"Bündnis für Arbeit für Behinderte" erforderlich

Autor:in - Michael Bürsch
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 14, Dez. 1999 impulse (14/1999)
Copyright: © Michael Bürsch 1999

"Bündnis für Arbeit für Behinderte" erforderlich

Menschen mit Behinderungen sehen sich auf der Suche nach einem Arbeitsplatz mit besonderen Schwierigkeiten und Vorurteilen konfrontiert. Nach wie vor sind sie besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie sollten prinzipiell dieselben Förderungen für den Arbeitsmarkt erhalten wie alle übrigen Arbeitslosen.

Zwar ist bei vielen in den letzten Jahren die Sensibilität für die speziellen Probleme und Bedürfnisse Behinderter auf dem Arbeitsmarkt gestiegen. Durch einen stetig wachsenden Flexibilitäts- und Rationalisierungsdruck auf dem Arbeitsmarkt werden die Beschäftigungschancen Behinderter aber zunehmend erschwert und in frage gestellt. Das von manchen ausgegebene Leitbild des "flexiblen Menschen", der unbegrenzt mobil, belastbar und flexibel im Wirtschaftsprozess einsetzbar ist, überfordert schon die "etablierten" Arbeitsplatzbesitzer und ist erst recht nicht mit den oft sehr individuellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen in Einklang zu bringen.

Die berufliche Rehabilitation von Menschen mit Behinderung ist angesichts dieser Situation vor besondere Herausforderungen gestellt. Neue Ideen und Konzepte sind notwendig, um die berufliche Eingliederung nachhältig zu stärken.

Die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in den (insbesondere regulären) Arbeitsmarkt ist ein vorrangiges Ziel sozialdemokratischer Behindertenpolitik. Das wichtigste anstehende Projekt ist die Reform des Behindertenrechts im geplanten SGB IX. Dafür bildet das Eckpunktepapier der "Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik" vom 16. September 1999 die Grundlage.

Die wichtigsten Forderungen

1.

Die berufliche Eingliederung muss bei allen Maßnahmen zugunsten Behinderter im Zentrum der Bemühungen stehen. Noch immer arbeiten die meisten Menschen mit Behinderungen in einem zwar besonders geschützten, aber auch abgeschirmten Arbeitsumfeld. Übergänge vom geschützten in den ersten und zweiten Arbeitsmarkt sind zwar vorhanden, aber bislang nicht systematisch ausgebaut. Ziel muss es sein, Förderketten zu konzipieren, die die Arbeit im Kontext der sozialen Rehabilitation nach den §§39ff. BSHG aus ihrer Isolierung befreit und mit den Angeboten der "normalen" Arbeitsmarktförderung verbindet. Deshalb muss besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass alle regulärengesetzlichen Möglichkeiten der Arbeitsmarktförderung, die für Behinderte und alle anderen Arbeitnehmer gleichermaßen gelten (SGB III etc.), sinnvoll genutzt und ausgeschöpft werden. Die Auswertung des Sofortprogramms der Bundesregierung für 100.000 Jugendliche wird in dieser Hinsicht hoffentlich wichtige Erkenntnisse liefern.

2.

Die Ausgleichsabgabe gilt in Deutschland als sinnvolles Steuerungsinstrument bei der Beschäftigungsförderung Behinderter und zugleich als unverzichtbare Finanzierungsquelle. Die Regierungsfraktionen streben die sinnvolle Weiterentwicklung des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe an. Dazu gehört zunächst die aktive Bemühung der Bundesanstalt für Arbeit um verstärkte Beschäftigung (Schwer-) Behinderter, auch und gerade beim Übergang aus den Werkstätten. Neu geregelt werden muss ferner die Verwendung der Ausgleichsabgabe, um zukünftig die angemessene Finanzierung neuer, zusätzlicher Instrumente zur Eingliederung Behinderter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt - wie z.B. Integrationsfachdiensten und Integrationsfirmen dauerhaft gewährleisten zu können.

Darüber hinaus liegt es nahe, die Höhe der Ausgleichsabgabe und den Umfang der gesetzlichen Beschäftigungspflicht zu überprüfen.

3.

Besonders wichtig ist die Schaffung und Weiterentwicklung zusätzlicher Instrumente zur Eingliederung (Schwer-)Behinderter zu den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts.Qualifizierten Integrationsfachdiensten zur Unterstützung der Vermittlung und arbeitsbegleitenden Betreuung kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Die Forderung, neben institutionellen Fördermöglichkeiten für Integrationsfachdienste auch individuelle Rechtsansprüche auf ambulante berufliche Rehabilitation, Integrationsbegleitung und Arbeitsassistenz gesetzlich zu verankern, wird sich schwerer durchsetzen lassen. Schwierig zu realisieren ist außerdem die Ausweitung der Möglichkeiten dauerhafter Minderleistungsausgleiche. Wichtig und möglich ist aber auf jeden Fall eine unbürokratischere und flexiblere Gestaltung der Instrumente Minderleistungsausgleich und Lohnkostenförderung.

Außerdembrauchen wir einen Katalog von Maßnahmen, Projekten und Ideen für eine innovative Beschäftigungspolitik für Schwerbehinderte, etwa im Dienstleistungsbereich oder in den neuen Medienbranchen. Relativ stiefmütterlich ist bisher die Idee der Schaffung von Zeitarbeitsagenturen für Behinderte behandelt worden. Hier liegt meiner Meinung nach ein noch wenig beachtetes Potenzial, neue Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu schlagen. Überhaupt sollten wir Ideen wie diese und auch andere neue Betriebsformen, die bislang nur im Bereich der Nicht-Behinderten angewendet wurden, intensiver auf ihre pädagogische, rechtliche und integrationspolitische Übertragbarkeit auf Menschen mit Behinderungen hin überprüfen.

4.

Nicht nur die freie Wirtschaft hat bei der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderungen Nachhol- und Innovationsbedarf. Bund, Länder und Gemeinden haben gerade wegen ihrer Vorbildfunktion! guten Grund, sich an die eigene Nase zu fassen. Durch besondere Maßnahmen im öffentlichen Dienst ließe sich die Beschäftigungssituation Schwerbehinderter deutlich verbessern, etwa durch einen Pool, der aus Stellen von Behörden gespeist wird, die der Beschäftigungspflicht nicht nachkommen und auf den jene Behörden zurückgreifen können, die ihr Beschäftigungssoll erfüllen. In diesem Rahmen wäre ein "Bündnis für Arbeit für Behinderte" ein wichtiges öffentliches Signal für die berufliche Integration behinderter Menschen.

5.

Prävention, Rehabilitation sowie Eingliederung ins Arbeitsleben und in die Gesellschaft insgesamt sollen behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen die Verwirklichung ihrer Lebensziele ermöglichen. Das SGB IX ist in einer Weise zu gestalten, die mehr Raum für individuelle Wahlfreiheiten in der Lebensgestaltung behinderter Menschen schafft und eine angemessene Beteiligung der Betroffenen an der Koordinierung von Rehabilitationsmaßnahmen garantiert. Dabei kann an die Erfahrungen aus bereits begonnenen Modellprojekten anderer Länder (Großbritannien, Niederlande) sowie in Rheinland-Pfalz (Stichwort "Persönliches Budget") und im Bund (Stichwort "Integrationsfirmen/ -fachdienste") angeknüpft werden. Insgesamt muss einem "neuen Denken" zum Durchbruch verholfen werden, das Menschen mit Behinderungen nicht wie Almosenempfänger behandelt, sondern als Menschen mit Qualifikationen trotz Einschränkungen ansieht, denen so weit wie möglich maßgeschneiderte Förderinstrumente zur Verfügung gestellt werden. Eine stärkere Dienstleistungsmentalität und Kundenorientierung der in die Rehabilitation eingebundenen Institutionen wäre dafür zweifellos förderlich.

Die jüngst verabschiedete Brandenburger Erklärung zur beruflichen Integration behinderter Menschen in Deutschland formuliert ein ehrgeiziges Programm. Um die Forderungen Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es jedoch einen langen Atem und das beharrliche Bohren dicker Bretter. Die von der Regierungskoalition für das Jahr 2000 angestrebte Reform des SGB IX wird die erste Bewährungsprobe sein, ob wir auf dem begonnenen Weg mit eher kleinen oder größeren Schritten vorankommen.

von Dr. Michael Bürsch, MdB SPD-Fraktion

Quelle:

Michael Bürsch: "Bündnis für Arbeit für Behinderte" erforderlich

Erschienen in: impulse Nr. 14 / Dezember 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.02.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation