Selbstbestimmt Leben und berufliche Teilhabe

Vortrag auf der Jahrestagung der BAG Unterstützte Beschäftigung am 28. 11. 2002

Autor:in - Barbara Vieweg
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 25, März 2003, S. 5-10, Vortrag auf der Jahrestagung der BAG Unterstützte Beschäftigung am 28.11.2002 impulse (25/2003)
Copyright: © Barbara Vieweg 2003

1. Selbstbestimmt Leben Begriff und Inhalt

"Selbstbestimmt Leben heißt Teilnahme am täglichen Leben und das Treffen von eigenen Entscheidungen die zu Selbstbestimmung führen." Lex Frieden, 1979. Selbstbestimmt Leben ist ein Prozess der Bewusstseinsbildung, der Entwicklung persönlicher und politischer Entscheidungsbefugnis sowie der Emanzipation. Dieser Prozess befähigt behinderte Menschen, gleiche Möglichkeiten, gleiche Rechte und die volle Teilhabe in allen Bereichen der Gesellschaft zu erreichen. Behinderte Menschen müssen diesen Prozess individuell und kollektiv kontrollieren. Der deutsche Begriff "Selbstbestimmt Leben" leitet sich her aus der von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung geprägten Bewegung behinderter Menschen des Independent Living, wie sie als Bestandteil der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 60-er Jahren entstanden ist. An dieser Stelle möchte ich zunächst einen Blick auf die Geschichte werfen.

1962

Ed Roberts, Student der Politikwissenschaften und Benutzer einer eisernen Lunge, erkämpft nach großem Widerstand die Zulassung zur Universität

Mitte der 60er: Roberts und andere Studenten mit Behinderungen, die seinem Beispiele folgten, gründeten die Rolling Quads, eine politische Aktionsgruppe

1970

Gründung des Programms für körperbehinderte Studenten (PDSP) durch die Aktiven von Rolling Quads ; es gibt Betroffenen Unterstützung bei der Wohnungssuche, politischer Vertretung und der Organisation von persönlicher Assistenz

Judith Heumann gründet Disabled in Action in New York City

1972

Roberts und seine Freunde gründen auf der Basis des PDSP das erste Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Berkeley

Mitte der 70er: Erst Mitte der siebziger Jahre bekam die Bewegung verstärkt einen politischen Charakter durch die Gründung von Krüppelgruppen.

1976

Roberts wird Direktor der kalifornischen Rehabilitationsbehörde und fördert in diesem Amt die Gründung weiterer Zentren in Kalifornien

Ende der siebziger Anfang der achtziger Jahren fahren erste behinderte Aktivistinnen aus der Bundesrepublik in die USA und bekommen Kontakt zur ILB. Diese Impulse treffen in der alten Bundesrepublik auf eine schon bestehende Vereinsstruktur der Behindertenverbände. Zum einen gab es die aus den Kriegsopferverbänden hervorgegangen Verbände, die Elterninitiativen von Eltern behinderter Kinder und Initiativen der Selbsthilfe. Um es hier kurz zu machen, war der Gedanke der Selbstvertretung behinderter Menschen für die Bundesrepublik neu und traf auch ein wachsendes Bedürfnis selbstbewusst auftretender Behinderter, die nach neuen Wege in der Behindertenarbeit suchten. Wesentlicher Impuls war dabei die Schaffung von Alternativen zu Sondereinrichtungen, behinderte Menschen wollten nicht mehr Objekt staatlicher Versorgung sein, sondern Akteur des eigenen Lebens werden. Ein wichtiges Jahr in diesem Zusammenhang war 1981, das UNO-Jahr der Behinderten. Hier meldeten sich erstmals behinderte Menschen provokativ zu Wort, indem sie sich deutlich gegen eine Jubelveranstaltung von Politik und Rehabiliationsträgern aussprachen und auch die offizielle Veranstaltung der Bundesregierung störten. Mit dem "Krüppeltribunal" zum UNO - Jahr der Behinderten fand 1981 ein erster Höhepunkt der deutschen Behindertenbewegung statt. Aus ganz Deutschland kamen behinderte Menschen in Düsseldorf zusammen, um ihre alltäglichen Diskriminierungen und menschenunwürdige Erfahrungen öffentlich zu machen.

1986 wurden die ersten deutschen Zentren für Selbstbestimmtes Leben in Bremen und Hamburg gegründet. In den nächsten Jahren folgten weitere. 1990 gründeten diese Zentren ihren eigenen Dachverband: die Interessenvertretung "Selbstbestimmt Leben" in Deutschland. 1991 verfasste die ISL Resolutionen zum Selbstbestimmten Leben, um erstens Kriterien für ein selbstbestimmtes Leben festzulegen, zweitens einen gewissen Namensschutz zu erreichen und drittens um sich von der konservativen Behindertenpolitik jener Jahre abzugrenzen und ihr Verhältnis zu dieser zu klären. Im Folgenden möchten ich Ihnen diese Grundsätze kurz vorstellen, um dann in einem zweiten Schritt Fragen der beruflichen Teilhabe zu beleuchten:

Den ersten Grundsatz habe ich schon eingangs erwähnt. Selbstbestimmt Leben ist kein statischer Zustand, sondern ein Prozess der Bewusstwerdung des einzelnen behinderten Menschen vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse. Dieser Prozess hat somit eine individuelle und eine politisch-gesellschaftliche Dimension.

2. Punkt der Grundsätze: Zur Verwirklichung eines selbstbestimmtes Lebens müssen gezielte Unterstützung und Beratung von behinderten Menschen für behinderte Ratsuchende angeboten werden.

Hier wird darauf hingewiesen, dass ein selbstbestimmtes Leben sich nicht von selbst einstellt. Beratung von Behinderten für Behinderte, das Peer Counseling, ist erforderlich um behinderte Menschen zur Führung eines eigenverantwortlichen Lebens zu ermächtigen. Viele Behinderte haben ein Leben in Sondereinrichtungen führen müssen oder sind nach einem Unfall oder einer Krankheit mit der Tatsache konfrontiert, dass ihnen das Recht auf Selbstbestimmung beschränkt und ganz verweigert wird. Dies sowohl im Rahmen der Familie als auch durch gesellschaftliche Strukturen wie der Schule, Berufsausbildung oder am Arbeitsplatz bzw. durch den jeweiligen Kostenträger. Durch jahrelange Bevormundung geht das Vertrauen in die Kraft der eigenen Fähigkeiten verloren. Hier können andere behinderte Menschen, die ähnliche Diskriminierungserfahrungen haben, Vorbild sein und einen Prozess der Bewusstwerdung der eigenen Fähigkeiten in Gang setzen.

3. Als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger müssen behinderte Menschen den gleichen Zugang zu den grundlegenden Dingen des Lebens haben. Dazu gehören: Das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Gesundheitsvorsorgung, Hilfsmittel, Dienstleistungen zur persönlichen Unterstützung, Mobilität, Kommunikation, Information, Bildung, Arbeit, politischer Betätigung, Zugänglichkeit aller gesellschaftlichen Bereiche sowie das Recht auf freie Sexualität, Kinder und Frieden.

Vieles erscheint völlig selbstverständlich und nicht der besonderen Hervorhebung wert. Dennoch, solange behinderten Menschen der Auszug aus einem Heim, die Berufsausbildung außerhalb von Sondereinrichtungen verwehrt wird, gilt auch das Recht auf Wohnraum beispielsweise nicht uneingeschränkt. Die Bereiche der Mobilität, Kommunikation, Information werden jetzt mit dem seit 1. Mai in Kraft getretenen Bundesgleichstellungsgesetz geregelt. Trotzdem bestehen in fast allen diesen Bereichen noch Ungleichbehandlungen behinderter Menschen - Diskriminierungen.

4. Die Initiativen für ein selbstbestimmtes Leben sind eine behinderungsübergreifende Bewegung, die sich für die Befriedigung der Bedürfnisse von allen behinderten Menschen einsetzt. Um dies gewähren zu können, müssen behinderte Menschen sich von Vorurteilen befreien, die sie gegen Personen mit anderen Behinderungen als ihrer eigenen haben und das Engagement unterrepräsentierter Gruppen fördern.

Selbstbestimmt Leben muss, wenn es behinderungsübergreifend sein will, sich beispielsweise auch den Menschen mit Lernschwierigkeiten (Menschen mit geistiger Behinderung) zuwenden und einen Teil ihrer Texte und Veröffentlichungen in leichter Sprache abfassen, denn sonst bleibt der Gedanke von Selbstbestimmt Leben ungehört und damit wirkungslos. Behinderungsübergreifend auch deshalb, weil die Erfahrung der Diskriminierung fast allen Behinderten gemeinsam ist und diese Erfahrung nicht immer auf eine konkrete Behinderung zurückgeführt werden muss.

5. Behinderte Menschen müssen alle Voraussetzungen bekommen, die ihnen gleiche Chancen, wie sie Nichtbehinderte haben, einräumen und ihnen damit eine volle Teilhabe am Leben der Gemeinschaft ermöglichen, indem sie ihre Bedürfnisse, die Kompensationsmöglichkeiten und den Grad der Kontrolle über die notwendigen Dienstleistungen selbst bestimmen.

Behinderte Menschen müssen Zugang zu allen Entscheidungen haben, die sie selbst betreffen. Hier sind alle Vorhaben verdienstvoll, die den Weg finden von einer institutionellen Hilfeplanung zu einer individuellen, am einzelnen behinderten Menschen orientierten. Nicht die Institution darf im Mittelpunkt stehen, sondern der behinderte Mensch mit seinen Fähigkeiten. Gerade die Methode der Persönlichen Zukunftsplanung, wie sie durch die BAG UB gefördert wird, trägt dazu bei, dass behinderte Menschen eigene Bedürfnisse artikulieren lernen und damit auch die Institutionen verändern, mit denen sie es zu tun haben. Wichtig ist auch die Kontrolle über die notwendigen Dienstleistungen. Eine Dienstleistung, die ein behinderte Mensch selbst kontrolliert, wird eine bessere, wirkungsvollere Dienstleistung werden und nicht so sehr der Gefahr der Verselbständigung unterliegen.

6. Kinder mit Behinderung müssen von ihren Familien und der Gesellschaft dahingehend unterstützt werden, dass sie ein eigenständiges Leben entwickeln können. Unsere Bürgerrechtsbewegung für ein selbstbestimmtes Leben lehnt den Aufbau und Erhalt von Einrichtungen ab, die behinderte Menschen durch Aussonderung diskriminieren oder durch ihre Angebote in besondere Abhängigkeit bringen und halten.

Hierbei handelt es sich um eine Weiterführung des unter 5. genannten Grundsatzes. Soviel ambulante Angebote wie möglich. Sondereinrichtungen sollten zukünftig die Ausnahme darstellen, da sie behinderte Menschen nicht mit allen ihren Fähigkeiten fördern können und der behinderte Mensch immer gezwungen wird, sich den Maßstäben einer solchen Einrichtungen zumindest anzupassen, wenn nicht unterzuordnen. Nun kommt hier oft der Einwand, dass auch nichtbehinderte Menschen sich anpassen und unterordnen müssen. Nur betrifft dies nicht existentielle Lebensbereiche wie Wohnen und Leben und zwischenmenschliche Beziehungen. Deshalb beinhaltet diese Forderung nicht mehr und nicht weniger als die Chancengleichheit behinderter Menschen gegenüber ihrer nichtbehinderten Umwelt.

7. Behinderte Menschen müssen die Möglichkeiten haben, sich selbst in der Forschung, Entwicklung, Planung und im Treffen von Entscheidungen in allen Bereichen und Angelegenheiten, die ihr Leben berühren, zu engagieren. Entscheidungen, die die Belange behinderter Menschen betreffen, dürfen nicht ohne Beteiligung derselben getroffen werden.

Welche Entwicklungen hier mit dem Sozialgesetzbuch IX eingeleitet worden sind, möchte ich dann noch in einem separaten Punkt aufgreifen.

Auf einer kürzlich in Köln stattgefundenen Tagung zum Thema "Selbstbestimmt Leben in Deutschland eine Zwischenbilanz mit Blick nach vorn", haben wir festgestellt, dass der Begriff SL in den letzten 10 Jahren sehr viel Veränderung zu Gunsten behinderter Menschen bewirkt hat, Selbstbestimmt Leben hat vieles Erreicht, hat selbstbestimmte Lebensformen behinderter Menschen gefördert und wurde aber auch von traditionellen Anbietern der Behindertenhilfe aufgegriffen. Hier müssen wir dann doch feststellen, dass nicht überall, wo "SL" draufsteht, auch "SL" drin ist.

Der Begriff klingt modern, scheint den behinderte Menschen in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu rücken und SL wird seit einigen Jahren auch von der Politik gefordert. Dennoch bleibt festzuhalten, dass viele Einrichtungen, in denen behinderte Menschen leben, lernen und arbeiten, diesen Begriff verwenden, ganz zentrale Anforderungen an das Selbstbestimmte Leben behinderter Menschen aber nicht zu leisten vermögen. Hauptursache ist oft, dass die Interessen der Institutionen so wirkungsmächtig, so dominant sind, dass auf die dort Wohnenden, Lernenden oder Arbeitenden ein erheblicher Anpassungsdruck ausgeht, der das Vertrauen in die Kraft der einen Fähigkeit nur unzureichend entwickelt.

Selbstbestimmt Leben ist natürlich hier von mir in gewisser Weise auch idealtypisch dargestellt worden, oft wird es sich aus individueller Sicht um eine Annäherung an selbstbestimmte Lebensformen handeln, dennoch ist es mein Anliegen, gegen eine schleichende Verwässerung des Begriffes anzukämpfen. Hier noch einmal die zentralen Punkte:

  • Der behinderte Mensch steht im Mittelpunkt und zwar mit seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten.

  • Behinderter Menschen benötigen Unterstützung und Beratung bei der Entwicklung selbstbestimmter Lebensformen. Besondere Bedeutung haben dabei selbstbehinderte Beraterinnen, die durch ihre Vorbildrolle den Emanzipationsprozess positiv beeinflussen.

  • Behinderte Menschen müssen an allen Entscheidungen, die sie selbst betreffen, mit wirken können und dies in der ihnen möglichen Form.

  • Behinderte Menschen müssen in politische Entscheidungsprozesse eingreifen und diese gestalten können.

2. Individuelle und gesellschaftspolitische Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben

Wie bereits ausgeführt, ist der Prozess des selbstbestimmtes Lebens eine Entwicklung in individueller und gesellschaftlich-politischer Hinsicht.

Berufliche und berufsbildende Angebote für behinderte Menschen müssen die individuelle Situation berücksichtigen. Ich zitieren hier im Folgenden Lothar Sandfort: " Sonderpädagogik in Schulen und insbesondere in der Berufsbildung hat den Betroffenen ihre eigene Behinderung eher als zu überwinden" vermittelt, als Grund zur Besonderung und Grund zu besonderer Anstrengung. Behinderung wurde zum Feind, den es zu besiegen galt. Emanzipatorische Modelle richten sich auf Versöhnung mit den entfremdenden behinderten Anteilen der eigenen Persönlichkeit und auf grundsätzliche Annahme der körperlichen, geistigen und seelischen Gegebenheiten." Hier geht Emanzipation über reine Integration hinaus. Integration vermittelt in diesem Zusammenhang zu sehr den Vorgang der Anpassung an die Nichtbehindertenwelt. So verdienstvoll die Integrationsbewegung mit ihrem Grundgedanken der Normalisierung gewesen ist, wurde Behinderung dort nicht als besondere Eigenschaft, vielleicht auch Fähigkeit eines Menschen betrachtet. Behinderung war die Eigenschaft, die eine Regelbeschulung, Regelberufsausbildung verhinderte. Dieses Denken wurde von vielen, geraden auch jungen behinderten Menschen, verinnerlicht. Damit wurde das Vertrauen in die Kraft der eigenen Fähigkeiten teilweise verschüttet. Wir sprechen deshalb jetzt eher von Emanzipation, weil wir damit dem Prozess des "Ability Mainstreaming" fördern wollen. Was ist unter Ability Mainstreaming zu verstehen? "Die Orientierung an den Fähigkeiten, Kenntnissen und Ressourcen des behinderten Menschen soll Eingang finden in alle Bereiche, die behinderte Menschen fördern wollen. Dazu zählen wir insbesondere auch Integrationsfachdienste, Integrationsfirmen, Werkstätten für bM, Behörden die Förderungen ausreichen usw. usf.. Ein konsequentes Umdenken vom defizitorientierten Beurteilen der "Resterwerbfähigkeit" hin zu individuellen Regellösungen der beruflichen Eingliederung. Bei der beruflichen Teilhabe behinderter Menschen soll es nicht mehr vordergründig um die Überwindung der Behinderung mittels Berufstätigkeit gehen. Die Behinderung ist ein wesentliches Merkmal der Persönlichkeit, die einen Platz im Erwerbsleben sucht. Diese "Versöhnung" mit der Behinderung wird dann wohl auch dazu führen, dass ein Arbeitsplatz nicht nur gewonnen wird, sondern das der behinderte Mensch diesen Arbeitsplatz auch behalten kann. Die Untersuchung zum Modellprojekt der IFD hat beispielsweise gezeigt, dass für einen Teil der zu vermittelnden Behinderten die fehlende Motivation ein schwieriges Hemmnis für die Arbeitsplatzvermittlung darstellt. Behinderte mit fehlender oder schwacher Motivation haben aus unterschiedlichen Gründen das Vertrauen in die eigenen Kraft verloren, erleben ihre Behinderung als Feind, der sie an einem gleichberechtigten und erfolgreichen Berufsleben hindert. Da der Erfolg sich nicht einstellen will, gelingt keine erfolgreiche berufliche Teilhabe. Es besteht eine geringe Frustationstoleranz, da aus anderen Erfahrungen heraus die Erkenntnis gewachsen ist, dass Schwierigkeiten schnell zum Ausschluss führen. Behinderte Menschen müssen gestärkt werden, Schwierigkeiten zu überwinden. Ein starkes Selbstbewusstsein setzt die Annahme der Behinderung voraus, damit können auch Konflikte besser bewältigt werden. Hier greift die im Sozialgesetzbuch IX formulierte Aufgabenstellung der IFD leider oft zu kurz, da dort im Vordergrund die Vermittlung auf den Arbeitsmarkt steht und der behinderte Mensch mit seinen Stärken und Schwächen zu kurz kommt. Eine erfolgreiche Vermittlung richtet sich an der Verweildauer auf der Arbeitsstelle aus, diese Dauer ist jedoch oft zu kurz, um eine erfolgreiche berufliche Teilhabe beurteilen zu können. Die Aufgabenbeschreibung der IFD lässt kein ganzheitliches Beratungsangebot zu. Anfangs habe ich hervorgehoben, wie wichtig Beratung und Unterstützung für die Entwicklung selbstbestimmter Lebensformen Behinderter ist. Hier sollte die lokale und regionale Zusammenarbeit mit Beratungsstelle für Behinderte gepflegt werden, um den vermittlungssuchenden behinderten Menschen ein Unterstützungsangebot zu öffnen, das die ganze persönliche Situation berücksichtigt, insbesondere auch die vielen beruflichen Niederlagen, die zu einer erschwerten Vermittlung geführt haben.

Hier verzahnen sich die individuellen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben mit den gesellschaftlichen, denn nur durch entsprechende Rahmenbedingungen haben behinderte Menschen die Möglichkeit Chancengleichheit zu erlangen.

3. Forderungen und Anforderungen die Umsetzung des Sozialgesetzbuches IX

Gleichzeitig gibt es aber auch ein Prozess, der zunächst unabhängig von persönlichen Fragen behinderter Menschen ist.

Das Sozialgesetzbuch IX stellt einen wichtigen Meilenstein in der Behindertenpolitik der Bundesrepublik dar. Es fasst alle für die Rehabilitation und Teilhabe relevanten gesetzlichen Vorschriften zusammen. Der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz, die Einrichtung der Integrationsfachdienste oder Integrationsfirmen, die umfassenden Beteiligungsrechte sind Zeichen eines beginnenden Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik. Gegenwärtig müssen wir aber bei der Einführung des SGB IX erfahren, dass dieses Gesetz gegen den teilweisen Widerstand der Reha-Träger eingeführt wurde. Die Anfangsdiagnose (aufwändige Zuständigkeitsprüfung, der Antragsteller fühlt sich den Behörden oft ausgeliefert, mangelnde Zusammenarbeit der Reha-Träger auf Kosten des behinderten Menschen, fehlende Einbeziehungen der Jugend- und Sozialhilfe...) die zu einer Neufassung des Reha-Rechtes in einigen Punktes geführt hat, wurden von den Reha-Trägern nicht geteilt. Eigentlich alle Regelungen, die die Rechte behinderter Menschen stärken, stoßen auf den nicht unerheblichen Widerstand der Reha-Träger. Deutlich wird das an der Auslegung des § 9 und § 17 (Wunsch- und Wahlrecht des Versicherten, persönliches Budget). Es ist kaum davon auszugehen, dass die Kostenträger hier mit innovativen Vorschläge vorangehen wollen. Gerade bei der Frage der ambulanten Erbringung von Leistungen, die in der Regel bisher stationär erfolgten, werden die Reha-Träger ihren Widerstand entgegenbringen. Wann wird der erste Mitarbeiter der Werkstatt für bM mit seines Tagessatz als Rucksack eine Stelle auf dem freien Arbeitsmarkt annehmen? Hier existieren umfangreiche Vorbehalte gegenüber den Kompetenzen behinderter Menschen, deren Angehören oder Unterstützungspersonen. Seitens der Reha-Träger gibt es eine - vielleicht auch verständliche - Scheu, offene Angebote als Alternative zu stationären Maßnahmen zu finanzieren. Diese Scheu rührt wohl auch daher, dass die Landschaft der beruflichen Teilhabe dann bunter und vielfältiger wird. Diejenigen, die sich für solche offenen Angebote auch in Modellprojekten einsetzen, müssen die Chance erhalten ohne großen quantitativen Erfolgsdruck neue Wege auszuprobieren, gleichzeitig müssten aber auch die Kostenträger Angebote unterbreiten, wie eine Qualitätskontrolle jenseits von Erbsenzählerei stattfinden kann.

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen der im Deutschen Behindertenrat zusammengeschlossenen Verbände und den Reha-Träger über die Ausgestaltung der Beteiligungsrechte der Behindertenverbände im Rahmen der Erarbeitung der gemeinsamen Empfehlungen gm. § 13 SGB IX zeigt zweierlei:

  1. Die Reha-Träger sind kaum bereit den Willen des Gesetzgebers in diesem Punkt umzusetzen und

  2. behinderte Menschen werden von ihnen immer noch nicht als gleichberechtigte Partner und als Kundinnen und Kunden eines gegliederte Reha-Systems begriffen.

Nach wie vor gibt es noch nicht ausreichende Möglichkeiten Selbstbestimmten Lebens Behinderter in allen Bereichen der beruflichen Teilhabe, hierbei insbesondere bei stationären Einrichtungen.

  1. Gegenwärtig können behinderte TeilnehmerInnen die Angebote / Dienstleistungsangebote (viele Reha-Träger tun sich mit dem Gedanken schwer, dass sie Dienstleister für Behinderte sind) zu wenige beeinflussen und mitgestalten.

  2. Zu oft muss sich der behinderte Mensch auf einige wenige Berufe hin testen lassen, ohne dass seitens des Anbieters der Blick auf die Fähigkeiten des Menschen gerichtet wird.

  3. Hieraus kann es u. E. nur eine Schlussfolgerung geben: neue Wege beschreiten, auch wenn sie zunächst so überhaupt nicht in die bekannten Förderwege passen wollen. Behinderte Menschen ernst nehmen, ihre (Selbst-) Vertretungsrechte stärken, sie nicht zu einer vordergründigen Anpassung an die nichtbehinderte Umwelt bewegen (hier besonders bei jungen Menschen) - auch wenn dies mit den besten (förderpädagogischen) Absichten geschieht.

  4. Behinderte Expertinnen und Expertinnen müssen als MitarbeiterInnen für das Reha-system gewonnen werden. Auf ihre Funktion als Vorbild und Motor sollte nicht länger verzichtet werden. Das könnten wir uns als ein weiteres Qualitätskriterium vorstellen.

Die ISL e. V. ist Träger einer Equal-Entwicklungspartnerschaft mit dem Namen OPEN DOORS. Mit diesem Projekt wollen wir den Nachweis erbringen, dass behinderte Menschen auch selbst Dienstleistungen zur beruflichen Teilhabe entwickeln können. OPEN DOORS mit 9 Partnern aus den verschiedenen Selbstbestimmt Leben-Zusammenhängen im ganzen Bundesgebiet will Alternativen / Ergänzungen entwickeln zu bestehenden Angeboten. So beim Übergang von der Schule in den Beruf, Aktivierung und Sensibilisierung von Arbeitgebern und Multiplikatorinnen, Bildung von Expertennetzwerken, Entwicklung neuer Berufsbilder für Behinderte.

OPEN DOORS will das von mir schon angeführte Ability Mainstreaming weiterentwickeln, in verschiedene Praxisfelder überführen und damit den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik fördern.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Der BAG UB ist es wesentlich zu verdanken, dass in den Fragen der beruflichen Teilhabe Behinderter neues Denken eingezogen ist.

Kontakt:

Barbara Vieweg

ISL, Interessenvertretung

Selbstbestimmt Leben

Tel: 03641 / 234795

Fax: 03641 / 396252

eMail: mailto:bvieweg@isl-ev.org

Quelle:

Barbara Vieweg: Selbstbestimmt Leben und berufliche Teilhabe.

Vortrag auf der Jahrestagung der BAG Unterstützte Beschäftigung am 28.11.2002

Erschienen in: impulse Nr. 25, März 2003, S. 5-10

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.08.2006

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