erschienen in: Zeitschrift für Inklusion-online 01/2007 Zeitschrift für Inklusion (01/2007)
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Gleichheit und Differenz
- Reduktion von Komplexität
- Wirklichkeit
- Vision I ( Katzenbach ): Die Inklusive Schule - "Eine Schule für alle Kinder"
- Zusammenfassung zu Vision I
- Vision II ( Schroeder ): Lebenslagenorientierte Profilbildungen - "Milieusensible Bildungslandschaften"
- Zusammenfassung zu Vision II
- Anstelle eines Fazits
- Literatur
- Zu den Autoren :
Der folgende Beitrag basiert auf dem Einführungsvortrag für den vds-Kongress 2007 in Frankfurt am Main. Der Verband Sonderpädagogik war so freundlich, uns ein wunderbar großes und breites, Geschichte, Gegenwart und Zukunft ebenso wie die Welt umspannendes Kongressthema - Erziehung und Unterricht: Visionen und Wirklichkeiten - mit der Bemerkung zu übergeben, hierfür wünsche man sich nun einen Einführungsvortrag, der sich an Lehrkräfte, Bildungspolitikerinnen, an in der Organisation und Verwaltung von Bildung Tätige, an ErziehungswissenschaftlerInnen, an Studierende und all die anderen anwesenden Menschen richten möge. Will heißen: Wir sollten alle in alles einführen - daran scheitern Lehrkräfte, so hört man, täglich, nicht zuletzt wegen des 45-Minuten-Takts, dem auch wir unterworfen wurden.
Dass wir mit einem Adorno -Zitat beginnen, hat natürlich etwas mit Frankfurt zu tun, aber auch mit der Thematik, mit der sich - wenn wir das recht sehen - alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sonderpädagogik befassen: Der Frage nämlich, wie Erziehung und Bildung, vor allem jedoch Schule und Unterricht organisiert werden können, so dass dies für Kinder und Jugendliche "angstfrei", und dies meint hier zuvörderst: nicht ausgrenzend ist.
(1) Mit dem Adorno -Zitat knüpfen wir an eine inzwischen ja gleichsam "klassische" sonderpädagogische Antinomie an - Gleichheit und Differenz -, zu der wir einleitend einige theoretische Reflexionen vorstellen möchten.
(2) Daran anschließend wollen wir diese Antinomie zum Problem ihrer Machbarkeit hin wenden. Unseres Erachtens stellt sich hier vor allem die Frage nach der "angstfreien" pädagogischen Organisation von Heterogenität - man kann dies auch Komplexitätsreduktion nennen.
(3) Wir haben uns erlaubt, den Kongresstitel etwas umzustellen: Zunächst möchten wir einige uns wichtige - wenngleich bekannte - Aspekte der schulischen Wirklichkeit in Deutschland benennen, um erst daran anschließend visionär zu werden. Sind wir uns in der Wirklichkeitsbeschreibung und -interpretation überwiegend einig, so ziehen wir dennoch nicht unbedingt dieselben "visionären" Schlussfolgerungen. Wie wir zeigen möchten, liegt dies unter anderem daran, dass wir Heterogenität aus verschiedenen Differenzperspektiven betrachten - Dieter Katzenbach stärker in Bezug auf die Kategorie Behinderung, Joachim Schroeder vornehmlich aus dem Blickwinkel von Armut und Migration. Um die Pointe des Vortrags vorwegzunehmen: Wir versuchen zu begründen, dass "Inklusion" gerade nicht "Schule machen" wird, wenn Exklusionslinien in einer Pädagogik der Vielfalt einfach gleichgesetzt, gar aufgelöst werden.
Wir nehmen als Ausgangspunkt unserer Überlegungen die humanitäre Vision einer inklusiven Gesellschaft, das heißt, die Hoffnung auf die gleichberechtigte, gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer sozialen und kulturellen Herkunft, ihrer sexuellen Präferenzen, ihrer Begabungen oder eben auch ihrer Behinderung. Wir sehen diese Thematik eingebettet in die Frage, wie Gesellschaften mit der Gleichheit und der Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder umgehen. Daher haben wir in den Titel auch das unschöne Wort der Machbarkeit aufgenommen, das die hehren pädagogischen und gesellschaftspolitischen Ziele auf den Boden ihrer Realisierungsmöglichkeiten zurückholt.
Es stellt sich mithin die Frage, ob uns überhaupt die Mittel gegeben sind, diesen Zustand der Inklusion zu erreichen, zumindest ihm uns anzunähern. So wird der Inklusionsbewegung zuweilen der Vorwurf einer gewissen gesellschaftstheoretischen Naivität gemacht. Sie sitze der Idee auf, Inklusion und Exklusion basiere im Wesentlichen auf der Haltung der Subjekte, und es reiche aus, diese Haltungen zu verändern, um zu dem Zustand des gleichberechtigten Miteinanders der Verschiedenen zu kommen. Zu wenig würde das gesellschaftliche Kräftespiel von Macht und Machtausübung, und damit auch der strukturellen Bedingungen der Exklusion bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, in den Blick genommen. Die Idee der Inklusion sei so gesehen keine Vision, sondern eine gefährliche Illusion, die die gesellschaftlichen Widersprüche eher kaschiere als aufdecke.
Bei Adorno , dem man gesellschaftstheoretische Naivität wohl kaum unterstellen kann, findet sich die titelgebende Formulierung "Ohne Angst verschieden sein können". Adorno warnt in dieser Schrift, der Minima Moralia, eindrücklich davor, die Gleichheit der Menschen als Tatbestand zu unterstellen oder auch nur als Ideal zu verfolgen, und empfiehlt dagegen die Anerkennung der Ungleichheit. Er schrieb 1944 im amerikanischen Exil:
"Das geläufige Argument der Toleranz, alle Menschen, alle Rassen seien gleich, ist ein Bumerang. Es setzt sich der bequemen Widerlegung durch die Sinne aus, und noch die zwingendsten anthropologischen Beweise dafür, daß die Juden keine Rasse seien, werden im Falle des Pogroms kaum etwas daran ändern, daß die Totalitären ganz gut wissen, wen sie umbringen wollen und wen nicht. Wollte man dem gegenüber die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, als Ideal fordern anstatt sie als Tatsache zu unterstellen, so würde das wenig helfen. Die abstrakte Utopie wäre allzu leicht mit den abgefeimtesten Tendenzen der Gesellschaft vereinbar. Daß alle Menschen einander glichen, ist es gerade, was dieser so passte. Sie betrachtet die tatsächlichen oder eingebildeten Differenzen als Schandmale, die bezeugen, daß man es noch nicht weit genug gebracht hat; daß irgend etwas von der Maschinerie freigelassen, nicht ganz durch Totalität bestimmt ist. Die Technik der Konzentrationslager läuft darauf hinaus, die Gefangenen wie ihre Wächter zu machen, die Ermordeten zu Mördern. Der Rassenunterschied wird zum Absoluten erhoben, damit man ihn absolut abschaffen kann, wäre es selbst, indem nichts Verschiedenes mehr überlebt. Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann ." ( Adorno 1944, S. 113f., unsere Hervorhebung).
Adorno macht hier deutlich, dass die Rede von der Gleichheit immer in Gefahr steht, ins Totalitäre gewendet zu werden. Denn an das Postulat der Gleichheit ist immer die Frage geknüpft, wer denn eigentlich zu den Gleichen gehört - und wer nicht. Mit anderen Worten: Wer gilt als Gleicher unter Gleichen? Die Geschichte ist voller Beispiele von Gleichheitspostulaten, die auf ihrer Rückseite Ausschluss produziert haben. Eines der prominentesten Beispiele dafür ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Dort heißt es: " Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind." Zugestanden wurden diese - vorgeblich allen Menschen innewohnenden - Rechte allerdings nur den frei geborenen Männern weißer Hautfarbe. Nicht gemeint waren Frauen, Schwarze und schon gar nicht die indianische Urbevölkerung. Mit der Rede der Gleichheit aller Menschen wurden im gleichen Atemzug knapp zwei Drittel der Bevölkerung ausgeschlossen.
Noch zu gut ist uns die gespenstische Debatte um die Praktische Ethik des australischen Moralphilosophen Peter Singer aus den 1990er Jahren im Gedächtnis. Was erlaubt uns, so fragte Singer nicht nur rhetorisch, unsere moralischen Kategorien auf die Spezies Mensch zu beschränken und Tiere auszuschließen? Auch hier markierte also ein Gleichheitsgebot den Ausgangspunkt einer Argumentationskette, die zu dem Schluss führte, dass nicht die Mitgliedschaft zur Gattung Mensch, sondern bestimmte Eigenschaften das Recht auf Leben begründen. Singer nannte z.B. die Fähigkeit, die eigene Zukunft kognitiv repräsentieren zu können, als ein unverzichtbares Merkmal, das das Lebensrecht eines Lebewesens begründen soll. Wer über diese Eigenschaften nicht verfügt, und dies trifft auf Neugeborene, zumal auf behinderte Neugeborene zweifellos zu, sollte nach Singer ohne moralische Skrupel getötet werden dürfen (vgl. Singer 1979, ein guter Überblick über die von Singer ausgelöste Debatte findet sich in Dederich 2000).
Auch hier lässt sich die argumentative Figur erkennen, dass unter einem Postulat von Gleichheit Ausschluss, der hier bis zur Begründung eines Tötungsrechts reicht, produziert wird. Insofern ist die Verteidigung der Differenz ein unverzichtbarer Schritt in dem Versuch der Demokratisierung und Humanisierung unserer Gesellschaft.
In der Sozialphilosophie wird dies mit dem Begriff der egalitären Differenz (vgl. Honneth 1992, Prengel 1993) gefasst. Wir sind es gewohnt, Unterschiede zwischen Menschen oder auch zwischen Bevölkerungsgruppen immer in Hierarchien zu denken - also in Kategorien des Besser und Schlechter. Der Begriff der egalitären Differenz hingegen reklamiert den Anspruch, Unterschiede zunächst einmal als Verschiedenheit hinzunehmen, ohne gleich hierarchisierende Wertungen vorzunehmen. Insofern ist der Begriff der egalitären Differenz das sozialphilosophische Komplement zur gesellschaftstheoretischen Idee der Inklusion.
Nun droht allerdings der Begriff der egalitären Differenz zum bloßen Euphemismus zu verkommen, wenn neben der normativen Betonung des Rechts auf Unterschiedlichkeit nicht auch die realen gesellschaftlichen Prozesse der Verteilung knapper Güter wie Geld, Macht oder soziale Anerkennung in den Blick genommen werden (vgl. Frazer/Honneth 2003; Liesen 2006). Bekanntermaßen ist die Gleichverteilung dieser Güter kein Ziel marktwirtschaftlich organisierter Gesellschaften, im Gegenteil, die Aussicht auf ein Mehr an Geld, Macht oder Anerkennung begründet schließlich die Dynamik kapitalistischer Wirtschaftsformen. Zuviel Gleichheit wird - zumindest von interessierten Kreisen - als Wachstumshemmnis bezeichnet.
Andererseits ist es aber auch klar, dass zuviel (ökonomische und/oder soziale) Ungleichheit die soziale Kohäsion eines Gemeinwesens gefährdet. Die Folge sind Legitimationskrisen und Effizienzeinbußen. Dies mag das Beispiel USA verdeutlich, in denen die Einkommens- und Vermögensunterschiede wesentlich ausgeprägter sind als in den europäischen Industrienationen. So befinden sich in den USA von 100.000 Bürgern 725 Personen in Gefängnishaft (in Deutschland sind es 90). Die Ausgaben der USA für den Betrieb von Gefängnissen liegen um 50% höher als die Aufwendungen der Sozialhilfe (vgl. Bieschke 2001). Noch nicht berücksichtigt sind hier die enormen Kosten für Polizei, Gerichte und private Sicherheitsdienste. Man kann diese Situation unter Gerechtigkeits- aber auch unter Effizienzgesichtspunkten betrachten. In jedem Fall wird man davon ausgehen müssen, dass ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit mit hohen gesellschaftlichen und ökonomischen Folgekosten einher geht.
Der Schluss liegt also nahe, dass die Dialektik von Gleichheit und Differenz in modernen Gesellschaften unaufhebbar ist. Dies gilt für die gesellschaftliche Ebene, wie gesehen, ebenso wie für die individuelle Dimension. So belehren uns die Identitätstheorien jedweder Couleur darüber, dass wir als Individuen vor die Daueraufgabe gestellt sind, einerseits unsere Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu signalisieren, und uns andererseits als einzigartig und unverwechselbar darzustellen. Wir tun dies durch Kleidung, Sprache, Wahl des Wohnsitzes, Möblierung etc.; Bourdieu (1979) hat dies in seinem Buch über die feinen Unterschiede ja feinsinnig beschrieben.
Für unseren Zusammenhang ist nun von Bedeutung, dass das Bildungssystem in diesem Spiel von Gleichheit und Differenz in doppelter Weise involviert ist. Zum Einen soll es durch die Vermittlung von Normen und Werten den gegenwärtigen Verteilungsmodus knapper Ressourcen in den Subjekten im Sinne individueller Gerechtigkeitsvorstellungen verankern. Und zum anderen ist es selbst an der Herstellung von Gleichheit und Differenz durch die Vergabe von Bildungstiteln aktiv beteiligt.
Spätestens mit der Vergabe von Bildungstiteln ist die - von den meisten Pädagogen wenig geliebte - Funktion der Selektion des Bildungssystems auf dem Tapet. Es lässt sich wohl kaum darüber streiten, dass unser Schulsystem in seiner gegenwärtigen Verfasstheit neben der Aufgabe der Bildung und Erziehung auch diese Funktion der Selektion übernimmt. Kontrovers diskutiert wird hingegen die Frage, ob die Selektion dem Pädagogischen immanent ist oder aber ob die Selektionsfunktion der Schule von Außen (der Gesellschaft, der Politik) aufgezwungen wird.
Luhmann und Schorr (1979) haben schon vor Jahren gezeigt, wie tief die Selektionsfunktion bis in die Mikroprozesse pädagogischer Interaktion nachweisbar ist. Selbst der eigentlich unverdächtigen pädagogischen Interventionsform des Lobes wohnt, so Luhmann/Schorr , ein selektives Moment inne. Schließlich bedarf es einer Entscheidung, was als lobenswert gilt - und was nicht. Dies hat schlicht mit dem Umstand zu tun, dass Bildungsprozesse gerichtete Prozesse sind. Auch wenn man konstatiert, dass sie vielschichtig sind, dass sie sich auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche beziehen und sie auf Um- und Irrwegen verlaufen können müssen. Trotzdem gilt, dass Bildungsprozesse gelingen oder eben auch scheitern können, und damit enthalten sie den Aspekt von Besser und Schlechter; ein Aspekt, der mit dem Begriff der egalitären Differenz gerade nicht gefasst werden kann.
Wir ziehen hieraus den vorsichtigen Schluss, dass die Antinomie zwischen Förderung, Bildung und Erziehung auf der einen und Selektion auf der anderen Seite in der Pädagogik nicht gelöst beziehungsweise aufgehoben werden kann. Diese Antinomie ist vielmehr tief in das pädagogische Geschehen eingelagert. Schon aus diesem Grund darf sie nicht ignoriert oder verleugnet werden, sondern es gilt intelligent mit ihr umzugehen. Dies führt direkt zu den Fragen, mit denen wir uns in den folgenden Abschnitten beschäftigen werden, nämlich:
(1) Geht unser Schulsystem intelligent mit der Antinomie zwischen Bildung/Erziehung und Selektion um?
Und:
(2) Welche Funktion kommt der Sonderpädagogik hierbei zu?
Wir wollen daher unter der Perspektive Vision und Wirklichkeit drei Modelle des Umgangs mit Heterogenität erörtern. Dies hängt, wie gesehen, eng mit der Frage der Behandlung der Antinomie von Bildung und Selektion zusammen. Das heißt, wir wollen diese drei Modelle im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile prüfen. Vorab ist aber darauf hinzuweisen, dass alle Denkmodelle der Organisation von Schule mit irgendwelchen Formen der Reduktion von Komplexität arbeiten, und dass sie sich damit zwangsläufig Folgeprobleme - und Gegenbewegungen - einfangen.
Die erste Komplexitätsreduktion klingt trivial, sie besteht in der Einrichtung von Schule als einem besonderen, vom Erwachsenenalltag abgekoppelten Lebensraum: Und wir sehen als konsequente Gegenbewegung eine Entschulungspädagogik Illich'scher Prägung. Weniger radikal und zumeist hochangesehen sind Konzepte der Öffnung von Schule. Ein Beispiel in diese Richtung wären die in vielen Bundesländern, und so auch in Hessen eingerichteten berufsvorbereitenden Praxisklassen, in denen die Verbindung von Schule und Arbeitswelt gesucht wird. Die zweite, uns auch fast als Naturgesetz eingewöhnte Komplexitätsreduktion besteht in der Einrichtung von Fächern, und fast zwangsläufig finden wir die Gegenbewegung des fächerübergreifenden oder projektförmig erteilten Unterrichts. Ähnliches gilt für die Jahrgangsklasse: Auch diese ist so selbstverständlich, dass sie gleichsam als naturwüchsig erscheint. Und auch hier sehen wir die entsprechende Gegenbewegung: Konzepte altersgemischten Lernens erfreuen sich neuer Beliebtheit. Fast alle Bundesländer beginnen, mit einer flexiblen Eingangsstufe zu experimentieren.
Dabei sind die Begründungen für diese Maßnahmen der Komplexitätsreduktion letztlich immer dieselben, in allen Organisationen, auch außerhalb von Schule, geht es um Effizienzsteigerung durch Routinenbildung, hier in der Gestaltung der Lehr-/Lernabläufe, und um die Sicherung der Expertise der professionell Tätigen durch Spezialisierung. Und die Folgeprobleme, die man sich mit dieser Spezialisierung einfängt, sind ebenfalls - nicht nur im Bildungssystem - gut bekannt: Die Fragmentierung sowohl der Personen, d.h. der Schülerinnen und Schüler, als auch der Sachzusammenhänge.
Schauen wir uns dies unter der Perspektive von Vision und Wirklichkeit nun etwas genauer an:
Tabelle 1: Umgang mit Komplexität im Bildungssystem
Form |
Komplexität |
Erhoffter Gewinn |
Möglicher Preis |
Platzierung über Persönlichkeitsmerkmale |
Minimiert (Leistung, Sonderpädagogische Fachrichtungen) |
Effizienz Sicherung der Expertise |
Selektion Essentialismus |
Inklusion - eine Schule für alle Kinder |
Maximiert |
Entstigmatisierung Soziale Integration Soziales Lernen |
Organisation der Expertise Isolation in der Gemeinschaft |
Profilbildung |
Minimiert (Lebenslage, Neigung, Interesse, Weltanschauung) |
Passgenauigkeit Effizienz |
Selektion / Segregation Elitenbildung |
Folgt man dem vorherrschenden Modell der Platzierung nach Alter, Begabung und Behinderung, so wird die Heterogenität der Schülerschaft so reduziert, dass Fachkompetenzen zielgerichtet zum Einsatz kommen können. Man handelt sich damit jedoch ein, die Ursachen für Probleme dem betroffenen Individuum zuzuschreiben.
Die Inklusive Schule stellt sich der Herausforderung, Komplexität möglichst nicht zu reduzieren, um niemanden auszugrenzen und zu stigmatisieren sowie Unterschiede und Ungleichheit als Anlässe erfahrungsbezogenen sozialen Lernens zu nutzen. Sie steht vor dem Problem, wie Fachkompetenzen einbezogen werden können, aber auch, wie im Ansatz der individuellen Förderung verhindert werden kann, dass schließlich nur noch jedes Kind seinen maßgeschneiderten Wochenplan still für sich abarbeitet.
Komplexität lässt sich schließlich auch durch Profilbildung reduzieren: dann sind wir bei den Montessori- und Waldorfschulen, den altsprachlichen oder naturwissenschaftlichen Profilen des Gymnasiums, den Europaschulen im Primarbereich, den Schülerfirmen in der Sekundarstufe. Durch Profilbildung lässt sich die Passgenauigkeit des Lernangebots erhöhen, allerdings sind Profilierung und Besonderung nur durch einen schmalen Grat voneinander getrennt. Zudem steht zu befürchten, dass eher diejenigen profitieren, die frühzeitig ihre Interessen entdecken können.
Gehen wir somit einerseits davon aus, dass es im pädagogischen Umgang mit Heterogenität keine erwünschten Wirkungen ohne unerwünschte Nebenwirkungen geben kann, so ist es andererseits dennoch nicht so, dass diese drei Modelle gleich "intelligent" im Umgang mit der Antinomie von Bildung und Selektion sind. Schauen wir uns das erste Modell genauer an, und somit die deutsche Wirklichkeit.
Hier braucht es letztlich keine großen Ausführungen. Die Einsicht, dass Deutschland nach wie vor auf ein hochgradig selektives und segregierendes Schulsystem setzt, ist in der öffentlichen Debatte nach PISA zum Gemeingut geworden. Es wird die passende Schule für das jeweilige Kind gesucht, und nicht die Schule für das Kind passend gemacht.
Daraus ergeben sich folgenreiche Platzierungsentscheidungen. Deren Grundlage ist die Unterstellung scheinbar objektiver - zumindest objektivierbarer - und relativ stabiler Persönlichkeitsmerkmale. Neben dem Alter sind dies im Wesentlichen Begabung und Behinderung. Wie konsequent Deutschland dieses Prinzip verfolgt, wird allerdings erst im internationalen Vergleich richtig deutlich.
In der Weltkarte sind die PISA-Teilnehmerstaaten blau eingefärbt. Rot markiert sind die Staaten, in denen bei PISA 2000 die gemeinsame Grundschulzeit bereits nach Klasse 4 endet und die Schüler in ein gegliedertes Sekundarstufensystem überführt werden. Es sind dies neben Deutschland, die Schweiz und Liechtenstein. Allesamt Länder übrigens, die bei PISA insgesamt enttäuschend abgeschnitten haben. Sonst gibt es kein Land weltweit, zumindest unter den PISA-Teilnehmerstaaten, das auf eine so frühe Aufteilung der Schülerschaft setzt.

Abbildung 1: PISA - Teilnehmerstaaten 2000 (aus Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 18, eigene Ergänzung)
Bei PISA 2003, das sei ergänzend noch angemerkt, sind auch die Schweiz und Liechtenstein verloren gegangen, auch diese beiden Länder haben mittlerweile auf eine sechsjährige gemeinsame Grundschulzeit umgestellt.
Tabelle 2: Zeitpunkt des Übergangs in ein vertikal gegliedertes Schulsystem (Deutsches PISA Konsortium 2004)
Klasse 4 |
Klasse 6 |
Klasse 8 |
Kein vertikal gegliedertes Schulsystem |
Deutschland |
Belgien |
Niederlande (7) |
Australien |
Schweiz |
Luxemburg |
Italien |
Brasilien |
Liechtenstein |
Mexiko |
Portugal |
Dänemark |
Irland |
Polen |
Finnland |
|
Großbritannien |
Frankreich |
Griechenland |
|
Schweiz |
Österreich |
Island |
|
Liechtenstein |
Russland |
Japan |
|
Tschechien |
Kanada |
||
Ungarn |
Korea |
||
Lettland |
|||
Neuseeland |
|||
Norwegen |
|||
Schweden |
|||
Spanien |
|||
USA |
Betrachten wir den Anteil sonderpädagogischer Förderung im Rahmen des Bildungssystems. Hier scheint Deutschland einen gediegenen Mittelplatz einzunehmen. Etwa fünfeinhalb Prozent aller deutschen Schüler erhalten sonderpädagogische Förderung. Auffallend an der folgenden Grafik ist die hohe Quote sonderpädagogischer Förderung in den skandinavischen Ländern, insbesondere in Dänemark, Island und Finnland. In Finnland erhalten - mittlerweile - über 21% aller Schülerinnen im Laufe ihrer Schulkarriere irgendwann einmal eine sonderpädagogische Unterstützung.

Abbildung 2: Anteil der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (blaue Säule: davon in Sondereinrichtungen; Quelle: EADSNE 2003, eigene Grafik)
Das Bild des Mittelplatzes relativiert sich allerdings, wenn man hinzu zieht, an welchem Ort die sonderpädagogische Förderung stattfindet. Dann stellt man nämlich fest, dass gerade bei den genannten skandinavischen Ländern diese Förderung in der Regelschule stattfindet und nur in kleinem Umfang, wie die blauen Säulen ausweisen, in speziellen Sondereinrichtungen. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel Finnland: Den Finnen scheint es mit ihrem aufwändigen Unterstützungssystem gelungen zu sein, nicht nur die Schulform, sondern auch die Erscheinungsform der Lernbehinderung zum Verschwinden gebracht zu haben. Die Zahl der Abgänger, die die finnische Gemeinschaftsschule ohne Abschluss verlassen, ist mit unter 1% für deutsche Verhältnisse unvorstellbar. Daneben unterhält Finnland allerdings nach wie vor ein separierendes System sonderpädagogischer Förderung für Kinder mit geistiger oder mit Sinnesbehinderungen. Und hier ist Quote der Separation mit den deutschen Verhältnissen vergleichbar, allerdings mit deutlich sinkender Tendenz. Finnland ist dabei, diese Sondereinrichtungen nach und nach abzubauen.
Betrachtet man den Anteil sonderpädagogischer Förderung in segregierenden Settings, also in Sonder- und Förderschulen, so findet sich Deutschland erwartungsgemäß in einem Spitzenplatz wieder, wie der folgenden Grafik zu entnehmen ist.

Abbildung 3: SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sondereinrichtungen (Quelle: EADSNE 2003, eigene Grafik)
Anders als in Finnland stellt sich bei uns die Entwicklung der Beschulung in separierenden Settings dar. Hier ist eine kontinuierliche Steigerung feststellbar. Trotz des Ausbaus des Gemeinsamen Unterrichts, der in dieser Grafik nicht mit berücksichtigt ist. Deutschland entwickelt sich, das kann in aller Vorsicht behauptet werden, trotz der zaghaften Versuche in Richtung Gemeinsamen Unterrichts gegen den internationalen Trend und gegen entsprechende politische Willenserklärungen immer weiter in Richtung separierender Maßnahmen.

Abbildung 4: Anteil SchülerInnen an Sonder-/Förderschulen in der BRD (Quelle: KMK 2003)
Unter dem Strich hat dies unter anderem den nun heftig diskutierten Effekt einer massiven Benachteiligung von Kindern aus Armutslagen, wie aktuell vom UNO-Menschenrechtsbeauftragten Muñoz wieder nachdrücklich kritisiert. Einzig im Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialem Status nimmt Deutschland einen traurigen Spitzenplatz ein (vgl. PISA-Konsortium 2001, S. 323ff.; Baumert et al. 2006).
Fazit: Auch wenn diese Sachverhalte allenthalben gesehen werden, werden sie - zumindest von Teilen der Bildungspolitik - nicht ursächlich auf die Organisation unseres Bildungswesens zurückgeführt. Das sehen führende Bildungsforscher anders (vgl. z. B. Baumert et al. 2006). Mit dem finnischen EU-Ratspräsidenten könnte man dennoch formulieren:
"Auch unter Berücksichtigung der verschiedenen Ansätze der Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Organisation ihrer Bildungs- und Ausbildungssysteme gibt es doch auch einige Forschungsergebnisse, die es nahe legen, dass in einigen Fällen eine zu frühe Differenzierung von Schülern in getrennte Schulen verschiedener Art auf der Grundlage von Begabung negative Auswirkungen auf die Leistungen benachteiligter Schüler haben" (EU zit. nach Demmer 2007, S. 28).
Vor der Intervention des deutschen Kommissionsmitglieds hieß es übrigens noch sehr viel eindeutiger:
"Ferner deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass es negative Auswirkungen auf die Leistungen benachteiligter Schüler haben kann, wenn die Schüler zu frühem Alter je nach ihren Fähigkeiten auf gesonderte Schulen unterschiedlicher Art verteilt werden" (EU zit. nach Demmer 2007, S. 28).
Die auf Selektion ausgerichtete Schulstruktur führt zu einer deutlichen Benachteiligung von Kindern aus Armutslagen, von Kindern mit Migrationshintergrund und mit Behinderungen, so zumindest das Fazit des Menschenrechtsbeauftragten. Ohne übrigens den Anspruch auf eine besonders gute Förderung der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler einlösen zu können. Das schlechte Abschneiden bei PISA ist ja vor allem darauf zurückzuführen, dass in Deutschland das obere Leistungsdrittel nicht besser als in den anderen Ländern abgeschnitten hat, dafür aber die leistungsschwachen Schüler ganz besonders schlecht dastanden.
Das Modell der Inklusiven Schule heutzutage noch als Vision vorzustellen bedarf einer Vorbemerkung. Es ist über das Konzept der einen Schule für alle Kinder schon so viel gesagt, geschrieben und geforscht worden, dass ihm kaum mehr visionäre Eigenschaften zugeschrieben werden können. Dass ich es im Folgenden trotzdem als Vision vertrete, hat weniger mit dem fachlichen Diskussionsstand zu tun als mit der bildungspolitischen Großwetterlage. Wir haben gerade gezeigt, wie sehr das Denken in einfachen selektiven Kategorien die deutsche Bildungslandschaft bestimmt. Dies hat historische Wurzeln, die sich sehr lange zurück verfolgen lassen (vgl. z.B. Geiling/Sander 2007). Vor allem die Vorstellung, ein vertikal gegliedertes Schulsystem sei die einzig denkbare Umgangsform mit der Leistungs- und Entwicklungsheterogenität der Schülerschaft, scheint in Deutschland in Beton gegossen zu sein. Eine Begebenheit, die sich in der Nachkriegszeit in Hessen abgespielt hat, mag verdeutlichen, mit welcher Hartnäckigkeit dieses Modell gegen alle Anfechtungen verteidigt wurde.
Die amerikanische Besatzungsmacht sah nach dem Zweiten Weltkrieg das ständisch organisierte Schulsystem Deutschlands als einen der Verursachungsfaktoren für die Entstehung des deutschen Faschismus an. Insofern drängten die Amerikaner in ihren Besatzungszonen nachdrücklich auf die Abschaffung des vertikal gegliederten Schulsystems. Da sich die hessische Ministerialbürokratie diesen Anweisungen systematisch entzog, wies der Leier der Militärregierung in Hessen, Oberst Newmann, im August 1948 den damaligen hessischen Kultusminister Erwin Stein an, kein Kind mehr in ein vertikal gegliederte Schulform aufzunehmen bzw. zu übergeben. Erwin Stein wusste in dieser Notlage keine andere Lösung (wie er in seinen Memoiren nicht ohne Stolz bekannt), als kurzerhand den Einschulungstermin vom Sommer in das darauf folgende Frühjahr zu verlegen und auf das sich abzeichnende Ende des Besatzungsstatuts zu hoffen (vgl. Friedeburg 1989, S. 306f.).
Erwin Stein ist es auf diese Weise tatsächlich gelungen, in Hessen das gegliederte Sekundarstufensystem zu "retten", und man muss in der Rückschau wohl konstatieren, dass Deutschland auf diese Weise 50 Jahre Schulentwicklung verpasst hat. Der infolge des PISA-Schocks in Deutschland ausgebrochene bildungspolitische Reformeifer geht nach meiner Einschätzung in eine Richtung, die uns weitere 15 Jahre Schulentwicklung verlieren lassen. Das ist der einzige Grund, warum ich es wage, das Konzept der einen Schule für alle Kinder als Vision vorzustellen und nicht als möglichst rasch abzuarbeitende Entwicklungsaufgabe für unser Schulsystem.
Ich vernachlässige an dieser Stelle den Gelehrtenstreit, ob es sich bei dem neu eingeführten Begriff der Inklusion um eine Weiterentwicklung der Idee des integrativen Unterrichts handelt oder lediglich um die konsequente Umsetzung des Integrationsgedankens (vgl. Hinz 2002, Reiser 2007). Wir können aber als die beiden Kernideen der Inklusiven Schule festhalten, dass (1) der Anspruch besteht, alle Heterogenitätsdimensionen, d.h. neben Behinderung und Benachteiligung eben auch Geschlecht, kultureller und sozio-ökonomischer Hintergrund zu berücksichtigen, und dass (2) darüber binäre Unterscheidungen wie eben behindert/nicht-behindert, weiblich/männlich, deutsch/nicht-deutsch etc. an Bedeutung verlieren und zugunsten konsequenter Individualisierung aufgehoben werden können. Dabei wird nicht bestritten, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, die einen besonderem Unterstützungsbedarf aufweisen. Die Organisation dieser spezifischen Hilfen sollte aber dem Prinzip "Die Experten zu den Kindern und nicht die Kinder zu den Experten" folgen.
Neu zu justieren ist in diesem Modell nach meiner Einschätzung aber die Frage, was genau unter besonderem Unterstützungsbedarf zu verstehen ist, und welchen Beitrag die Sonderpädagogik hier zu leisten vermag. Sonderpädagogik definiert sich danach nicht über eine irgendwie als besonders auszuweisende Klientel, sondern über spezifische Wissens- und Könnensbestände zu krisenhaften Lern- und Entwicklungsprozessen.
Diese, auf den ersten Blick etwas akademisch anmutende, Frage nach dem Gegenstandsbereich der Sonderpädagogik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin wird traditionell auf zwei Weisen beantwortet: nämlich entweder über eine bestimmte Klientel: Menschen mit Behinderung, oder über bestimmte Institutionen: Sonderschulen. Beide Zugänge sind - gerade aus integrationspädagogischer Perspektive - zu Recht heftig kritisiert worden. Der erste Zugang führt zu stigmatisierenden und verdinglichenden Sonder-Anthropologien, der zweite ist durch den Gemeinsamen Unterricht ohnehin faktisch bereits überholt. Trotzdem werden beide immer wieder bemüht, vor allem wohl um berufsständisch motivierte Interessen und Besitzstände der Zunft (in Wissenschaft und Praxis) zu verteidigen.
Auch wenn es nach einer über dreißig Jahre währenden Diskussion bis heute nicht gelungen ist, das Phänomen der Lernbehinderung auch nur einigermaßen präzise zu definieren, wird dennoch an dieser Kategorie, wenn auch unter ständig wechselnden Bezeichnungen, eisern festgehalten. Dies müssen wir als Sonderpädagogen auch tun, solange wir unser Expertentum über eine bestimmte Subpopulation von Schülern definieren. Ich halte es hingegen für angemessener, eher von bestimmten Problemlagen, als von irgendwie zu bestimmenden Menschengruppen auszugehen, und eine - wie auch immer zu bezeichnende spezialisierte Pädagogik - dadurch zu definieren, dass sie pädagogische Antworten auf spezifische Problemlagen bereit zu halten vermag. Sonderpädagogik nimmt ihren Ausgangspunkt an Lern- und Entwicklungsprozessen, die unter erschwerten Bedingungen verlaufen und/oder in eine Krise geraten sind . Sie stellt damit ein Unterstützungssystem für die Allgemeine Pädagogik dar, das seine Begründung aus der prinzipiellen Krisenanfälligkeit von Bildungsprozessen aller Schülerinnen und Schüler ableitet. Sonderpädagogik definiert sich dabei nicht über eine speziell auszuweisende Klientel, sondern über ihr spezifisches Wissen und Know-How zu krisenhaften Entwicklungsverläufen.
Auf der Basis eigener empirischer Untersuchungen haben wir versucht, ein umfassendes Modell zur Entstehung von Lern- und Entwicklungsproblemen zu entwerfen, und haben daraus ein einfaches Ordnungsschema auf drei Ebenen entwickelt (vgl. Iben/Katzenbach/Rössel 2006).
Ebene I bezieht sich auf den Bereich der Lerngegenstände und das methodisch-didaktische Postulat der notwendigen Passung zwischen Lernangebot und Lernvoraussetzung . So selbstverständlich diese Forderung anmutet, die Schule kann, wie wir nur zu gut wissen, in der Praxis diesem Anspruch häufig nicht gerecht werden. Zwar findet eine ständige Überprüfung von Lernerfolgen durch Klassenarbeiten und Tests statt, diese Form der Überprüfung arbeitet aber eher der Selektionsdynamik der Schule zu als der Identifizierung von Lernproblemen. Mit anderen Worten: wer bei den Lernerfolgskontrollen wiederholt scheitert, erhält nicht besondere Hilfen, sondern wird an den nächst niedrigeren Bildungsgang verwiesen.
Ebene II zielt auf die subjektive Bedeutung, die die Schülerinnen und Schüler den Lerngegenständen zumessen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es der Schule nur unzureichend gelingt, sozioökonomisch, kulturell oder ethnisch begründete Differenzen anzuerkennen und auf diese einzugehen. Schule als mittelschichtorientierte Institution setzt bürgerliche Habitusformationen bei ihren Schülerinnen und Schülern in der Regel als selbstverständlich voraus.
So zeigt die Forschung zur Lesesozialisation deutlich, dass Kinder aus bürgerlichen Milieus bereits vor Schuleintritt über reichhaltige schriftsprachliche Erfahrungen etwa durch Vorlesen oder durch den selbstverständlichen Umgang mit Bilderbüchern verfügen. Damit ist ein Grundbaustein für den Eintritt in die Schriftkultur gelegt. Genau dies trifft für Schülerinnen und Schüler aus bildungs- und schriftfernen Milieus häufig nicht zu. Der Schriftspracherwerb droht für diese Kinder zu einer Aufgabe zu werden, deren subjektiven Sinn sie nicht einsehen (können) und der sie sich nur unter Zwang unterwerfen oder eben verweigern. Ihre Lernmotivation speist sich bestenfalls aus sekundären Quellen; entweder dem Bemühen, weiterem Schulversagen und den damit einhergehenden Beschämungen zu entgehen oder später dem Wissen, dass ihre Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ohne hinreichende Schriftsprachkenntnisse gering sind.
Ebene III schließlich thematisiert die Lernwiderstände bzw. Lernblockaden, denen man in der Förderung - nicht nur benachteiligter - Kinder und Jugendlicher regelmäßig begegnet. Alle Kinder und Jugendliche haben langjährige Erfahrungen mit dem schulischen Lernen, viele davon diese sind durch Misserfolg, Beschämung, Scheitern und Ausgrenzung geprägt. So gesehen haben die Schülerinnen und Schüler subjektiv gute Gründe, sich den Herausforderungen des Lernens zu verweigern - zu groß ist die Gefahr des erneuten Scheiterns (vgl. Katzenbach 2004, 2006). Das heißt, dass das Nicht-Lernen für die Jugendlichen eine subjektive Funktion haben kann, die es zu erkennen und zu bearbeiten gilt - will man sich nicht auf einen aussichtslosen Förderkampf einlassen.
Damit sagt das Modell nichts grundsätzlich Neues, versucht aber eine gewisse Ordnung in das Gestrüpp pädagogischer Interventionsmöglichkeiten zu bringen. So unterscheiden sich die drei Ebenen deutlich hinsichtlich ihrer "Visibilität", d.h. je weiter man nach "unten" kommt, desto weniger fußt die Diagnose auf beobachtbarem Verhalten, sondern ist auf die interpretative Erschließung von Beziehungsdynamiken angewiesen. Im Sinne einer Art "Sparsamkeitsregel" - aber auch um einer vorschnellen Pathologisierung der SchülerInnen vorzubeugen - empfiehlt es sich, diese Ebenen nacheinander "abzuarbeiten". Das heißt, als erstes ist immer darauf zu achten, dass Lernangebote auf die gegenstandsbezogenen Lernvoraussetzungen der Schüler abgestimmt sind. Wenn dies gesichert ist und trotzdem die Lernentwicklung stagniert, ist zu prüfen, ob das Lernangebot von den gegenwärtigen Lernbedürfnissen der SchülerIn nicht so weit entfernt ist, dass diese nur noch mit Misserfolgsvermeidungs- aber nicht mehr mit Lernstrategien reagieren kann. Dazu bedarf es allerdings ernsthafter Kenntnisse der konkreten Lebensumstände des Kindes. Erst wenn diese beiden Bedingungen geprüft sind, ist in Erwägung zu ziehen, dass die Lern-Störung für das Kind eine subjektiv sinnvolle Bewältigungsstrategie sein kann und auf früheren lern-biographischen Misserfolgs- oder Mangelerfahrungen aufsitzt.
Die drei Ebenen verlangen unterschiedliche pädagogische Kompetenzen und Zugangsweisen. Ein und dasselbe Verhalten kann auf den drei Ebenen sehr unterschiedlich interpretiert werden. Insofern unterscheiden sich die drei Ebenen hinsichtlich der Diagnosestrategien und den sich daraus ergebenden Interventionsformen. So verwundert es auch nicht, dass letztlich den drei Ebenen unterschiedliche pädagogische Subdisziplinen zuzuordnen sind. Die Aufgabe, die Passung zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangebot herzustellen, ist und bleibt das Kerngeschäft der Schulpädagogik. Die Bearbeitung von Sinnkrisen, die häufig mit lebensweltlichen Differenzen einher gehen, wird üblicherweise von der Sozialpädagogik betrieben. Und die Behandlung von Widerständen und Lernblockaden fällt in den Aufgabenbereich von Beratung und gegebenenfalls Psychotherapie.
Nun existieren die entsprechenden Hilfsangebote ja bereits: Wir verfügen über einen Schulpsychologischen Dienst, es gibt Sonderpädagogische Beratungs- und Förderzentren, Schulsozialarbeit wird ausgebaut, es besteht die Möglichkeit der sozialpädagogischen Lernhilfe (nach SGB VIII, § 27), wir haben Angebote der Erziehungsberatung und der Psychotherapie. Aber diese Angebote sind regional sehr unterschiedliche ausgebaut, es besteht nur eine geringe Vernetzung untereinander, die Zugänglichkeit ist sozial selektiv und vor allem sind die Angebote in inhaltlicher und räumlicher Hinsicht viel zu weit weg von der Schule angesiedelt.
Der Blick zum PISA-Sieger Finnland zeigt eine völlig andere Organisationsstruktur unterrichtsbegleitender Hilfen. So erhalten dort 21% aller Schüler im Laufe ihrer Schulkarriere sonderpädagogische Förderung, in Deutschland sind es 5,6%. Diese Förderung findet überwiegend in der Regelschule statt und konzentriert sich auf die ersten Schuljahre, in Deutschland verhält es sich genau umgekehrt. In Finnland ist es eine pure Selbstverständlichkeit, dass an jeder Schule neben Fachlehrern auch Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Psychologen tätig sind. Dies hat dort zu einer neuen - uns Deutschen offenbar nur schwer vermittelbaren - Schul- und Unterrichtskultur geführt: Finnische Lehrerinnen und Lehrer wenden sich an diese unterrichtsbegleitenden Dienste nicht, um ihre problematischen Schüler los zu werden, sondern um besser mit ihnen arbeiten zu können (vgl. Välijärvi 2003).
Genau dies stellt aber nach meiner Wahrnehmung das Kardinalproblem der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Schule und sozialen Diensten in Deutschland dar. Immer noch ist es üblich, dass sich die Schule an die unterstützenden Dienste mit relativ unverhüllten Reparatur- oder Delegationsaufträgen wendet. Entweder sollen die begleitenden Dienste die schulische Leistungsfähigkeit des Problem-Schülers wieder herstellen, so dass er einem ansonsten unveränderten Unterricht wieder folgen kann, oder aber es gilt festzustellen, dass er in einem anderen System besser untergebracht ist. Die Vorstellung, dass die begleitenden Dienste Lehrerinnen und Lehrer darin unterstützen, ein Unterrichtsangebot zu entwickeln, das den Lernmöglichkeiten und Lernbedürfnissen des Schülers besser entspricht, wird hingegen als Zumutung angesehen. So drohen sich die verschiedenen Unterstützungssysteme häufig in unnötigen Abgrenzungsdiskursen zu verschleißen, anstatt effektive Hilfen für in Not geratene Schülerinnen und Schüler bieten zu können (vgl. Müller 2004).
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Das größte Problem des deutschen Schulsystems liegt in der unzureichenden Förderung von Schülerinnen und Schülern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen.
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Dieses Problem ist mit der Verbesserung der Unterrichtsmethodik allein nicht zu beheben.
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Es braucht ein differenziertes System unterrichtsbegleitender Hilfen an jeder Schule vor Ort, ergänzt durch überregionale Kompetenzzentren.
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Die interdisziplinäre Kooperation muss "auf Augenhöhe" stattfinden. Ein Störfaktor in der interdisziplinären Kooperation ist der delegierende Habitus von Lehrerinnen und Lehrern, der wiederum eng mit der Selektionsdynamik der (deutschen) Schule verknüpft ist.
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Die subsidiäre Funktion der Sonderpädagogik ist konsequent weiter zu entwickeln.
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Das Kompetenzprofil von SonderpädagogInnen ändert sich: Sie bleiben Experten für Lernen und Unterricht, aber die Komplementarität zum Know-How der RegelschullehrerInnen ist im Sinne des Drei-Ebenen-Modells eher zu schärfen als einzuebnen.
Die in der Sonderpädagogik hervorgebrachte Inklusionsperspektive behauptet, dass die in den theoretischen Reflexionen und wissenschaftlich begleiteten Praxisprojekten gewonnenen Einsichten zur schulischen Integration von Kindern und Jugendlichen mit einer körperlichen, geistigen oder emotionalen Behinderung umstandslos in einer "Pädagogik der Vielfalt" ( Prengel 1993, Hinz 1993) auch auf andere ausgegrenzte Jungen und Mädchen ausgeweitet werden könnten. Diese Sichtweise entwickelte sich als Kritik an den Folgen einer Platzierung von Kindern und Jugendlichen im Schulsystem, die vornehmlich in Bezug auf Alter, Begabung und Behinderung vollzogen wird. Inklusionspädagogik unterstellt, dass ihre bildungstheoretischen, schulorganisatorischen und didaktischen Konzepte dazu taugen, auch andere gesellschaftliche Exklusionslinien - wie beispielsweise "Armut" und "Migrationshintergrund" - angemessen bearbeiten zu können ( Schnell/Sander 2004). Die Frage nach der Machbarkeit, schärfer noch, die nach der Wünschbarkeit der "Einen Schule für alle", lässt sich gerade an diesen beiden Ausgrenzungsdimensionen besonders gut problematisieren.
Auf Behinderung wird in Deutschland traditionell - dies wurde bereits gezeigt - im Muster der institutionellen Separierung reagiert, also mit der Zuweisung der betroffenen Kinder in eigens für sie geschaffene Institutionen: Sonderschulen, Heime, Werkstätten für behinderte Menschen. Dagegen werden Armut und Zuwanderung - in historisch ebenso bemerkenswerter Kontinuität - gesellschaftlich im Muster der sozialräumlichen Segregation bearbeitet ( Schroeder 2002). Soziale Brennpunkte und ethnische Ghettos sind wahrlich nicht Folge der Mehrgliedrigkeit des Schulsystems, sondern Konsequenzen einer entsprechenden Wohnbau-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Wir haben ja gerade keine Sonderschulform, in die Kinder und Jugendliche überwiesen würden, wenn Hartz-IV-Bedarf festgestellt wird, ebenso wenig ist die Einrichtung von Sonderschulen für Kinder ohne deutsche Staatsangehörigkeit zulässig. Aber wir haben Schulen, die in städtischen Vierteln oder in ländlichen Regionen liegen, in denen fast ausschließlich Menschen ohne jegliche Aussicht auf einen Arbeitsplatz wohnen, in denen Migranten vorwiegend unter sich leben oder - und dann wird es besonders brisant - in denen sozial ausgegrenzte und kulturell verunsicherte Bevölkerungsgruppen in Verteilungskämpfen um nicht vorhandene materielle Ressourcen konkurrieren müssen.
Auch in der Inklusiven Schule, die formell niemanden ausgegrenzt, wird somit die faktisch vorfindbare Schülerschaft in Bezug auf ihre soziale Lage und ihre kulturelle Zugehörigkeit äußerst homogen zusammengesetzt sein. Um es an einem Beispiel zu belegen: Untersuchungen zur Sozialstruktur in Hamburg zeigen, dass gerade mal acht von 179 Ortsteilen sozial und ethnisch "durchmischt" sind, ansonsten gibt es entweder bürgerliche Viertel mit einer Konzentration vermögender Bevölkerungsgruppen oder Armutsquartiere, in denen vorwiegend die Deklassierten leben. Es gibt 26 Ortsteile, in denen jeweils unter 5% der Anwohner Hartz-IV beziehen; dort beträgt zudem der Ausländeranteil zumeist weniger als 3%. Dagegen gibt es 15 Stadtteile mit 40% bis 80% Hartz-IV-Beziehern und einem Migrantenanteil in etwa in derselben Höhe (Podzuweit 2005).
Diese Verknüpfung von sozialräumlicher Segregation und Schüleraufkommen lässt sich bildungspolitisch so gut wie nicht lösen: Wird das Prinzip der wohnortnahen Beschulung beibehalten, so heißt dies für arme wie reiche Kinder und Jugendliche, dass sie weiterhin in den Schulen ihrer jeweiligen Parallelgesellschaften unter sich bleiben werden. Wird die freie Schulwahl eingeführt, wählen Mittel- und Oberschichtseltern gewiss nicht die in den sozialen Randvierteln gelegenen Bildungseinrichtungen - so gut diese in ihrer pädagogischen Arbeit auch sein mögen. Ist es somit womöglich eine Fiktion, dass sich die Heterogenität der Schülerschaft in der Inklusiven Schule erhalten lässt? Und wenn es denn stimmt, dass auch die "Schule für alle" sozial und kulturell eher homogen zusammengesetzt sein wird, was folgt daraus für das Bildungskonzept?
Kultursoziologische wie auch ethnographische Untersuchungen zur Unterrichtskultur belegen immer wieder neu, dass wir im Schulsystem allen ein und dieselbe allgemeine Bildung bieten. Diese orientiert sich an den Lebensentwürfen und Bildungsbedürfnissen der gesellschaftlich dominierenden Gruppe - also dem Bildungsbürgertum ( Wenning 1999, Bourdieu 2001, Weber 2003). Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der Sonderpädagogik unermüdlich darauf hinzuweisen, dass unser Schulsystem nicht nur durch seine äußere Organisation ausgrenzend wirkt, sondern auch in seiner inneren Verfassung dazu tendiert, soziale, kulturelle und sprachliche Heterogenität unerbittlich zu nivellieren und dem bürgerlichen Habitus anzunähern. Wie aber stellt die Inklusionpädagogik sicher, dass sie sich in ihren Inhalten, Methoden und Haltungen von diesem "Annäherungskonzept" ( Klein 1990) lösen kann? Ist die Inklusive Pädagogik wirklich frei von einem "heimlichen Lehrplan"? Wie sichert sie ab, dass sie über ihre Wochenpläne und Arbeitsblätter, Morgenkreise und Unterrichtsrituale, Beratungsangebote und Kooperationsbeziehungen nicht das tut, was die Schule immer tut: Kinder und Jugendliche auf kleinbürgerliche und mittelständische Wertvorstellungen zu formatieren? Mit welcher Brille werden denn "Passungsprobleme" erkannt - Ebene I -, in welchem Bezugsrahmen werden "lebensweltliche Differenzen" bewertet - Ebene II - und mit welchen Methoden werden "Lernbiographien" rekonstruiert - Ebene III -, auf die dann mit Beratung, Förderung, gar Therapie regiert werden soll? Die Experten gehen zu den Kindern - okay; und was sehen sie da? Antwort: Was ihnen ihr sozialer und professioneller Habitus erlaubt wahrzunehmen!
Angesichts des bislang Skizzierten könnte man auf die Idee kommen, an schulpädagogische Konzepte anzuknüpfen, wie beispielsweise die "Stadtteilschule" oder "Gemeinwesenschule". In diesen Ansätzen werden die lebensweltlichen Kontexte, wie sie im sozialen Nahraum gegeben sind, zum Bezugspunkt der Schulprogrammarbeit genommen ( Mack/Raab/Rademacker 2003). Die Passgenauigkeit der vorgehaltenen Bildungsangebote wird nicht an Persönlichkeitsmerkmalen, Defekten oder "special needs" überprüft, vielmehr wird unterstellt, dass im Sozialraum die Themen und Bedarfe zu finden seien, an die pädagogisch angeknüpft werden kann: In multikulturellen Stadtteilen wird somit verstärkt auf interkulturelle Schulprofile, in Vierteln, in denen sich Armut konzentriert, dagegen in den Schulen eher auf sozialpädagogisch konturierte Bildungsprogramme inklusive Suppenküche und Kleiderkammer gesetzt. Solche Konzepte mögen in den 1970er Jahren noch "machbar" gewesen sein, als in Arbeitervierteln oder in abgelegenen Dörfern, in Obdachlosensiedlungen oder heruntergekommenen Altstadtquartieren Bevölkerungsgruppen wohnten, die ähnliche lebensgeschichtliche Erfahrungen - also kollektive Identitäten - miteinander teilten. Allerdings sind heutzutage in Deutschland solche geschlossenen, homogenen kleinräumigen lebensweltlichen Verhältnisse, die in einem Schulprogramm abgebildet werden könnten, kaum mehr zu finden.
Eine "Vision II" knüpft deshalb an schultheoretische Stränge an, in denen auf sozialräumliche Segregation nicht zuvörderst mit Einzelschulentwicklung, sondern mit der Gestaltung milieusensibler kommunaler Bildungslandschaften reagiert wird ( Braun 1997, Nuissl 2006, Hiller 2007). In ihrer inneren Differenzierung werden diese Schulen an Lebenslagen orientierte Bildungsgänge entwickeln, um inhaltliche, didaktische und methodische Passgenauigkeit herzustellen. Erforderlich sind in sich schlüssig konturierte Bildungskonzepte, in denen die Nachteile der sozialen Verhältnisse ausgeglichen, die Potenziale der Jugendlichen erkannt und gefördert sowie vor allem die strukturellen Hürden systematisch in den Blick genommen werden, die gewiss sehr unterschiedlich, aber auch nicht für jedes Kind, jeden Jugendlichen nur individuell gegeben sind. Um beispielweise junge Leute, die in städtischen sozialen Brennpunkten aufwachsen, auf das erfolgreiche Absolvieren einer beruflichen Ausbildung vorzubereiten (von einem Hochschulstudium wollen wir gar nicht erst träumen), bedarf es - so belegen jedenfalls alle mir bekannten Studien der Benachteiligtenforschung ( Burgert 2001, Spies/Tredop 2006) - intensiver und frühzeitig vorgehaltener Angebote der beruflichen Vorbereitung, sozialpädagogischen Begleitung und Vernetzung mit außerschulischen Stützsystemen. Um dagegen junge Migranten, zumal wenn sie als Quereinsteiger nach Deutschland kommen, in den Arbeitsmarkt zu integrieren, werden Bildungsgänge benötigt, in denen konsequent die Mehrsprachigkeit dieser Jugendlichen als Lernausgangslage genommen und bilinguale Angebote unterbreitet werden, die durchkomponiert sind von der Primarstufe bis zum Schulabschluss, und in denen - analog, aber halt nicht identisch zum Gemeinsamen Unterricht - die Regellehrkraft mit einer Muttersprachenlehrkraft zusammen einen bis zum Schulabschluss führenden entsprechenden Bildungsgang durchführt ( Fürstenau 2004). Kinder und Jugendliche, die ohne einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland leben - das sind gegenwärtig knapp 200.000 ( BAMF 2005) -, bedürfen wiederum Bildungsangeboten, in denen die erzwungene oder freiwillige Rückkehr mitbedacht wird. Deren gesellschaftliche Integration muss - sozialräumlich - gleichermaßen sowohl als Integration in die deutsche Gesellschaft, wie auch als Reintegration in die Herkunftsgesellschaft und als Vorbereitung auf Weiterwanderung mitbedacht und pädagogisch ausgelegt werden (Schroeder 2007).
So verschieden können Lebenslagen heutzutage sein! Deshalb halte ich es für legitim, dass sich eine Schule in ihrem Profil für eine spezifische Klientel attraktiv macht, es muss jedoch geklärt werden, dass die anderen Kinder und Jugendlichen in für sie angemessenen Bildungsprofilen ebenso gut versorgt sind. Gerade in städtischen Verdichtungsräumen sind aufgrund des breiten Angebots von Einrichtungen für eine aufeinander abgestimmte und im System abgesicherte qualitative Schulentwicklung hervorragende Bedingungen gegeben. Die hier skizzierten Intentionen zur Pluralisierung von Bildungskonzepten halte ich für eine angemessene bildungstheoretische und -politische Strategie zum Umgang mit Pluralität. Um Ungleichheit zu vermeiden, gar abzubauen, ist die Vielfalt pädagogisch in die Fläche zu entfalten. Wird die Pädagogik der Heterogenität als eine raumorientierte Schulentwicklung betrieben, in der nicht nur jede einzelne Schule sich ihr Profil gibt, sondern eine reflektierte Gestaltung der lokalen Schullandschaft angestrebt ist, entstehen Freiräume in einem doppelten Sinn: Für die einzelne Schule sind spürbare Entlastungen zu erwarten, weil sie durch gezielte Profilierungen die kaum mehr bewältigbare Komplexität reduzieren kann und somit überhaupt erst wieder eine angemessene pädagogische Handlungsfähigkeit hergestellt wird. In der Stadt oder im ländlichen Raum wiederum kann innerhalb der jeweiligen Schulform oder Schulstufe ein differenziertes, kontextsensibles Bildungsangebot bereit gehalten werden, ohne dass zwangsläufig auf stigmatisierende und ausgrenzende Formen der Sonderbeschulung zurückgegriffen werden muss.
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Das größte Problem des deutschen Schulsystems ist darin zu sehen, dass es sich in seinen Inhalten und Methoden nicht sensibel genug auf die Vielfalt von Lebenslagen, in denen Kinder und Jugendliche heutzutage aufwachsen, einstellen kann. Dadurch schafft es für einen beträchtlichen Teil von Schülerinnen und Schülern ungünstige Lernvoraussetzungen.
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Dieses Problem ist durch eine Ausweitung sonderpädagogischer Förderung nicht zu beheben.
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Es braucht ein differenziertes Angebot lebenslagenorientierter Bildungskonzepte, das in einer qualitativen Bildungsplanung zwischen den Schulen untereinander sowie mit den anderen pädagogischen, sozialen und kulturellen Einrichtungen einer Region abgestimmt und abgesichert wird.
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Ein Störfaktor in der interdisziplinären Kooperation ist der bürgerliche Bildungshabitus, der in einem mehrgliedrigen Schulsystem und erst recht in einer Inklusiven Schule zur unerbittlichen Nivellierung sozialer, kultureller und sprachlicher Differenzen neigt.
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Um Bildungschancen zu erhöhen, ist einer Ausweitung sonderpädagogischer Förderung mit Skepsis zu begegnen. Zu stärken sind eher die subsidiären Funktionen der Benachteiligtenpädagogik, Interkulturellen Bildung und Jugendberufshilfe.
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Das Kompetenzprofil von Sonderpädagogen ändert sich: Sie bleiben nicht mehr länger ausschließlich Experten für die individuumszentrierte Beratung, Diagnostik und Förderung, sondern sie beteiligen sich an der sozialräumlichen Identifizierung von Ungleichheitslagen verbunden mit einer gezielten Gestaltung von Bildungslandschaften im Sinne einer Ausdifferenzierung von Lernorten.
Wir haben zwei Visionen zur Weiterentwicklung des Schul- und Bildungssystems skizziert, ohne die Frage zu diskutieren, wie sich diese beiden Vorschläge zu einander verhalten. Handelt es sich eher um konkurrierende Modelle oder lassen sie sich kombinieren? Möglicherweise kann man das eine ja tun, ohne das andere zu lassen, ohne jetzt gleich wieder aus verständlichen Harmonisierungswünschen deren Vereinbarkeit überzustrapazieren. Wir hoffen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Perspektiven deutlich gemacht, und gleichzeitig einen kleinen Einblick in die Arbeitsschwerpunkte und in den Diskussionsstand an unserem Institut gegeben zu haben. Wir glauben, dass ungeachtet aller fachlichen und bildungspolitischen Differenzen Einigkeit in der Frage herrscht, dass der Umgang mit Heterogenität gegenwärtig die zentrale Herausforderung für das deutsche Bildungssystem darstellt. Und dieser Umstand rückt die Sonderpädagogik unversehens aus der Peripherie in das Zentrum der Debatte. Dies sollte uns das Selbstvertrauen und den Mut geben, uns energisch einzumischen, wenn es um die Durchsetzung des Bildungsrechts nicht nur behinderter und benachteiligter Kinder und Jugendliche geht.
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Online-Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Heilpädagogik 06/2007.
Prof. Dr. Dieter Katzenbach
Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Erziehungswissenschaften Institut für Sonderpädagogik Fach 122 Senckenberganlage 15
D-60054 Frankfurt am Main
e-mail: d.katzenbach@em.uni-frankfurt.de Telefon: (069) 798-22092 Raum 929 (Turm)

Dieter Katzenbach
Prof. Dr. Joachim Schroeder
Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Erziehungswissenschaften Institut für Sonderpädagogik Fach 122 Senckenberganlage 15
D-60054 Frankfurt am Main
e-mail: J.Schroeder@em.uni-frankfurt.de Telefon: (069) 798-22097 Raum 828 (Turm)

Joachim Schroeder
Quelle:
Dieter Katzenbach, Joachim Schroeder: "Ohne Angst verschieden sein können" Über Inklusion und ihre Machbarkeit
erschienen in: Zeitschrift für Inklusion-online 01/2007, http://www.inklusion-online.net/, ISSN 1862-5088
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Stand: 15.10.2008