der Behindertenhilfe tätig sind, dann sagen sie meist, weil sie etwas Sinnvolles tun wollen, oder weil sie daraus ganz viel für sich ziehen. Immer seltener sagen sie, weil ich helfen will oder weil ich etwas Gutes tun will. Manchmal sagen sie auch, weil ich etwas wieder gut machen will, was ich geschenkt bekommen habe.

Man kann es so ausdrücken: indem heute bürgerschaftliche Engagierte etwas Sinnvolles für sich tun, helfen sie und tun sie etwas Gutes für andere. In der Literatur ist der Motivationswechsel der Einstellung zum bürgerschaftlichen Engagement von Motiven der Pflichterfüllung, des stillen Mittuns aus Pflichtbewusstsein oder der Aufopferung zugunsten der Motive des offenen Selbstbezuges und dem Wunsch nach eigenständiger Gestaltungsmöglichkeit vielfach belegt (vgl. Anheier / Toepler , 2001).

Bürgerschaftlichem Engagement, mit den Kennzeichen Freiwilligkeit, Gemeinwohlorientierung und nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet, wird heute in der Politik, aber auch in allen Diskussionen über die Zukunft unserer Gesellschaft ein hoher Stellenwert eingeräumt. Bürgerschaftlichem Engagement werden dabei folgende Funktionen zuerkannt:

  • Schaffung von Sozialkapital (Verbundenheit und Verständnis zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft)

  • Weg zur Teilhabe Vieler am gesellschaftlichen Leben

  • Teil gesellschaftlicher Selbstorganisation

  • wichtiges Kritik- und Innovationspotential für die gesellschaftliche Entwicklung (viele Institutionen entstanden ursprünglich aus bürgerschaftlichem Engagement und Selbsthilfebewegungen)

  • Anstoß von Lernprozessen

Die Diskussionen um Community Care und um bürgerschaftliches Engagement müssen also zusammen geführt werden und können sich gegenseitig befruchten. Um so wichtiger ist es, sich mit Aversionen - meist der Professionellen in der Behindertenhilfe gegenüber sog. ehrenamtlichen Helfern - auseinander zu setzen.

6 Unbezahlte Freiwilligenarbeit und Einsparung bezahlter Arbeit

In den 90er Jahren, wurde die Diskussion zum Thema Freiwillige Helfer in der Behindertenhilfe hauptsächlich unter dem Aspekt geführt, ob diese zum Abbau von Arbeitsplätzen beitragen. Mit aller Deutlichkeit wurde deshalb seinerzeit festgestellt, dass ehrenamtliches Engagement nur ergänzen, nie aber ersetzen könnte. So richtig diese Feststellung war, so deutlich ist auch, dass schon damals, aber umso mehr auch heute, jeder, der sich mit Freiwilligenengagement, mit bürgerschaftlichem Engagement in der sozialen Arbeit beschäftigt, unweigerlich auf die Frage der Ersetzung bezahlter Arbeit durch unbezahlte kommt.

Kernsatz der heutigen Auseinandersetzung, wie er sich beispielsweise im Bericht der Enquete "Bürgerschaftliches Engagement" widerspiegelt, ist, dass bürgerschaftliches Engagement nicht als Sparpotential betrachtet werden dürfe, sondern als Qualitätssteigerung, die die Dienstleistung des Sozialbetriebes humaner und effektiver macht. Betrachtet man die verschiedenen Qualitäten, die zusammenkommen müssen, kann auch heute nicht von Verdrängung, sondern nur von Ergänzung und Kooperation, allerdings auch von Erbringung bereits aus der öffentlichen Finanzierung gestrichener Leistungen gesprochen werden. (Bei letzterem denke ich an Wegebegleitungen, Freizeitmaßnahmen, Urlaubsbegleitungen usw.) Auch unter dem Vorzeichen wachsenden Spardrucks verhalten sich professionelle und bürgerschaftlich engagierte Arbeit wie ein linker und ein rechter Schuh. Wenn man den linken Schuh verliert, kann man schlecht beide Füße in den rechten Schuh stopfen.

Professionelle Mitarbeiter haben die Beachtung aller Hilfsbedürfnisse eines Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, die Gesamtheit ihrer Versorgung sicherzustellen (ohne all dies selbst ausführen zu müssen) und die Strukturierung der zu erbringenden Einzelhilfen zu organisieren. Ihre professionelle Verantwortung wird dazu führen, dass sie stets auch darauf achten, dass niemand, auch nicht der besonders schwer behinderte Mensch, herausfällt. Die bürgerschaftlich Engagierten können diese Verantwortung nicht tragen - weder auf der individuellen, noch auf der Metaebene. Sie bringen aber mit ihrer Arbeit und ihrem Elan das Stück Leben, Vielfalt, Alltag, Zeit und Normalität, auch Einschluss in den Alltag - Inklusion - mit hinein, was die professionellen Mitarbeiter nicht leisten können und auch nicht leisten sollen. Community Care braucht ein produktives Ergänzungsverhältnis von professionell fachlicher Arbeit und bürgerschaftlichem Engagement.

7 Schwierigkeiten bürgerschaftlichen Engagements in der Praxis

Natürlich gibt es Probleme und Eifersüchteleien in der Praxis. Wenn es schon nicht um Arbeitsplatzbedrohung geht, geht es häufig um Konkurrenz und Misstrauen. Bürgerschaftlich Engagierte dürfen häufig nicht an Dienstbesprechungen teilnehmen, was sie aber gerne wollen, um mehr von "ihrem Behinderten" zu erfahren. Die Professionellen sagen dann oft, es gehe um Datenschutz oder sie müssten auch unter sich erst einmal klar kommen, bevor "Fremde" dazu kommen. Oder auch umgekehrt: der bürgerschaftlich Engagierte ist empört über die Zustände in der Wohngruppe, ihn ärgert auch, dass die Professionellen nach Dienstschluss den Arbeitsplatz verlassen und er dann erst richtig in Fahrt kommen soll. Eine grundlegende Forderung ist deshalb Rollenklarheit. Die Professionellen müssen eine neue Rollenklarheit erwerben, ebenfalls die bürgerschaftlich Engagierten.

Bürgerschaftlich Engagierte brauchen ausreichend Einführung in ihre Tätigkeitsbereiche, Begleitung, Beteiligungsmöglichkeiten bei Entscheidungen und Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Arbeit. Sie brauchen Vertrauen, Beratung in Krisen und direkte Unterstützung, sowie Weiterbildung und Anerkennung. Sich in diesem Sinne umzuorganisieren ist allen professionellen Anbietern in der Behindertenhilfe anzuraten.

8 Stichwort Anerkennungskultur

Gebraucht wird eine Anerkennungskultur der Institutionen, aber auch der gesamten Gesellschaft gegenüber bürgerschaftlichem Engagement, die geprägt ist durch Wertschätzung, Ermutigung und öffentliches Sichtbarmachen von bürgerschaftlichem Engagement. Neben immaterielle Formen der Anerkennung (wie Auszeichnungen, Ehrungen, Danksagungen) werden dabei in Zukunft geldwerten Anerkennungen eine immer größere Rolle spielen. Neben der kostenlosen oder ermäßigten Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und der kostenlosen Verpflegung während des Einsatzes, was beides vielerorts schon praktiziert wird, werden mittlerweile auch diskutiert:

  • Formen der direkte Vergütung (geringfügiges Entgelt und damit Gefahr, einen Niedriglohnsektor zu schaffen)

  • Formen der großzügigen und pauschalierten Aufwandsentschädigung "sozialer Zuverdienst" [2] und / oder

  • der Übernahme von Haftpflicht- und Unfallesversicherungsprämien.

Diskutiert wird auch die finanzielle Förderung eigenständiger Projekte von bürgerschaftlich Engagierten, was aber sicherlich nur in speziellen Einzelfällen in Betracht kommt.



[2] Ein Beispiel hierfür ist das frühere Haus am Zeilberg bei Maroldsweisach, ein Heim für chronisch psychisch Kranke, in Unterfranken, dessen frühere Bewohner heute sämtlich im betreuten Wohnen leben. Diese Wandel wurde insbesondere durch den umfangreichen Einsatz von ehrenamtlichen Bürgerhelfern ermöglicht, die mit festen Verträgen alltagsunterstützende Begleitung der Betroffenen im Umfang von 4 - 8 Wochenstunden gewährleisten und dafür eine Aufwandsentschädigung erhalten, die durch eine geringfügige Reduzierung der Fachkraftstunden finanziert wird.

9 Schlussfolgerungen

Wenn Community Care als Konzept des Lebens in der Gemeinde und des Lebens als Teil der Gemeinde für alle Menschen mit Behinderung ernst genommen wird, ist Community Care ein Konzept der Re-Kommunalisierung der Gemeinden. In diesem Prozess haben die Professionellen in der Behindertenhilfe ebenso wie die bürgerschaftlich Engagierten unverzichtbare und tragende Aufgaben.

Die Qualität eines Gemeinwesens kann nicht die Sache von Fachkräften und professionellen Organisationen alleine sein, sondern ist immer die gemeinsame Angelegenheit aller Bürger. Um erfolgreich zu sein, sind beide Seiten, die bürgerschaftlich Engagierten und die Professionellen, auf einander angewiesen.

Es ist eine historische Erfahrung, dass im Bereich gesellschaftlicher Minderheiten Nicht-Kenntnis Fremdheit produziert und Fremdheit Abwehr und Angst bedeuten, die den Boden für Abschiebung und Aussonderung bereiten. Die Gefahren des Rückschritts und der Desintegration von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft kann gar nicht unterschätzt werden. Nicht nur die Sparpolitik, sondern auch die allgemeinen Tendenzen von Intoleranz gegenüber Differenz, wie sie z.B. in der massenweise Nutzung der Pränataldiagnostik zu Tage tritt, haben eine enorme Bedeutung.

So wichtig die professionelle Hilfe zur Beachtung aller Bedarfe, zur Organisation des Hilferahmens und zur Verhinderung einer unteren Grenze ist, so entscheidend ist das bürgerschaftliches Engagement für die Gestaltung von Nähe, die Entwicklung von Vertrautheit, das Kontaktknüpfen von Menschen mit Behinderung zu Menschen ohne Behinderung. Nur so kann die Inklusion von Behinderten in der Gesellschaft gesichert werden, ihre Rechte gewahrt werden, ihre Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet werden und eine erneute Exklusion verhindert werden.

10 Quellenverzeichnis

Anheier , Helmut K./ Toepler , Stefan (2001): Bürgerschaftliches Engagement zur Stärkung der Zivilgesellschaft im internationalen Vergleich. Gutachten für die Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" (KDrs.Nr.14/153), London - Baltimore

Bericht der Enquete-Kommission: "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Deutscher Bundestag 2002. Online im Internet: http://dip.bundestag.de/btd/14/089/1408900.pdf [Abrufdatum: 4. Dez. 2006]

Zum Autor :

Michael Wunder

geb. 1952, Dr. phil., Dipl.-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut, Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung; Leiter der Rumänienhilfe Alsterdorf, eines Entwicklungshilfe-Projektes in der Behindertenhilfe und Psychiatrie in Rumänien; Autor zahlreicher Beiträge zur Medizin im Nationalsozialismus, Behindertenhilfe, Biomedizin und Bioethik, Mitglied der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" in der 14. und 15. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag.

Korrespondenzadresse:

Dr. Michael Wunder

Beratungszentrum Alsterdorf

Paul-Stritter-Weg 7

22297 Hamburg

Tel: + 49 - 40 - 50773566

Fax: + 49 - 40 - 50773777

e -mail: m.wunder@alsterdorf.de

Michael Wunder

Quelle:

Michael Wunder: Community Care und bürgerschaftliches Engagement: Chancen und Risiken

erschienen in: Zeitschrift für Inklusion-online 01/2006, http://www.inklusion-online.net/, ISSN 1862-5088

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.06.2008

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