25 + Jahre Praxis der Gemeinsamen Erziehung von Kindern in einer Kindertagesstätte

Autor:in - Alrun Schastok
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Zeitschrift für Inklusion-online 01/2006 Zeitschrift für Inklusion (01/2006)
Copyright: © Alrun Schastok 2006

1. Meine ganz persönlichen "25 plus"

"Fritz ist einer von euch. Er wird mit euch lernen. Er wird anders lernen. Manches wird er auch gar nicht lernen. Aber er wird sich für das, was er lernt, genauso anstrengen müssen wie ihr." Mit diesen Worten stellte eine Lehrerin im April 1950 35 Erstklässlern ihren Mitschüler vor.

Fritz war geistig behindert, aber das wusste ich damals nicht. Vier Jahre lang war ich seine Mitschülerin in der Volksschule in einem Dorf in Nordrhein-Westfalen. Unserer Lehrerin gelang es, ihren 36 Schülern und Schülerinnen zu vermitteln, dass jede (r) von uns soviel lernen darf und muss, wie sie (er) kann und dass jede individuelle Leistung Anerkennung finden muss. Nach vier Jahren wechselte ich mit elf anderen auf unterschiedliche Gymnasien. Wir hatten alle die dreitägige Aufnahmeprüfung bestanden. Fritz blieb mit den übrigen in unserer Klasse bis zum Ende seiner Volksschulzeit. Das Wort "geistig behindert" war mir immer noch unbekannt. Dafür hatte ich erfahren, dass Fritz, der nur wenig schreiben und lesen konnte, der allerbeste in unserem Pausenspiel (Schleuderpacken) war. Alle wollten seine Spielpartner sein, und Fritz wusste sehr gut, wen er wählen musste, um als Sieger den Schulhof zu verlassen.

Vielleicht war es diese Erfahrung, vielleicht auch die Behinderung meines Vaters (versteiftes Kniegelenk nach einer Kriegsverletzung), die ich ebenfalls nicht als Behinderung wahrgenommen habe, dass ich die Anwesenheit eines geistig behinderten Kindes, eines blinden Kindes und eines Kindes mit einer schweren Sprachentwicklungsstörung in einer Berliner Regel-Kindertagesstätte (Im Folgenden: Kita) als normal empfand.

Weder meine Grundschulklasse noch diese Kindertagesstätte, in der ich 1973 zu arbeiten begann, waren jedoch Abbild von Normalität. Dieses erfuhr ich einige Zeit später durch Frau Prof. Dr. Jutta Schöler, die ich als Mutter in der Kita kennen lernte. Sie war es, die mir Mut machte, mich zukünftig dafür einzusetzen, dass meine besonderen Erfahrungen Normalität würden, und die meinen beruflichen Werdegang begleitet und unterstützt hat.

Für mich begann eine intensive Zeit des Lernens, die bis zum Ausscheiden aus dem Beruf im Herbst 2005 andauerte. Prägend war dabei für mich nicht in erster Linie die Literatur, sondern die Begegnung mit Menschen (Kolleginnen, Ärztinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Väter, Mütter und Kinder), die als "Betroffene" oder "Professionals" für Integration und damit gegen die bis dahin nahezu ausschließliche Praxis der Aussonderung arbeiteten. Wir beschritten einen Weg, auf dem wir viele mitnehmen konnten - nicht Massen - aber genug, um Spuren zu hinterlassen, denen hoffentlich noch viele folgen werden.

1983 übernahm ich die Leitung der Kita Griesingerstraße in Berlin-Spandau. In Sachen Integration hatte sich in Berlin und vor allem auch in Spandau viel getan.

Ich war fest entschlossen, gemeinsames Spielen und Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung in "meiner" Kita Normalität werden zu lassen. Geholfen haben mir dabei viele Menschen, aber ...

2. ...Adrian war der erste

Es ist Mai 1983. Ich sitze im Büro. Seit einer Woche bin ich Leiterin dieser Kita. Durch ein Fenster kann ich in den Eingangsflur sehen. Ein etwa dreijähriger Junge mit weizenblonden Locken bemüht sich, auf den Kletterturm zu steigen. Für mich fast unerträglich langsam bewegt sich seine Hand auf die nächste Sprosse der Leiter zu, die er jedoch sicher umklammert. Noch langsamer hebt er das linke Bein auf die nächste Sprosse. Es scheint mir schlaff und kraftlos. Der kleine Junge verharrt einen Augenblick in dieser Stellung. Seine rechte Hand ergreift die nächste Sprosse. Das geht schneller. Jetzt muss das rechte Bein folgen. Aber der Junge verharrt wieder in der Bewegung. Ich kann das Zeitlupentempo nicht mehr ertragen. Ich könnte ihm helfen, sein Ziel schneller zu erreichen. Er muss doch verzweifeln bei diesem Schneckentempo! Jetzt kann ich sein Gesicht sehen. Er ist ganz ruhig und gesammelt. Er lächelt nicht, aber er scheint mir irgendwie zufrieden. Ich gehe nicht zu ihm, sondern schaue zu, wie er sich, fast nur durch die Kraft seines rechten Arms hochzieht, sodass endlich beide Füße auf der nächsten Sprosse stehen. In diesem Augenblick ruft eine Erzieherin: "Adrian, kommst du, wir wollen essen!" Adrian erwidert nichts. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Langsam, für mich immer noch quälend, beginnt er den Abstieg. Unten angekommen, dreht er sich um und läuft in die Richtung, aus der seine Erzieherin gerufen hat. Sein Lauf ist holprig und "unrund". Er zieht das linke Bein nach. Nach wenigen Schritten geht es gar nicht mehr. Er fällt. Wieder ist mein erster Impuls: Hingehen und ihm helfen. Doch Adrian hat sich schon aufgerappelt und ist um eine Ecke verschwunden.

Adrian war ein Kind mit einer Behinderung, ein Kind unter Kindern in einer so genannten Laufergruppe. Niemand, weder die Eltern noch die Erzieherinnen, hatte seine Behinderung bis zu dem Zeitpunkt thematisiert. Er bekam keine besondere Förderung. Und doch hatte Adrian etwas, das da sein muss, bevor Förderung wirksam werden kann, die Grundvoraussetzung für alles Lernen. Er besaß die Akzeptanz seiner Eltern, seiner Erzieherinnen und der Kinder seiner Gruppe. So wie er war, durfte er sein. Er wurde beachtet und respektiert.

Ich habe Adrians Entwicklung sechs Jahre lang begleiten dürfen. Er war der erste, der mich gelehrt hat, dass Nichteingreifen und Vertrauen darauf, dass das Kind es allein schafft, eine wichtige pädagogische Intervention ist. Der Gewinn an Selbstwertgefühl, an Ich-Kompetenz ist ungleich höher, wenn Kinder allein eine Schwierigkeit überwinden können. Adrians ruhigen, zufriedenen Gesichtausdruck werde ich nie vergessen.

Adrian folgten viele andere. Jedes von ihnen stellte uns vor neue Herausforderungen, die häufig auch verbunden waren mit Ängsten. Wir haben die Herausforderungen angenommen, nicht nur, weil wir es als unsere ethische und moralische Verpflichtung ansahen, nicht auszusondern, und weil für uns der Begriff Humanität untrennbar verbunden war mit der Akzeptanz von Anderssein, sondern weil wir mit jedem Kind, das wir aufnahmen, auf das wir uns einließen, einen Schatz hoben, der für alle sehr kostbar war, sowohl für unsere Professionalität als auch für unsere Menschlichkeit.

3. Einige exemplarische "Schätze"

Lernprozesse (Tim und Co)

Tim sitzt an einem Tisch im Gruppenraum, sein Gesicht in einer Armbeuge vergraben. Ab und zu seufzt er. In der Bauecke konstruieren vier fünfjährige Jungen eine Burg für die "schwarzen Ritter". Es sind "seine" Jungen. (Nachdem Tim sprechen gelernt hatte, nannte er sie "Meine Kinner"). Sie haben ihn weggeschickt, weil er ihnen immer "alles kaputtmacht".

Tim ist ein fünfjähriger Junge mit einer so genannten geistigen Behinderung und motorischen Störungen. Sein Gang wirkt tapsig. Seine Handbewegungen sind "fahrig". Er kann sie nicht genau steuern. Die Kinder sagen: "Tim kann nicht bremsen." Deshalb gelingt es ihm nicht, Bausteine zu einer Mauer zu stapeln, deshalb wollen ihn "seine" Jungen nicht mitspielen lassen, wenn sie komplexe Konstruktionen erstellen, deshalb ist Tim häufig traurig. In solchen Situationen erfährt Tim Trost von seinen Erzieherinnen und bekommt Spielangebote von Mädchen aus seiner Gruppe.

Zwar lässt er sich meistens nach einer Weile beruhigen, doch die Spielangebote der Mädchen will er nicht annehmen. Zu stark ist der Wunsch, zur Gruppe der großen Jungen und zu ihrem Lieblingsspiel zu gehören.

Erzieherinnen und Ergotherapeutin sind ratlos. Sie sehen zunächst keine Lösungsmöglichkeit für diesen Konflikt. Einerseits respektieren sie das Bedürfnis der Jungen, ungestört bauen zu können, andererseits suchen sie nach einem Spielansatz, der von Tim und "seinen" Jungen gleichermaßen akzeptiert werden kann. In mehreren Fallbesprechungen analysieren sie den Konflikt und entwerfen eine Strategie. Diese sieht vor, Arbeitssituationen für Tim zu schaffen, in denen er seine Stärke zeigen kann. Er soll schleppen dürfen. Das kann er, und es bewirkt bei ihm gleichzeitig eine Regulierung der Muskelanspannung, verbessert sozusagen sein "Bremsvermögen". Wochenlang werden die Gruppenräume aufgeräumt und gründlich "entrümpelt". Kisten müssen von einem Raum in den anderen, in den Keller oder zum Müllcontainer geschleppt werden. Die meisten Kinder finden das lustig und machen mit. Die Erzieherinnen achten darauf, dass Tim die schwersten Kisten trägt und loben ihn für seine Kraft. Tim wird zum "Oberblumengießer" ernannt und schleppt Wassereimer zu den Blumenbeeten. Da auch hier die meisten Kinder mitmachen, bekommen die Beete in dieser Zeit reichlich Wasser. Sogar die Bäume werden mitversorgt. Bei den Einkäufen zieht Tim den beladenen Bollerwagen. Das Schleppen und Tragen macht Tim sehr viel Spaß und zeigt die gewünschte Wirkung. "Schau mal", sagt Susi eines Tages beim Mittagessen, "Tim hat heute fast gar nicht gekleckert!" Die Erzieherin bemerkt, dass "fast gar nicht" etwas übertrieben ist, aber gemessen an dem wüsten Bild, das Tims Essplatz sonst bietet, sieht er wirklich schon fast sauber aus. Sie bestätigt daher Susis Ansicht und erklärt, dass das häufige Tragen von schweren Gegenständen Tim hilft, den Löffel besser halten zu können. Sie erklärt auch noch einmal, dass sie für Tim deshalb ja auch einen anderen Löffel gemacht hätten. "Ja, aus Fimo, damit er schwerer ist und ganz passend für Tims Hand, und wir haben auch alle einen eigenen Griff mit unserer Hand", ergänzt Friederike.

Es vergeht einige Zeit. Dem eigentlichen Ziel, Tim und der Jungengruppe zu einem gemeinsamen Spiel zu verhelfen, scheinen Erzieherinnen und Ergotherapeutin nicht näher gekommen zu sein. Da beobachtet eine der Erzieherinnen, dass die Jungen im Buddelkasten eine Ritterburg bauen - gemeinsam mit Tim.

Tim trägt das Wasser von der Wasserstelle und den Sand aus anderen Buddelkästen in Eimern heran und lädt das Baumaterial prompt und präzise dort ab, wie die knappen Anweisungen der "Konstrukteure", wie

"Hierhin, Tim!" - "Den Sand jetzt zu Pat" - "Ich brauch mehr Wasser!" es anfordern.

Die Frage der Erzieherin danach, was da entsteht, wird ebenso knapp beantwortet: "Siehst du doch, eine Ritterburg!" Eine weitere Frage nach der Rolle von Tim ergibt die Antwort: "Er ist unser Arbeiter." Als die Erzieherin sehr vorsichtig die Begründung für diese Rollenbesetzung wissen möchte, erhält sie ein etwas entnervt klingendes: "Logisch, weil er so stark ist." zur Antwort.

Tim hatte es geschafft. Wir alle hatten es geschafft. In einer der nachfolgenden Besprechungen kamen jedoch noch einmal Zweifel auf. Hatten wir es wirklich geschafft? Nutzten die Jungen Tim nicht nur aus, in dem sie ausschließlich ihm die "Handlangerrolle" zuschrieben? Sollten wir sie gewähren lassen, oder müssten wir intervenieren?

Nach durchaus kontrovers geführter Diskussion kamen wir zu dem Schluss, dass unser Ziel erreicht war. Die Jungen hatten zu einem gemeinsamen Spiel gefunden, in das jeder seine Fähigkeiten einbringen konnte. Tims Fähigkeiten wären seine Kraft und sein Verständnis für Anweisungen. Beides hatten die Jungen entdeckt. Für sie war Tim zum gleichwertigen Spielpartner geworden.

Der Versuch einer Analyse, dieser ersten gemeinsamen, von Erwachsenen unabhängigen, Spielaktion ergibt:

  • Tim zeigte immer wieder deutlich den Wunsch, zu seiner Jungengruppe zu gehören. Er gibt nicht auf und lässt sich nicht durch Spielangebote der Mädchen ablenken. (Beharrlichkeit)

  • Tim konnte seine Gefühle ausdrücken

  • Die Zurückweisung hatte keine persönlichen, sondern sachliche Gründe

  • Die Haltung der Jungengruppe wurde respektiert und zugelassen

  • Tim wurde getröstet

  • Tim wurde Gelegenheit geboten, seine Stärken zu beweisen

  • Tim war mit seinen Aktivitäten sichtbar. Er musste nicht für Therapien die Gruppe verlassen

  • Tims Schwierigkeiten wurden nicht tabuisiert, sondern thematisiert

  • Die begleitenden Erwachsenen haben sich Zeit genommen und nicht aufgegeben

  • Die begleitenden Erwachsenen zeigten Bereitschaft, von den Kindern zu lernen - den Respekt vor so genannten "niedrigen Arbeiten" (Eine Notwendigkeit, um Arbeitsperspektiven z.B. für Menschen mit geistiger Behinderung zu entwickeln).

Im Wesentlichen waren und sind es diese Komponenten, die integrative Prozesse einleiten, und die von Pädagoginnen geleistet werden müssen.

  • Wahrnehmung und Akzeptanz gegensätzlicher Bedürfnisse

  • Gelegenheit für alle Kinder, ihre Fähigkeiten zu beweisen

  • Vertrauen und Zeit

  • Kooperation aller beteiligten Erwachsenen

In der Folgezeit entwickelte die starke Jungentruppe noch mehr gemeinsame Spiele, wie zum Beispiel das "Tims -Autoreifenstapel- mit - dem - Dreirad- umfahren - Spiel" oder "Müllabfuhr". Als Tim mit sechs Jahren gelernt hatte, Dreirad zu fahren, avancierte er vom einfachen Müllmann, der "nur" Müll aufsammeln durfte, zum Müllfahrer.

4. Schlauer werden - Max und das Zahnarztspiel

Eines Tages fragt Julia (4) ihre Erzieherin "Warum sabbert Max eigentlich so?" Sie hatte, weil sie sich davor ekelte, nie neben ihm sitzen wollen. Die Erzieherin überlegt einen Moment, nimmt einen Holzbaustein und fragt: "Wer hat Lust, Zahnarzt zu spielen?" Einige Kinder werden aufmerksam. "Wie geht das?" Die Erzieherin bittet die Kinder, sich einen Baustein zu holen und diesen in den Mund zu nehmen. Peter fragt noch schnell, was das mit Zahnarzt zu tun habe, und Fabian erklärt, dass doch da auch immer was in den Mund geklemmt werde, damit der nicht zuklappt. Bereitwillig und neugierig nehmen die Kinder ihren Baustein in den Mund und verziehen schon nach kurzer Zeit die Gesichter. Die Erzieherin bittet die Kinder, den Baustein noch ein wenig im Mund zu behalten. Einige tun es, einige nehmen ihn heraus. Kommentare wie "IH!" "Da kommt so viel Spucke!" "Ich konnte nicht mehr schlucken!" fallen. Julia bemerkt, dass es bei Peter "überläuft". "Jetzt sabbert Peter auch!" ruft sie erstaunt. In dem anschließenden Gespräch finden die Kinder heraus, dass sie ihre Spucke immer hinterschlucken, dieses aber gar nicht merken. Julia hat plötzlich eine Erleuchtung. "Max sabbert, weil er nicht schlucken kann." Kann er wohl, er kann doch auch sein Essen runterschlucken!" entgegnet Peter. Die Erzieherin bestätigt Peters Ansicht und erinnert daran, dass sie doch herausgefunden haben, vom "Spucke-schlucken" nichts zu bemerken. Fabian meldet sich zu Wort. "Ich glaube, ich weiß es", sagt er ganz aufgeregt. "Also, beim Essen, da merkt Max, dass er was im Mund hat und kann schlucken. Die Spucke merkt er nicht, und deshalb schluckt er auch nicht. Ich meine, er muss was merken, damit er das kann."

Fabian hatte damit den unwillkürlichen Schluckreflex erklärt - die Erzieherin nannte den Kindern diesen Fachbegriff, dem sie ohne Max erst im Biologieunterricht in der Schule begegnet wären. Die Begegnung mit dem Anderssein provoziert viele Fragen, die, wenn sie von den begleitenden Erwachsenen ernst genommen werden, in Lernsituationen umgestaltet werden können, die so und zu so frühen Zeitpunkten nur in der gemeinsamen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung entstehen können

Julia bat einige Tage nach der oben geschilderten Szene zum ersten Mal, neben Max sitzen zu dürfen. Sie wurde zu Max` engster Freundin, einer "Max-Spezialistin". Sie wusste, wie Max sitzen musste, um spielen zu können. Sie wusste, dass sein Malblatt auf dem Tisch festgeklebt werden musste, damit es nicht verrutschte. Sie war die Erfinderin des "Lehrerspiels", bei dem Max die Rolle des Lehrers hatte, der Bewegungen vormachte, die seine Mitspielerinnen nachahmen mussten. Die Beteiligten nahmen das Spiel sehr ernst und versuchten, die durch Max` Spastik für sie sehr komplizierten Bewegungsmuster so genau wie möglich zu spiegeln. Gleichzeitig hatten alle einen Riesenspaß an den Übungen, die Max zu so viel Aktivität anregten, wie sie seine Physiotherapeutin bei ihm nicht erzeugen konnte.

5. Noch schlauer werden - Sehen und messen wie Hanno

"Jetzt sehe ich wie Hanno", sagte eines der Kinder, mit denen ich zu einer nahe gelegenen Badewiese gegangen war. Wir lagen einfach nur so da. Es war Sommer. Die Sonne schien sehr warm auf unsere immer noch feuchten Körper. Ich erinnere mich noch an das Summen einiger Insekten, die Geräusche von Motorbooten, die vorbeiflitzten und die Stimmen der Kinder, die in einiger Entfernung Ball spielten. Hanno war noch immer im Wasser. Er war blind, dennoch konnte er "sehen", wo er sich befand. "Weißt du, kurz bevor das Wasser tiefer wird und mir fast bis zur Brust geht, sind ganz viele kleine Steine und Muscheln auf dem Grund. Der Streifen ist ungefähr so breit wie meine zwei Füße. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich gehe da nicht rüber". Ich machte mir keine Sorgen. Hanno kannte den Weg zu uns genau. Er wusste, wie viele Schritte er brauchte, um den Sandweg an einer bestimmten Stelle zu überqueren. Er hatte diese Stelle gewählt, weil hier der Sand besonders weich war. Die Wiese fand er einfach pieksig. Daher hatte er sie in Hopsschritte aufgeteilt, um bis zu unserem Liegeplatz nicht so oft auftreten zu müssen. Von Hanno haben wir gelernt, Wege nach ihrem Klang oder danach, wie sie sich unter unseren Füßen anfühlen, zu beschreiben. Ihre Länge konnte angegeben werden in Hanno-Schritten, Alrun-Schritten, Hanno-Hopse-Schritten usw. Die Länge eines Zimmers war fünf ganze und eine halbe Alrun oder acht ganze Kiara. Ein Baum hatte den Umfang von einem Florian, ein dickerer den Umfang von zweimal Florian, oder er war Florian + Kiara dick. Wir wurden Meister im Erfinden immer neuer Maßeinheiten.

Hanno war genau wie Max der Auslöser für neue Lernsituationen und den intensiven Gebrauch unserer Sinne. Im Alltag und um den Alltag zu bewältigen, lernten wir, die Welt nicht nur zu sehen. Einmal damit begonnen, konnte ich im Laufe der Jahre beobachten, dass Kinder, die geübt im Gebrauch ihrer Sinne sind, vielfältigere Beurteilungskriterien entwickeln. "Ich mag diesen Baum (Kiefer). Er riecht so gut". "Ich bin gern bei Kim (ein schwer behindertes, blindes Mädchen). Sie ist so warm".

6. Matthias hat`s geschafft - Was ist Leistung?

"Los, Matthias, gleich hast du`s. Ach schade, daneben! Versuch`s noch mal!" So feuert die vierjährige Ilka ihren Freund Matthias an. Sie will ihn ermutigen, den Fußball von seinem Spielbrett zu stoßen. Matthias gefällt das. Er lacht, und gleichzeitig drückt sein Gesicht große Konzentration aus. Matthias hat eine schwere Tetraspastik. Es braucht viel Kraft, um Kontrolle über seine Kopfhaltung zu bekommen. Nur für einige Sekunden gelingt es ihm. Er kann den Ball fixieren. Aber er kann keine Koordination zwischen Augen und Hand herstellen. Immer wieder fährt die rechte Hand über den Ball hinweg. Ruckartig fällt plötzlich sein Kopf nach unten, stößt an den Ball, und der Ball rollt vom Spielbrett. Ebenso ruckartig fährt sein Kopf nach oben. Matthias strahlt, und Ilka jubelt:" Bravo Matthias, du hast es geschafft! Komm, versuch´ es gleich noch einmal." Sie legt ihm den Ball noch einmal auf das Brett, und Matthias ist tatsächlich in der Lage, seinen Kopfball zu wiederholen. Er muss ihn noch viele Male an diesem Tag vorführen, denn Ilka ist eine ehrgeizige Lehrerin und ebenso stolz auf Matthias Leistung wie er. Sie lässt keine Ruhe, bis alle Erzieherinnen und viele Kinder Matthias gelobt haben. Ilka ist fünf Jahre alt wie ihr Freund Matthias. Sie kann als einziges Mädchen aufs Dach der Kita klettern. Sie kann reiten, Rad fahren, im Zahlenraum bis zehn rechnen; sie kennt viele englische Vokabeln und fängt an, zu lesen.

Matthias und Ilka haben uns gezeigt, dass Leistung nur gemessen werden kann in Relation zu den Fähigkeiten und Eingangsvoraussetzungen, die ein Kind im Augenblick mitbringt. Natürlich können sowohl Fähigkeiten als auch Eingangsvoraussetzungen optimiert werden (Therapien, Sprachförderung, Hilfsmittel etc. stehen uns zur Verfügung und müssen genutzt werden). Wichtig ist jedoch immer, die Leistungsbereitschaft zu erhalten, durch den individuellen Kompetenzen angemessene Ziele, durch Anerkennung und Vertrauen. Matthias hat großes Vertrauen zu Ilka. Sie ist ihm eine zuverlässige Freundin. Sie hat ihm Mut gemacht durch ihr Anfeuern und ihm beim ersten Gelingen Anerkennung gezollt. Auch das Ziel hat sie richtig gewählt. Sie wusste von den Erzieherinnen, dass es für Matthias leichter ist, große Gegenstände zu treffen, und sie hatte bemerkt, dass er den anderen Jungen gern beim Fußballspiel zusieht.

Ein anderer wichtiger Aspekt, Leistungsbereitschaft zu fördern, ist die Motivation durch gemeinsames Spiel. (Siehe Beispiel Max)

7. Mein Credo nach "25 plus"...

Kinder mit und ohne Behinderung brauchen Kinder mit und ohne Behinderung

Sie brauchen sie als Vorbild, sie brauchen sie als Gegenüber, als Du, ohne das sie ihr Ich nicht finden können.

Kinder mit und ohne Behinderung brauchen Erwachsene, die ihnen Sicherheit geben und Vertrauen schenken.

Erwachsene, das sind in erster Linie ihre Eltern und wir, die so genannten Profis. Sicherheit für die Kinder gibt es nur, wenn Eltern und wir zusammenarbeiten auf der Basis gegenseitiger Akzeptanz. D.h., auch wir müssen einander respektieren, wie wir sind. Von uns als Profis verlangt das, uns einzufühlen in die Wut, die Verzweiflung, die Trauer von Eltern, die mit der Diagnose einer schweren Behinderung ihres Kindes nach der Geburt allein gelassen wurden mit dem Hinweis auf ein Bündel von Therapien, die unbedingt von Eltern wahrgenommen werden müssten. Nur wenn uns das gelingt, schenken sie uns Vertrauen, das Offenheit zulässt.

Dann können wir, die Profis, schöpfen aus dem Wissen ihres Spezialistentums, denn diese Eltern sind die wirklichen Spezialisten ihrer Kinder. Nie habe ich erlebt, dass Eltern unsere ängstlichen, manchmal naiven Fragen uns als Inkompetenz ausgelegt hätten. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie froh waren über jede Frage und dankbar für jeden nicht gegebenen professionellen Rat. Wenn es jedoch gelang, eine wirkliche Vertrauensbasis herzustellen, fragten die Eltern nach unserer Meinung, weil sie ihnen wichtig war, und diese sie in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen wollten.

Matthias wird im Jahr 2006 schulpflichtig. Im Sommer 2005 bat mich die Mutter um Rat, welche Schule sie für Matthias wählen sollte. Ich gab ihr die Anschriften mehrerer Spandauer Schulen, die seit vielen Jahren erfolgreich Kinder mit Behinderungen integrativ unterrichten, aber auch die Anschriften zweier Sonderschulen mit der Bitte, sich diese Schulen anzusehen. Danach wollten die Erzieherinnen mit ihr die Eindrücke besprechen und auswerten. Matthias Mutter hat sich für eine Grundschule entschieden, in der bereits zwei Kinder mit Down-Syndrom aus unserer Einrichtung unterrichtet werden. Sie hat mit den Erzieherinnen besprochen, dass sie, wenn die Bedingungen einer optimalen Beschulung für Matthias an dieser Schule für das nächste Schuljahr noch nicht geschaffen werden können, von ihrem Recht auf Zurückstellung von der Schulpflicht für Matthias Gebrauch machen wird. Matthias wird dann ein weiteres Jahr die Kita Griesingerstraße besuchen. Er wird seine Freundin Ilka vermissen, die nach der Schule in den Hort geht, der nicht mehr in der Kita sondern in der Schule ist. Aber er hat seine Gruppe, zu der er gehört, und seine Erzieherinnen. Gemeinsam werden sie weiter nach Lösungen suchen, die Matthias mehr aktive Kommunikation und Partizipation ermöglichen, und oft seine zukünftige Schule besuchen. Die Lehrer haben dann die Gelegenheit, Matthias genau kennen zu lernen, um für ihn optimale Lernbedingungen vorzubereiten.

Die Leser und Leserinnen dieses Beitrages werden vieles vermissen. Angaben über Personalschlüssel, Sachmittel, Ausbildung und Fortbildungsmöglichkeiten, räumliche Voraussetzungen, Förderpläne etc. fehlen. Es gibt keine Hinweise auf die historische Entwicklung der Integration in Berlin. Ich habe nicht über den Einsatz von Stützerzieherinnen informiert. Es fehlen Angaben über rechtliche Voraussetzungen etc.

Ich habe das ignoriert, weil es darüber qualifiziertere Aussagen gibt, als ich sie machen könnte. Der Fachbuchhandel, die zuständigen Senatsdienststellen, Landesjugendämter etc. können Auskünfte darüber geben.

Ich wollte mit meinen Erinnerungen Mut machen für die Begegnung mit Anderssein und neugierig machen auf die Bereicherungen, die solche Begegnungen mit sich bringen.

Wenn Sie sich auf eine Pädagogik ohne Aussonderung einlassen wollen, werden Sie in der Lage sein, sich kompetent zu machen, wie alle Eltern von behinderten Kindern, die dieses Thema nicht freiwillig gewählt haben.

8. Weitere Literatur:

Rita Fritzsche / Alrun Schastok (2003): "Ein Kindergarten für alle - Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam ", Hrsg. Jutta Schöler . Beltz Verlag: Weinheim und Basel

Eine Regelkita verändert sich- Ein Weg in Bildern von Alrun Schastok " erschienen in: Zehn Jahre wohnortnahe Integration, Beiträge zur Reform der Grundschule ARBEITSKREIS GRUNDSCHULE - Frankfurt a. Main 1993.

Zur Autorin :

Alrun Schastok studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie leitete über viele Jahre eine Kindertagesstätte, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam spielten und lernten. Sie war zudem tätig in der Fortbildung von Erzieherinnen und ist nun im Ruhestand. Ein Kontakt zur Autorin ist über die Herausgeber von www.inklusion-online.net möglich.

Alrun Schastok

Quelle:

Alrun Schastok: 25 + Jahre Praxis der Gemeinsamen Erziehung von Kindern in einer Kindertagesstätte

erschienen in: Zeitschrift für Inklusion-online 01/2006, http://www.inklusion-online.net/, ISSN 1862-5088

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.06.2008

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