Inklusion in der Hochschule

Partizipation, Vielfalt und Verantwortung im Dialog

Themenbereiche: Schule, Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 01/02/2012 Zeitschrift für Inklusion (01/2012)
Copyright: © Jacqueline Erk, Helen Knauf 2012

Inklusion in der Hochschule

Von: Helen Knauf

Betreff: Inklusion in der Hochschule

Datum: 8. März 2012 19:50:52 MEZ

An: Jacqueline Erk

Liebe Frau Erk,

danke Ihnen noch einmal für den Aufsatz von Anne-Dore Stein (2011). Der Text ist wirklich sehr inspirierend. Ich hatte allerdings eine ganz andere Erwartung, als ich mit dem Lesen anfing und war mehr auf die Frage eingestellt, wie an Hochschulen Inklusion gelebt werden kann. In Steins Beitrag geht es ja eher um die Frage, wie so etwas wie eine inklusive Haltung für die spätere Berufspraxis entwickelt werden kann (was ja mit der von mir erwarteten Frage durchaus auch zusammenhängt). Mir ist aber durch den Titel erst deutlich geworden, dass die Frage heterogener Studierendengruppen, der Partizipation und Individualisierung im Studium ein spannendes Thema ist. Ich bin jetzt noch mal motiviert, das Thema zu verfolgen und werde auch die Auswertung meiner Befragung von unseren Studierenden endlich angehen. Ihr Impuls war für mich sehr wichtig! Das wollte ich nur mal gesagt haben (-:

Herzliche Grüße

Helen Knauf

Von: Jacqueline Erk

Betreff: AW: Inklusion in der Hochschule

Datum: 10. März 2012 12:14:38 MEZ

An: Helen Knauf

Liebe Frau Knauf,

danke für Ihre Rückmeldung, die auch mich wieder zum Nachdenken angeregt hat. Die Heterogenität der Studiengruppe bleibt wirkungslos oder bedient schlimmstenfalls alte Erfahrungsmuster, wenn sie nach außen als wesentlicher Aspekt zwar benannt wird, sich aber allen Beteiligten im Studienvollzug nicht als enorme Ressource und Lernfeld zeigt. An dieser Stelle finde ich den Bezug von Anne-Dore Stein zu Wolfgang Klafki sehr interessant (Stein 2011: 12). Wenn wir Verantwortung als zentrale Kategorie in pädagogischen Handlungsfeldern betrachten und damit die Entwicklung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit als unverzichtbar erachten, ist doch die Richtung klar! Dann stehen wir vor der spannenden Frage: Was bedeutet das für Partizipation und Individualisierung im Studium? Und auf diesem Hintergrund dann für unser pädagogisches Handeln in der Praxis? Dann ist Inklusion keine Sozialromantik, sondern eine große Herausforderung für alle Beteiligten! Dann steht jeder vor der Verantwortung sich einzubringen und der Mensch mit Behinderung ist kein fürsorgeabhängiges Wesen, sondern ein Individuum mit Verantwortung. In meiner Wahrnehmung war das letzte Präsenzwochenende mit Ihnen von genau diesem Verständnis geprägt. Arbeitsaufträge, wie auch die Aktivitäten in Bezug auf die Inhalte geben der Verschiedenheit der Studierenden Raum und erwarten unmissverständlich, dass jeder sich verantwortungsvoll einbringt. Ich bin ganz energiegeladen nach Hause gefahren – DANKE dafür.

Mit herzlichen Grüßen

Jacqueline Erk

Von: Helen Knauf

Betreff: Re: Inklusion in der Hochschule

Datum: 12. März 2012 12:51:45 MEZ

An: Jacqueline Erk

Liebe Frau Erk,

das Thema hat so viele wichtige und wertvolle Aspekte, dass ich mich gar nicht entscheiden mag, wo ich bei Ihrer Mail anknüpfen soll. Besonders wichtig erscheint mir der Gedanke, dass es nicht reicht, eine heterogene Gruppe zusammenzustellen und dann zu sagen: „Das ist Inklusion!" – das allein kann es nicht sein. Die Heterogenität der Gruppe ist erst die Grundvoraussetzung. In der Schule und in Kindertageseinrichtungen geht es ja im Moment erst mal darum, diese Grundvoraussetzung herzustellen, dass nämlich alle Lernenden zusammen lernen dürfen. Jürgen Münch fordert zum Beispiel für die Lehrerbildung als Konsequenz der Ratifizierung der UN-Konvention eine „Gemeinsamen Lehrerbildung für alle Lehrämter" (Münch 2010: 99). Auch in den meisten anderen Studiengängen ist die im Zuge des Bolognaprozesses angestrebte Öffnung der Studiengänge für neue Studierendengruppen nicht mehr als ein hehres Ziel.

In unserem Studiengang haben wir diese Hürde ja schon überwunden, denn der Anteil nicht-traditioneller Studierender etwa ist überdurchschnittlich hoch – laut meiner Umfrage liegt er bei 20%, sonst sind es etwa 4 % (vgl. Bülow-Schramm/Rebestorf 2011).

Deswegen können, ja müssen wir jetzt einen Schritt weitergehen und, wie Sie schreiben, überlegen, wie wir diese Ressource der Vielfalt noch besser nutzen können. Dazu noch mal ein paar Daten aus der Umfrage, die ich bei den Studierenden im Studiengang „Frühkindliche inklusive Bildung“ gemacht habe: Über 60% haben bereits eine Ausbildung und 20% ein Studium erfolgreich abgeschlossen. 26% verfügen über eine mehr als zehnjährige Berufserfahrung. Es liegt ja auf der Hand, dass wir angesichts dieser Fülle von Erfahrungen von einer Ressource sprechen sollten, einer Riesenchance! Sie selbst gehören ja zu den Studierenden, die über unheimlich viel Praxiswissen verfügen und sich zugleich auch schon seit langem in Kontexten bewegen, in denen Sie dieses Wissen reflektieren. Es müsste uns als Studiengang einfach noch besser gelingen, diese Kompetenzen in die Lehr-Lernsituationen hereinzuholen. Im Gegensatz dazu habe ich manchmal den Eindruck, dass ich mit der Art meiner Aufgabenstellungen bislang noch viel zu sehr das traditionelle akademische Anforderungsprofil an unsere Studierenden anlege. Es müsste uns gelingen, ein sinnvolles Zusammenspiel aus Praxis – Reflexion – Theorie zu schaffen, an dem die Studierenden genauso verantwortlich (im Sinne Klafkis Verantwortung als Kernbegriff von Bildung) beteiligt sind wie die Lehrenden. Aber das mag alles toll klingen, es bleibt doch recht abstrakt. Wie geht das konkret?!

Einen ersten Anhaltspunkt liefern Sie ja schon: Sie schreiben, dass es wichtig ist, der „Verschiedenheit der Studierenden Raum" zu geben und zugleich hohe Erwartungen an die Verantwortungsübernahme der Studierenden für ihre eigenen Lernprozesse zu haben. Darin steckt die klassische pädagogische Antinomie Freiheit und Verantwortung. Also einerseits Spielräume zu geben, um individuelle Interessen zu verfolgen und eigene Erfahrungen einzubringen, andererseits aber auch zu erwarten, dass diese Spielräume verantwortlich genutzt werden. Ich glaube, das sind ganz wichtige Dimensionen von „Inklusiver Hochschuldidaktik". Das bedeutet auch für mich als Lehrende eine Rollenverschiebung, denn ich gebe Steuerung und Kontrolle ab an Sie, die Studierenden. Zugleich muss ich mich aber deutlich stärker verantwortlich fühlen dafür, dass Studierende nicht die Übersicht verlieren und mit der gewonnenen Freiheit auch umgehen können, nicht damit überfordert sind. Ich muss viel stärker für verlässliche und wohldurchdachte Rahmenbedingungen sorgen und mich dafür inhaltlich eher heraushalten aus Ihren Erkenntnisprozessen. Die „neuen Rollen” würde ich so beschreiben:

Lehrende sind dann eher das, was im englischsprachigen Raum als „Facilitator" bezeichnet wird, sie bereiten einen Rahmen vor, der gute Lerngelegenheiten schafft, indem sie, wie Sie schreiben „Handwerkszeug“ bereitstellen, Zugänge zu Wissen ermöglichen, durch Aufgabenstellungen den Lernprozess vorstrukturieren, geeignete Sozialformen anbieten. Dieses Rollenverständnis erinnert mich ganz stark an die Funktionen, die den Erwachsenen in frühpädagogischen Konzepten zugewiesen wird: Geht es nicht bei Maria Montessori genau darum, dass die Erwachsenen eine geeignete Lernumgebung schaffen? Und soll nicht die Pädagogin in der Reggio-Pädagogik das forschende Lernen der Kinder nicht nur begleiten, sondern selbst mit erforschen, so dass eine gemeinsame Forschungsreise entsteht?

Das funktioniert jedoch nur, wenn auch Studierende eine neue Rolle annehmen: Ich stimme Ihnen zu, dass mit der Gestaltungsfreiheit eben auch Gestaltungsverantwortung einhergeht. Wenn es offenere Aufgaben gibt, dann muss der entstehende Möglichkeitsraum auch gefüllt werden. Dies bedarf wahrscheinlich einer gewissen Übung, Freiheit will gelernt sein. Aber da sind wir dann ja auch wieder in der schon aus der Behindertenpädagogik, eigentlich aus der gesamten Sozialen Arbeit bekannten Diskussion: Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus, dass die Fürsorge einer (zumindest vordergründig) kompetenteren Person für eine (scheinbar) hilfebedürftige Person zu einer Hierarchisierung führt, dass es dann überlegene „Starke“ und abhängige „Schwache“ gibt. So ist ja letztlich auch die traditionelle Konstruktion in Bildungsinstitutionen. Eine Konstruktion, die es aufzulösen gilt, indem Lehrende und Lernende etwas in einen gemeinsamen Bildungsprozess einbringen.

Sehen Sie das auch so? Oder haben Sie andere Erwartungen an Lehrende im Sinne der Inklusion? Wie verändert sich Ihre Rolle als Studierende?

Neugierig auf Ihre Antworten grüßt Sie

Helen Knauf

Von: Jacqueline Erk

Betreff: Inklusion in der Hochschuldidaktik

Datum: 13. März 2012 15:46:55 MEZ

An: Helen Knauf

Liebe Frau Knauf,

tatsächlich macht es Sinn, den Blick auf die Lehr-Lernsituationen zu richten. Diese könnten ein Erprobungs- und Erfahrungsfeld darstellen, in dem die Studierenden ihren Arbeitsprozess (in Arbeitsgruppen) weitgehend selbst steuern. Die Lehrenden müssten dafür einen Pool an „Handwerkszeug“ (Methoden, Instrumente, Kooperationskonzepte, ...) bereithalten, aus dem die Studierenden schöpfen könnten und über welches sie mit zunehmender Übung selbst verfügen (oder es gar selbst entwickeln!). Eine Zielvorgabe und die zu bearbeitenden Inhalte sollten ebenso klar kommuniziert werden, wie der Zusammenhang von Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsverantwortung. Die Entwicklung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit sind in einem solchen Prozess doch unverzichtbar. Die Fixierung von Studierenden auf die Bewertung des Endergebnisses und die daraus entstehenden Fragen nach dem „richtigen“ oder „falschen“ Weg dorthin würden zunehmend in den Hintergrund treten. Der Weg der Erkenntnis in Kooperation, der mit den Ressourcen ALLER Beteiligten gepflastert ist und auf dem wir uns gegenseitig bereichern, verstehen lernen, stärken und stützen ist doch dann zutiefst ein inklusiver Weg! Auf diesem Weg werden uns zahlreiche Hindernisse und Barrieren begegnen, die es zu thematisieren, zu meistern und dauerhaft zu minimieren gilt. Sowohl die Entwicklung kooperierender, solidarischer Gemeinschaften, wie auch der Umgang mit Hindernissen und Barrieren sind doch zentrale Aufgaben bei der Entwicklung von Inklusion in der Praxis. Hier könnte die Hochschule weit über die formal akademische Bearbeitung inhaltlicher Schwerpunkte hinaus ungeahnte Möglichkeitsräume eröffnen. In meiner Vorstellung sind Lehrende begeisterte Mitgestaltende dieser neuen Lehr- und Lernkultur, mit der Bereitschaft Fehler zu machen und aus Problemstellungen heraus gemeinsam mit Studierenden zu lernen. Ich denke, die Potenziale, die Studierende in das Zusammenspiel von Theorie – Reflexion – Praxis einbringen könnten, bleiben derzeit noch zu großen Teilen ungenutzt. Denken Sie nur an das letzte Präsenzwochenende – wie erfüllt, wach und innerlich beteiligt die Studierenden am Schluss (!) der Veranstaltung waren. Wir konnten (lustvoll) Unterschiede wahrnehmen, Gemeinsamkeiten finden, uns in Zusammenarbeit üben, uns zeigen mit Vorlieben und Abneigungen und das Ganze in einen Zusammenhang bringen mit unserer Praxis und unserem professionellen Auftrag.

Jetzt schicke ich das einfach mal los, aber ich bin noch nicht am Ende mit meinen Gedankengängen.

Freu mich zu hören

Jacqueline Erk

Von: Helen Knauf

Betreff: Re: Inklusion in der Hochschuldidaktik

Datum: 14. März 2012 12:05:44 MEZ

An: Jacqueline Erk

Liebe Frau Erk,

in Ihrer letzten Mail zeichnen Sie ein Bild von Inklusion im Studium, das auf mich sehr mitreißend wirkt. Das liegt wohl auch daran, dass es so umfassend ist und letztlich die Vision von einer neuen Lernkultur beinhaltet. Vieles von dem, was Sie sagen erinnert mich an den „Shift from teaching to learning“, der in der Hochschuldidaktik seit längerem diskutiert wird.

Aber ich muss jetzt dringend mal einen Gang zurückschalten. Eine immer lauter werdende Stimme in meinem Kopf wirft mir gerade „bildungsromantische Emphase“ vor. Träumen wir hier nicht gerade einen Traum, der schon von Generationen von Pädagoginnen und Pädagogen geträumt wurde, der aber nie so recht aufgegangen ist, weil er zu weit von der Wirklichkeit entfernt ist? Weil der Deal "Studi schreibt Hausarbeit und bekommt dafür Credit Points" eben doch zu gut aufgeht und alle (oder: die meisten) zufrieden macht?

Mir ist so eine Vision sehr wichtig und möglicherweise kann ja auch die Perspektive der Inklusion neue Impulse einbringen. Aber wir sollten uns doch noch einmal auf die „hard facts“ werfen und versuchen, das Ganze zu strukturieren. Wir haben dazu ja ein ganz wunderbares Instrument zur Verfügung, nämlich den Index für Inklusion (vgl. Boban/Hinz 2003). Die Grunddimensionen, die ja eigentlich für Schulen angewendet werden sollten, gelten auch für Hochschulen. Das macht meine Mail jetzt verdammt lang und ich hoffe, Sie verlieren nicht die Lust am Lesen. Aber ich möchte diese Strukturierung gerne mal durchdeklinieren (oder wenigstens damit beginnen):

Inklusive Kulturen:

Booth und Ainscow beschreiben die Dimension der Kulturen als grundlegend (Booth / Ainscow 2002). Das wäre es sicher auch für den Hochschulbereich. An erster Stelle steht für mich eine bestimmte Haltung, ein „professionelles Selbstverständnis (...), das auf den Leitgedanken der Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe basiert“, wie Münch es formuliert (2010: 99). Bislang wird diese Haltung meist als Lernziel für Studierende benannt (so auch in diesem Zitat von Münch), diese Haltung ist aber gerade auch für mich als Lehrende eine wichtige Zielsetzung. Es ist eben auch ein Lernprozess, Inklusion als Teil von Professionalität wirklich in die Tat umzusetzen. Für Studierende ergibt sich aus der Orientierung an inklusiven Kulturen ebenfalls eine Verpflichtung: Sie verstehen sich als Gestaltende ihrer eigenen Lernprozesse, sind keineswegs nur Konsumierende eines bereits „abgemachten Wissens“ (Humboldt 1810). Diese kulturelle Ebene ist ja auch betroffen, wenn Sie von der „Entwicklung kooperierender, solidarischer Gemeinschaften" sprechen, das ist ja auch im Index für Inklusion wichtig, das solche Gemeinschaften entstehen.

Inklusive Strukturen:

Schlüsselbegriff auf der Ebene der Strukturen ist die Partizipation. Platte und Schultz haben 2011 in einem der wenigen Beiträge, die sich mit Inklusion auf Hochschulebene befassen diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie schreiben: In der Hochschule „als akademische Einrichtung mit Vorbildcharakter müsste demnach die Partizipation Studierender an der Gestaltung gewählter Studiengänge beispielhaft erprobt werden. Das bedeutet die Vermittlung und das Erproben partizipativer Methoden in (pädagogischen) Studienprogrammen und die Übernahme von Verantwortung für persönliche und gemeinschaftliche Lernprozesse“ (Platte/Schultz 2011). Wo genau kann Mitbestimmung geschehen? Die akademische Selbstverwaltung ist nach wie vor ein grundlegendes Prinzip der Hochschulorganisation: Fachschaft und Studierendenparlament, Fachbereichs- oder Fakultätsrat und Senat sind zentrale Institutionen, die Beteiligung der verschiedenen hochschulischen Statusgruppen in Kommissionen und Ausschüssen ist im Hochschulrecht verankert. Diese bereits vorhandenen Mitwirkungsrechte müssen von Studierenden und Lehrenden auch genutzt werden – die Forderung, Verantwortung für den eigenen Bildungsprozess und die Gestaltung der Umgebung zu übernehmen ist grundlegend für Inklusion. Und hier knüpfe ich dann an das an, was Sie, Frau Erk, zu Beginn unseres Mailwechsels einmal geschrieben haben: Verantwortung (-sübernahme) als einer der Kernbegriffe, wenn es um Inklusion an Hochschulen geht. Dies kann jedoch erfolgreich nur dann geschafft werden, wenn die oben genannten Kulturen vorhanden sind und Partizipation ernst genommen wird.

Inklusive Praxis:

Auf der Ebene der Gestaltung konkreter Lehr-Lernsituationen kommt es nach meiner Einschätzung „zum Schwur“. Denn hier zeigt sich, ob Kultur und Struktur tragfähig sind für die Umsetzung von an Inklusion ausgerichteten Lernarrangements. Und hier fügen sich jetzt einige Bausteine ein, die wir (Sie!) schon gesammelt haben:

  • Aufgaben, die Gestaltungsspielräume bieten und die Möglichkeit, je individuelle Erfahrungen einzubringen und für die Einzelne bzw. den Einzelnen aktuelle Fragen zu bearbeiten,

  • transparente Vorgehensweisen bei der Veranstaltungsgestaltung, Leistungsanforderungen und Bewertungskriterien,

  • selbstgesteuerte Lernprozesse,

  • Kooperative Lernformen.

Uff, das lasse ich jetzt mal so stehen. Bin gespannt, wie Sie unseren Gedankengang weiter lenken!

Herzlich

Helen Knauf

Von: Jacqueline Erk

Betreff: Inklusion in der Hochschule

Datum: 14. März 2012 22:38:26 MEZ

An: Helen Knauf

Liebe Frau Knauf,

Sie schreiben, dass mein Bild von Inklusion im Studium auf Sie sehr mitreißend wirkt und dass dies wohl auch etwas mit der Vision zu tun hat, die meinen Ausführungen zugrunde liegt.

Da ich mich seit über 20 Jahren mit dem Thema Integration/Inklusion theoretisch wie praktisch befasse, frage ich mich nun: Kann ein Mensch (ich) über so lange Zeit seine Begeisterung, sein Engagement, seine Überzeugungen aus einer Vision nähren? Die Antwort lautet: NEIN!

Ich kann Ihr Gefühl, „runter schalten“ zu müssen gut nachvollziehen, höre ich doch immer wieder auch Sätze wie: „Frau Erk, was Sie sagen klingt ganz sinnig und wünschenswert, aber befinden wir uns da nicht im Bereich der ‚Sozialromantik’?“ Mag sein, dass diesen Traum vor mir schon Generationen von PädagogInnen geträumt haben – für mich ist Inklusion nicht nur Vision, sondern auch Wirklichkeit.

Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Die Entwicklung von Inklusion darf sich nicht in hochschulorganisatorischen, unterrichtsorganisatorischen und methodischen Strukturen und Strategien erschöpfen oder sich gar von diesen abhängig machen. Wir (Lehrende wie Studierende) sind aufgefordert, dort wo wir konkret wirksam werden können, den Blick auf das Wesentliche zu richten.

Was aber ist nun das Wesen der Inklusion? „Die Schönheit der Integration liegt in ihrem inneren, didaktischen Wesen, in ihrem humanen und demokratischen Verständnis von Mensch und Gesellschaft und damit in ihrem originären reformpädagogischen Anliegen; nicht in ihren Reflexen auf eine orientierungsloser und damit pluraler gewordenen Gesellschaft und nicht in der Möglichkeit ihres ‚Machens‘“ (Feuser 1995, S.227). Wir als Studierende sollen nach Abschluss unseres Studiums dort, wo wir tätig werden, einen Beitrag leisten zur Humanisierung und Demokratisierung bestehender Verhältnisse im Sinne der Inklusion. Wir verlassen den Bereich der „Sozialromantik“ wenn wir uns in einem ersten Schritt der bestehenden Verhältnisse bewusst werden. Dazu gehören gesellschaftlich hergestellte Ungleichheit und institutionelle Diskriminierung ebenso wie die das Bildungssystem dominierenden Machtverhältnisse. In dem Maße, wie wir uns scheuen, diese Tatsachen klar zu benennen und (in unserem jeweiligen Praxisbezug) zu erkennen und zu durchdringen, leisten wir einen Beitrag, das Nachdenken über eigene Einstellungen und Haltungen der Beteiligten und damit eine wachsende Positionierung im Sinne der Inklusion zu verhindern!

Ich hatte das große Glück, Ende der 80-er Jahre auf eine starke Elterngruppe (von Kindern mit zum Teil schweren Beeinträchtigungen) zu treffen und mit ihnen gemeinsam den ersten integrativen Kindergarten Unterfrankens gründen zu können. Ich habe die unglaubliche Diskriminierung, Bevormundung, Verzweiflung und gleichzeitig die ungeheure Kraft dieser Eltern hautnah miterlebt. Ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung von Integration, aber ich fühlte mich als Mensch aufgefordert, aktiv zu werden. Dabei wurde mein eigenes Menschenbild (das Ergebnis meiner bisherigen Sozialisation) gehörig in Frage gestellt.

Jetzt schließe ich den Kreis, indem ich an den Anfang zurückkehre: Nur aus der Vision entwickelt sich keine inklusive Qualität, sondern aus den Begegnungen der Menschen! Wir begegnen uns gerade per E-Mail und ich finde es faszinierend, was dabei entsteht. Schon jetzt ist dieser Dialog für mich sehr WERTvoll.

Nutzen wir doch einfach die „Spielräume“, die sich jedem von uns bieten, inklusive Kulturen zu etablieren. Meiner Erfahrung nach hat das die Bildung (wenn auch kleiner) solidarischer Gemeinschaften zur Folge, die dann die Entwicklung von inklusiven Strukturen und Strategien aus einer inneren Überzeugung heraus fordern und vorantreiben. Die Übergänge in diesem Prozess sind fließend, denn schon die Begegnung im Bereich der Kulturen erzeugt eine neue Wirklichkeit, die als gelebte Inklusion die entsprechende Praxis prägt und verändert.

Ich habe dabei immer so viele Beispiele aus meinem Alltag auf verschiedenen Ebenen vor meinem inneren Auge, (die zu beschreiben völlig den Rahmen sprengen würde) und hoffe, dass ich mich dennoch einigermaßen verständlich ausdrücke.

Oh je, jetzt werden Sie mal Herrin über die Geister, die Sie riefen! Beim nächsten Mal werde ich mich bemühen etwas mehr Struktur in den Text zu bringen.

Eine gute Nacht wünscht Ihnen

Jacqueline Erk

Von: Helen Knauf

Betreff: Inklusion in der Hochschule

Datum: 15. März 2012 15:02:39 MEZ

An: Jacqueline Erk

Liebe Frau Erk,

Ihre Mail hat bei mir mal wieder neue Fenster geöffnet. Wichtig ist für mich Ihr Gedanke, Inklusion im eigenen Umfeld zu leben, ganz nach dem Motto: „Just do it!“. Deswegen finde ich es auch so entscheidend, dass wir die Zeit, die Sie und Ihre KommilitonInnen an der Hochschule verbringen nicht „nur“ als Vorbereitung auf die Umsetzung von Inklusion „im echten Leben“ verstehen, sondern bereits hier versuchen, inklusiv zu arbeiten und zu leben. Das scheint so naheliegend, aber befindet sich eben doch oft genug im Widerspruch zu den herkömmlichen hochschulischen Strukturen. Ihr Plädoyer etwa für stärker selbstgesteuertes Lernen und mein eigener Wunsch, mich weniger als Input-Geberin zu verhalten, sondern eher inspirierende Rahmenbedingungen für Ihr Lernen zu schaffen hat dazu geführt, dass ich meinen Ablaufplan für das kommende Präsenzwochenende in den nächsten Tagen auf die Lernplattform stellen werde verbunden mit der Frage an Sie als Studierende, inwiefern Ihnen das für Ihre Aufgabenerfüllung sinnvoll und hilfreich erscheint. Das jetzt mal als ein ganz kleines Beispiel. Ich habe aber auch Stellen, an denen es für mich mit der Inklusion schwierig wird. Schließlich haben wir als Lehrende bzw. als Hochschule auch eine Verpflichtung, dass unsere AbsolventInnen über bestimmte Kompetenzen verfügen. Wenn ich dann davon ausgehe, nur jeweils den individuellen Lernfortschritt als Maßstab zu nehmen anstatt einer allgemeinen Vergleichsnorm, stoßen wir in der Hochschule an Grenzen. Und natürlich gilt es auch, gültige wissenschaftliche Standards einzuhalten, das ist eben eine objektive Messlatte, die für alle gilt. Aber das sollte uns nicht davon abhalten (und das tut es ja auch nicht), die vorhandenen Spielräume zu nutzen. Es muss ja beispielsweise nicht jede Arbeitsaufgabe im Verfassen einer schriftlichen Hausarbeit bestehen, sondern Leistungsnachweise, die näher an der Praxis sind, sind denkbar: Konzeptionsentwürfe, Planungsentwürfe für Teamsitzungen und Reflexionen der eigenen Praxis sind ebenso machbar und ermöglichen so alternative Wege. Hier ist wahrscheinlich noch viel Kreativität gefragt und auch ein bisschen Bereitschaft zum Experiment.

Über die Frage der Leistungserbringung und -bewertung muss ich noch weiter nachdenken, wahrscheinlich können wir hier auch aus dem Schulbereich lernen, wo ja auch beispielsweise mit Portfolios etc. gearbeitet wird.

In optimistischer Stimmung grüßt Sie herzlich

Helen Knauf

Von: Jacqueline Erk

Betreff: Inklusion in der Hochschule

Datum: 15. März 2012 15:59:51 MEZ

An: Helen Knauf

Liebe Frau Knauf,

selbst wenn Inklusion (wie im Index für Inklusion) sehr weitreichend ausformuliert wird, stellen Menschen, die inklusive Qualität entwickeln wollen, immer wieder die Frage nach dem WIE!

Wenn wir von inklusiver Didaktik reden, kann doch nur eine Didaktik gemeint sein, die keinen zurücklässt – oder habe ich da einen Denkfehler? Zumal wir doch aufgrund der vorgeschriebenen Zugangsberechtigung noch gar nicht vom Studierenden mit geistiger Beeinträchtigung sprechen!

Gern lasse ich mich an dieser Stelle auf Ihren Vorschlag der Strukturierung mit Hilfe des Index für Inklusion ein.

Inklusive Kulturen

Diese müssten in der Entwicklung von Inklusion an der Hochschule einen zentralen Stellenwert einnehmen. Eine kritische Auseinandersetzung mit inklusiven Prinzipien und Werten halte ich dabei für unverzichtbar. Ich hätte sofort eine Vorstellung, wie man dafür die Unterschiedlichkeit unserer Studiengruppe in Bezug auf Alter, Herkunft, Erfahrung, Bildungsbiografie, Praxisbezug, ... als wahre Schatztruhe nutzen könnte – warum nicht verknüpft mit Modul 1 Sozialisations- und Entwicklungstheorien? (Denn die Frage nach der Kultur gemeinsamen Lebens und Lernens sollte als Basis schon am Anfang stehen).

Und dabei sollte der Transfer Praxis – Theorie und umgekehrt im Zusammenhang mit der Erschließung von Möglichkeitsräumen (dort wo wir wirken) kontinuierlich verfolgt werden. Damit verlasse ich wieder ganz nachweislich den Bereich der Utopien, weil es sowohl in der Praxis, als auch bei den Menschen, die dies vollziehen, durch die kleinste zielgerichtete Aktivität zur inklusiven Veränderung kommt!

An dieser Stelle möchte ich Ihrem Eindruck, dass der Deal „Studi schreibt Hausarbeit und bekommt Credit Points“ zufrieden macht, widersprechen. Unzufrieden kann dieser Deal doch nur dann machen, wenn Studierende eine Ahnung davon entwickeln, dass es auch noch andere Formen der Auseinandersetzung mit dem von Ihnen genannten „abgemachten Wissen“ geben könnte. Wir müssten dementsprechend viel größere Herausforderungen schaffen, indem sich Lehrende wie Studierende eingeladen sehen, sich am Prozess der Entwicklung von Inklusion an der Hochschule zu beteiligen. Als Studierende habe ich großes Interesse daran, an einer inklusiven Hochschulkultur mitzuwirken und habe keinen Zweifel, dass viele meiner StudienkollegInnen das ähnlich sehen. Damit wären wir dann wieder beim Thema Henne oder Ei. Ein von vorn bis hinten versorgter (bevormundeter) Mensch in einer das Komplettprogramm der Entmündigung bietenden Einrichtung der Behindertenhilfe kann sich ein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz, bei dem er Verantwortung für sich und sein Leben übernehmen muss, nur schwerlich vorstellen oder ist damit gar „überfordert“. Und die Gesellschaft außerhalb dieser Einrichtungen ist auch ganz zufrieden mit dieser Lösung, denn die erforderliche Solidarität überschreitet vermeintlich das Machbare und Denkbare. Folglich ist Verantwortungsübernahme und der damit einhergehende Gestaltungsspielraum keine Zumutung, sondern die große Chance auf Veränderbarkeit bestehender Systeme.

Konkret bedeutet das:

  • Es gibt keinen Zweifel daran, dass ALLE (die für das Studium ausgewählt wurden) hier an der Hochschule willkommen sind und im Rahmen unterstützender Gemeinschaften wertgeschätzt werden.

  • Wir erwarten voneinander, dass jeder sich gemäß seiner individuellen (Höchst-) Leistungsfähigkeit sowohl in Bezug auf den eigenen Lernprozess, als auch auf die Gestaltung eines inklusiven Studiums für alle einbringt.

Inklusive Strukturen

Ich stimme Ihnen zu, dass die Mitbestimmung auf der Ebene der Hochschulorganisation Verantwortungsübernahme erfordert. Gerade weil in diesen Strukturen aber die inklusiven Kulturen noch recht unterentwickelt oder gar nicht wahrgenommen sind, schrecke auch ich vor dieser Verantwortung zurück. Hätte ich doch das Gefühl, als Küchenhilfe in der Schiffsküche, die Titanic zu einer Kursänderung bewegen zu müssen! Da sind andere schon an kleineren Hürden gescheitert.

Deswegen hier auf der ganz konkreten Ebene:

  • Wir organisieren Unterstützerkreise, deren Aufgabe es ist, Strategien und Lösungswege zu entwickeln, die die Partizipation aller Studierenden gewährleisten.

  • Wir nehmen kritisch Hindernisse und Barrieren für gleichberechtigte Teilhabe im Studium in den Blick und bearbeiten diese im Rahmen der Gemeinschaft von Lehrenden und Studierenden.

Inklusive Praxis

Ein Aspekt, der meines Erachtens in der Studienpraxis noch stark vernachlässigt wird, ist das Lernen am Widerspruch. Hier kommt dem Zusammenspiel von Theorie, Praxis und Reflexion eine große Bedeutung zu. In der Umsetzung unserer Studienaufträge in der Praxis stoßen wir Studierende doch vielfach auf Hindernisse, Barrieren und Widersprüche. Diese in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, die uns im Sinne der Inklusion handlungsfähig werden lassen, sollte zentraler Studienauftrag sein. Wenn ich hingegen immer versierter werde im „umschiffen” von Schwierigkeiten und ausblenden von Widersprüchen auf die ich bei der Erfüllung meiner Studienaufträge in der Praxis stoße, halte ich das für kontraproduktiv. Und die Schwierigkeiten mit denen einzelne Studierende bei der Umsetzung von Inklusion in der Praxis kämpfen, sind keineswegs deren persönliches Problem, sondern ein deutlicher Hinweis auf Handlungsfelder und für uns alle Einladung, uns diesen Herausforderungen gerade im Studium zu stellen! Auch dabei gilt es, das Potenzial der heterogenen Studiengruppe zu nutzen, denn nicht wenige von uns haben in ihrer langjährigen Berufspraxis schon Strategien und Konzepte im Umgang mit diesen Hindernissen entwickelt.

Konkret könnte das heißen:

  • Die Studierenden werden zur Auseinandersetzung mit Widersprüchen in der Entwicklung von Inklusion ermutigt.

  • Die Aufgabenstellungen stärken die Teilhabe aller Studierenden und entwickeln ein positives Verständnis von Unterschieden.

  • Die Unterschiedlichkeit der Studierenden wird als Chance für das Lehren und Lernen genutzt.

  • Die Potenziale aller Beteiligten werden im Einsatz für Inklusion an der Hochschule voll ausgeschöpft.

Die Frage nach dem WIE lässt sich meines Erachtens im Detail nur am konkreten Beispiel verdeutlichen und ist nicht wie die Indikatoren im Index aufzulisten. Vielmehr müssen die Indikatoren bei jeder Herausforderung in der Praxis als eine Art Wegweiser genutzt werden. In meiner Arbeit in der Kindertageseinrichtung finden wir so tagtäglich Lösungen für Probleme der Teilhabe einzelner Kinder, die in keinem Lehrbuch zu finden sind – vielmehr könnten wir mittlerweile ein Buch füllen mit den abenteuerlichsten Ideen, die dazu verhelfen, Kinder in ihrer individuellen Entwicklung zu unterstützten. Dieses Wissen und die Qualifizierung die damit einhergeht, würde ich als inklusive Professionalität bezeichnen.

Beim Schreiben kam mir vorhin noch die Erkenntnis, dass es schon einen Index für Kindertageseinrichtungen, für Schulen, für Kommunen – nicht aber für Hochschulen und Universitäten gibt!

Freu mich auf ihre Antwort

Herzlich

Jacqueline Erk

Von: Jacqueline Erk

Betreff: AW: Inklusion in der Hochschule

Datum: 15. März 2012 16:37:13 MEZ

An: Helen Knauf

Liebe Frau Knauf,

jetzt haben sich unsere Mails überschnitten, weil ich beim Schreiben nicht gemerkt habe, dass von Ihnen etwas angekommen ist. Ich finde ja genau die Stellen, wo es schwierig wird enorm wichtig. Ich versuche gerade, Ihre Herausforderung auf meinen Arbeitsbereich zu übertragen, denn auch wir in den Kitas stehen ja in der Verpflichtung, alle Kinder mit einem Maß an Kompetenzen „auszustatten“, die zum Beispiel einen guten Übergang in die Schule erforderlich machen. Für mich ist dann die Gruppe aller Kinder unverzichtbare Anlaufstelle. Im Sinne von: „Was könnten wir tun, welche Ideen habt ihr, XY dabei zu unterstützen, nicht mehr mit Stühlen werfen zu müssen, wenn er/sie wütend wird?“ Sie glauben nicht, welches ungeheure Potenzial in 3-6 jährigen Kindern als innovative Problemlöser steckt!!! Bei diesen Besprechungen sind die zu unterstützenden Kinder immer anwesend und allein die Atmosphäre der Zuneigung, Unterstützung und Wertschätzung, die dabei entsteht, wirkt bei den betreffenden Kindern schon Wunder! Da entsteht Bereitschaft, sich selbst den Schwierigkeiten zu stellen, wo vorher nur sture Verweigerung war; da gibt es Zugang zu eigenen Potenzialen wo vorher nur geringer Selbstwert und innere Selbstaufgabe war; da wächst Hoffnung und später Gewissheit, dass Probleme gelöst werden können, wo vorher nur Resignation war....

Was sind Kinder anderes als kleine Menschen – warum sollte das bei großen Menschen nicht wirkungsvoll sein?

Damit meine ich, Ihre Problemstellungen sollten UNSERE Problemstellungen werden. In diesem Prozess würden wir alle Kompetenzen erwerben, die heute noch keine Hochschule verlangt, die aber für die Entwicklung von Inklusion unverzichtbar sind. Sie schreiben von der Bereitschaft zum Experiment – ganz akademisch könnten wir auch von Aktions- oder Handlungsforschung während des Studiums sprechen!

Herzlich

Jacqueline Erk

Von: Helen Knauf

Betreff: Re: Inklusion in der Hochschule

Datum: 15. März 2012 21:21:35 MEZ

An: Jacqueline Erk

Liebe Frau Erk,

das finde ich natürlich ganz wunderbar, dass Sie jetzt den Bogen zu unserem Aktionsforschungsprojekt im Modul PP2 schlagen, denn das ist ja genau meine Intention gewesen: Die eigene Praxis erforschen, die Studierenden gehen mit einer selbst gestellten und entwickelten Forschungsfrage an die eigene Praxis heran. Ja, und warum sollen wir Lehrenden und Studierenden nicht auch unsere eigene Lehr- und Studienpraxis gemeinsam erforschen. Im letzten Jahr hat Ludwig Huber, ein sehr kluger Hochschuldidaktiker, die Idee des „Scholarship of Teching and Learning“ in die deutsche Diskussion eingebracht (Huber 2011), also die Erforschung der eigenen Lehrpraxis. Und auch er schlägt den Bogen zur Aktionsforschung. Genau dahin sollten wir uns auch in unserem Studiengang auf den Weg machen – ich bin dabei! Und ein Stück weit tun wir das ja hier in unserer Diskussion auch schon. Und ich lerne auch gerade in unseren laufenden Modulen, dass ich Sie als Studierende in meine Planungen sinnvollerweise mit einbeziehe. Und eben nicht mein Programm wie aus einer Wundertüte hervorzaubere, sondern Ihnen Angebote mache und damit einen Rahmen biete. Was dann geschieht, bestimmen wir sinnvollerweise gemeinsam.

In Ihrer Mail bringen Sie das Beispiel, wie Kinder und Erwachsene gemeinsam überlegen, wie ein Kind bei einer Verhaltensänderung unterstützt werden kann. Können Sie sich das denn in einem Hochschulkontext auch vorstellen? Wahrscheinlich eher in der Form der in der Mail zuvor genannten Unterstützergruppen, oder? Unabhängig davon, wo genau jetzt der passende Ort dafür ist, erscheint mir vor allem wichtig, dass eventuelle Schwierigkeiten Einzelner nicht im stillen Kämmerlein zwischen den Betroffenen und den Lehrenden oder gar nur von den Lehrenden thematisiert werden. Natürlich können wir auch gemeinsam besprechen, wie wir mit unterschiedlichen Leistungsniveaus umgehen oder anders ausgedrückt: Wer was einbringen kann.

Und dann noch zu dem Punkt „Index für Inklusion für Hochschulen“. Den Gedanken, dass man auch Studiengänge daran messen können sollte, hatte auch schon Ihre Kommilitonin Ellen Herzog geäußert. Und ich denke auch, dass das wichtig wäre. Das Thema Inklusion ist auf dieser Ebene im Hochschulbereich noch kaum angekommen. Wenn, dann eher unter dem Schlagwort „Diversity“. Ich will jetzt gar nicht in eine Diskussion um Begriffe und Definitionen einsteigen. Entscheidend ist für mich vielmehr, dass wir auch auf Hochschulebene endlich dahin kommen, Verschiedenartigkeit als Ressource zu begreifen und uns nicht darin erschöpfen zu versuchen, durch Brückenkurse und Zusatz-Tutorien die Homogenität der Studierendenschaft zu erhöhen.

Es grüßt Sie herzlich

Helen Knauf

Von: Jacqueline Erk

Betreff: Inklusion an der Hochschule

Datum: 16. März 2012 17:52:44 MEZ

An: Helen Knauf

Liebe Frau Knauf,

jetzt ist die Aufregung auf meiner Seite!

Bietet es sich nicht geradezu an, die Idee von Huber mit dem Ziel der Entwicklung von Inklusion an der Hochschule zu verknüpfen? Aktionsforschung könnte ein sinnvoller Weg sein, um Inklusion an der Hochschule zu entwickeln! Zentrale Aspekte dabei wären:

  • Partizipation aller Beteiligten

  • Forschungsfragen beziehen sich auf den Veränderungsbedarf bei Studierenden und Lehrenden

  • Forschungsfragen orientieren sich an inklusiven Maßstäben

Das wäre dann sozusagen die angemessene (wissenschaftliche) Form den Index-Prozess an einer Hochschule umzusetzen.

Spannend finde ich Ihre Frage, ob mein Beispiel aus der Kita auf den Hochschulkontext übertragen werden kann. Grundsätzlich JA!

Bei Ihrer Reaktion dachte ich erst, ich habe vielleicht ein blödes Beispiel gewählt – es gäbe jenseits von Verhaltensänderung vielfältige Beispiele, in denen wir ebenso vorgehen. Nach einigem Nachdenken und Ihren Ausführungen zum Umgang mit Schwierigkeiten Einzelner, stoße ich jedoch auf einen interessanten Aspekt.

Was lässt uns die Schwierigkeiten von einzelnen Menschen anders betrachten, als die Schwierigkeiten von vielen? Ich unternehme mal den Versuch einer Erklärung: Wenn ein oder zwei Studierende in der obligatorischen Eingangsrunde zu Beginn unserer Präsenzwochenenden sagen, sie „schwimmen“ noch etwas mit der Aufgabenstellung („aber so ganz langsam komme ich voran“), haben wir diese Äußerung drei Minuten später schon vergessen. Sagen in dieser Runde 12 Studierende, sie tun sich schwer mit der Aufgabenstellung, sehen wir garantiert einen Handlungsbedarf! Die Schwierigkeit der Vielen lässt uns vermuten, dass da irgendwas „faul“ ist und wir wollen den Dingen auf den Grund gehen, um eine Veränderung der Situation herbeizuführen. Die Schwierigkeit des Einzelnen sehen wir als persönliches Problem, welches sehr wahrscheinlich in dem Menschen (und seiner Unzulänglichkeit) begründet liegt und damit außerhalb unserer Verantwortung.

Betrachten wir diese Situation unter inklusiven Gesichtspunkten, weist uns auch die Schwierigkeit der einen einzigen Studentin auf einen Handlungsbedarf hin. Wenn beispielsweise eine Studentin Schwierigkeiten mit dem formalen wissenschaftlichen Arbeiten hat, kann man die Problemstellung zum Anlass nehmen, nach inklusiven Lösungen zu suchen. Das Ergebnis (die Bereitstellung vereinfachter Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten und eine Strategie zur Korrektur der eigenen Arbeit) könnte für alle zukünftigen Studierenden mit ähnlichen Problemen zur Verfügung gestellt werden und damit die Inklusion an der Hochschule weiterentwickelt werden.

An dieser Stelle werde ich ganz kribbelig, weil das genau das ist, was mir im Rahmen der Beratung in vielen Einrichtungen begegnet: Die Vorstellung, solange es der Mehrheit der Kinder „gut“ geht (was immer auch damit gemeint ist), bestehe ja kein dringender Handlungsbedarf. Klaus Dörner beschreibt dies sehr eindrücklich in einem Artikel mit der Überschrift: „Verantwortung vom Letzten her“ in dem Buch „Schwere Mehrfachbehinderung und Integration“ (2007).

Wie Sie ja in der Vorstellung von Modul PP2 schon erwähnten, geht es in der Aktionsforschung nicht um Größe und Gewicht der Forschungsfrage. Also auch die kleinste Forschungsfrage kann von entscheidender Bedeutung für die Praxis sein. Aktionsforschung zur Entwicklung von Inklusion an der Hochschule könnte ohne Forschungsgelder und gigantische Vorbereitung begonnen werden und ich bin der festen Überzeugung, dass sich den Beteiligten sehr schnell inklusive Qualität eröffnen würde! Gleichzeitig könnte dies ein kontinuierlicher Prozess werden, der Studierende in hohem Maße qualifiziert ihrem künftigen Auftrag in der Praxis gerecht werden zu können.

Wenn das so weiter geht, beginne ich noch zu bedauern, mein Studium bald abschließen zu müssen!

Derzeit zerbrechen sich sicher mehrere schlaue Menschen den Kopf über eine inklusive Didaktik an der Hochschule. Das ist gut so, aber ruft nicht das kleine Wörtchen ‚inklusive‘ dazu auf, schon in der Entwicklungsphase die Betroffenen (Studierende) aktiv einzubeziehen? In Anlehnung an das Motto von Menschen mit Behinderung: „Nichts über uns ohne uns“ sollten wir doch Studierenden (gerade unseres Studiengangs) eine hohe Motivation und Kompetenz unterstellen, an einem Konzept inklusiver Didaktik an der Hochschule mitarbeiten zu können und zu wollen.

Die UN-Konvention fordert die Vertragsstaaten in Artikel 24 auf, Inklusion auf allen Ebenen des Bildungssystems zu entwickeln. Unsere gemeinsamen Überlegungen der letzten Tage entsprechen genau dieser Forderung – und wir können uns folglich der Unterstützung unserer Vorhaben und Ideen durch die Verantwortlichen innerhalb wie außerhalb der Hochschule sicher sein.

Danke und herzliche Grüße

Jacqueline Erk

Von: Helen Knauf

Betreff: Inklusion in der Hochschule

Datum: 19. März 2012 06:00:44 MEZ

An: Jacqueline Erk

Liebe Frau Erk,

Sie haben vollkommen Recht! Wir haben so viele Gedanken hin und her bewegt und auch schon einige gute Ideen entwickelt, die Partizipation und Individualisierung, Verantwortung und Unterstützungskulturen, die Nutzung von Vielfalt und vielfältigen Ressourcen in unserem Umfeld voranbringen – aber das alles nur zwischen uns. Fast hätte ich gesagt, Papier ist geduldig, naja, E-Mailpostfächer auch ... deswegen sollten wir jetzt unsere Diskussion öffnen, andere hinzu holen – sowohl in „unserem“ Studiengang und „unserer“ Hochschule als auch darüber hinaus. Dann machen wir uns mal auf, Vielfalt als Ressource auch für dieses Thema zu nutzen.

Einen guten Start in die Woche wünscht Ihnen

Helen Knauf

Literatur

Boban, Ines / Hinz, Andreas (Hrsg.) (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle (Martin-Luther-Universität). http://www.eenet.org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf (Abruf: 14.03.12)

Booth, Tony / Ainsow, Mel (2002): Index for Inclusion. Developing Learning and Participation in Schools. London: Center for Studies on Inclusive Education, London 2002.

Bülow-Schramm, Margret / Rebenstorf, Hilke (2011): Neue Wege in die Hochschule als Herausforderung für die Studiengestaltung. Online-Dossier „Öffnung der Hochschulen – Chancengleichheit, Diversität, Integration“ der Heinrich-Böll-Stiftung http://www.migration-boell.de/web/integration/47_2767.asp (Abruf: 12.03.2012)

Dörner, Klaus (2007): Verantwortung vom Letzten her. Der innere Impuls des Sorgens um den anderen. In: Hinz, Andreas (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven. Oberhausen, S.42-56

Feuser, Georg (1995): Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt 1995

Humboldt, Wilhelm von (1810): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, o.O. 1810.

Münch , Jürgen (2010): Lehrerbildung neu denken – jetzt! Zu den Folgerungen für Schule und Lehrerbildung aus der “UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2006”. In: Köker, Anne / Romahn, Sonja / Textor, Annette (Hrsg.): Herausforderung Heterogenität. Ansätze und Weichenstellungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 90-105

Huber, Ludwig (2011): Forschen über (eigenes) Lehren und studentisches Lernen – Scholarship of Teaching and Learning (SoTL): Ein Thema auch hierzulande? In: Das Hochschulwesen 4/2011, S. 118-124

Platte, Andrea (2010): Inklusion als Orientierungsrahmen für Qualitätsentwicklung in der Frühpädagogik. In: Zeitschrift für Inklusion, Nr. 3 (2010) http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/64/67 (Abruf: 12.03.2012)

Platte, Andrea / Schultz, Christian-Peter (2011): Inklusive Bildung an der Hochschule – Impulse für LehrerInnenbildung und Soziale Arbeit. In: Petra Flieger, Volker Schönwiese (Hrsg.): Menschenrechte – Integration – Inklusion. Aktuelle Perspektiven aus der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 245-251 http://bidok.uibk.ac.at/library/platte-hochschule.html (Abruf: 14.03.2012)

Stein, Anne-Dore (2011): Inklusion in der Hochschuldidaktik. Oder die Frage: Wie können Studierende darauf vorbereitet werden, in einer ausgrenzenden Gesellschaft inklusive Strukturen zu etablieren? Über das Lernen am Widerspruch, herausgegeben von: GEW-Hauptvorstand, Organisationsbereich Jugendhilfe und Sozialarbeit, Frankfurt am Main. http://www.gew.de/Binaries/Binary78120/Broschüre-Stein.pdf (Abruf: 12.03.2012)

Quelle

Jacqueline Erk, Helen Knauf: Inklusion in der Hochschule - Partizipation, Vielfalt und Verantwortung im Dialog. Erschienen in: Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 01/02/2012, http://www.inklusion-online.net/ , ISSN 1862-5088

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.04.2016

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