Diskussionspunkte für ein SGB IX

aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 12, Juni 1999 impulse (12/1999)
Copyright: © Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1999

I. Vorbemerkung

Kapitel VI.6 der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 enthält unter der Überschrift "Rechte von Menschen mit Behinderung stärken" folgende Aussagen:

"Menschen mit Behinderungen brauchen den Schutz und die Solidarität der gesamten Gesellschaft. Die neue Bundesregierung wird alle Anstrengungen unternehmen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu fördern und dem im Grundgesetz verankerten Benachteiligungsverbot für Behinderte Geltung zu verschaffen. Schwerpunkte dabei sind:

  • Der grundgesetzliche Gleichstellungsauftrag wird in einem Gesetz umgesetzt.

  • Das Recht der Rehabilitation wird in einem Sozialgesetzbuch IX zusammengefaßt und weiterentwickelt.

  • Die Vermittlung von Behinderten in den ersten Arbeitsmarkt hat Vorrang; ihnen müssen auch die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik offen stehen. Spezifische Instrumente zur Eingliederung Behinderter, z.B. die Schwerbehindertenabgabe und die Integrationsfachdienste, werden verbessert und weiterentwickelt.

  • Es wird geprüft, wie die Deutsche Gebärdensprache anerkannt und gleichbehandelt werden kann."

II. Diskussionspunkte für die Zusammenfassung des Rechts

Das Recht der Prävention, Rehabilitation und Eingliederung behinderter Menschen soll in einem Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs entsprechend den Vorgaben in §10 SGB I nach folgenden Grundsätzen zusammengefaßt werden:

1. Die bundesrechtlichen Vorschriften für alle Zweige und Träger der Rehabilitation sowie das Schwerbehindertenrecht werden daraufhin überprüft, wieweit sie in einem Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs zusammengefaßt werden können.

2. Dabei sollen die erfaßten Regelungsbereiche unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten in der Weise zusammengefaßt werden, daß

  • Regelungen, die für mehrere Sozialleistungsbereiche einheitlich sein können, nur an einer Stelle getroffen,

  • Vorschriften, die unterschiedlich sein müssen, nach denselben Gesichtspunkten angeordnet und

  • Begriffe und Abgrenzungskriterien aller einschlägigen Regelungen unabhängig von ihrem Standort vereinheitlicht werden.

3. Insbesondere die Regelungen des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts werden mit dem Ziel einer Aktualisierung und Verbesserung analysiert und zeitgemäßen Anforderungen angepaßt. Leistungsausweitungen und Neuregelungen stehen unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit und sind in erster Linie durch Effizienzsteigerungen, Vereinfachungen und Kosteneinsparungen im bestehenden System zu realisieren.

4. Die Träger der Sozialhilfe und der Jugendhilfe sollen, soweit sie Eingliederungshilfe für Behinderte erbringen, in das SGB IX einbezogen werden. Allgemeine Regelungen für die Rehabilitationsträger sollen grundsätzlich auch für die Eingliederungshilfe dieser Bereiche gelten, soweit nicht abweichende Regelungen erforderlich sind. Die allgemeinen Vorschriften des Sozialhilfe- und des Jugendhilferechts, insbesondere auch der Nachranggrundsatz und die Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen sowie die übrigen Bestimmungen über die Leistungsvoraussetzungen, behalten Geltung für die Eingliederungshilfe.

5. Bei der Gesetzgebung zum SGB IX sollen

  • bisherige Leistungs- und sonstigen Zuständigkeiten grundsätzlich beibehalten, jedoch

  • sinnvolle Rechtsbereinigungen und Vereinfachungen im Verwaltungsverfahren vorgenommen,

  • Aufgabenzuweisungen, Zuständigkeiten und "Schnittstellen" effektiver ausgestaltet, besser koordiniert und klarer abgegrenzt,

  • Entscheidungsprozesse vereinfacht und beschleunigt sowie

  • Zusammenarbeit und Abstimmung der zuständigen Träger verbessert werden.

6. Regelungen, die nur für einzelne der erfaßten Sozialleistungsbereiche gelten, insbesondere über die Voraussetzungen der Leistungen, sollen in den Einzelregelungen für die Sozialleistungsbereiche (SGB III, V, VI, VII, VIII, BVG, BSHG) verbleiben. Soweit erforderlich, werden die einschlägigen Regelungen des jeweiligen Sozialleistungsbereichs ebenfalls in eine möglichst verständliche und transparente Fassung gebracht.

7. Durch das SGB IX soll erreicht werden, daß behinderten Menschen eine möglichst unabhängige, weitgehend selbständige Lebensführung gesichert wird und die zur Eingliederung Behinderter erforderlichen Rehabilitationsleistungen möglichst gut aufeinander abgestimmt werden und möglichst nahtlos ineinandergreifen; auch dadurch soll es behinderten Menschen erleichtert werden, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen.

8. Begriffliche Festlegungen werden auch im Hinblick auf internationale Klassifikationen und Entwicklungen auf das Erfordernis einer zeitgemäßen Anpassung überprüft.

9. Soweit das Benachteiligungsverbot in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz der gesetzlichen Umsetzung bedarf und diese Umsetzung nicht durch Vorhaben anderer Ressorts, insbesondere BMJ, erfolgt, werden die notwendigen Regelungen nach Möglichkeit im Zuge der Gesetzgebung zum SGB IX getroffen.

III. Diskussionspunkte für die Weiterentwicklung des Rechts zur Prävention, Rehabilitation und Eingliederung behinderter Menschen

1. Prävention, Rehabilitation sowie Eingliederung ins Arbeitsleben und in die Gesellschaft insgesamt sind Lebensziele behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen. Die einschlägigen Rechtsvorschriften sind auf diese Zielsetzungen auszurichten und haben der jeweiligen Lebenssituation der Betroffenen Rechnung zu tragen.

2. Prävention, Rehabilitation und Eingliederung behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen sind möglichst unmittelbar, im Rahmen allgemeiner Rechtsvorschriften oder, wenn nötig, durch allgemeine Sozialleistungen anzustreben. Besondere Sozialleistungen, Dienste und Einrichtungen sind insoweit vorzusehen, als diese zu möglichst wirkungsvoller Prävention, Rehabilitation und Eingliederung behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen erforderlich sind.

3. Ambulante Leistungen, Dienste und Einrichtungen haben Vorrang vor stationären, teilstationäre vor vollstationären; sie haben den Betroffenen möglichst weitgehenden Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände zu belassen.

4. Behindertenorganisationen und Selbsthilfegruppen sind in Planung und Durchführung von Leistungen zur Prävention, Rehabilitation und Eingliederung einzubeziehen.

5. Die Arbeiten zum SGB IX sind mit der "Gesundheitsreform 2000", der Neuregelung der Erwerbsminderungsrenten in der Rentenversicherung sowie der Fortentwicklung des Arbeitsförderungsrechts zu verzahnen und müssen der Situation und den Anforderungen der Arbeitswelt Rechnung tragen, insbesondere auch bei berufsnotwendiger Qualifikation.

6. Koordination der Leistungen und Kooperation der Leistungsträger sollen verbessert werden

  • bezogen auf die einzelnen Behinderten und von Behinderung Bedrohten durch trägerübergreifendes Rehabilitationsmanagement sowie in der Weise, daß Rehabilitationsträger so lange für die vollständige Erbringung der Leistungen zur Rehabilitation und Eingliederung verantwortlich bleiben, bis sie in einem Eingliederungsplan weitere erforderliche Leistungen durch andere Leistungsträger abklären und festschreiben;

  • regional durch verbesserte Regelungen über die Bildung und die Arbeit von Arbeitsgemeinschaften, insbesondere die Beseitigung der unpraktikablen Aufsichtsregelung in §94 Abs. 2 SGB X;

  • generell durch eine stärkere gesetzliche Festlegung von Koordinierungsaufgaben sowie eine Ermächtigung an die Bundesregierung, die Koordinierung im einzelnen zu regeln, wenn die Träger dies nicht in ausreichender Weise selbst tun, sowie

  • durch die Möglichkeit, Gesamtvereinbarungen auf der Ebene der Spitzenverbände abzuschließen.

7. Um zu gewährleisten, daß die im Einzelfall erforderlichen Leistungen zur Rehabilitation und zur Eingliederung rechtzeitig bereitstehen, sollen die Voraussetzungen für die Erbringung vorläufiger Leistungen erleichtert und bei Bedarf auch bereichsübergreifende Vorleistungen ermöglicht werden. Die Notwendigkeit der erbrachten Vorleistungen stellt der vorleistende mit Wirkung auch gegenüber dem eigentlich zuständigen Träger fest. Wer bei medizinischen Leistungen zur Rehabilitation vorleisten soll, wird geprüft.

8. Die frühzeitige, bei Bedarf wiederholte Rehabilitationsberatung unter Berücksichtigung von Fähigkeiten und Potentialen der Betroffenen soll ausgebaut und verbessert werden, auch durch verstärkte Zusammenarbeit der Leistungsträger untereinander sowie mit Behindertenorganisationen und Selbsthilfegruppen. Die Grundsätze "Rehabilitation vor Rente" und "Rehabilitation vor Pflege" sollen in die Ziele der Beratung nach §14 SGB I und der ergänzenden Vorschriften für die Beratung behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen aufgenommen werden.

9. In den Betrieben sind Strukturen und Instrumentarien der Prävention auszubauen und zu verbessern. Prävention, insbesondere im Arbeitsschutz, medizinische Versorgung, Rehabilitation und Regelungen zum Arbeitsplatzerhalt (schwer-)behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen sind inhaltlich und organisatorisch aufeinander abzustimmen und zu verknüpfen; dabei sind kleinere und mittlere Unternehmen in besonderer Weise zu unterstützen.

10. Für die Rentenversicherung soll klargestellt werden, daß der Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" durch administrative Maßnahmen mit größerem Nachdruck umzusetzen ist.

11. Es soll klargestellt werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Inhalt die medizinischen und die berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation und zur Eingliederung behinderter Menschen auch psychosoziale Leistungen umfassen können, soweit diese Leistungen im Einzelfall zum Erreichen oder zur Sicherung des Rehabilitationserfolges erforderlich sind.

12. Die Möglichkeiten der stufenweisen Wiedereingliederung soll für alle Trägerbereiche eröffnet, ihre Nutzung auch durch entsprechende Regelungen gefördert werden.

13. Daß die Ziele der Rehabilitation schon während der Akutbehandlung zu beachten sind, soll gesetzlich klargestellt werden. Die fachübergreifende Frührehabilitation in Akutkrankenhäusern ist zu verbessern und auszubauen; dabei sind die Ergebnisse des abgeschlossenen Modellversuchs praxisnah und konsequent umzusetzen.

14. Der Grundsatz "Rehabilitation vor Pflege" soll weiter verstärkt werden, insbesondere durch leistungsrechtliche Absicherung des Vorrangs von Rehabilitations vor Pflegeleistungen in allen einschlägigen Sozialleistungsbereichen. Die Grundlagen der geriatrischen Rehabilitation sind auszubauen und zu verbessern.

15. Die Rehabilitationsmöglichkeiten für psychisch Kranke und Behinderte sollen durch notwendige psychosoziale Hilfen, Verbesserung der Vorleistungsregelungen, verbesserte Koordinierung der zuständigen Rehabilitationsträger und volle Nutzung der schon bestehenden Leistungsmöglichkeiten verbessert werden.

16. Die Regelungen des Berufsbildungsrechts haben den besonderen Belangen behinderter Menschen stärker Rechnung zu tragen, insbesondere auch bei Qualifikation in Teilbereichen von Ausbildungsberufen, modularen Ausbildungsformen und anderen Formen der Vorbereitung auf berufliche Eingliederung.

17. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts soll klargestellt werden, daß Rehabilitanden in Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken keine Arbeitnehmer sind, sondern einen Sonderstatus haben.

18. Die Möglichkeiten der beruflichen Rehabilitation von Frauen sollen auch durch spezifische Angebote und durch Abfangen geschlechtstypischer Belastungssituationen verbessert werden.

19. Sinnvolle Weiterentwicklung des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe

  • aktive Bemühung der Bundesanstalt für Arbeit um verstärkte Beschäftigung (Schwer-) Behinderter,

  • Überprüfung der Höhe der Ausgleichsabgabe und des Umfangs der Beschäftigungspflicht,

  • Neuregelung der Verwendung der Ausgleichsabgabe, auch zur Finanzierung neuer, zusätzlicher Instrumente zur Eingliederung (Schwer-) Behinderter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (wie Integrationsfachdienste, Integrationsfirmen, -betriebe, -abteilungen), sowie für finanzielle Anreize für Arbeitgeber, ihren Betrieb (z.B. durch Arbeitsschutzmanagement) so zu organisieren, daß der Eintritt von Behinderungen möglichst weitgehend vermieden wird,

  • Neuverteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund (Ausgleichsfonds), BA und Ländern (Hauptfürsorgestellen),

  • Rechtsanspruch Schwerbehinderter, von Arbeitgebern, die ihre Beschäftigungspflicht nicht (voll) erfüllen, bei vergleichbarer Eignung bevorzugt eingestellt zu werden.

20. Bei der beruflichen Eingliederung (schwer-)behinderter Menschen sollen die Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und der anderen Träger der beruflichen Rehabilitation einerseits und der Hauptfürsorgestellen andererseits klarer voneinander abgegrenzt und gegebenenfalls neu festgelegt werden, z.B. bei notwendiger Arbeitsassistenz. Sie sollen sich inhaltlich am individuellen Fähigkeits- und Entwicklungspotential, dem Ziel vorrangiger Eingliederung unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts, betrieblicher Nähe und Praxis, Integrationsbegleitung entsprechend individuellem Bedarf, regional verfügbarer Arbeit und der Koordination der verfügbaren Hilfesysteme orientieren.

21. Stärkung der Beteiligungsrechte der Betriebs-/Personalräte in §23 SchwbG und der Schwerbehindertenvertretungen z.B. durch

  • Innerbetriebliche Integrationsplanung,

  • Mitbestimmungs- und Initiativrechte bei Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsablaufs und der Arbeitsbedingungen,

  • Verstärkung der Beteiligungsrechte bei personellen Maßnahmen,

  • Verbesserte Freistellung der Vertrauensleute der Schwerbehinderten,

  • Recht auf Teilnahme an Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses,

  • Eigenständigen Schulungs- und Bildungsanspruch für Vertreter der Vertrauensleute der Schwerbehinderten

22. Schaffung und Weiterentwicklung zusätzlicher Instrumente zur Eingliederung (Schwer-) Behinderter zu den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts (wie in Koalitionsvereinbarung vorgesehen), z.B. für besonders betroffene (Schwer-) Behinderte

  • qualifizierte Integrationsfachdienste zur Unterstützung der Vermittlung und arbeitsbegleitenden Betreuung und

  • Beschäffigungs-/Integrationsfirmen, -betriebe, -abteilungen.

23. Verbesserung der Beschäftigungssituation Schwerbehinderter durch besondere Maßnahmen im öffentlichen Dienst von Bund, Ländern und Gemeinden (z.B. Pool, der aus Stellen von Behörden gespeist wird, die die Beschäftigungspflicht nicht erfüllen und auf den Behörden zurückgreifen können, die die Beschäftigungspflicht erfüllen).

24. Verbesserung des Entgelts von Behinderten in Werkstätten

25. Der Übergang aus Werkstätten für Behinderte in Betriebe und Verwaltungen des allgemeinen Arbeitsmarktes soll erleichtert und gefördert werden, insbesondere auch durch

  • Einsatz entsprechender Fachdienste,

  • Übergangsfördernde rechtliche Regelungen,

  • Überprüfung des Förderinstrumentariums.

26. Bei Neu- und Umbau von Gebäuden, Anlagen und Verkehrsmitteln und insbesondere auch in Betrieben und Verwaltungen ist dem Grundsatz der Barrierefreiheit Geltung zu verschaffen.

27. Es wird geprüft, ob und in welcher Weise die Rahmenbestimmungen der Vereinten Nationen zur Herstellung der Chancengleichheit und andere internationale Übereinkünfte und Empfehlungen in nationales Recht umzusetzen sind.

28. Für die Verbände der Behinderten wird ein Verbandsklagerecht zur Durchsetzung berechtigter Anliegen geschaffen.

29. Es wird geprüft, inwieweit die Heranziehung unterhaltspflichtiger Eltern behinderter Kinder zwischen ambulanter und stationärer Hilfe gerechter gestaltet werden kann sowie die höheren Einkommensgrenzen konkreter gefaßt werden können.

Quelle:

Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Diskussionspunkte für ein SGB IX -Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

Erschienen in: impulse Nr. 12 / Juni 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 16.02.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation