Die Selbstbestimmung finanzieren

Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in Großbritannien und den Niederlanden

Autor:in - Mathias Westecker
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 12, Juni 1999 impulse (12/1999)
Copyright: © Mathias Westecker 1999

Die Selbstbestimmung finanzieren

Aufgrund von ersten Erfahrungen mit der Einführung eines Persönlichen Budgets in Rheinland Pfalz und Berichten auf der Tagung Behindert Wohnen im Juni 1998 in Hamburg führte eine Studienreise der Behindertenbeauftragten der Freien und Hansestadt Hamburg nach Großbritannien und den Niederlanden. Die englische Wohlfahrtsorganisation Leonard Cheshire in London und die niederländische Budgethalter - Organisation PerSaldo in Utrecht führten in Tagesseminaren in das jeweilige System des Persönlichen Budgets ein. Vertreter der Selbsthilfegruppe Autonom Leben, der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Hamburg und von 5 großen Hamburger Behindertenverbänden nahmen an diesen intensiven Seminaren und weiteren Vorträgen in London und Utrecht teil, trafen Vertreter von regionalen als auch zentralen Selbsthilfegruppen, Behörden und Behindertenverbänden sowie Betroffene und informierten sich über die Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in diesen Ländern.

Die zentralen Termini "direct payments" (Direktzahlungen) in Großbritannien und "Persoons Gebonden Budget" (Personengebundenes Budget) in den Niederlanden werden in diesem Text wörtlich übersetzt, um inhaltliche und länderspezifische Klarheit zu behalten. "Persönliches Budget" wird hier nur in allgemeiner Form benutzt oder, wenn zusammenfassend über beide Länder gesprochen wird.

Sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden haben Menschen mit Behinderung, die für bestimmte Bereiche des täglichen Lebens eine dauernde Unterstützung benötigen, die Möglichkeit, ein Persönliches Budget zu erhalten, um diese Unterstützung selber zu organisieren und die Helfer zu bezahlen.

Nicht nur in Großbritannien und den Niederlanden sind Persönliche Budgets zur Selbstorganisation der Ambulanten Hilfe von Behinderten seit mehr als zehn Jahren in der öffentlichen Diskussion. Maßgeblich initiiert wurde diese Diskussion durch die Selbsthilfebewegung der Behinderten, deren Grundlage die Forderung nach mehr Selbstbestimmung und größerer Freiheit ist.

Der Grundgedanke des Persönlichen Budgets ist in Großbritannien und den Niederlanden gleich: Die behinderten Menschen als Nutzer von Dienstleistungen entscheiden selber, wer ihnen zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Art und Weise hilft und handeln die Tarife aus. Sie sind Arbeitgeber der Helfer, die auch Assistenten genannt werden, und können ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich gestalten. Dieser Grundgedanke entspringt der internationalen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und wird von dieser umgesetzt. Die behinderten Menschen schließen sich zusammen (Independent-Living-Centre), entscheiden selber über ihr Leben, stellen politische Forderungen, beraten und schulen sich gegenseitig, fordern für sich selbst und Menschen mit geistiger Behinderung Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten sowie größere Selbstbestimmung. Sie haben den Anspruch, die besten Fachleute für ihr eigenes Leben und den eigenen Unterstützungsbedarf zu sein. In Großbritannien und den Niederlanden gibt es Wartezeiten, um ein Persönliches Budget bewilligt zu bekommen, es bedarf der Verhandlung mit den Behörden über die Höhe des Budgets, aber die Entscheidung über die Hilfebereiche und Hilfeleistenden liegt bei den Behinderten.

Großbritannien

In Großbritannien hat die Regierung 1996 das regional organisierte Direktzahlungs-Gesetz (Community Care (Direct Payments) Act) erlassen. Dieses Gesetz bietet den lokalen Behörden das erste Mal die Möglichkeit, Barauszahlungen an Betroffene anstelle von lokalen Hilfsdiensten (als Sachleistung) zu genehmigen. Lokale Behörden auf Kreisebene haben nach unterschiedlichen Vorerfahrungen gemeinsam mit den Zentren und Gruppen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung das System umgesetzt und neue Formen der Zusammenarbeit entwickelt, so Ray Jones, Direktor der Sozialbehörde in Wiltshire: "Wir müssen nicht nur das System ändern, sondern auch unsere Kultur. Nicht der Direktor, sondern die Kunden sind wichtig. Das Wissen liegt bei den Kunden und nicht bei den Professionellen. Sie wissen viel genauer, wie sich das Leben mit Behinderung gestaltet. Wir sollten unseren Kunden helfen, das zu bekommen, was sie brauchen, und partnerschaftlich zusammenarbeiten." Auch John Clifton, Vizedirektor der Sozialbehörde in Hampshire spricht von einer neuen Kultur der Zusammenarbeit: "Wir müssen hören, was die behinderten Menschen zu sagen haben und eine Partnerschaft aufbauen. Die Betroffenen können uns bei der weiteren Entwicklung beraten. Die Unabhängigkeitsbewegung ist eine zentrale Achse für die freie Entscheidungsmöglichkeit der Behinderten. Wir müssen die Bewegung fördern und finanziell unterstützen."

Einen Direktzahlungs-Etat kann in Großbritannien jeder Mensch mit Behinderung bekommen, der zwischen 18 und 65 Jahre alt ist und dem ein Hilfebedarf nachgewiesen wurde. Der Bedarf an Hilfe wird von einer Fachkommission festgestellt, die Höhe des Etats muß mit lokalen Behördenvertretern ausgehandelt werden. Eine festgelegte Obergrenze gibt es nicht, aber die lokalen Behörden haben nur ein bestimmtes Budget zur Verfügung und begrenzen die Etats vor diesem Hintergrund. Voraussetzung für die Bewilligung eines Etats ist, daß der / die AntragstellerIn eine Direktzahlung möchte und in der Lage ist, diese allein oder mit Hilfe zu verwalten.

Die Feststellung des Willens ist besonders bei Menschen mit nonverbalen und eingeschränkten Kommunikationsmitteln umstritten. Momentan wird diskutiert, ob die von Eltern oder nahen Verwandten interpretierte Willensbezeugung ausreicht. Immer häufiger wird ein unabhängiger Berater eingeschaltet, der allerdings erst eine Beziehung zu dem behinderten Menschen aufbauen muß, um dessen Willensäußerung richtig zu verstehen und vertreten zu können.

Neben der täglichen Assistenz, auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder eingeschränkten Kommunikationsformen, gibt es die Möglichkeit, eine ehrenamtliche Beratergruppe zur Unterstützung der Organisation der Direktzahlungen einzusetzen. "Eine Beratergruppe soll die Organisation der Direktzahlungen für die behinderte Person übernehmen. Trotzdem muß die behinderte Person verantwortlich bleiben, um die Zahlungen zu erhalten und zu entscheiden, wie sie genutzt werden. Wenn eine Person eingeschränkte Kommunikationsformen hat, kann es nötig sein, ihren Willen auszulegen. Das wichtigste Prinzip bei der Vergabe von Direktzahlungen muß sein, dem Nutzer die größte Möglichkeit zur Unabhängigkeit zu bieten. Wenn eine Beratergruppe notwendig ist, muß sichergestellt sein, daß diese im Interesse des Nutzer handelt und entscheidet," erklärt eine Broschüre der Sozialbehörde in Essex.

Niederlande

In den Niederlanden wurde das Personen Gebundene Budget (PGB) nach langen Auseinandersetzungen 1996 eingeführt. Beim PGB wird dem Fürsorgeantragsteller ein Budget zugeteilt, mit dem er oder sie selbst bestimmen kann, für welche Fürsorge oder Fürsorgeorganisation das Geld aufgewendet wird. Das PGB wird schrittweise eingeführt, damit aus den gewonnen Erfahrungen gelernt werden kann. In den ersten beiden Jahren waren die Selbsthilfegruppen für die Abrechnung und die korrekte Durchführung verantwortlich, die Nutzer haben die Unterstützung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Anspruch genommen. Zur besseren Kontrolle, vor allem um die Arbeitsverhältnisse in rechtlicher und sozialversicherungspflichtiger Grundlage zu sichern, wurde eine Institution, die Soziale Versicherungsbank (Sociale Verzekeringsbank ) mit der Abrechnung der einzelnen Budgets per Gesetz beauftragt. Dies führt momentan zu großem bürokratischem Aufwand und vielen Hemmnissen. Wenn jemand absehbar länger als drei Monate Hilfe benötigt, kommt er/sie im Prinzip für ein PGB in Betracht. Der Krankenversicherungsträger beauftragt die regionale Indikationsbehörde, um den Bedarf zu untersuchen. Die Höhe des Budgets wird dann anhand der geltenden Tarife berechnet. Zur Zeit gibt es drei Personengebundene Budgets: Ein Budget für Verpflegung und Versorgung, ein Budget für geistig Behinderte und eines für die psychische Begleitung. Letzteres ist noch in der Experimentierphase und wird wahrscheinlich im Laufe des Jahres 1999 in die gesetzliche Regelung aufgenommen.

Das Sozialministerium untersucht in einigen Pilotprojekten, ob es möglich ist, ein Reintegrations-Budget für das Arbeitsleben einzuführen. Das Reintegrations-Budget wird nicht bei der Bewilligung eines PGB gegengerechnet, es sind zwei unabhängige Bewilligungen und Vorgänge. Ziel dieser Maßnahme ist auch hier die Selbstbestimmung des behinderten Menschen. Nicht ein Berufsberater vom Arbeitsamt soll vorschreiben, was gut für einen behinderten Arbeitslosen ist und welche Fortbildung das Arbeitsamt bezahlt, sonder die Initiative soll bei den Betroffenen selbst liegen. Das zeitlich befristete Budget dient lediglich dazu, eine Arbeit zu finden oder sich weiter zu qualifizieren. Bis zu 10 000 holländische Gulden können für Aus- und Fortbildung oder als Startkapital für eine Selbständigkeit finanziert werden.

Schlußfolgerungen

In Großbritannien wurde vor allem die mangelnde finanzielle Ausstattung der Direktzahlungen kritisiert, die noch viel Eigeninitiative der familiären Umgebung erfordert. Damit kommt diese Alternative nur wenigen Betroffenen zugute.

In den Niederlanden wurden das komplizierte Antragsverfahren und die übergroße Bürokratie bemängelt. Diese Bürokratie läßt einen großen Verwaltungsapparat entstehen, der vom gleichen Etat finanziert werden muß wie das Personen Gebundene Budget und die Selbstkontrolle sowie Zugriffsfreiheit der Budgetnehmer stark einschränkt.

Unabhängig von diesen Kritikpunkten haben alle Beteiligten empfohlen, ein System des Persönlichen Budgets auch in Deutschland einzuführen, da es zu größerer Selbstbestimmung und mehr Zufriedenheit führt. "Vielleicht ist das Umdenken wichtiger als das konkrete System. Es hat in den Niederlanden einige Jahre gebraucht, in denen viel geschrieben und Reklame gemacht wurde, um politisch Verantwortliche zu diesen Veränderungen zu bewegen," erklärt Paul Cremers, Projektleiter für das Persönliche Budget in den Niederlanden.

Erste Erfahrungen und wissenschaftliche Auswertungen zeigen, daß durch den Einsatz des Persönlichen Budgets die Selbstbestimmung der behinderten Menschen deutlich erhöht, die Zufriedenheit der Betroffenen und der Assistenten gesteigert und die finanziellen Spielräume vergrößert werden konnten. In vielen Fällen kann das selbständige Leben finanziell günstiger gestaltet werden als das Leben in Institutionen, da einerseits der Verwaltungsaufwand geringer ist und die Hilfe gezielter eingesetzt werden kann, aber andererseits auch, weil die Assistenten oft schlechter bezahlt werden bzw. als geringfügig Beschäftigte weniger Sozialabgaben zahlen müssen.

"Die Bewilligung von Geldern für das Persönliche Budget darf nicht aufgrund von Einsparungen für den Einzelnen begrenzt werden, sondern muß sich nach dem Hilfebedarf der behinderten Person richten. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ein Menschenrecht," so die Hamburger Behindertenbeauftragte Elke Fank nach Gesprächen mit den Betroffenen. Rachel Hurst, eine der Mitbegründerinnen der internationalen Independent-Living-Bewegung, kommt zu dem Schluß: "Ich möchte das Persönliche Budget empfehlen als einen Schritt Vorwärts für behinderte Menschen, um eine wirkliche Kontrolle des eigenen Lebens übernehmen zu können."

Besonders beeindruckend ist die Einbeziehung von Menschen mit schweren und geistigen Behinderungen in die Programme. Sie werden in Seminaren von Selbsthilfegruppen geschult, um Chancen für sich zu erkennen und Wahlmöglichkeiten auszunutzen. Sie erhalten sowohl von diesen Gruppen als auch von staatlichen Stellen Informationsmaterial, welches auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Eine Gruppe von Angehörigen, Freunden oder juristischen Beratern unterstützt die Beantragung sowie Verwaltung der Gelder und kontrolliert die erbrachten Hilfeleistungen für die Nutzer. Selbsthilfegruppen informieren über den juristischen und organisatorischen Weg zum Persönlichen Budget, initiieren eine verbesserte Gesetzgebung und beraten lokale Behörden und Politiker in allen Bereichen, die Behinderte betreffen. Der Einfluß von Behinderten ist beeindruckend und schlägt sich nicht nur in der öffentlichen Auseinandersetzung nieder, sondern der Umgang von Behörden- und Institutionenvertretern ist den Betroffenen gegenüber von Respekt und Anerkennung getragen. Die Behinderten als Nutzer der Hilfeleistungen werden zuvorkommend behandelt.

Die Beziehung zwischen den Behinderten als Arbeitgebern bzw. Nutzern der Hilfsdienste und den Assistenten in der Behindertenhilfe wird durch dieses System neu definiert. Das verläuft nicht immer reibungslos und ruft Widerstand hervor. In Großbritannien und den Niederlanden wurde das Persönliche Budget als Ergänzung zum bestehenden System eingeführt und bedeutet eine zusätzliche Wahlmöglichkeit für die Betroffenen. Bestehende Strukturen bleiben erhalten. Dies ermöglicht den Erhalt der bestehenden Hilfeleistungen bei gleichzeitiger Erprobung neuer Wege.

Grundlage einer politischen Veränderung ist eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Rolle der Behinderten in unserer Gesellschaft und im System der Behindertenhilfe. Persönliche Budgets sind ein radikaler Schritt, um den Betroffenen, die auf Hilfeleistungen angewiesen sind, die Entscheidung über die Art und Weise der Hilfeleistungen in die eigenen Hände zu legen. Persönliche Budgets sind von der Idee her klar und umsetzbar. In Deutschland fordern körper- und sinnesbehinderte Menschen schon seit Jahren, daß sie die Hilfeleistungen selbstbestimmt organisieren können. Das Arbeitgeber-Modell ist jedoch durch die Einführung der Pflegeversicherung wieder zurückgeworfen worden. Gleichzeitig ist in der deutschen Selbsthilfebewegung das Fehlen von Menschen mit geistiger- und Lernbehinderung ein großer Schwachpunkt. In der öffentlichen Diskussion werden diese vorwiegend als "nicht fähig und nicht zustimmungswillig" dargestellt, funktionierende Projekte und Schulungsmöglichkeiten für diesen Personenkreis sind nur ansatzweise vorhanden.

Bei der Einführung von Persönlichen Budgets in Deutschland muß darauf geachtet werden, daß der Verwaltungsaufwand nicht so hoch wird, Menschen mit schweren und geistigen Behinderungen einbezogen werden und entsprechende Unterstützungssysteme entwickelt werden, Persönliche Budgets auch für das Arbeitsleben entwickelt werden und die Arbeitsbedingungen für die Assistenten sich nicht verschlechtern. Die Selbstbestimmung und Lebensbedingungen der Nutzer dürfen durch Sparzwänge nicht eingeschränkt werden.

Die Dokumentation Die Selbstbestimmung finanzieren - Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in Großbritannien und den Niederlanden mit einer Zusammenfassung der Vorträge und mit übersetzten Materialien zum Umgang mit dem Persönlichen Budget aus Großbritannien und den Niederlanden als auch Stellungnahmen der Reiseteilnehmer wird von der Hamburger Behindertenbeauftragten Elke Fank herausgegeben.

Bezugsadresse: Poststr. 11, 20354 Hamburg; Fax: 040 / 42831-2298

von Mathias Westecker - Hamburg

Quelle:

Mathias Westecker: Die Selbstbestimmung finanzieren - Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget in Großbritannien und den Niederlanden

Erschienen in: impulse Nr. 12 / Juni 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 04.05.2006

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