Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure in Prozessen des Übergangs von der Schule in den Beruf

Erste Evaluationsergebnisse der Equal-Entwicklungspartnerschaft "Keine Behinderungen trotz Behinderung"

Autor:in - Kirsten Hohn
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr.28, Dezember 2003, Seite 5 - 12 impulse (28/2003)
Copyright: © Kirsten Hohn 2003

Einleitung

Der Übergang von der Schule in den Beruf von jungen Menschen mit Behinderung wird von Handlungen und Entscheidungen der verschiedenen an diesem Prozess beteiligten Personen und Institutionen mitbestimmt. Dies sind neben den jungen Menschen selbst ihre Eltern, Geschwister und andere ihnen nahestehenden Personen, LehrerInnen, sozialpädagogische MitarbeiterInnen in verschiedenen Lebensbereichen, MitarbeiterInnen im Arbeitsamt, Integrationsfachdienst und anderen Institutionen, politische EntscheidungsträgerInnen u.v.a.m.

Im Rahmen der Evaluation der Equal-Entwicklungspartnerschaft "Keine Behinderungen trotz Behinderung" wurden mit verschiedenen Personen, die in diesen Übergangsprozessen eine wichtige Bedeutung hatten, Interviews geführt. Dies waren Schülerinnen und Schüler einer Schule für sog. Geistigbehinderte und Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus berufsvorbereitenden Qualifizierungsmaßnahmen, deren Eltern, Lehrerinnen und sozialpädagogisch arbeitende Professionelle sowie ArbeitgeberInnen und PraktikumsanleiterInnen. Die unterschiedlichen Perspektiven, subjektiven Erfahrungen, Entscheidungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten und -weisen dieser Prozessbeteiligten, die sich aus den Interviewanalysen ergeben haben, werden im Folgenden dargestellt: zum einen im Vergleich der verschiedenen Interviewtengruppen in Bezug auf ausgewählte Fragestellungen, zum anderen wird am Beispiel von kurzen Interviewsequenzen aus vier Interviews der Vergleich verschiedener Sicht-, Handlungs- und Erfahrungsweisen innerhalb eines Integrationsprozesses dokumentiert. Zum besseren Verständnis werden zunächst das Design und der bisherige Stand der Evaluation erläutert.

Evaluationsdesign

Das Ziel der Evaluation der Entwicklungspartnerschaft ist die Feststellung von unterstützenden und hemmenden Faktoren im Prozess der beruflichen und sozialen Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die im Sozialgesetzbuch IX zur "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" festgeschriebenen Ziele der Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Teilhabe gelegt. Das heißt, es wird der Frage nachgegangen, was aus der Perspektive der SchülerInnen und MaßnahmeteilnehmerInnen Selbstbestimmung und Teilhabe für diese konkret bedeuten und wie dies in den beruflichen Integrationsprozessen bzw. innerhalb der Arbeit der geförderten Projekte umgesetzt und erfahren wird. Entsprechend dem Programm und der Zielsetzung der Gemeinschaftsinitiative EQUAL liegt eine weitere Perspektive der Evaluation auf den Strukturen und der Praxis von Vernetzungen auf den Ebenen der gesamten EP, der einzelnen Teilprojekte in ihren regionalen Strukturen sowie der einzelnen personenbezogenen Integrationsprozesse. Die Frage wird nach den sich aus der Praxis ergebenden Notwendigkeiten von Netzwerkarbeit und zu vernetzenden Institutionen und Personen und den konkreten Umsetzungen und dadurch entstehenden Erfolgen von Vernetzungen auf den verschiedenen Ebenen gestellt. Übergreifende Querschnittsfragen in Bezug auf Gender Mainstreaming[1] und einen Ost-West-Vergleich bestimmen weitere Perspektiven der Evaluation.

Kernstück der wissenschaftlichen Begleitung ist die Durchführung und Analyse von Interviews mit an jeweiligen Integrationsprozessen beteiligten AkteurInnen. Grundlage der bisherigen Interviewanalysen sind 44 Interviews, die zu elf verschiedenen beruflichen Integrationsprozessen geführt und vollständig oder in Kernstellen analysiert wurden. Das heißt, es wurden elf MaßnahmeteilnehmerInnen bzw. SchülerInnen interviewt und jeweils Personen ihres näheren sozialen Umfeldes (meistens die Eltern), mindestens eine bedeutsame Person des (sozial-)pädagogischen Umfeldes sowie einE ArbeitgeberIn oder einE PraktikumsanleiterIn. Mit den InterviewpartnerInnen wurden narrativ konzipierte Interviews geführt, bei denen jeweils der berufliche Integrationsprozess im Mittelpunkt stand.[2] Das heißt mit einer Eingangsfrage nach den jeweiligen Erfahrungen (mit) der Hauptperson des Prozesses - dem jungen Menschen - wurden die jeweiligen InterviewpartnerInnen gebeten, das zu erzählen, was ihnen selbst im jeweiligen Kontext wichtig schien.[3] Das Ergebnis waren längere oder kürzere Erzählungen, die jeweils durch auf die Erzählung bezogene und weitere thematische Nachfragen ergänzt wurden. Eine line-by-line-Interpretation[4] zentraler Kernstellen der ersten Interviews und ein Fallvergleich von verschiedenen Interviews/Interviewsets ermöglicht zwei Analyseperspektiven auf die unterschiedlichen Sicht- und Erfahrensweisen der verschiedenen an den Übergangsprozessen beteiligten AkteurInnen. Zum einen werden die Erfahrungen, Handlungsweisen und Entscheidungen von jeweils unterschiedlichen Beteiligten an einer Situation / einem Integrationsprozess sichtbar, zum anderen lassen sich Spezifika in den Handlungs- und Entscheidensweisen der unterschiedlichen Interviewtengruppen (TeilnehmerInnen / SchülerInnen, Eltern, SozialpädagogInnen / LehrerInnen und ArbeitgeberInnen / PraktikumsanleiterInnen) ausmachen. Diese zwei unterschiedlichen Ebenen der Analyseergebnisse sollen im Folgenden verdeutlicht werden.



[1] "Gender Mainstreaming bedeutet, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt." (Definition der Bundesregierung, vgl. www.gender-mainstreaming.net) Auf die Situation in der beruflichen Rehabilitation bezogen werden im Rahmen der Evaluation z.B. Fragen nach den vorhandenen ungleichen Bedingungen und Erfahrungen von Frauen und Männern gestellt (biografische Erfahrungen von Lebens- und Arbeitsbedingungen, Ressourcenverteilung, geschlechtertypische Normen, Werte und Rollen u.a.); zum Mangel an geschlechtsspezifischer Forschung zum Thema vgl. Orthmann 2000.

[2] zur Methode narrativer Interviews vgl. Schütze 1987; zur Fokussierung biografisch-narrativer Interviews vgl. Hanses 2002.

[3] Eine Differenzierung der methodischen Unterschiede zwischen den Interviews mit den verschiedenen Interviewtengruppen führt an dieser Stelle zu weit und ist zum Verständnis des Folgenden nicht nötig.

[4] "line-by-line" bezeichnet die interpretative Vorgehensweise bei der Textanalyse. Hierbei wird der Text Zeile für Zeile analysiert; es werden Lesarten zu den rekonstruktiven Erfahrungsaufschichtungen und subjektiven Deutungen und Argumentationen entwickelt, die sich in der fortschreitenden Analyse entweder verdichten oder aber als unbedeutsam erweisen.

Perspektiven, Handlungs- und Entscheidungsweisen von verschiedenen AkteurInnen in Prozessen des Übergangs von der Schule in den Beruf

Unter zwei Fragestellungen werden hier die Interviews mit den verschiedenen Gruppen von Prozessbeteiligten (Hauptpersonen, Eltern, SozialpädagogInnen / LehrerInnen, ArbeitgeberInnen / PraktikumsanleiterInnen) vorgestellt: Die Interviews werden zum einen daraufhin verglichen, welcher zentrale inhaltliche Fokus sich darin zeigt, zum anderen welche Bedeutung den jeweiligen rehabilitativen Maßnahmen (Schule / Werkstufe, Qualifikationsmaßnahme, Praktikum) aus Sicht der Prozessbeteiligten zukommt.

Inhaltlicher Fokus der Erzählungen

Im Vergleich der verschiedenen Interviewtengruppen zeigt sich, dass jeweils ein spezieller Fokus in den Erzählungen sichtbar wird. Unter Vernachlässigung der individuell unterschiedlichen Themen und Problematiken lassen sich einige spezifische Perspektiven und Erzählschemata vorläufig generalisieren.[5]

In den Erzählungen der jungen Menschen, die am Übergang von der Schule in den Beruf stehen, sind die eigenen Wünsche und Bedürfnisse ein wichtiger Bezugspunkt. Häufig werden zurückliegende Erfahrungen im Spannungsfeld der Erfahrung von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung erzählt. Das Ziel der Verwirklichung der eigenen Wünsche bestimmt sowohl gegenwärtige Erfahrungen und Auseinandersetzungen als auch die Entwicklung von in die Zukunft reichenden Lebensentwürfen in Bezug auf Arbeit, Freizeit, Wohnen, Partnerschaft und Familie. Das Ausmaß, in dem eigene Wünsche formuliert werden, und das oft schwierige Durchsetzen selbstbestimmter Handlungen und Entscheidungen ist in den einzelnen Interviews unterschiedlich, aber immer sind dies zentrale Gesichtspunkte in den mit den Menschen im Übergang Schule-Beruf geführten Interviews. Gerade im Vergleich mit Interviews, die mit älteren InterviewpartnerInnen (38-55 Jahre)[6] geführt wurden, wird deutlich, dass der Kampf um die Durchsetzung eigener Wünsche und die Entwicklung von Zukunftsplänen bei dieser Gruppe kaum Thema ist. Für sie geht es durchaus um eine neue Positionierung bzw. eine Veränderung der Lebens- und Alltagsorganisation und des beruflichen Lebens, jedoch liegt die Entwicklung eines "eigenen" Lebensentwurfes und die Abgrenzung von fremdbestimmten Vorgaben und Erwartungen viele Jahre zurück. Ob und inwieweit aber davon ausgegangen werden kann, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft primär altersbedingt ist und erst sekundär auf die Erfahrungen mit Behinderungen zurückzuführen ist, bleibt zum gegenwärtigen Stand der Analyse noch offen. Die frühe Institutionalisierung der Lebensläufe der jüngeren interviewten Personen - häufig bedingt durch eine intensive medizinische Betreuung, schulische und freizeitpädagogische Sonderinstitutionen u.a. - rückt aber die Frage nach der Durchsetzbarkeit eigener Wünsche und Bedürfnisse und die Ablösung vom Elternhaus noch einmal in besonderem Maße in den Mittelpunkt, wie auch die Analyse der Elterninterviews zeigt. Die frühe Verlagerung aus den familiären Zusammenhängen in institutionelle Bezüge, in das Miteinander mit anderen Kindern und Jugendlichen sowie mit (sozial)pädagogischen, physiotherapeutischen u.a. Professionellen ermöglicht beim günstigsten Verlauf eine frühe Entwicklung und Formulierung eigener Wünsche sowie die v.a. im schulischen Kontext mögliche gemeinsame Erarbeitung von Umsetzungsstrategien dazu. Dies kann keinesfalls als generalisierte Erfahrung verstanden werden, sondern als positive und vermutlich nicht repräsentative Beispiele, die von interviewten SchülerInnen beschrieben werden. Diese beschreiben, wie sie die frühe Institutionalisierung ihres Lebens für die Verwirklichung von Selbstbestimmung zumindest partiell nutzen können, während die interviewten Eltern, gerade dies als zunehmende Fremdbestimmung erfahren. Andererseits wird in einigen lebensgeschichtlichen Erzählungen auch deutlich, dass die InterviewpartnerInnen das Eingebundensein in familiäre und institutionelle Bezüge als doppelte Bevormundung oder Barriere zur Entwicklung individueller Wünsche und Perspektiven erleben.

Der Fokus in den Elterninterviews liegt in fast allen Interviews auf den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und -spielräumen sowie den eigenen Entscheidungsmöglichkeiten und -zwängen als Eltern. Die Erzählungen der ca. 20 Jahre langen Geschichten spiegeln mehrfach einen allmählichen Verlust von Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten und -feldern wider. Die bereits erwähnte erzählerische Dichte in Bezug auf das Vorschulalter kann als Ausdruck starker Aktivitäten, Handlungen und Entscheidungen der Eltern zu diesen Zeitpunkten verstanden werden. In der Vorschulzeit sind die Eltern häufig gezwungen, wesentliche Entscheidungen für das Leben ihrer Kinder zu treffen: Sie müssen zum Teil mit unterschiedlichen und widersprüchlichen medizinischen Diagnosen umgehen lernen und sich für Behandlungsweisen für ihre Kinder entscheiden. Es folgen die Suche nach einem geeigneten Kindergartenplatz, die Entscheidung zwischen integrativer Beschulung und Sonderschule sowie die Suche nach Möglichkeiten für die eine oder andere Wahl bzw. die Erfahrungen einer nicht vorhandenen Infrastruktur für eine Wahl. Gerade die Eltern, die sich für einen integrativen Schulweg ihrer Kinder entschieden haben oder aber durch "Zufall"[7] die Aufnahme ihres Kindes in eine integrative Schule erreicht haben, beschreiben sich häufig als Vorreiter auf diesem Weg und betonen, dass sie nicht auf bestehende Erfahrungen und Strukturen zurückgreifen konnten. Mit dem allmählichen Verlust an Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten nehmen in den Interviews die erzählerischen Passagen auffällig ab, die Eltern beschreiben spätere Erfahrungen immer mehr als fremdbestimmte Ereignisse und Entwicklungen. Die Eltern schildern diesen Verlust primär als Verlust gegenüber Institutionen bzw. Professionellen (Krankenhaus / ÄrztInnen > Kindergarten > Schule > Berufsbildungseinrichtungen / Arbeitsamt etc.) und sekundär als Verlust bzw. Abgabe der Handlungs- und Entscheidungsaktivitäten an ihre Kinder. Eher selten wird die Abgabe von Entscheidungen und Handlungen an Institutionen oder an ihre Kinder als positiv und entlastend beschrieben.

Neben dem Blick auf die eigenen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten ist bei einem Teil der Eltern aber auch die Verwirklichung der Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kinder und die Herstellung und Erweiterung von deren Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten die Basis ihrer Erzählungen und Argumentationen.

Die LehrerInnen und SozialpädagogInnen als MitarbeiterInnen der Equal-Projekte und -Maßnahmen, die als professionelle ExpertInnen interviewt wurden, erzählen vor allem über die berufliche Integration ihrer SchülerInnen / TeilnehmerInnen. Daneben finden in unterschiedlichem Ausmaß auch Fragen der gesamten Lebensgestaltung Eingang in die Erzählungen. Die Biografieorientierung der LehrerInnen, d.h. der Einbezug der jeweiligen Lebenskonzepte und -erfahrungen und der Wünsche der jungen Menschen in das eigene professionelle Handlungskonzept ist dabei eindeutig höher als bei den sozialpädagogischen MitarbeiterInnen der Qualifizierungsmaßnahmen. Die Gründe hierfür liegen in den strukturellen Bedingungen, inhaltlichen Zielsetzungen und pädagogischen Konzepten der verschiedenen Projekte.

Die Erzählungen der LehrerInnen und SozialpädagogInnen drehen sich zentral um die eigenen Handlungsräume, -möglichkeiten und -aufträge als Professionelle. In der Beschreibung der jeweiligen Situationen schildern sie ihre Aktivitäten im Gespräch mit den Jugendlichen /jungen Erwachsenen, mit ArbeitgeberInnen, Ämtern und Institutionen etc. In all diesen Interviews werden in Bezug auf die SchülerInnen / TeilnehmerInnen immer auch die Veränderungen, Lernprozesse und -erfolge im Rahmen der Maßnahmen beschrieben.

Der Fokus der Interviews mit ArbeitgeberInnen und PraktikumsanleiterInnen liegt einheitlich auf dem Betriebsalltag und den im Betrieb stattfindenden Arbeitsprozessen. Neben der Beschreibung der Arbeitsabläufe finden meist personenbezogene Aussagen zur Leistungsfähigkeit als reales oder potenzielles Einstellungskriterium sowie die Frage nach Wirtschaftlichkeit Eingang in die Darstellungen der Interviewten. Auffällig ist, dass die Orientierung an einer Wirtschaftlichkeit von PraktikantInnen bzw. fest eingestellten Arbeitskräften bei den PraktikumsanleiterInnen (meist AbteilungsleiterInnen) zumindest in den geäußerten Argumentationen wesentlich höher ist als bei den ArbeitgeberInnen, die letztendlich die Einstellungsentscheidungen treffen. Die interviewten ArbeitgeberInnen führen eher ihre eigene soziale Verantwortung sowie finanziell nicht messbare Gründe - z.B. soziale Kompetenzen - als Einstellungsgründe an. ArbeitgeberInnen und PraktikumsanleiterInnen orientieren sich in ihren Erzählungen ebenso wie die anderen Interviewtengruppen an ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten und -aufgaben. Als Professionelle im Arbeitsfeld Betrieb sehen sie ihre Aufgabe vor allem in der Anlernung / Einarbeitung in die fachspezifischen Arbeitsabläufe und andererseits (teilweise) in sozialen Bereichen, d.h. das Gespräch über über die Arbeit hinausgehende Fragen und die Einbeziehung der PraktikantInnen in das soziale Geschehen am Arbeitsplatz (gemeinsames Mittagessen, Geburtstage, Weihnachtsfeier etc.) wird häufig als wichtig erachtet und entsprechend praktiziert.

Bedeutung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation

Alle interviewten Personen sprechen (auch) über die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, die die jungen Menschen durchlaufen. Je nach Perspektive und Rolle in den Prozessen sind dies die Werkstufe einer Sonderschule als schulische Berufsvorbereitung, Qualifizierungsmaßnahmen sowie Praktika, die bei zwei jungen Männern in feste Arbeitsverhältnisse übergegangen sind. Was diese Maßnahmen aus Sicht der Prozessbeteiligten bedeuten, wird im Folgenden zusammengefasst:

Aus Sicht der SchülerInnen bzw. MaßnahmeteilnehmerInnen stellen sich die Maßnahmen als Orte wichtiger Gegenerfahrungen dar: Schule und Qualifizierungsmaßnahmen werden zu Orten, an denen Erfahrungen gemacht werden, die teilweise im familiären Kontext nicht stattfinden (können), in der familiären Realität blockiert werden oder aus anderen Gründen keinen Platz haben. Erfahrungen wie Mobilitätstraining, Probewohnen, gemeinsame Freizeitaktionen sowie verschiedene beschriebene Lernprozesse im Unterricht ermöglichen neue Erfahrungen, die sich vom familiären Alltag vor allem im Maß an Selbstbestimmung unterscheiden. Ein ähnliches Bild ergibt sich an der Statuspassage Schule - Beruf. Auch die Praktikumsorte werden zu Orten der Gegenerfahrung, und zwar in Abgrenzung zur Schule. Von den Praktika wird häufig auf der Ebene eines Zugewinns an Autonomie und Handlungsfähigkeit erzählt. Die von den TeilnehmerInnen beschriebenen Gegenerfahrungen bewirken häufig Neuorientierungen in der Entwicklung von Lebens- bzw. Zukunftsentwürfen.

Eine weitere wichtige Funktion erfüllen die Maßnahmeorte als soziale Orte. Das soziale Setting, das Treffen in peer groups und die kommunikativen Erfahrungen an Bildungs- und Praktikumsort sind in den Erzählungen bedeutsamer als Curricula, Trainings- und Lernprogramme. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Sprachstruktur in den Interviews: Werden die Unterrichts- und Kursinhalte aufgezählt, so werden soziale Erfahrungen erzählt.

Als Folge des Verlustes von Handlungsfähigkeit finden sich in den Interviews mit den Eltern nur wenige Erzählungen in Bezug auf die aktuelle Situation ihrer Kinder im Praktikum oder in einer Bildungseinrichtung, wohl aber Beurteilungen der Maßnahmen, an denen ihre Kinder teilnehmen. Die Beurteilung vor allem des Besuches von Qualifizierungsmaßnahmen wird am Vermittlungserfolg gemessen. Wenn für die Tochter oder den Sohn ein Arbeits- oder langfristiger Praktikumsvertrag herauskommt, werden die Maßnahmen insgesamt besser beurteilt, als wenn dies nicht der Fall ist. In die Beurteilung der Maßnahmen findet zudem die Einschätzung der regionalen und aktuellen Arbeitsmarktsituation Eingang. Gerade Qualifizierungsmaßnahmen werden von den Eltern manchmal als sinnlos eingeschätzt, wenn zugleich eine desillusionierende Einschätzung der allgemeinen und konkreten Arbeitsplatzchancen besteht.

Die Einschätzungen der Praktika und beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen aus Sicht der LehrerInnen und SozialpädagogInnen orientieren sich v.a. an den Lernerfolgen und am curricularen Lernen der SchülerInnen und TeilnehmerInnen. Veränderungen und Lernprozesse stehen im Mittelpunkt ihres Erzählens darüber. Die Beschreibungen erinnern oft an abgefragte Lern- und Leistungsberichte, die zu erstellen üblicherweise zu den Aufgaben dieser Professionellen gehört. Die Schule, der Qualifikationskurs und das Praktikum werden zwar auch als soziale Orte gesehen, jedoch ist dies im Vergleich zu den Erzählungen der TeilnehmerInnen weniger bestimmend. Diese funktionalistische Sichtweise auf vermeintliche betriebliche Anforderungen und Leistungs- und Belastungsfähigkeiten bezieht sich bei den LehrerInnen und SozialpädagogInnen vor allem auf den Bereich Arbeit, bei Fragen der sonstigen Lebensgestaltung - Freizeit, Wohnen, Familie etc. - zeigt sich im Kontrast eine Sicht- und Handlungsweise, die sich wesentlich stärker an den Bedürfnissen der jungen Menschen orientiert.

Die interviewten ArbeitgeberInnen und PraktikumsanleiterInnen beurteilen das Praktikum eindeutig in seiner Funktion als möglicher Wegbereiter in einen längerfristigen Arbeitsvertrag. Die Entwicklung und der gelingende Einsatz fachlicher Kompetenzen der PraktikantInnen sowie die Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit gelten ihnen als Indikatoren eines gelungenen Praktikums. Dazu kommen betriebswirtschaftliche Abwägungen für den Fall der Übernahme eines Praktikanten oder einer Praktikantin. Als Unterstützung werden dabei die Aufklärung über rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Zuschussmöglichkeiten etc. durch begleitende Professionelle eingeschätzt. Fehlende Informationen dazu werden hingegen als entscheidende Barrieren beschrieben. Eine hohe Bedeutung kommt den Erfahrungen mit den sozialen Kompetenzen der PraktikantInnen zu. Die soziale Integration in das jeweilige Arbeitsteam und soziale Lern- und Erfahrungsprozesse des gesamten Teams durch die Beschäftigung der Praktikantin / des Praktikanten beschreiben die ArbeitgeberInnen und PraktikumsanleiterInnen als wesentliche Kriterien in der Diskussion um eine Festeinstellung.[8]

Insgesamt ist die Gruppe der ArbeitgeberInnen und PraktikumsanleiterInnen durchaus heterogen. Unterschiede in der Einschätzung von Praktika bestehen zwischen den interviewten Personen aus den neuen und den alten Bundesländern, aus dem öffentlichen Dienst und der freien Wirtschaft sowie zwischen ArbeitgeberInnen und leitenden Angestellten / AbteilungsleiterInnen etc. Ein Beispiel hierfür ist der unterschiedliche Einbezug der wirtschaftlichen Lage des Betriebes und der Region in die Argumentationen. Die VertreterInnen dieser Interviewtengruppe, die aus den neuen Bundesländern und / oder aus der freien Wirtschaft kommen und / oder die als Angestellte die Praktikumsbegleitung übernommen haben, beziehen Argumente der ökonomischen Rentabilität deutlich stärker in ihre Argumentation ein als diejenigen aus den alten Bundesländern, aus dem öffentlichen Dienst und die ArbeitgeberInnen selbst.



[5] Da weder die Erhebung noch die Analysen der Interviews zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgeschlossen sind, sind gerade die vergleichenden Ergebnisse zu den verschiedenen Interviewtengruppen als vorläufig zu betrachten.

[6] Aufgrund der Zuweisungspraxis des zuständigen Arbeitsamtes einer an der Entwicklungspartnerschaft beteiligten Qualifizierungsmaßnahme haben dort im ersten Kurs überwiegend Menschen zwischen 30 und 55 Jahre teilgenommen, von denen drei ebenfalls in das Interviewsample eingingen.

[7] "Zufall" und "Glück" erweisen sich als häufige Interpretations- und Deutungsschemata von Eltern, die sich in ihrer Suche nach geeigneten Institutionen (v.a. Kindergarten und Schule, später auch berufsbildenden Einrichtungen) kaum an eigene Aktivitäten erinnern. Beispielsweise fasst die Mutter eines heute erwachsenen Mannes den Prozess der Suche nach Kindergarten- und Schulplatz zusammen: "Also das war immer so reiner Zufall und Glückssache".

[8] Zu ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf die soziale Bedeutung von PraktikantInnen für das Betriebsklima, kommen Andreas Hinz und Ines Boban in Interviews mit Vorgesetzten von Beschäftigten mit sog. geistigen Behinderungen in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes (vgl. Hinz u. Boban 2001).

Ein Praktikum als Versuch einer langfristigen beruflichen Integration

Die Perspektivenvielfalt der unterschiedlichen AkteurInnen in den Übergangsprozessen von der Schule in den Beruf, die im vorangegangenen Kapitel im Vergleich der verschiedenen Interviewgruppen dargestellt wurde, wird im Folgenden an einem konkreten Einzelbeispiel veranschaulicht. Im Kontext eines Interviewsets mit / um Inma Jiménez[9] wurden vier Interviews geführt: außer mit der Schülerin Inma Jiménez selbst mit ihren Eltern, ihrer Lehrerin und ihrer Praktikumsanleiterin. Alle Interviewten thematisieren den Beginn eines Praktikums, das Inma Jiménez zum Zeitpunkt des Interviews macht. Im Folgenden werden die jeweiligen ersten Erwähnungen dieses Praktikums in den vier Interviews dokumentiert und miteinander analytisch verglichen. Doch zunächst einige Vorinformationen zur Lebenssituation von Inma Jiménez.

Inma Jiménez wird 1983 als zweite von drei Geschwistern geboren und wächst in einem süddeutschen Dorf auf. Die Eltern berichten von der schwierigen Einschulungsentscheidung. Zwischen integrativem und sonderschulischem Weg haben sie sich damals mangels einer geeigneten Alternative für eine Schule für sogenannte "Geistigbehinderte" entschieden. Erst nachdem Inma einige Monate dort war, haben sie diese Entscheidung als "richtig" bewertet und akzeptiert. Mittlerweile besucht Inma Jiménez die Werkstufe dieser Schule. Bereits in der Oberstufe hatte sie zwei Praktika gemacht - in einem Kindergarten und in einer Druckerei. In der Werkstufe folgten zwei Praktika in der Gastronomie und in einem Verpackungsbetrieb. Diese vier Praktika standen unter der Idee des Kennenlernens verschiedener Arbeitsbereiche und des Ausprobierens eigener Fähigkeiten und der Entwicklung eigener beruflicher Ziele. Als fünftes Praktikum hat Inma Jiménez vor einigen Monaten ein Praktikum im Küchenbereich eines Krankenhauses begonnen, das sie nach anfänglich zwei Tagen pro Woche gesteigert hat. Mittlerweile hat sie einen Vertrag für ein einjähriges Praktikum an vier Tagen in der Woche mit der Option auf eine einjährige Verlängerung. Ziel ist jetzt auch die Vermittlung eines langfristigen festen Arbeitsvertrages.

Inma Jiménez sagt zur Anfangssituation und zur Verlängerung des Praktikums:

Interviewerin (im Folgenden: I): Wie ist denn das im - äh - Krankenhaus dann gewesen, -- wo Sie jetzt sind, - können Sie sich da an den ersten Tag, wo Sie da war'n, erinnern?

Inma Jiménez (IJ): Ja, da hab ich gedacht, das gefällt mir net, aber --- dann wo ich --

ich hab zwei Wochen gemacht,

I: Mhm

IJ: oder 14 Tage, -- naja, und langsam, da langsam, langsam also hat's -- mir gefallen.

I: Mhm

IJ: Und da war ich - zweimal, -- und -- Montag und Freitag --hab's -- hmm, dann dreimal -- dreimal, und jetz ham wir verlängert

I: Mhm

IJ: dann geh ich auch Montag, Dienstag und Mittwoch und Freitag.

I: Mhm -- Und Donnerstag sind Sie hier?

IJ: Mhm.

I: Ja

IJ: Und Samstag, Sonntag dann - die schaffen auch,

I: Mhm

IJ: weil die kranken Leute wollen auch was zu essen haben - so -- und jetzt bin ich auch -- mit dabei, also, des zweite Mal, wo ich -- Samstags - und - Sonntags schaff, a die, wo Samstags, Sonntags schaff', kriegen dafür - einen Tag frei.

Auf die Frage nach dem ersten Tag im Praktikum antwortet Inma Jiménez nicht mit einer konkreten Erzählung oder Erinnerung, sondern mit dem, was in dieser Situation offenbar wichtig und wesentlich für sie war. Nachdem sie ihr letztes Praktikum bereits nach einem Tag abgebrochen hatte, weil sie sich dort nicht wohl fühlte, wird für sie in der neuerlichen Praktikumssituation die Frage zentral, ob es ihr dort gefallen würde. Die Befürchtung, dass es ihr nicht gefällt, löst sich in einem Prozess, den sie durch das dreimalige "langsam" ausdrückt, auf. Im Folgenden kristallisieren sich drei wesentliche Kriterien des Praktikums heraus, deren Relevanz sich an anderen Stellen des Interviews bestätigt: die zeitliche Struktur, der Sinn und die sozialeZugehörigkeit.

Die zeitliche Organisiertheit des Praktikums scheint wichtig für Inma Jiménez. Sie benennt die Wochentage, an denen sie am Anfang und jetzt ins Praktikum geht. Wichtig ist die Steigerung von erst zwei, dann drei, dann vier Tagen in der Woche. Der fünfte Tag der Woche, an dem sie in die Berufsschule geht, ist an dieser Stelle für sie nicht erwähnenswert. Hingegen bekommen die Wochenendtage Samstag und Sonntag eine Bedeutung - auch deshalb, weil es nicht selbstverständlich ist, an ihnen zu arbeiten. Für Inma Jiménez ist das Arbeiten am Wochenende aus zweierlei Gründen wichtig: Zum einen erzeugt die Notwendigkeit der Ernährung der kranken Menschen einen situativen Sinn für sie, der auch in anderen Interviewpassagen eine besondere Bedeutung für sie hat[10], zum anderen ermöglicht ihr die Wochenendarbeit eine weitergehende Zugehörigkeit zum Arbeitsteam ("und jetzt bin ich auch dabei").

Frau Filcher (Praktikumsanleiterin von Inma Jiménez):

I: ... Und ich würde Sie - so als - Praxisanleiterin, die Sie ja von Inma Jiménez sind, einfach bitten, mir mal so zu erzählen, welche Erfahrungen Sie - in diesem Prozess gemacht haben, vielleicht angefangen damit, wann haben Sie sie eigentlich kennen gelernt, und wie ist das dann weiter gegangen? Was is da so alles passiert?

F: Kenne g'lernt kann i jetz gar nimmer sage, -- sie macht auf jeden Fall jetz seit Anfang März dieses Praktikum von diesem Jahr, und vorher war sie ja 'ne längere Zeit zweimal in der Woche da.

I: Mhm

F: Am Anfang ja --- hatma scho g'merkt, dass sie - also --- kaum bela- oder wenig belaschtbar isch un auch vielleicht e bissl ängschtlich war,

I: Mhm

F: hat sich aber, muss i sage, in relativ kurzer Zeit -- bei ihr geändert. Sie fühlt sich wohl bei uns, -- und - ma hat ihr dann auch immer wieder zwischedrin g'sagt "Komm", also "Du muscht oifach a bissle - Dir was zutraue un au mit zupacke", un - ja un - des ging dann eigentlich au ganz gut.

I: Mhm

F: Und - ma muss - e ja - morgens geht's eigentlich relativ gut, und so ab de Mittagszeit merkt ma dann scho, dass irgend so'n bissl -- wieder in e Loch fällt un nochlasst, un dann mussmase halt tatsächlich a bissl wieder anschuppe. Und sage "Komm etzt - e bissel --- wieder was leischte" - und - weil sie soll des ja -- de ganze Tag scho durchhalte, ge

Aus der Intervieweingangsfrage nimmt Frau Filcher, die als Leiterin des Küchenbereiches des Krankenhauses die Praktikumsanleitung von Inma Jiménez übernommen hat, zunächst den Vorschlag der Interviewerin auf, beim Kennenlernen zu beginnen. Gleichwohl stellt sie fest, dass sie die Situation des Kennenlernens gar nicht mehr erinnert. Im Vergleich zu anderen Interviews ist dies auffällig, denn gerade der Vorschlag, mit der Situation des Kennenlernens zu beginnen, wird von anderen InterviewpartnerInnen aufgenommen und mit konkreten Erinnerungen gefüllt. Frau Filcher hingegen stellt hier als wesentlich die Präsenz von Inma Jiménez in der Arbeitssituation fest. Drei Dinge stehen im Zentrum ihrer hier beginnenden Erzählung über das Praktikum von Inma Jiménez: Ihr Fokus liegt zum einen auf den individuellen Fähigkeiten und Grenzen ihrer Praktikantin, zum anderen auf ihrem Wohlgefühl und zum dritten auf ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten und -aufgaben als Praktikumsanleiterin. Die Belastbarkeit und Ängstlichkeit, die Frau Filcher zunächst bei Inma Jiménez konstatiert, weicht "nach kurzer Zeit" einer Veränderung. Diese interpretiert Frau Filcher als Folge auch ihres eigenen professionellen Handelns. Sie tritt mit Inma Jiménez in eine kommunikative Situation, in der sie sie in ihrem Selbstvertrauen zu stärken versucht und zum "Zupacken" auffordert. Das Problem der begrenzten (zeitlichen) Belastbarkeit löst sie, indem sie sie im Mittagstief a bissl wieder anschuppt und sie zum Leisten animiert. Der Bezug auf die Fähigkeiten und Lernprozesse von Inma Jiménez erinnert an einen institutionell abgefragten Leistungsbericht und basiert möglicherweise darauf, dass Frau Filcher als Praktikumsanleiterin nach genau solchen Fähigkeits-, Erfolgs- und Veränderungsmeldungen gefragt wird. Doch geht sie durch die Beschreibung ihrer konkreten Erfahrung in kommunikativen Situationen mit Inma Jiménez über die pure Leistungs- bzw. Lernberichterstattung hinaus. Das für sie entscheidende Problem der mangelnden Belastbarkeit ist für sie im Gespräch mit Inma Jiménez aushandelbar.

Frau Schmidt (Lehrerin):

Die Werkstufenlehrerin von Inma Jiménez, Frau Schmidt, beginnt ihre Erzählung im Interview mit einer Vorstellung des Konzepts, das in ihrer Schule zur beruflichen Eingliederung praktiziert wird. Nachdem Inma Jiménez dem Konzept gemäß mehrere "Schnupperpraktika" gemacht hat, hat Frau Schmidt als Lehrerin die Praktikumsstelle im Krankenhaus von vorneherein mit dem Ziel eines längerfristigen Praktikums in dualer Ausbildung (vier Tage Praktikum, ein Tag Berufsschule über einen Zeitraum von meist zwei Jahren) gesucht. Über das Praktikum von Inma Jiménez dort berichtet sie:

S: Und bei der Inma - äh war's so, dass sie also gleich - äh - sich da sehr wohl gefühlt hatte, obwohl ich also von der Frau Filcher - ähm - gehört hatte anfänglich, naja, sie ist zwar - interessiert und pünktlich und freundlich, -- aber - ja, sie wär - nich so - arg belastbar, sie bräuchte öfters Pausen, -- und äh - aber ab Mittag wär sie eigentlich - kaum noch -- ((lachend)) zu gebrauchen sozusagen, -- dass sie also oft schon um halb zwei heimgeschickt wurde,

I: Mhm

S: weil's einfach, weil jetzt de ganze Tag - für sie einfach zu lang war.

I: Ja

S: Und auch körperlich meinte sie, es wär - sehr schwer für sie, da - die Töpfe zu zu heben,

I: Mhm

S: Ähm und zu säubern, so und - äh - jetzt ma, da fing's an, dassma mit ihr ((lachend)) trainier'n müsste, dass sie körperlich dann einfach -- noch - standhafter wird.

Zunächst einmal stellt Frau Schmidt fest, dass Inma Jiménez sich an der Praktikumsstelle gleich wohl gefühlt habe. Die sich anschließenden Äußerungen über das Praktikum resultieren aus dem kollegialen Austausch mit Frau Filcher und erinnern auch inhaltlich an die dargestellte Sequenz aus dem Interview mit der Praktikumsanleiterin. Anders als jene bleibt Frau Schmidt allerdings in der Form der Leistungsberichterstattung verhaften und erzählt in diesem Kontext nicht die Entstehung einer kommunikativen Situation mit Inma Jiménez. Die funktions- und leistungsorientierten Beschreibungen von Inma Jiménez als "interessiert und pünktlich und freundlich" treten ebenso wie das emotionale Wohlfühlen hinter das auch von Frau Filcher formulierte Problem der nicht ausreichenden Belastbarkeit und fehlenden körperlichen Kraft zurück. Anders als Frau Filcher hat Frau Schmidt nicht die Möglichkeit der sozialen Aushandlung innerhalb der Praktikumssituation, sondern sucht ihre Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten als Lehrerin an ihrem professionellen Ort, der Schule. Ein Fazit aus dem von Frau Filcher erfahrenen Leistungsbericht ist das Trainieren, das Frau Schmidt - wie sich später zeigen wird - zum einen durch die Erhöhung der wöchentlichen Praktikumstage, zum anderen durch die Integration in das Unterrichtskonzept umsetzt. Ihre Sicht- und Handlungsweise basiert auf einer Perspektive der Leistungsfähigkeit, die sie aus dem professionell-kollegialen Kontext übernimmt und mit der sie sich später im Interview an Arbeitsmarktbedingungen orientiert, die sie als leistungsfordernd interpretiert. Die hinter der arbeitsmarktbezogenen Leistungsorientierung zurücktretende individuelle Perspektive von Inma Jiménez hat in der Erzählung von Frau Schmidt in Bezug auf andere Lebensbereiche als der Berufsfindung ein deutlich stärkeres Gewicht. So orientiert sich Frau Schmidt beispielsweise in Bezug auf Wohnen, Freizeit und Familie sehr wohl an den Wünschen von Inma Jiménez, doch scheint im Bereich der unter einem gewissen Erfolgsdruck stehenden Praktikums- und Arbeitsplatzvermittlung eher eine funktionalistische Orientierung an Leistungsanforderungen zu bestehen.

Die Eltern:

Im Interview mit Frau und Herrn Jiménez erzählt zunächst Frau Jiménez von den Schulerfahrungen, geht auf die ersten Praktikumserfahrungen nicht ein und kommt dann auf die "Phase" zu sprechen, in der es für ihre Tochter wichtig wurde, dem Praktikum / der Arbeit einen höheren Stellenwert einzuordnen als dem Schulbesuch:

Frau J.:Juli war - da war - war die Phase, die wollt' - wieder Praktikum was anfangen. Da hat sie so -- des -- zwei Tag', drei Tag' schaffe, dann drei - drei Tag' in der Schule, das war ihr net so recht. Sie wollt' unbedingt - sie wollt' unbedingt mehr, mehr leischte, mehr schaffe

I: Ja

Frau J.: --- von dem her. Und jetz -, wo sie jetz da ag'fange hat seit - Januar, wo sie jetz den Vertrag g'macht hat, ((leiser)) un ich auch so dabei gewesen bin, das Ganze hat sie ja 'ne Weile alleine.

I: Mhm

Frau J.: Die Inma hat jetz zwei Tag' - die Woch -- g'schafft. (3) Zwei Tag'. Und dann -- da hatse den Montag e bissel geschafft,

Herr J.: Isch ja bloß einen Tag ( ).

Frau J.: und das war ihr' schon zu viel, dass sie jetz drei Tag' in der Schule musste. Sie hat jetz

Herr J.: Ja, wollt' sie nicht mehr

Frau Jiménez beschreibt den Wechsel vom zweitägigen Praktikum in das viertägige Langzeitpraktikum quasi aus der Perspektive ihrer Tochter.[11] Sie orientiert sich in ihrem Erzählen an deren Wünschen. So beschreibt sie den Wunsch ihrer Tochter, mehr zu leisten und zu schaffen als ausschlaggebenden Grund für die Intensivierung des Praktikums. Wie ihre Tochter auch bezieht sie sich im Erzählen vom Praktikum zunächst vor allem auf die Arbeitstagestruktur.

Der Wunsch von Inma Jiménez, ihr Praktikum auszuweiten, wird zu einem Thema, das Mutter und Tochter miteinander diskutieren, was folgende von Frau Jiménez erzählte Situation, die sich an die obige Interviewsequenz anschließt, zeigt:

Frau J.: Und da drin --- und dann wollt' sie in der Nähe dann, hab ich g'sagt "Inma, was isch des?" - "Ach, Mama, jetz um sechse - und dann muss ich den Bus nehmen und dann muss ich an Bahnhof. Mir wärs lieber, wenn ich da nur - da aussteig und schaff, un ich weiß, um vier Uhr komm i wieder hoim, un des isch für mi" -- "Nein" - da hab ich gesagt, "jetz warte mal ab, Inma, du. Gucke mal, die mache jetz so viel und wir suchen für Dich", und sie "A, 's isch ja so lang". "Jetz hascht - jetz wart doch, des wird ja auch komme" und so, "Nee!" Und dann kommt sie eines Tages: "Mama, ich hab mit der Frau -- wie heißt se denn? - mit der Frau Schmidt g'sproche". -- Un hab ich g'sagt "Ja, und was hascht g'sagt?" "Ja, mir wär's recht, wenn i- wenn i paar Tag' mehr schaff, un nur weni- - also einen Tag -- nur einen Tag in die Schule und so. - Un mir wär's lieb." Und dann isch des alles da - von allein komme, die Frau Schmidt hat sich so viel bemüht,

I: Mhm

Frau J.: dass sie da nei kommt, un da hä mir - zwei uns erkundigt, ob des überhaupt klappt, und dann (hän wir) - nen Anruf kriegt, und - sie war begeischtert, "Mama, des klappt!" Und -- un von dene her kann ich sage, - ((lauter)) sie isch jetz dahoim überglücklich

I: Mhm

Frau J.: -- Überglücklich. Da hat se g'sagt "Mama, wenn i mein erschte Geld krieg,

Herr J.: ((lacht))

Frau J.: geh'n wir in die Eis- - Eisdiele, un - un - des Geld, des - da

kriegschte Eis", un da - da hab ich g'sagt "Ja".

In der Diskussion mit ihrer Tochter fragt die Mutter sie nach ihrem Grund für den Wunsch das Praktikum auszuweiten. Von diesem Gespräch erinnert sie die kürzeren Fahrtzeiten als von der Tochter genanntes Motiv. Nachdem Frau Jiménez zunächst das Konzept und die konkrete Vorgehensweise der Schule als Basis der weiteren beruflichen Entwicklung ihrer Tochter nennt bzw. vermutet ("die mache jetz so viel"), beschreibt sie dann, wie das aktive soziale Aushandeln von Inma Jiménez mit ihrer Lehrerin letztendlich zum Erfolg im Sinne des Übergangs in ein Langzeitpraktikum führt.

Als Mutter verweist sie ihre Tochter auf die Aktivitäten der Schule, die so viel für sie machen und schlägt ihr eher eine Strategie des Abwartens vor. Weder für ihre Tochter noch für sich selbst entdeckt sie in dieser institutionellen Gebundenheit eine Handlungsmöglichkeit. Die einzige Aktivität als Eltern, die sie beschreibt, ist, dass sie sich "erkundigt" haben, "ob des überhaupt klappt". Doch ihrer Tochter reicht das Abwarten offenbar nicht aus, so dass sie mit ihrer Lehrerin Frau Schmidt die Erweiterung des Praktikums aushandelt. Im Unterschied zu den anderen Interviewpartnerinnen (Frau Schmidt, Frau Filcher und Inma Jiménez) hebt Frau Jiménez die Aktivität ihrer Tochter als entscheidend zur Umsetzung dieses Zieles hervor.

Als positive Auswirkung des Zustandekommens des Langzeitpraktikums beschreibt Frau Jiménez nicht den Arbeitsalltag ihrer Tochter, sondern die Auswirkungen, die dies im familiären Bereich hat ("sie isch jetz dahoim überglücklich") und unterstreicht dadurch die Perspektive ihres Erlebens- und Einflussbereiches als Mutter.

Zusammenfassung der verschiedenen Perspektiven der Akteurinnen im beruflichen Integrationsprozess von Inma Jiménez:

Die hier nur kurzen Ausschnitte der unterschiedlichen Ausführungen der verschiedenen Interviewpartnerinnen zum (beruflichen) Integrationsprozess von Inma Jiménez zeigen bereits, dass die Aktivitäten und die Motivationen für jeweiliges Handeln und Entscheiden sowie die reflexive Einschätzung von erfolgreichen Verläufen individuell teilweise unterschiedlich sind und von den institutionellen, professionellen und familiären Rollen und Positionen sowie ggf. von dem jeweiligen Verhältnis zur Hauptperson - hier Inma Jiménez - abhängen. Drei Unterschiede und Gemeinsamkeiten seien hier noch einmal kurz zusammengefasst:

(1) Als eine Gemeinsamkeit der Erzählungen aller vier Interviewpartnerinnen stellt sich die Betonung der Wichtigkeit des "Wohlfühlens" von Inma Jiménez im Zusammenhang mit ihrem derzeitigen Praktikum dar. Unterschiedlich ist aber z.T. die Perspektive. Für Inma Jiménez selbst entsteht das Wohlfühlen in Abgrenzung zu einer vorherigen Praktikumserfahrung, in der sie sich nicht wohlgefühlt hat. Frau Filcher und Frau Schmidt betonen, dass sich Inma Jiménez im Arbeitskontext wohlfühlt und stellen dies den problematischeren Aspekten des Praktikums voran, womit sie die Wichtigkeit sozialen Wohlbefindens und sozialer Integration im Arbeitskontext betonen. Aus einer ganz anderen Perspektive beschreibt die Mutter, dass es ihrer Tochter durch das Praktikum gut gehe. Sie bezieht sich auf den Erfahrungsraum, den sie selbst mit ihrer Tochter hat und stellt fest, dass sie zu Hause "überglücklich" sei.

(2) Unterschiedlich sind die Einschätzungen der Gründe für das Zustandekommen des Langzeitpraktikums. In Bezug auf die dargestellten Interviewsequenzen wird dies im Vergleich von Mutter und Lehrerin deutlich. Führt Frau Jiménez das Zustandekommen des Praktikums auf die Initiative ihrer Tochter zurück, so führt die Lehrerin Frau Schmidt das Konzept der Schule zur allmählichen Arbeitsintegration durch die Steigerung der Praktikumsdauer als entscheidend an.

(3) In den Beschreibungen der jeweiligen Erfahrungen in Bezug auf das Praktikum werden auch die unterschiedlichen Motivationen der beteiligten Akteurinnen deutlich. Ist für Inma Jiménez der Sinn ihrer Arbeit höchst bedeutsam - nämlich die Essensversorgung der kranken Menschen - so spielt dies in den Erzählungen der beiden Professionellen keine Rolle. Frau Schmidt und Frau Filcher sehen hingegen die messbaren und planbaren Lernerfolge und orientieren ihr professionelles Handeln daran. Den didaktisch aufbereiteten Lern- und Trainingsprozessen misst Inma Jiménez selbst allerdings wenig Bedeutung bei. Von daher benennt sie die Durchführung von Lernprogrammen in Schule und Praktikum zwar, führt sie aber wenig aus und beschreibt keinen individuellen Nutzen daraus.



[9] Namen und andere Daten sind anonymisiert.

[10] Auf die "soziale Bedeutung für Andere [... die sich] u.a. durchs Arbeiten verwirklichen" lässt, weist in vergleichbarem Kontext Klaus Dörner hin (Dörner 2003)

[11] Da Herr Jiménez von einigen Einwürfen abgesehen kaum etwas im Interview erzählt, scheint es mir angemessen, hier nur Frau Jiménez als aktive Sprecherin anzuführen.

Fazit

Insgesamt sollte die Vielfalt an Perspektiven, Erfahrungen und Handlungsspielräumen der verschiedenen AkteurInnen in beruflichen Integrationsprozessen im Groben deutlich geworden sein. Es geht bei deren Analyse vorrangig nicht um das, was wirklich passiert ist, sondern darum wie die unterschiedlichen Beteiligten dies in ihren Erzählungen und aus ihren jeweiligen Perspektiven rekonstruieren. Um eine vernetzte gemeinsame Gestaltung beruflicher Integrationsprozesse erfolgreich im Sinne der Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden zu lassen, ist der Einbezug nicht nur der unterschiedlichen Erfahrungen, sondern auch der subjektiven Deutungen und Interpretationen von Erfahrungen und Handlungsspielräumen notwendig. Dies zeigt sich an dem ausschnitthaften Beispiel der Praktikumsorganisation von Inma Jiménez ebenso wie in der davor dargestellten Zusammenschau der unterschiedlichen Erfahrungen und Handlungsweisen verschiedener AkteurInnengruppen.

Konkret heißt dies:

  • Für Professionelle im Bereich von sozialpädagogischen und Bildungsinstitutionen gilt es, den Wunsch und die Motivation der SchülerInnen oder MaßnahmeteilnehmerInnen zur Grundlage professionellen Handelns werden zu lassen. Wenn es darum geht, bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse z.B. im Unterrichtssetting zu vertiefen, hat das vor allem dann Erfolg, wenn die jungen Menschen selbst in diesen Lernprozessen einen Sinn sehen. Wird aber der Unterrichtsbesuch als Pflicht ohne Mitbestimmungsmöglichkeiten verstanden, dann werden auch die dort stattfindenden Lernprozesse als fremdbestimmtes Lernprogramm schwerlich umgesetzt.

  • Die Sinnerfüllung einer Arbeit als zentrales Element für die Zufriedenheit am Arbeitsplatz, wie sie Inma Jiménez beschreibt, zeigt sich auch in anderen Interviews mit PraktikantInnen und spielt bei der Begleitung beruflicher Integrationsprozesse eine wesentliche Rolle. Im praktikumsbegleitenden Unterricht könnte dies stärker thematisiert und erarbeitet werden.[12]

  • Die familiäre Situation und die Orientierungen der Eltern, die die beruflichen Integrationsprozesse häufig stark beeinflussen, müssen in der professionellen Arbeit berücksichtigt werden.

  • Die Interviews mit den Prozessbeteiligten liefern zahlreiche Beispiele für die Notwendigkeit des gegenseitigen Verständnisses von Erfahrungen, Motivationen und Deutungsmustern. Und sie geben Aufschluss über die notwendigen jeweiligen Handlungsweisen der Beteiligten im Kontext beruflicher Integrationsprozesse. Zu deren Gelingen kristallisiert sich die Vernetzung der beteiligten AkteurInnen und der Einbezug ihrer vielseitigen Kompetenzen innerhalb ihres persönlichen und / oder professionellen Aktionsradius als ein entscheidendes Erfolgskriterium heraus.



[12] Die Frage der Sinnerfüllung wird die weitere Interviewauswertung auch an dem Unterschied von sozialem und materiellem Sinn beschäftigen, der sich als unterschiedliche Deutungsweise zwischen den befragten Frauen und Männern abzeichnet.

Literatur:

Dörner, Klaus: Auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft, in: impulse 27(2003)28

Hanses, Andreas: Angewandte Biographieforschung in der Sozialen Arbeit. Erörterungen zu "Abkürzungsverfahren" biographischer Analysen in praxisorientierter Forschung, in: Sonderheft neue praxis, Empirische Forschung Bd. 1(2002)112-130

Hinz, Andreas u. Ines Boban: Integrative Berufsvorbereitung. Unterstütztes Arbeitstraining für Menschen mit Behinderung, Neuwied / Berlin 2001

Orthmann, Dagmar: Nachschulische Lebensperspektiven lernbehinderter Mädchen. Anmerkungen zum aktuellen Forschungsstand, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 51(2000)108-114

Schütze, Fritz: Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien I, Studienbrief der Fernuniversität Hagen 1987

Kontakt:

Kirsten Hohn

Evaluatorin der EQUAL-EP "Keine Behinderungen trotz Behinderung"

Geschäftsstelle BAG UB

Die BAG UB finden Sie im Internet unter der Web-Adresse: http://www.bag-ub.de

Quelle:

Kirsten Hohn: Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure in Prozessen des Übergangs von der Schule in den Beruf, Erste Evaluationsergebnisse der Equal-Entwicklungspartnerschaft "Keine Behinderungen trotz Behinderung"

Erschienen in: impulse 28, Dezember 2003, Seite 5-12.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.11.2005

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