Die Vermittlung von Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt hat absolute Priorität

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 14, Dez. 1999 impulse (14/1999)
Copyright: © Katrin Göring-Eckardt, Anke Glasmacher 1999

Die Vermittlung von Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt hat absolute Priorität

Es beschämt mich, dass ich auch diesen Artikel wieder mit den Worten beginnen könnte: Die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland ist viel zu hoch. Und es lässt mich nicht ruhiger werden, dass die Verallgemeinerung davon bedeutet: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist immer noch viel zu hoch.

Es fehlt gewiss nicht an Phantasie und Ideenreichtum für die berufliche Integrationsförderung. Es mag gleichsam an ein Ritual erinnern, dass die Arbeitgeberverbände jedes Jahr auf's Neue die Absenkung der Pflichtquote und die Reduzierung der Ausgleichsabgabe fordern, ohne sich jedoch mit konkreten Vorschlägen der Beschäftigung von Schwerbehinderten in ihren Betrieben auseinander gesetzt zu haben. Denn was heißt es denn, dass die Betriebe keine für den jeweilig vorhandenen Arbeitsplatz adäquat ausgebildeten Menschen mit Handicap beschäftigen können? Die Arbeitgeber schlussfolgern, es gäbe eben zu wenig schwerbehinderte Beschäftigte, die sie einstellen können. Kann es nicht auch sein, dass sie ihre eigenen Betriebsstrukturen zu inflexibel handhaben, um einen vorhandenen Arbeitsplatz mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung der Hauptfürsorgestellen behindertengerecht umzugestalten? Es mag verständlich sein, dass Betriebe gerne den einfachen, den problemlosen Weg wählen, können sie doch in der Regel unter zahlreichen Bewerber/innen auswählen. Ich möchte auch nicht nur an das soziale Gewissen der Arbeitgeberschaft appellieren. Ich denke, es ist eine der vorrangigen Aufgaben von uns allen, denen uns in verschiedenen Funktionen die berufliche Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen am Herzen liegt, Aufklärung zu betreiben. Ich finde es erschreckend, wie wenig tatsächliche Förder- und Assistenzmöglichkeiten von behinderten Menschen in den Betrieben immer noch bekannt sind.

Umgekehrt fühle ich mich ermutigt von Arbeitgeber/innen, die sich haben informieren lassen und die Qualifizierungsmöglichkeiten oder direkt Arbeitsplätze in ihren Betrieben eingerichtet haben. Ihr Feedback über die Unterstützung durch die Integrationsberater/innen vor Ort und über die Arbeit und die soziale Integration der behinderten Mitarbeiter/innen in den Kolleg/innenkreis ist durchweg positiv. Immer wieder zeigt es sich, wie wichtig die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung vor Ort ist. Die positive Grundhaltung der Führungsebene führt immer dazu, dass auch die Beschäftigten offen und aufmerksam Sorge für ein problemloses Miteinander am Arbeitsplatz tragen.

Eben hier setzt nun die außerordentlich erfolgreiche Arbeit der Integrationsfachdienste an. Die Modellprojekte des BMA und die Arbeit der BAG Unterstützte Beschäftigung zeigen uns auf, welche Möglichkeiten vorhanden sind. Eine Vermittlungsquote von zum Teil 35% ist ein enormer Erfolg, wenn man sieht, welch schwierige berufliche Lebensläufe zu vermitteln sind. Bedenken muss man immer auch die personell enge Stellenbesetzung bei den Fachdiensten und gleichzeitig die zu leistende hohe Aufklärungsarbeit in den Betrieben und bei Arbeitgeber/innen vor Ort.

Die Arbeitslosigkeit insgesamt ist in Deutschland viel zu hoch und bedarf weiterer und vorrangiger Anstrengung unserer politischen Bemühungen. Fast zwangsläufig fallen Menschen mit brüchigen Arbeits- und Lebensbiographien aus diesem Arbeitsmarkt heraus oder was noch viel schlimmer ist: Sie gelangen erst gar nicht in ihn hinein. An dieser so wesentlichen Schnittstelle setzt die Arbeit der Integrationsfachdienste ein. Auch wenn es bislang an einer einheitlichen Konzeption zur Umsetzung der Dienste fehlt, gibt es doch eine Menge Gemeinsamkeiten. Die Ziele und die Ergebnisse von Unterstützter Beschäftigung und Integrationsförderung im Betrieb sind identisch. Es geht darum, dass Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz in einem allgemeinen Betrieb erhalten, der weitgehend den Anforderungen an "normale" Arbeitsabläufe und marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten entspricht. Es geht schon lange nicht mehr um Aussonderung in beschützende Werkstätten, sondern um tatsächliche Integration ins Arbeitsleben als Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander. In den Konzepten der Unterstützten Beschäftigung ist immer wieder von "integrierter Arbeitsumgebung" die Rede. Auch im Betrieb sollen möglichst keine "besonderen" Arbeitsplätze geschaffen werden. Sozialer Kontakt und Einbeziehung in den Kreis der Kolleg/innen sind wichtige Bausteine für eine adäquate Arbeitsplatzgestaltung.

Dabei kommt der Rolle der Integrationsbegleiter/innen / Arbeitsassistent/innen eine entscheidende Bedeutung zu. Sie nehmen eine nach allen Seiten hin ausgestaltete Vermittlungs- und Vermittlerrolle ein. Sie akquirieren Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, analysieren die Arbeitsplätze vor Ort, um sie mit geeigneten Bewerber/innen zu besetzen, sie beraten sowohl die gehandicapten Arbeitssuchenden und ihre Angehörigen als auch die Leitung, die Vorgesetzten und Kolleg/innen im Betrieb vor Ort. Das erfordert viel Flexibilität, Beharrlichkeit und eine große Kenntnis sowohl betriebswirtschaftlichen Denkens als auch sozialpädagogischer Unterstützungsmöglichkeiten. Es ist der BAG Unterstützte Beschäftigung zu danken, dass sie seit kurzem einen Weiterbildungslehrgang für Arbeitsassistenten anbietet.

Nachdem wir in den letzten Jahren immer wieder den Ideenreichtum zur besseren beruflichen Integration gelobt haben, haben wir auf politischer Ebene erstmals einen wirklich entscheidenden Schritt in diese Richtung gehen können. Im neuen Sozialgesetzbuch IX, das seit 25 Jahren besprochen und immer wieder verworfen wurde, soll nach einem einstimmig auch mit dem Bundesarbeitsminister abgestimmten Eckpunktepapier die Regelförderung von Integrationsfachdiensten und -firmen festgeschrieben werden. Finanziert werden sollen die Dienste durch eine Neugestaltung der Ausgleichsabgabe.

Wir bekennen uns ausdrücklich dazu, dass die Vermittlung von behinderten Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für uns absolute Priorität hat. Diese Aufgabe sehen wir nicht nur als eine Aufgabe der Behindertenpolitik an sondern vielmehr der Arbeitsmarktpolitik. Es sollen Menschen mit Behinderung alle Möglichkeiten der Förderung offen stehen, die auch anderen Arbeitssuchenden geboten werden. Wir wollen für Menschen mit Handicaps welcher Art auch immer zukunftsorientierte und innovative Beschäftigungsmöglichkeiten. Es darf nicht mehr länger sein, dass beeinträchtigten Arbeitnehmer/innen lediglich Arbeitsplätze offen stehen, die längst auch wegen ihrer negativen gesundheitlichen Auswirkung automatisiert sind, nur damit sie "beschäftigt" sind. Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement gelten für zahlreiche moderne Betriebe in Industrie, Wirtschaft, Gastronomie und Dienstleistung. Die dort umgesetzten Erkenntnisse für eine "gesunde Arbeitswelt" müssen auch und in erster Linie für die Arbeitsplätze gelten, auf denen Menschen mit einer Behinderung beschäftigt werden. Nicht zuletzt dient modernes Arbeitsschutzmanagement der Verhinderung von neuerlicher Behinderung oder Erkrankung. Entsprechende Bemühungen von Arbeitgeber/innen wollen wir fördern. Festgeschrieben werden soll darüber hinaus im neuen SGB IX ein Rechtsanspruch (mit entsprechendem Schadenersatzanspruch) Schwerbehinderter, bei vergleichbarer Eignung bevorzugt eingestellt zu werden, sofern der Arbeitgeber die Beschäftigungsquote nicht voll erfüllt. Auch sollen behinderte Frauen und Männer als Personal bei Integrationsfachdiensten bevorzugt eingestellt werden. Damit anerkennen wir, dass es oftmals die große fachliche und menschliche Kompetenz von Betroffenen ist, die Ratsuchenden Mut und Unterstützung bietet bei der Bewältigung ihrer behinderungsbezogenen Schwierigkeiten.

Stefan Doose schreibt in seinem Aufsatz (1997) über den Stand der Entwicklung und Zukunft von Unterstützter Beschäftigung in Deutschland davon, dass Unterstützte Beschäftigung mehr ist als eine neue Rehabilitationsmaßnahme.

"Es ist eine veränderte Sichtweise, die zu einer veränderten Praxis führt. Gemeinsames Leben und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderung als Ziel, die Fähigkeiten und Wünsche eines Menschen als Ausgangspunkt, echte Wahlmöglichkeiten, Selbstbestimmung und Kontrolle des Menschen mit Behinderung als Wegweiser und ambulante, individuelle, flexible Unterstützung als Methode sind die Eckpfeiler von Unterstützter Beschäftigung." Dem fühlen wir uns in unserem politischen Engagement verpflichtet.

Autorinnen:

Katrin Göring-Eckardt, Mitglied des Deutschen Bundestages - Bündnis 90 / Grüne und Anke Glasmacher, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Abgeordnetenbüro von Ministerin Andrea Fischer, MdB

Anke Glasmacher, Büro Andrea Fischer, MdB

Deutscher Bundestag, Platz der Republik 1

11011 Berlin

anke.glasmacher@gruene-fraktion.de

Quelle:

Katrin Göring-Eckardt: Die Vermittlung von Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt hat absolute Priorität

Erschienen in: impulse Nr. 14 / Dezember 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.03.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation