What's in it for us?

Integrationskultur und Integrationsfachdienste aus unternehmerischer Sicht - Thesen

Autor:in - Ralf Wetzel
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 10, Okt. 1998 impulse (10/1998)
Copyright: © Ralf Wetzel 1998

1. Betriebswirtschaftlicher Vorspann

Unternehmen existieren nicht zum Selbstzweck, sondern zur Erzielung eines Mehrwertes - Das war ein Ergebnis des Workshops von Frau Christmann auf der diesjährigen Jahrestagung der BAG-UB in Mannheim. Grundlage dafür ist eine hinreichend stabile Position am Markt, um Leistungen anbieten und realisieren zu können. Zum Aufbau und Erhalt einer solchen Position braucht es v.a. Wettbewerbsvorteile, die den Nutzen eines Kontaktes gerade mit diesem Unternehmen aus Sicht des Kunden wertvoll machen. Wettbewerbsvorteile sind die Grundlage für Mehrwert.

Die Betriebswirtschaftslehre hat gegenwärtig v.a. zwei Konzepte zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen parat:

  1. Anpassung an Marktgegebenheiten (externe Orientierung)

  2. Generierung von unternehmensspezifischen, schwer kopierbaren und dauerhaft haltbaren Ressourcen (interne Orientierung)

Unternehmenstests sind ein Beispiel dafür, wie der Markt Anpassungsleistungen von Unternehmen fordern kann. Sobald ein über einen Unternehmenstest erlangtes Zertifikat einen Wettbewerbsvorteil (z.B. in Form eines gesteigerten Kaufinteresses) nach sich zieht, werden Unternehmen sich verstärkt solchen Tests unterziehen und (evtl.) ihre Unternehmenspolitk ändern - dann und nur dann.

Unternehmenskultur dagegen ist eine wesentliche Variable für die interne Perspektive. Hier steht der Mitarbeiter als Ressource im Mittelpunkt. Wenn z.B. ein partizipatives Arbeitsklima herrscht, die Belegschaft in wesentlichen Werten übereinstimmt, ähnliche Normen akzeptiert usw., kann sich das positiv auf Qualität und Kosten des Arbeitsergebnisses auswirken oder können völlig neue Produkte generiert werden. Kultur beeinflußt folglich grundlegend das Qualitätsniveau, die Kostenstruktur ebenso wie die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens: Kultur ist dementsprechend eine wesentliche Basis für Aufbau und Erhalt von Wettbewerbsvorteilen.

2. Integrationskultur und Unternehmen - zwei Thesen

Die Ausgangsfrage der Tagung lautete: "Kann im Unternehmen eine Kultur erzeugt werden, die Integration von Menschen mit Behinderungen ermöglicht bzw. fördert?" Diese Frage ist aus Sicht der Integrationsfachdienste berechtigt und notwendig. Unberücksichtigt bleibt dabei aber die Perspektive des Unternehmens. Die Beantwortung der Frage bleibt aus Sicht des Unternehmens unbefriedigend, solange Integration nicht in irgendeiner Weise auf Wettbewerbsvorteile bzw. Mehrwert übertragen werden kann.

Anders, so vermute ich als erste These, verhält sich die Motivation der Unternehmen, wenn man die Frage umkehrt:

"Was kann einem Unternehmen eine Integrationskultur für Vorteile bzgl. Aufbau und Erhalt dauerhafter Wettbewerbsvorteile bringen?"

Die ursprüngliche Frage ist substantiell in der zweiten enthalten, ihr Aufwerfen wird trivial, sobald die zweite Frage ernsthaft und untersetzt mit "JA" beantwortet werden kann. Entscheidend ist in diesem Moment das "Wie komme ich dahin?". Unabhängig von ihrem Ergebnis halte ich die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung in jedem Falle für sinnvoll, wenn sie von allen drei beteiligten Gruppen untersucht wird: Fachdiensten, Bewerbern und Unternehmen. Der Unterschied zu vorher: alle drei haben m.E. das Interesse an einer Beantwortung.

Eine zweite These ist nun, daß diese Frage tatsächlich mit "JA" beantwortet werden kann. Es existieren Forschungsarbeiten zur Untersuchung von Entstigmatisierungsprozessen in Integrationsfirmen. Ein Ergebnis davon ist, daß sich im Verlauf der Auseinandersetzung von behinderten und nichtbehinderten Personen innerhalb der Integrationsfirma Einstellungen und Verhaltensweisen beider Gruppen ändern und es zur Etablierung einer kulturell verankerten "Akzeptanz der Unterschiedlichkeit" (Seyfried) kommen kann.

Unternimmt man den vorsichtigen Versuch einer Übertragung auf "normale" Unternehmen, so kann zunächst davon ausgegangen werden, daß Unternehmen, die sich auf die Integration behinderter Mitarbeiter "einlassen", einer fundamentalen individuellen und organisationalen Infragestellung ihres Verständnisses von Identität, Vision und Politik gegenüberstehen. Welche Auswirkungen das für die Beteiligten haben kann, ist für niemanden absehbar. Gelingt jedoch eine nachhaltige Integration, so wird über den Integrationsprozeß der Aufbau von individuellen und v.a. organisationalen Mustern für Krisenbewältigung und Problemverarbeitung im Unternehmen möglich, die mehrere Qualitäten aufweisen:

Diese Muster sind prospektiv, schnell integrierbar und äußerst flexibel; sie können also schnell verwendet und wenn nötig angepaßt werden. Solche Verarbeitungsmuster sind generell für Unternehmen in der gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation (Globalisierung, Krise der Arbeits- und Industriegesellschaft usw.) dringend notwendige Werkzeuge zum Erhalt der unternehmerischen Überlebensfähigkeit; nur - es gibt sie bislang noch nicht - oder vielmehr: sie sind noch nicht bekannt.

Fazit: Integration als Unternehmenskulturbestandteil könnte ein Baustein dafür sein, eine Organisation kognitiv und affektiv so weit zu flexibilisieren, daß sie in die Lage versetzt wird, eine Reihe von ökonomisch-gesellschaftlichen Dilemmata und Paradoxien buchstäblich "handhabbar" zu machen, denen sie augenblicklich mehr oder weniger hilflos gegenübersteht. Integration könnte eine Möglichkeit für Unternehmen sein, den Umgang mit diesen Dilemmata bewußt zu lernen. Von diesem Punkt ist es nun nur ein kleiner Schritt zum Wettbewerbsvorteil und von dort zur Integrationsmotivation.

3. Was bedeutet das für Fachdienste?

Integrationsfachdienste greifen mit ihrer Arbeit tief in organisationale Zusammenhänge ein - weit hinaus über Motivierung der Unternehmer, die Erfindung von Arbeitsplätzen und Aufbau wie Sicherung von kollegialer Unterstützung.

Sie beeinflussen individuelle wie organisationale Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Handlungsroutinen. Und sie beeinflussen massiv die Identität der Organisation - und (damit) ihre Zukunft (Die Anregung zu diesem Gedanken verdanke ich wiederum dem Workshop von Frau Christmann).

Durch das Auftreten von Integrationsfachdiensten werden in den Unternehmen Selbstreflexionsprozesse auf individueller und organisationaler Ebene angestoßen, die u.a. die Frage mit sich bringen, wie und was die Organisation eigentlich ist, was sie sein will und letztlich sein wird. Wenn Fachdienstmitarbeiter Unternehmer danach fragen, ob sie sich vorstellen könnten, behinderte Personen zu beschäftigen, fragen sie den Unternehmer und seinen Betrieb schlicht nach dessen Zukunft und einer Vision dafür.

Fachdienstarbeit ist unter dieser Perspektive folglich aus unternehmerischer Perspektive Visions- und damit organisationale "Identitätsarbeit".

Überlegenswert ist nun, ob nicht diese "Arbeit für die Firma" als eine relevante Aufgabe für Fachdienste definiert werden sollte und welche Konsequenzen das hätte.

Als Konsequenzen ergäben sich aus meiner Sicht folgende Aspekte:

  • Fachdienste hätten einen weit größeren Einfluß auf das Unternehmen als bisher angenommen, da sie eine völlig andere Rolle aus Sicht des Unternehmens einnähmen. Fachdienste sind nicht mehr lästige Moralisten, die eigentlich nur als Bittsteller auftreten, sondern sie werden zu ernstzunehmenden Partnern, Experten und Beratern in firmenureigensten Belangen. Darüber ergäben sich völlig neue Argumentations- und Einstiegsplattformen in Unternehmen für die Fachdienste.

  • Der Fachdienst befindet sich aber auch in einer ambivalenten Situation zwischen 'Klient' und Unternehmen - die Arbeit wird mehr als bisher zur Gratwanderung, die entweder in Selbstzerfleischung oder in Polarisierung für eine Partei umschlagen kann. Existierende, vermeintlich antagonistische Kulturgegensätze z.B. in Form gegensätzlicher Zielsetzungen, differenzierter Sprache und Kommunikation sowie differenzierter Normativität der Parteien begründen und fördern diesen Gegensatz.

Verfolgt man den Gedanken einer Nutzung des "unternehmerischen Potentials" der Fachdienste weiter, werden dafür eine Reihe von grundsätzlichen Überlegungen und - früher oder später - Entscheidungen notwendig:

  • Ein Perspektivenwechsel im Verständnis des Unternehmens ist zwangsläufig: Es geht nicht mehr um das kapitalistische, über Ausbeutung und Entfremdung funktionierende Unternehmen, das keine moralischen Werte kennt, sondern vielmehr um das Unternehmen als strategischem Partner, dessen Interessen anerkannt werden müssen.

  • Es wird ein Perspektivenwechsel in der Selbstdefinition und -wahrnehmung der Fachdienste zwangsläufig: Neben die Kundengruppe der behinderten Arbeitssuchenden tritt der Kunde "Unternehmen", der den Fachdienst als strategischen Partner mit Visions- und Identitätskompetenz betrachtet. Das würde auch eine organisationale bzw. "unternehmerische" Professionalisierung der Fachdienste erforderlich machen.

  • Es ist fraglich, ob der Supported-Employment-Ansatz für eine solche Weitung und Neuorientierung bereit und in der Lage ist. Bislang weist dieser Ansatz notwendigerweise eine deutlich individualistische Prägung auf. Organisationale und kollektive Faktoren würden bei einer solchen Umorientierung deutlicher betont werden müssen.

Diese Überlegungen sind Thesen. Die Vorteilhaftigkeit von Integrationskulturen für Unternehmen als Grundlage obiger Argumentation ist eine Hypothese, die bislang weder theoretisch noch empirisch reflektiert und nur durch eine abstrakte Übertragung von einem Spezialfall hergeleitet wurde.

Entscheidend für eine Fortsetzung dieser Überlegungen ist jedoch nicht nur die Stabilität obiger Argumentation. Integrationsfachdienste sind auch politische Institutionen. Sie besetzen mit den normativen Grundlagen ihrer Arbeit politische Positionen, die von einem solchen Perspektivenwechsel nicht unbeeinflußt bleiben würden. Fraglich ist daher auch, ob man sich deren Infragestellung aussetzen will und kann.

Ralf Wetzel, ifip - TU Chemnitz

Quelle:

Ralf Wetzel: What's in it for us? Integrationskultur und Integrationsfachdienste aus unternehmerischer Sicht - Thesen

Erschienen in: impulse Nr. 10 / Okt. 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 07.02.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation