Auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft

Autor:in - Klaus Dörner
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr.27, September 2003, Seite 26-29. impulse (27/2003)
Copyright: © Klaus Dörner 2003

Auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft

Ich beginne mit einer Wette: Wenn jemand wegen einer akuten psychischen Erkrankung in die Klinik oder wegen einer Straftat ins Untersuchungsgefängnis kommt, und es stellt sich heraus, dass die Freiheitsentziehung auch nur für einen Tag zu Unrecht erfolgt ist, wird jeder von uns mit Recht seine Empörung darüber zum Ausdruck bringen. Ich wette aber, dass keiner von uns - weder ich noch Sie - genauso viel Empörung aufzubringen in der Lage ist, wenn wir hören, dass erwiesenermaßen mehr als hunderttausend Bürger, die wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit in Heimen leben, obwohl sie besser in eigener Wohnung ambulant versorgt werden könnten, also rechtswidrig, weil ohne Erforderlichkeit, im Heim in ihren Persönlichkeitsrechten eingeschränkt werden, ohne über ihre Entlassbarkeit auch nur informiert zu worden - und dies nicht nur ein Bürger, sondern hunderttausend, und nicht nur einen Tag, sondern tendenziell lebenslänglich.

Fazit: Ich und jeder von uns hat noch lange und hart an sich zu arbeiten, bis wir akut Kranken, chronisch Kranken, Behinderten und ganz besonders Heimbewohnern, die wir eher nur als graue Masse empfinden, gleiche Wertschätzung und gleiche Rechte zubilligen, d. h. bis wir uns verfassungskonform verhalten. Dieses unser aller Handicap, an dem wir aufgrund unserer Tradition der hundertfünfzigjährigen Institutionalisierung von Behinderten leiden, bitte ich als den Schatten zu beachten, der über allem liegt, was ich Ihnen nun zu erzählen habe.

Der Titel meines Vortrags bedeutet nicht, dass unsere Gesellschaft je heimlos sein wird, er bedeutet nicht mal, dass dies abstrakt erstrebenswert ist, da es dann als Ideologie neue Opfer der Vereinsamung behinderter Menschen produzieren könnte, wenn nicht unser aller Beziehungsfähigkeit in gleichem Umfang mitwachsen würde; diese Einschränkung gilt auch dann, wenn wir berücksichtigen, dass Schweden in einem Prozess von 50 Jahren zumindest für Behinderte heimlos geworden ist und daher jetzt gesetzlich das Leben von Behinderten in Institutionen - als Massenhaltung von Menschen - verboten hat. Vielmehr bedeutet der Titel - aus Praktiker-Sicht - zweierlei:

Einmal stellt der Titel eine Tatsachenbehauptung dar: Wir sind auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft.

Zum anderen behauptet der Titel, dass dieser Weg ein Prozess ist, dessen Eigendynamik in der Praxis widerwillig dazu zwingt, diesen Weg in Richtung auf Heimlosigkeit weiterzugehen, weil es dazu keine Alternative gibt, wenn wir Sozialprofis den Behinderten und Pflegebedürftigen gegenüber nicht jede Glaubwürdigkeit verlieren wollen; denn es gibt nicht ein bisschen Deinstitutionalisierung; es gibt nur entweder das Paradigma des Hilfesystems mit der imperativen Priorität von Institutionen oder das Paradigma mit der imperativen Priorität ambulant-kommunaler Problemlösungen im Sinne von community care.

Die erste Tatsachenbehauptung, dass wir uns faktisch auf diesem Weg befinden, ist leicht zu beweisen; hier werden wir uns alle einig sein: So schreiben etwa seit dem Bundessozialhilfegesetz von 1961 alle einschlägigen Gesetze das Prinzip "ambulant vor stationär" vor. Zudem gehört es zu den Zielen der Behindertenbewegung, dass alle Menschen mit Behinderungen in eigenen Wohnungen leben sollen. Entsprechend haben wir inzwischen auch verschiedene Finanzierungswege für ambulante Hilfen geschaffen, z. B. das "betreute Wohnen" oder die ambulante Pflege. Schließlich haben auch längst alle einigermaßen ernst zu nehmenden Heimbetreiber mit der Umsetzung dieser Ambulantisierung angefangen, etwa indem sie Bewohner in ausgelagerte Wohngruppen oder in "betreutes Wohnen" weitergefördert haben.

Aber - wie sich gleich herausstellen wird - die Heimbetreiber haben schon mit der Entlassung des ersten und selbstständigsten Bewohner in den kommunalen Raum einen gefährlichen Systembruch begangen. Denn Voraussetzung dafür musste sein, dass dieser Bewohner aus der "grauen Masse" herausgehoben, als Individuum, als einmalige Person wahrgenommen wurde, sodass meine Sorge um ihn die Antwort auf den Befehl seiner sprechenden Augen war. Darüber hinaus weiß jeder aus eigener praktischer Erfahrung, dass die Angst bei der Entlassung des ersten Bewohners sich hinterher als zu groß erwiesen hat und dass man mit jeder Entlassung Elemente einer neuen Professionalität lernt, so dass bald die eine Entlassung die andere und die dritte usw. nach sich zieht.

Aber - und jetzt kommt das Entscheidende - gerade im Maße der fortschreitenden Ambulantisierung droht, im Sinne meiner zweiten Behauptung, die Dynamik dieses Prozesses diesen Erfolg zunichte zu machen; denn alle Heimmitarbeiter, die so mit der Ambulantisierung/Kommunalisierung gesetzes- und verfassungstreu und damit eigentlich doch nur pflichtgemäß anfangen, werden von irgendeinem Punkt an genau dafür bestraft, indem ihnen eine Erkenntnis dämmert, die sie in eine tiefe moralische Krise stürzt, etwa so: "Wenn wir so weitermachen und immer mehr selbstständigere Bewohner entlassen, bringen wir gerade durch diesen Erfolg unser eigenes Vorhaben zu Fall: Denn im selben Maße bleiben die Unselbstständigeren zurück, verdichten sich und bilden zum Schluss eine Konzentration der Unerträglichkeit, was weder für die Betroffenen noch für die Mitarbeiter auszuhalten ist." Alle Einrichtungen, die die Individualisierung und Ambulantisierung ihrer Bewohner wirklich ernst genommen haben, haben diese deprimierende Erfahrung gemacht, und auch uns in Gütersloh hat sie so verzweifelt gemacht, dass wir unsere schwedischen Freunde um Rat gefragt haben, da sie diesen Prozess damals schon fast abgeschlossen hatten. Ihre Antwort lautete: "Auch wir haben vor 10 oder 20 Jahren diese moralische Krise durchleiden müssen, weil auch wir ursprünglich dachten, man könne nur ein bisschen ambulantisieren, was sich aber als Irrtum herausgestellt hat. Nutzt die Krise, um Euch von der Einengung Eures Denkens und Handelns aufgrund Eurer eigenen, inneren Institutionalisierung zu befreien; dann geht es weiter." Und in der Tat führt die Durcharbeitung dieser Krise zu einer verblüffenden Erweiterung der Denk- und Handlungsmöglichkeiten, die ich jetzt in 5 Schritten beschreibe:

1. Zunächst entdeckt man auf diese Weise das bestgehütete Betriebsgeheimnis oder Strukturprinzip aller Heime, Anstalten oder ähnlicher Institutionen, zumindest typischerweise: All solche Einrichtungen funktionieren insgesamt nur dadurch, dass sie sich mindestens zu einem Drittel solche Bewohner halten, die besser und freier auch in einer eigenen Wohnung mit nur ambulanter Betreuung leben könnten, damit mit ihrer Hilfe auch schwierigere Bewohner leichter zu tragen sind.

Wenn man diese Fehlplatzierten nicht über ihre eigentliche Entlassungsfähigkeit aufklärt, sagen sie von sich meist, dass sie gern und freiwillig im Heim sind, schon weil es in einer Institution nie eine wirkliche Wunschautonomie gibt.

Man nennt das "die gesunde Mischung". Dies war in Schweden so ebenso wie in Gütersloh, und inzwischen habe ich in über 50 Heimen, die mich zur Beratung hinzugezogen haben, ein ähnliches Mischungsverhältnis vorgefunden, das mir die Heimleitung in der Regel - natürlich unter vier Augen - auch zugestanden hat. Dies gilt nicht nur für Behindertenheime, sondern auch für Altenpflegeheime, wie das Kuratorium Deutsche Altenhilfe unlängst herausgefunden hat. Nur um diesen Preis ist also das Heim in hohem Maße funktionsfähig, weshalb es auch weise ist, die Bewohnerschaft eher als graue Masse wahrzunehmen und nicht zu individualisieren. Tut man es nämlich doch und nimmt das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Individuums wirklich ernst, dann kommt man zu dem erschütternden Ergebnis, dass von heute ca. 900.000 Heimbewohnern ein Drittel, also 300.000 Individuen oder Bürger nicht nur unnötig, sondern auch rechtswidrig in Heimen sind, womit man täglich gegen die wichtigsten rechtsstaatlichen Verfassungsprinzipien verstößt, etwa gegen die Aufklärungspflicht oder gegen das Erforderlichkeitsprinzip, das die bei Heimaufnahme unvermeidliche Einschränkung von Persönlichkeitsrichtungen nur erlaubt, wenn es keine Alternativen dazu gibt, gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und insbesondere gegen das Instrumentalisierungsverbot und damit gegen die Würde des Menschen, woran absurderweise eine beliebig zu vergrößernde Zahl an Kontrollgesetzen und -behörden nichts ändert - so wirksam ist der eingangs von mir zitierte "Schatten", ein Relikt der vormodernen Ständegesellschaft, das uns immer noch verführt, zumindest zwei Güteklassen von Menschen - mit und ohne Institution - zu unterscheiden.

2. Hinsichtlich der Frage "Was tun?" entsteht nun ein Dilemma: Da man sich schnell darüber einig sein wird, dass auf jeden Fall die Entstehung einer Konzentration der Unerträglichkeit vermieden werden muss, bleiben nur noch zwei Alternativen übrig. Entweder man verzichtet darauf, alle entlassfähigen Bewohner zu entlassen und muss dann auch eigentlich alle bisherigen Ambulantisierungen rückgängig machen. Wegen der gerade entdeckten hohen und allen Beteiligten Sicherheit garantierenden Funktionsfähigkeit des klassischen Heimsystems ("gesunde Mischung") ist dies eine durchaus ernsthafte Alternative. Verwirft man sie jedoch, etwa weil die Menschen des 21. Jahrhunderts eben doch zunehmend mit den Füßen abstimmen oder weil uns die Achtung der Verfassung allmählich doch zu imperativ erscheint, bleibt nur die anfangs erschreckende Alternative, durchzustarten, den ohnehin schon eingeschlagenen Weg zu radikalisieren, ganz gegen die ursprünglichen eigenen Absichten, durchaus widerwillig und zu sagen: Alle oder Keiner; anders ausgedrückt: Alle Behinderten und Pflegebedürftigen müssen dasselbe Recht haben, in der Kommune in einer eigenen Wohnung zu leben, die selbstständigere Mehrheit mit weniger Aufwand ebenso wie die schwierigere Minderheit eben mit einem höheren und, falls erforderlich, mit einem extrem hohen Aufwand. Stellt man sich aber unter diese zunächst einmal utopisch klingende, aber durch die Schrittfolge bloß reformerischer Alltagspraxis erzwungene normative Forderung, die eigentlich eine Über-Forderung ist, ersetzt man also das Paradigma Institution durch das Paradigma Kommune, dann eröffnet eben dies uns Sozialprofis die Chance, uns von bisher noch nicht recht erkannten eigenen inneren Institutionalisierungen zu befreien, vor allem, was unser Menschenbild, unsere ethische Orientierung und unser Rollenverständnis betrifft. Wie sehr dies wiederum die alltagspraktischen Handlungsmöglichkeiten erstaunlich erweitert, hat sich an vielen Stellen, nicht nur in Schweden und nicht nur in Gütersloh (K. Dörner: Ende der Veranstaltung, Neumünster: Paranus 2001) gezeigt. Die anfangs schwindelerregende Über-Forderung verliert zunehmend ihren utopischen Charakter. Daher jetzt:

3. Solange unser Menschenbild noch vom Institutions-Paradigma geprägt ist, werden wir den Pflegebedürftigen und Behinderten in der Regel als höchstes Grundbedürfnis die Selbstbestimmung zusprechen, gerade weil dies dort ziemlich folgenlos ist, da Selbstbestimmung in der Institution weitgehend unmöglich ist. Sobald wir uns aber diesbezüglich deinstitutionalisieren und vom Paradigma der Kommune her denken, kommen wir sehr schnell dahin, dass wir für die Behinderten und die anderen Sorgebedürftigen dasselbe Menschenbild zugrunde legen wie für uns selbst. Dann aber gehen wir nicht von einem, sondern von zwei komplementären zentralen Grundbedürfnissen aus: Auf der einen Seite zwar immer noch das kostbare Grundbedürfnis der Selbstbestimmung und der egoistischen Selbsterhaltung, jedoch auf der anderen Seite auch das Grundbedürfnis, soziale Bedeutung für Andere zu haben, von anderen gebraucht zu werden, notwendig zu sein; denn beide Grundbedürfnisse sind gleichermaßen vital für alle Menschen, ohne beide kann niemand leben. Man muss dies sogar noch zuspitzen: Weil alle Sorgebedürftigen in vielfältiger Weise gezwungen sind, immer wieder Hilfe anzunehmen, ist ihr Grundbedürfnis, Bedeutung für Andere zu haben, noch vitaler als für andere Menschen; gerade weil sie immer wieder nehmen müssen, bedarf ihr Bedürfnis, auch geben zu können, kompensatorisch geradezu einseitiger Aufmerksamkeit von uns Sozialprofis; freilich sind wir - die professionellen "Monopolisten des Gebens" - innerhalb von Institutionen besonders blind dafür, während die besondere Bedeutung dieses Grundbedürfnisses für die Sorgebedürftigen in der Kommune auch bei noch so großer Verdrängungsenergie unsererseits auf die Dauer nicht zu ignorieren ist.

Aus der Fülle möglicher Belege hierfür wenigstens ein höchst praktisches Beispiel: Soziale Bedeutung für Andere lässt sich u. a. durchs Arbeiten verwirklichen: Man ist für seine Kollegen da, identifiziert sich mit seinem Betrieb, grenzt sich von seinem Chef ab und schafft Produkte für unbekannte Dritte. Daher bedarf es für Behinderte in der Kommune nicht nur der Werkstatt für Behinderte, sondern einerseits auch der Integrationsfirmen, zum anderen und noch viel wichtiger des niedrigschwelligsten Arbeitsangebotes der Zuverdienstfirma für besonders schwierige, ängstliche, misstrauische und chaotische Menschen. Wenn man statt in eine fremdverwaltete Tagesstätte in eine Zuverdienstfirma angstfrei nur im Maße seines Bedürfnisses gehen kann, können auch Menschen ohne Isolierungsgefahr in der Kommune wohnen und leben, denen man dies in keiner Weise zugetraut hätte. Ähnlich hat das Kuratorium Deutsche Altenhilfe für die Alterspflegebedürftigen mit dem Konzept der "Hausgemeinschaft" nachgewiesen, dass selbst die Dementesten Bedeutung für andere haben, wenn sie mit Begleitung den Haushalt anteilig selbst bestreiten.

4. Beim Übergang von der Institution zur Kommune kommt es weiterhin - fast von selbst - auch zu einer Deinstitutionalisierung unserer ethischen Grundorientierung. Innerhalb von Institutionen folgen wir in der Regel der Ethik der gleichen und formalen Gerechtigkeit für alle, nicht selten mit der Folge, dass alle dabei emotional zu kurz kommen. In der Kommune hingegen dominiert - nach dem Konzept der community care - eher die Ethik der Sorge: Während der Situation, in der ich mich ausschließlich der einmaligen Person des einzelnen Sorgebedürftigen aussetze, bin ich nur für ihn da, versinkt die restliche Welt in Bedeutungslosigkeit, ausgehend vom jeweils Chancenlosesten, vom Letzten her. Da insgesamt natürlich beide Ethiken - der Gerechtigkeit wie der Sorge - gleich wichtig sind, haben wir beide in unserem "kategorischen Imperativ" zu vereinen versucht, womit wir zudem die europäischen Denktraditionen der Aufklärung und der Bibel vereinigen; er lautet: "Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen stets beim jeweils Letzten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt." Diese Überforderung, die natürlich kein Mensch stets zu Lebzeiten erfüllen kann, was aber auch gar nicht notwendig ist, da es sich eben um eine Norm handelt, hat zunächst den Sinn, zumindest den Kern des sozialen Bereichs der Gesellschaft kategorisch vom marktförmigen Wirtschaftsbereich abzugrenzen, wo es umgekehrt ethisch erlaubt ist, zu investieren, wo es sich am meisten lohnt. Wer den Sorgebedürftigen etwa einen Kunden nennt, hat damit schon eingeräumt, dass er bestrebt ist, den besten Kunden möglichst lebenslang zu halten und zu nutzen und den schlechtesten Kunden an die Konkurrenz abzudrücken. Und wer den Sorgebedürftigen als Verbraucher bezeichnet, hat nicht die absurde Konsequenz bedacht, dass er selbst es ist, der vom Sorgebedürftigen verbraucht wird.

Zum anderen auch hierzu ein praktisches Anwendungsbeispiel: Bei der Ambulantisierung von Heimbewohnern muss ich den Satz, dass ich stets mit dem Letzten beginnen soll, lediglich für wahr halten und ihm immer nur dann folgen, wenn ich gerade die Zeit, die Kraft und die Lust habe. Dann nämlich erreiche ich zwar keine biblischen Verhältnisse, in denen die Letzten die Ersten werden. Ich vermeide aber auch die "Konzentration der Unerträglichkeit", dass nämlich die Letzten als irrationaler Rest übrigbleiben. Vielmehr gelingt es mir dann, diese so genannten Letzten in den Prozess der Ambulantisierung von Zeit zu Zeit einzustreuen, so dass sie mitten unter den anderen sind; das ist das menschenmöglich beste Ergebnis, das zu erreichen ist, das aber auch wirklich erreicht werden kann, wie es in Schweden und an vielen anderen Orten bewiesen worden ist.

5. Schließlich hat es auch noch zur Deinstitutionalisierung der Rolle, des professionellen Selbstverständnisses von uns Sozialprofis zu kommen: Innerhalb der Institution bin ich verantwortlich für die Bewohner im Allgemeinen, was oft genug praktisch darauf hinausläuft, dass ich mich für die Institution selbst verantwortlich fühle. Innerhalb der Kommune hingegen dämmert es mir allmählich, dass ich von den Steuern und Versicherungsbeiträgen der Bürger der Kommune dafür bezahlt werde, dass meine Verantwortung und meine Sorge zu für alle möglichst bekömmlichen Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung oder Pflegebedarf führen. Das hat ungeahnte Auswirkungen; es macht mich nämlich frei für die Aufgabe, das unendlich große Hilfs- und Sorgepotential aller Bürger der Kommune, die auch das Grundbedürfnis der Bedeutung für Andere haben, wiederzubeleben und damit die Kommune von ihrer Kernaufgabe der Daseinssorge her zu rekultivieren. Dies ist im Ergebnis ein Schritt zur Sozial-, Bürger- und Zivilgesellschaft.

Auch hierzu - anstelle eines ganzen Kanons schon entwickelter Strategien - nur ein praktisches Beispiel: Wenn ich eine neue Wohngruppe entlassener Heimbewohner organisiere, habe ich als Erstes auf etwas zu achten, was wegen unserer bisherigen inneren Institutionalisierung meist vergessen wird: Ich habe ein kleines, noch so unbedeutendes, vielleicht nur symbolisches Tätigkeitsfeld für die Neu-Bürger zu finden, durch das öffentlich sichtbar wird, dass sie etwas für die Alt-Bürger, ihre neuen Nachbarn tun. Sie können sich z. B. in den Grünanlagen der Straßengemeinschaft ein wenig ökologisch zu schaffen machen. Sie können sich bereit erklären, die frühere Tradition des Straßenfestes zu übernehmen, oder sie können für eine altersverwirrte Frau in der Nachbarschaft zweimal in der Woche das Einkaufen übernehmen oder auch nur einmal einen Nachmittag präsent sein. Schon eine solche Kleinigkeit hat zumindest drei ungeheuer wichtige und haltgebende Auswirkungen. Einmal gebe ich damit denen etwas vorweg, von denen ich später bei garantiert zu erwartenden Krisen etwas nehmen will, nämlich Toleranz. Zum anderen realisiere ich damit für die Ex-Heimbewohner ein weiteres Feld für ihr so wichtiges Grundbedürfnis, Bedeutung für andere zu haben. Und zum dritten gehe ich mit dieser kleinen Geste in Vorleistung, schaffe ein Modell für die Wiederbelebung von Nachbarschaft, also derjenigen Institution, die in der Kommune immer schon die am meisten haltgebende gewesen ist, da oft die Familie zu klein und die Kommune als ganze zu groß ist; damit zwinge ich zudem alle anderen Nachbarn, zumindest darüber nachzudenken, ob sie nicht auch ein bisschen nachbarschaftlicher werden sollten als bisher.

Es geht also weniger darum, das Abenteuer der Ambulantisierung und Kommunalisierung der Heime wissenschaftlich zu begleiten, sondern noch mehr darum, die damit zusammenhängende Alltagspraxis philosophisch zu reflektieren, um sie so zu erweitern. Man hat dafür das schöne Wort geprägt: "das Heim in die Wohnung holen". Denn es kommt immer wieder darauf an, das Unerträgliche auf so viele Schultern zu verteilen, dass es für alle erträglicher wird, wobei ein bisschen mehr Last auch bedeutet, seinem Leben mehr Gewicht und damit mehr Bedeutung zu geben, wenn jedem - auch den Angehörigen - nur genug Zeit bleibt, seinen eigenen ebenso berechtigten egoistischen Interessen zu folgen.

So glaube ich - abschließend - gezeigt zu haben, dass wir also wirklich - natürlich nur widerwillig - auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft sind, ohne heute schon wissen zu dürfen, ob, in weichem Umfang und wann wir sie erreichen worden. Da es dazu keine reale Alternative gibt, sind wir verurteilt, diesen Weg zu gehen. Wir haben ihn auch unabhängig davon zu gehen, dass die Kostenträger inzwischen errechnet haben, dass insbesondere das bisherige Heimsystem in einigen Jahren irreparabel nicht mehr zu bezahlen sein wird, wir uns also - bei wachsendem Bedarf und abnehmenden Einnahmen - ohnehin nach einem anderen Paradigma umzusehen haben, das den Ansprüchen der Gerechtigkeit und der Sorge gleichermaßen zu entsprechen vermag.

Kontakt

Herr Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner

Nissenstr. 3

20251 Hamburg

Quelle:

Klaus Dörner: Auf dem Weg zur heimlosen Gesellschaft

Erschienen in: impulse Nr.27, September 2003, Seite 26-29.

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Stand: 03.11.2005

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