"Hauptsache, überhaupt eine Arbeit"?

Eine frauenpolitische Reflexion unterstützter Beschäftigung

Autor:in - Elke Schön
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 10, Okt. 1998 impulse (10/1998)
Copyright: © Elke Schön 1998

"Hauptsache, überhaupt eine Arbeit"?

In der Arbeitsgruppe "Frauen in Unterstützter Beschäftigung" auf der Fachtagung der BAG UB am 9. Mai 1998 in Mannheim ging es um eine frauenpolitische Reflexion der Praxis in Unterstützungsstrukturen von Fachdiensten und Projekten. Die eingebrachten Interessen der Teilnehmerinnen an der Arbeitsgruppe sollen an dieser Stelle umrissen werden, denn in ihnen spiegeln sich die Bedürfnisse, Interessen und Problemlagen sowohl ratsuchender Frauen als auch beratender/unterstützender Frauen wider:

  • Eine im Metallbereich einer Werkstatt für Behinderte beschäftigte Teilnehmerin wünscht einen betrieblichen Arbeitsplatz mit angemessener Entlohnung, an dem sie ihre beruflichen Kompetenzen einsetzen kann. Sie möchte endlich in finanzieller Unabhängigkeit von ihren Eltern selbständig leben können. Sie verdeutlicht, wie Frauen, die schon lange in einer Wartesituation leben und keinen betrieblichen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt bekommen, dahin gelangen können, einfach jede Beschäftigung annehmen zu "wollen" nach dem Motto "Hauptsache überhaupt eine Arbeit", auch wenn sich für Frauen eigentlich mit dem Beschäftigungswunsch hohe identifikatorische Erwartungen verbinden.

  • Fachfrauen reflektieren kritisch eigene Haltungen in Fachdiensten und Projekten: Warum werden ratsuchende Frauen mit Behinderungen, und insbesondere Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen, in frauentypische und hausarbeitsnahe Beschäftigungen eingegliedert und erfahren geschlechtsspezifische strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierungen über berufliche Eingliederungen? Warum werden sexistische Anmache und Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen an Arbeitsplätzen, in Institutionen und in alten und neuen Lebensformen übersehen und tabuisiert? Aus der Selbstreflexion und dem Überdenken tradierter Bilder von Frauen mit Behinderungen in der Arbeits- und Lebenswelt erwachsen Wünsche nach einer konzeptionellen Verankerung frauenfördernder Strategien in den Arbeitsfeldern. Doch mit dem Wunsch werden 'Leerstellen' in beratenden und unterstützenden Konzepten sichtbar: Welcher neuen Elemente bedarf es in der Arbeit mit Frauen, um mit ihnen in einen Dialog treten zu können? Ihre beruflichen Wünsche und Interessen zu erfahren? Ihnen Experimentier-Räume zu eröffnen, in denen sie miteinander Berufsideen entwickeln können, die sich mit ihren Lebenskonzepten verbinden lassen? Welche Rahmenbedingungen und welche Qualifikationen brauche ich dabei als Beraterin/Unterstützerin?

  • Fachfrauen mit Behinderungen, die in einem zeitlich befristeten Frauenprojekt für Frauen mit Behinderungen eine mobile Beratung zur beruflichen Orientierung mit dem Ansatz des Peer-Counseling konzipierten und organisierten, stehen vor dem Problem, ihr Projekt abzusichern. Die Finanzierung einer wissenschaftlichen Begleitforschung wurde beantragt, jedoch nicht bewilligt. Zudem sieht sich das Projekt von Verwaltungsseite mit der Frage konfrontiert: Warum bedarf es einer besonderen mobilen Beratung speziell für Frauen mit Behinderungen? Um die besondere Qualität dieses Modellprojektes und seine hohe Akzeptanz bei Frauen mit Behinderungen nachweisen und etablieren zu können, sind eine Evaluierung und Auswertung der vorliegenden Erfahrungen eigentlich unabdingbar.

  • Fachfrauen und studierende Frauen bemängeln fehlende geschlechterdifferenzierende Inhalte und Ansätze in Ausbildungsgängen der Behinderten- und Sonderpädagogik, der Rehabilitation, der Sozialpädagogik und Sozialarbeit. In den neuen Arbeitsfeldern wird zunehmend ein theoretisches Wissen über geschlechterdifferenzierende Ansätze und Standards erwartet und vorausgesetzt. Gewünscht wird somit die Verankerung geschlechterdifferenzierender Inhalte in den Ausbildungsplänen und -verordnungen.

Herausgearbeitet wurde:

  • mit welchen Bedürfnissen und Erwartungen Frauen mit Behinderungen unterstützende Fachdienste aufsuchen;

  • welche Erfahrungen diese Frauen in der Regel während einer unterstützten Beschäftigung machen;

  • welcher frauenspezifischen Handlungsansätze und Rahmenbedingungen es in berufsbegleitenden Fachdiensten bedarf, um den Bedürfnissen betroffener Frauen nach Status, Chancengleichheit und Verselbständigung in Beruf und Lebensalltag gerecht zu werden.

Eine kurze Bilanz

Vorweg gesagt: Natürlich gibt es Beispiele geglückter beruflicher Eingliederungen und unterstützter Beschäftigungen von Frauen mit Behinderungen. Es gibt Frauen, die zufrieden mit der Beratung und Begleitung sind, die sie durch Fachdienste erfahren haben, deren berufliche Wünsche sich erfüllt haben, die in Betrieben unter günstigen Konstellationen arbeiten können und deren Einkommenssituation dem durchschnittlichen Einkommen der betrieblich eingegliederten Männer entspricht. Und dennoch: Ihre Berufsorientierung, Berufsfindung und berufliche Eingliederung erfährt ein großer Teil der Frauen mit Behinderungen als einen Prozeß, der verbunden ist mit neuen Formen von Anpassung, Abwertung, Verletzung und Fremdbestimmung. In der Berufsorientierung werden immer noch viele Frauen auf hausarbeitsnahe und frauentypische Tätigkeiten festgelegt. Da sie gleichzeitig diesen Tätigkeitsbereich in seiner Abwertung erfahren als unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit; als Arbeitsbereich, dem sich Männer zumeist verweigern, sind diese Arbeitsbereiche für die Frauen mit Ambivalenzen und Zwiespalten verbunden: einerseits haben sie auf diese Tätigkeitsbereiche hin Kompetenzen erworben, andererseits müssen sie in diesen Beschäftigungsbereichen in der betrieblichen Realität zumeist unter hochbelasteten Bedingungen und ungünstigen Konstellationen arbeiten. Es ist bekannt, daß in diesen typischen Frauenbeschäftigungsbereichen nicht zuletzt wegen dort vorfindbarer besonderer Konfliktstrukturen eine hohe Fluktuation herrscht. Befragungen haben unter anderem zum Ergebnis, daß Frauen mit Behinderungen sich bewußt sind, daß sie im Betrieb den niedrigsten Status einnehmen und in den niedrigsten Lohngruppen eingruppiert sind. Oft erfahren sie Sexismus am Arbeitsplatz, fühlen sich isoliert und ausgegrenzt (vgl. Schön, Elke: Frauen und Männer mit geistiger Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Reutlingen 1993). In ihren Bewältigungsstrategien versuchen Frauen entweder, diese Beschäftigungsverhältnisse ´durchzuhalten´ oder sie zeigen Widerstand gegen erfahrene Entwertungsprozesse und brechen solche Arbeitsverhältnisse ab, suchen einen neuen Arbeitsplatz oder kehren in die Werkstatt für Behinderte zurück. Als Ratsuchende wenden sie sich an Fachdienste mit der Erwartung, Hilfestellung beim Durchbrechen dieser frauentypischen berufsbiographischen ´Regelläufe´ zu erhalten. Den Fachdiensten kommt somit eine Schlüsselstellung dabei zu:

  • der Segmentierung in einen geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkt mit seinen besonderen Benachteiligungen gerade für Frauen mit Behinderungen zu begegnen,

  • beispielhafte Arbeitsprinzipien zur Frauenförderung anzuwenden und Beteiligungsformen anzubieten, die für Frauen ohne Behinderung seit geraumer Zeit gelten.

Was bedeutet das mit Blick auf eine frauenpolitische Reflexion der Praxis von Fachdiensten und Projekten? Es können hier nur stichwortartig besonders wichtige Maßnahmen angesprochen werden, die als frauenfördernder Standard in Konzeptionen zu berücksichtigen wären und in der Arbeitsgruppe diskutiert wurden:

  • Die Phase der Berufsorientierung und Berufsfindung ist neu zu gewichten unter dem Gesichtspunkt der Eröffnung eines breiteren Spektrums beruflicher Tätigkeiten und der Schaffung von Wahlmöglichkeiten (auch unter Beachtung der Vermittlung von Schlüsselkompetenzen).

  • Bevorzugt die ratsuchende Frau von sich aus eine hausarbeitsnahe Tätigkeit im Dienstleistungsbereich, so sind bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes Betriebe ausfindig zu machen, die bei der Gestaltung von Arbeitsplatz und -umfeld günstige Konstellationen aufweisen. Ebenso ist gemeinsam mit der Ratsuchenden zu reflektieren, wie es mit der tariflichen Eingruppierung an diesem Arbeitsplatz in diesem Betrieb aussieht und was das für ihren Lebensentwurf bedeutet (läßt er sich so noch realisieren?).

  • Die Beratung und Begleitung durch auch in der Frauenförderung qualifizierte Fachfrauen scheint selbstverständlich, ist aber immer noch nicht als Prinzip in die Praxis eingeflossen. Ansätze des "peer-counseling" (Frauen mit Behinderung beraten Frauen mit Behinderung) und des "peer-support" (Aktivierung des Selbsthilfepotentials von Frauen) nehmen in der frauenpolitischen Diskussion inzwischen einen besonderen Stellenwert ein.

  • In den Lebensentwürfen von Frauen spielt die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und sonstiger Arbeit / häuslicher Arbeit eine besondere Rolle. Ebenso haben wir festgestellt, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit Lebensformen ist. Mit der beruflichen Eingliederung individualisieren sich für viele Frauen ihre Lebensformen. Zu beobachten ist, daß das Leben in Gewaltverhältnissen zunimmt (ob in der Partnerschaft, der Familie, der Institution). Fachdienste fühlen sich dafür nicht zuständig, alte ´Zuständigkeiten´ haben sich aufgelöst, so daß beruflich eingegliederte Frauen häufig in die Isolation geraten. Hier zeigt sich ein neuer Handlungsbedarf.

  • Regionale Netzwerkarbeit und Multiplikatorinnenarbeit für und mit Frauen mit Behinderungen bieten die Möglichkeit, öffentlich Ausgrenzungen sichtbar zu machen, Einmischungsstrategien zu entwickeln und Solidarität zwischen Frauen mit und ohne Behinderung zu fördern. Der autonome ´Multiplikatorinnen-Treff´ in Tübingen, an dem Frauen unterschiedlicher Arbeitsfelder aus der Region Tübingen-Reutlingen-Balingen-Böblingen beteiligt sind, arbeitet seit sieben Jahren an lebenswelt- und arbeitsweltorientierten Ansätzen. Entwickelt und organisiert werden Erfahrungsaustausch, Fortbildungsangebote, Räume zur Selbstvertretung und Öffentlichkeitsarbeit zu brisanten Themen (wie etwa ´sexistische Gewalt gegenüber Frauen mit Behinderungen´).

Die Teilnehmerinnen schätzten eine solche Netzwerk- und Multiplikatorinnenarbeit als richtungsweisend ein. Artikuliert wurde der Wunsch, auf der nächsten Tagung mehr über solche fraueneigenen regionalen Netzwerkstrukturen und ihre Etablierung zu erfahren.

Elke Schön, Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung e.V.

Quelle:

Elke Schön: "Hauptsache, überhaupt eine Arbeit"? - Eine frauenpolitische Reflexion unterstützter Beschäftigung

Erschienen in: impulse Nr. 10 / Okt. 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.02.2005

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