Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft - Grundlage für selbstbestimmtes Leben

Chancen und Möglichkeiten für die Arbeit von Menschen mit Behinderungen

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 14, Dez. 1999 impulse (14/1999)
Copyright: © Ilja Seifert, Jürgen Hildebrand 1999

Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft

Ausdruck und zugleich Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben ist die volle Wahrnehmung der Menschen- und Bürgerrechte. Das ist mehr als Nichtdiskriminierung und samariterhafte Obhutspolitik. Es geht um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen.

Als Wertmaßstab für eine auf Chancengerechtigkeit gerichtete Politik versteht die PDS die UN-Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte (Standard Rules) vom 23. Dezember 1993, die auch von der Bundesrepublik unterzeichnet wurden.

Frauen und Männer mit Behinderungen müssen befähigt werden, ihre Menschenrechte besonders im Bereich Beschäftigung wahrnehmen zu können. Das bedeutet Chancengleichheit bei der Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dazu gibt es eine Vielzahl verschiedener finanzieller, steuerlicher, persönlicher oder technischer Unterstützungen, Formen und Möglichkeiten, die mit unterschiedlichem Erfolg umgesetzt werden.

Hauptziel müssen aber immer die Vermittlung in, Begleitung und die Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sein. Es geht um verstetigte, also dauerhafte Arbeitsverhältnisse. Dazu bedarf es verschiedenster Formen der Assistenz.

In den Bundesländern laufen dazu unterschiedlichste Projekte und Modellversuche, um nicht nur die 191.166 offiziell ausgewiesenen arbeitslosen Menschen mit Behinderung (SOZIALPOLITISCHE UMSCHAU 1999, 17) bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen zu unterstützen.

Dazu gehören nicht zuletzt Integrationsfachdienste.

"Modellversuche Integrationsfachdienste", die von der bayrischen Sozialministerin Barbara Stamm als "neue Kultur der Behindertenarbeit" (Fränkischer Tag vom 19.05.1998) gesehen werden, bedürfen nach Auffassung der PDS neben der notwendigen Diskussion ihrer strukurell-organisatorischen Aspekte einer grundsätzlichen Klarstellung ihrer philosophisch-politischen Voraussetzungen, Bedingungen und Komponenten im Rahmen der allgemeinen Beschäftigung, damit es tatsächlich zu einer neuen Kultur des Umgangs miteinander kommt.

Die Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) will auch unter diesem Gesichtswinkel mit ihrem Antrag an den 14. Deutschen Bundestag "Zur Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, zu deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile (Teilhabesicherungsgesetz - ThSG)" einen Beitrag zum grundlegenden Verständnis der Stellung von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft, zu ihrer tatsächlichen gleichberechtigten Teilhabe und einer chancengleichen Beschäftigungspolitik für Menschen mit Behinderungen leisten.

Als Voraussetzung für eine chancengleiche Teilhabe am Arbeitsleben der Gesellschaft muß sich deshalb in der Diskussion solchen grundsätzlichen Fragen gestellt werden wie:

  • Auf welche Art und mit welchen Mitteln wollen Politik, Gesellschaft und ihre einzelnen Strukturelemente die uneingeschränkte Geltung der Menschen- und Bürgerrechte für Menschen mit Behinderungen sichern?

  • Erkennt die Gesellschaft die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben der Gemeinschaft durch Abbau und Verhinderung von Barrieren in der Gesellschaft im weitesten Sinne als Menschenrecht an und wie und mit welchen Mitteln will sie es umsetzen?

  • Begreifen und behandeln Politik und Gesellschaft "Behinderung" als gesellschaftliches Phänomen oder präferieren sie ein somatisches oder vorrangig rehabilitatives Herangehen?

Die Diskussion und Beantwortung dieser Fragen zeigen, in welchem Maße das in Artikel 3 (3) GG festgeschriebene Benachteiligungsverbot über eine in sich geschlossenere, transparente und vereinfachte Behindertengesetzgebung tatsächlich mit Leben erfüllt werden kann und soll.

Konkrete Maßnahmen einleiten

Für die Beschäftigung im Allgemeinen, die Beschäftigungsförderung und -unterstützung über vielfältige Formen, so auch über die Integrationsfachdienste im Speziellen, müssen durch Politik und Gesellschaft klare Prämissen für Rechtsansprüche auf Arbeit, Arbeitsvermittlung und Integration gesetzt werden.

Die PDS formuliert in ihrem o.g. ThSG-Antrag zur Beschäftigungspolitik für Menschen mit Behinderungen unter diesen Gesichtspunkten solche Grundsätze, wie:

1.

Das Grundrecht, Beruf, Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz frei wählen zu können, ist mit konkreten Maßnahmen festzuschreiben, wie z.B.:

  • Die Arbeitgeber werden verpflichtet, planerische Maßnahmen zur Erfüllung der Beschäftigungs- und Förderpflichten nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu ergreifen.

  • Beratungsdienste sind unter Einbeziehung von Behindertenorganisationen verstärkt bereitzustellen, zu qualifizieren und zu unterstützen , mit dem Ziel, den Zugang für Menschen mit Behinderungen zum ersten Arbeitsmarkt wesentlich zu verbessern.

  • Die Arbeitgeberpflichten nach §14 SchwbG sind als individuelle Rechtsansprüche für Menschen mit Behinderungen verbindlicher, mit entsprechenden Sanktionen bei Nichteinhaltung auszugestalten.

  • Menschen mit Behinderungen sind unabhängig vom Grad ihrer Behinderung gleichberechtigt in den arbeitsrechtlichen Schwerbehindertenschutz einzubeziehen, wenn sie behinderungsbedingt schwerwiegenden Nachteilen am Arbeitsmarkt ausgesetzt sind.

  • Besonders sind, gegebenenfalls durch Quotierung, für Frauen mit Behinderungen wegen ihrer doppelten Benachteiligung bzw. Diskriminierung Arbeitsmöglichkeiten zu erschließen.

  • Die Rechtsstellung und die Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretungen bei Einstellungen und weiteren personellen Maßnahmen sind qualifizierter auszugestalten.

2.

Aus dem nach unserer Sicht wichtigen Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Arbeitsassistenz sowie Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe, ergeben sich folgende Schwerpunkte, die bei allen Formen der Beschäftigung, ob auf dem ersten, zweiten Arbeitsmarkt oder bei anderen unterstützten oder geschützten Arbeitsplätzen zu bedenken und berücksichtigen sind, wie:

  • Wenn zur Aufnahme und/oder Ausübung einer beruflichen Tätigkeit assistierende Begleitung erforderlich ist, besteht Anspruch darauf, entsprechend geeignete Personen zusätzlich einzustellen (Arbeitsassistenz). Die Auswahl der AssistentInnen obliegt der/dem Erwerbstätigen mit Behinderungen. Die Finanzierung der AssistentInnen erfolgt aus Mitteln der Ausgleichsabgabe und nach Tarif.

  • Für Arbeitgeber der öffentlichen Hand, die über mindesten 16 Arbeitsplätze im Sinne des §7 Abs. 1 SchwbG verfügen, sind nach §5 Abs. 2 SchwbG auf 8 vom Hundert der Arbeitsplätze Schwerbehinderte zu beschäftigen.

  • Um die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtquote zur Beschäftigung Schwerbehinderter auf dem ersten Arbeitsmarkt konsequenter durchzusetzen, wird die monatliche Ausgleichsabgabe für jeden unbesetzten Pflichtplatz auf das jeweilige jährlich zu ermittelnde soziokulturelle Existenzminimum festgesetzt, das nach unseren Berechnungen derzeit ca. 1450,- DM beträgt.

  • Die Ausgleichsabgabe sollte wegen ihrer Funktion als Sanktion nicht steuerlich absetzbar sein. Ausgenommen werden davon Steuervergünstigungen, die durch Übergabe von Aufträgen an Werkstätten für Behinderte geltend gemacht werden können.

  • Private Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, die die Pflichtquote übertreffen, erhalten aus den Einnahmen der Ausgleichsabgabe einen entsprechenden Bonus in der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums. Am Bonussystem werden auch Kleinstbetriebe (unter 16 Beschäftigte) beteiligt, wenn sie Schwerbehinderte beschäftigen.

  • Für die Beschäftigten in Werkstätten für Behinderte (WfB) werden arbeitsrechtliche Vertragsverhältnisse eingeführt. Sie sind den anderen Erwerbstätigen und Teilnehmern an beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen gleichzustellen. Die Leistungen behinderter Menschen in den WfB sind so leistungsbezogen und menschenwürdig zu entlohnen, daß sie soweit wie möglich persönlich und finanziell unabhängig und in Würde ihr eigenes Leben gestalten können.

3.

Die PDS verfolgt grundsätzlich das Ziel der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem offenen Arbeitsmarkt.

Eine Bewältigung der Beschäftigungskrise in einer auf Profit orientierten Gesellschaft allein durch den Markt, dabei speziell über den ersten Arbeitsmarkt, scheint nach allen bisher vorliegenden Erfahrungen für Menschen mit Behinderungen äußerst schwierig, wenn nicht illusorisch. Es müssen daher Mischformen oder neue Formen für Lösungsansätze gefunden oder attraktiv gemacht werden, die den Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen, ihn ergänzen bzw. Wege in eine tatsächlich sozial orientierte Produktionsweise öffnen.

Lösungsansatz: Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor (ÖBS)

Die PDS sucht deshalb auch mit dem Konzept für den Aufbau eines Öffentlich geförderten Beschäftigungssektors (ÖBS) mögliche Lösungsansätze.

Der ÖBS bietet nach unserem Verständnis deshalb Chancen, weil es uns um volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht und der ÖBS als ein Sektor zwischen Markt und Staat mehr realisieren soll als "nur Beschäftigung".

"Er soll sich der wachsenden gesellschaftlichen Reproduktionsdefizite annehmen, die aus der beschleunigten Modernisierung entstehen, und insgesamt die soziale oder kulturelle Daseinsfürsorge verbessern, um die nachlassende Bindungskraft der Gesellschaft zu bremsen und neue Sozialstrukturen zu schaffen" (WERNER 1999, 49).

Dabei unterstützt der sozial orientierte und auf das Gemeinwohl gerichtete Ansatz des ÖBS zwischen Staat und Markt die praktische Umsetzungsmöglichkeiten und realen Chancen von Arbeit im gesamtgesellschaftlichen wie regionalen Rahmen mit der Spezifik von Menschen mit Behinderungen.

In diesem Zusammenhang zeigen sich in der grundsätzlichen Herangehensweise der PDS in ihrem Konzept der Beschäftigung , wie im Antrag für ein Teilhabesicherungsgesetz ausgewiesen und in der Umsetzung der Idee eines Öffentlich geförderten Beschäftigungssektors angedacht, auch wichtige Bezüge zur "Brandenburger Erklärung zur beruflichen Eingliederung behinderter Menschen in Deutschland" der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung.

Prinzipien wie Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit, Individualität, Selbstvertretung, Individualität, Dauerhaftigkeit und Wahlfreiheit des Arbeitsplatzes, unterstützende Finanzierung und Nachteilsausgleich sind Ausdruck, Anspruch und grundlegende Realisierungsbedingung für das beschäftigungspolitische Konzept der PDS, das vollinhaltlich Menschen mit Behinderungen einbezieht.

Das versteht die PDS als moderne sozialistische Partei als einen wesenlichen Teil ihrer politischen Kultur bei der Gestaltung aktueller und zukünftiger gesellschaftlicher Prozesse.

Es bestätigt sich gerade auf dem Feld der Arbeit die Erkenntnis, der Umgang mit den "Schwachen", den Benachteiligten, den Behinderten ist zugleich Ausdruck für den Kulturzustand einer Gesellschaft.

Erste Schritte sind getan, wesenlich weitreichendere müssen noch getan werden, denn, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist allgegenwärtig, wie es im Parteiprogramm der PDS (PROGRAMM 1997, 19) heißt, und geht so weit, daß ihr Lebensrecht in Frage gestellt wird. Diese Situation zu verändern, ist kein Detailproblem der Sozialpolitik, sondern eine Aufgabe, der sich die PDS auf allen gesellschaftlichen Feldern, insbesondere in der Beschäftigungspolitik widmet.

Literatur:

Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert; Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS zur Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronisch Kranken am Leben der Gemeinschaft, zu deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile (Teilhabesicherungsgesetz - ThSG), Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode. Drucksache 14/827. Bonn, 23.04.1999.

Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus. (Beschlossen von der 1. Tagung des 3. Parteitages der PDS, 29. Bis 31. Januar1993). In: Partei des Demokratischen Sozialismus. Programm und Statut, Berlin, 1999, 1-46.

Sozialpolitische Umschau. Ausgabe 30. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Berlin, 11. Oktober 1999, 15 - 19.

Werner, H.: Virtuelle Arbeitswelten. Zwischen Dienstbotengesellschaft und Öffentlichem Beschäftigungssektor. In: Werner, H. (Hrsg.): Zwischen Staat und Markt. Der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor. VSA-Verlag. Hamburg, 1999, 32 -50.

von Dr. Ilja Seifert (MdB) - Behindertenpolitischer Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion und Dr. Jürgen Hildebrand - Referent für Behindertenpolitik der PDS-Bundestagsfraktion

Quelle:

Ilja Seifert und Jürgen Hildebrand: Gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft - Grundlage für selbstbestimmtes Leben; Chancen und Möglichkeiten für die Arbeit von Menschen mit Behinderungen

Erschienen in: impulse Nr. 14 / Dezember 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.02.2005

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