Migration und Interkulturalität

Ein neues Herausforderungsfeld für die Behindertenhilfe?

Autor:in - Jan Jochmaring
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse, Magazin der Bundesgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung, Nr. 76/2016, S. 12-18, Schwerpunkt: Migration. impulse (76/2016)
Copyright: © Jan Jochmaring 2016

Abbildungsverzeichnis

    Abstract:

    Im Bereich der Behindertenhilfe wird seit einiger Zeit ein steigender Unterstützungsbedarf von Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund wahrgenommen, im Bereich des Förderschulwesens eine überproportional hohe Repräsentanz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund festgestellt. Dies prägt die öffentliche Wahrnehmung von Behinderung im Zusammenhang mit Migration. Doch inwieweit stimmt diese Kausalität und inwiefern ist sie in Bezug auf Ausgestaltung einer so genannten inklusiven Beschulung und der teilhabegerechten Behindertenhilfe sinnvoll?

    Migration und Interkulturalität

    Sowohl so genannte Menschen mit Behinderungen als auch Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund werden häufig und nicht nur sprachlich vor dem Hintergrund ihrer „mit -Eigenschaft„ adressiert, angesprochen und wahrgenommen. Wenn man sich mit den Zusammenhängen und dem Schnittfeld von Migration und Behinderung beschäftigt, gilt es sich zunächst klar zu machen, von wem überhaupt gesprochen wird. Wer ist das genau – ein Mensch „mit Migrationshintergrund“ bzw. „mit Behinderung“? Geht es um migrantische Behinderte oder behinderte Migranten?

    Wie sich das Zusammenwirken der Dimensionen Migration und Behinderung genau vollzieht, ist bislang aus Sicht der wissenschaftlichen Forschung umstritten und nicht eindeutig zu beantworten. Bisher wurde sich in Fachpublikationen und Diskussionen von der eigenen Disziplin ausgehend zumeist dem jeweils „anderen Personenkreis“ zugewendet. Das Schnittfeld der Personengruppen ist in der wissenschaftlichen Forschung erst seit kurzer Zeit in das Blickfeld gerückt.[1] (siehe Sammelband von Wansing/Westphal 2014)

    Dieser Beitrag widmet sich dem Zusammenhang beider Begriffe und zeigt auf, dass eine differenzierte Betrachtung der Konzepte in Hinblick auf die Ausgestaltung individuell passender Unterstützungsangebote geboten ist.

    Migration ist in Deutschland seit vielen Jahrzehnten ein Normalfall. In diesem Beitrag wird der Migrationsbegriff hergeleitet/diskutiert und die Bezüge zum Themenkomplex Behinderung werden verdeutlicht. Nach einer Zusammenfassung der Phasen der Einwanderungsgeschichte nach Deutschland wird ein Überblick über die Bevölkerungsstruktur gegeben und die viel verwendete Formulierung „Menschen mit Migrationshintergrund“ aufgeschlüsselt. Anhand empirischer Daten werden die Vielschichtigkeit der bundesdeutschen Migrationsgesellschaft, die Entstehung und Inhalt der Personenkategorien Menschen mit Behinderung bzw. Migrationshintergrund erläutert und der aktuelle Forschungsstand dargestellt. Dabei werden das Schnittfeld und die Repräsentanz behinderter bzw. Menschen mit Migrationshintergrund analysiert. Ob und inwieweit die Themen Migration und Interkulturalität für die Behindertenhilfe ein neues und spezielles Herausforderungsfeld darstellt wird abschließend (kritisch) diskutiert.



    [1] Für den Bereich der Migrationsforschung ist festzuhalten, dass die Beschäftigung mit dem Themenfeld Behinderung bzw. den damit zugeschriebenen Personenkreisen kaum vorkommt. Lediglich die Überrepräsentanz von ausländischen Kindern an Förderschulen ist seit geraumer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Thematisierung (Powell/Wagner 2014). Hingegen beschäftigen sich die verschiedenen Disziplinen der Heil-, Rehabilitations- und Sonder- bzw. Inklusiven Pädagogik intensiv mit dem Merkmal Migration. Vor allem in der Bildungswissenschaft und im Schulkontext sind Migration, Interkulturalität und Heterogenität ein zentrales Feld und Gegenstand der wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen und ein breites Forschungsfeld.

    Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

    Nach dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention und der Ratifizierung dieser in Deutschland 2009 wurde im Jahr 2011 von der Bundesregierung der „Nationale Aktionsplan Inklusion“ verabschiedet. Als eines von insgesamt sieben Querschnittsthemen wurde der Themenkomplex Migration aufgenommen und muss damit in jedem Handlungsfeld Berücksichtigung finden, wie z.B. bei der Weiterentwicklung inklusiver Maßstäbe, u.a. in der Rehabilitation und Pflege (Nationaler Aktionsplan 2012).

    Um die Vielschichtigkeit des Migrationsbegriffs zu verdeutlichen, ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die Zuwanderungsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit sinnvoll. Deutschland ist seit vielen Jahrzehnten ein Einwanderungsland, auch wenn dieses Selbstbekenntnis erst mit Beginn der rot-grünen Koalition zum Regierungswechsel 1998 vollzogen wurde. Es lassen sich in gebotener Kürze folgende Einwanderungsphasen nach Deutschland unterscheiden:

    Den Beginn markierte die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte im Jahr 1955, welches später die Phase der „Gastarbeitermigration“ genannt wurde. In diesem Zuge wurden für manuelle, meist körperlich stark belastende Industriearbeiten vor allem junge Männer aus den verschiedenen Mittelmeerländern wie Spanien, Portugal, der Türkei oder Griechenland und später Jugoslawien ins Land geholt. Diese Periode zog sich bis zur Ölkrise und dem Konjunkturabschwung im Jahr 1973 und dem damit verbundenen Anwerbestopp. Im Anschluss daran kamen die Einwanderungen jedoch nicht, wie politisch beabsichtig, zum Erliegen, sondern setzten sich durch den so genannten Familiennachzug fort, indem die Gastarbeiter Frauen und Kinder nachholten.[2] Auch in der DDR gab es die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften – es handelte sich um die so genannten „Werk-vertragsarbeiter“ aus den „sozialistischen Bruderstaaten“, u.a. aus Angola, Kuba oder Vietnam. Ähnlich wie in der BRD war ein Kontakt zur einheimischen Bevölkerung abseits des Arbeitsplatzes i.d.R. nicht erwünscht, die Unterbringung geschah häufig wie in Westdeutschland in separaten Wohnunterkünften, zum Teil auch in Baracken auf dem Werksgelände der Industriebetriebe.

    Eine weitere wichtige Zuwanderungsgruppe stellen die insgesamt 4,5 Millionen (Spät-) Aussiedler_innen inklusive ihrer in Deutschland geborenen Nachkommen dar, die seit 1950 einwandern. (Spät-)Aussiedler_innen haben als deutsche „Volkszugehörige“ den Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Aussiedler_innen wanderten zu jeder Zeit in die Bundesrepublik ein. Die meisten wanderten zu der Zeit der politischen Umbrüche in Osteuropa während der 80er Jahren bis 1993 ein.[3] Seit der Grundgesetzänderung (Art.16a GG) und dem so genannten Asylkompromiss im Jahr 1993, welcher Einwanderungen insgesamt deutlich erschwerte, spricht man von Spätaussiedler_innen. Der Zuzug kam allmählich zum Erliegen und ist seit den 2000er Jahren mit einigen Tausend Menschen jährlich quantitativ unbedeutend. (Geißler 2014) Weitere Zuwanderungsphasen sind die Flüchtlingszuwanderung, u.a. aufgrund von Bürgerkriegen und individueller Verfolgung, während der 80er und 90er Jahre. In dieser Zeit kamen u.a. kurdische Flüchtlinge, Menschen aus den Maghreb-Staaten und aus Subsahara Afrika, sowie aus den verschiedenen Balkanstaaten. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und das Inkrafttreten des so genannten Zuwanderungsgesetztes im Jahr 2005 markiert einen weiteren Meilenstein und das endgültige, jetzt auch rechtlich-politisch reformierte, Eingeständnis der BRD ein Einwanderungsland zu sein. Seitdem ist unter bestimmten Bedingungen auch der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt (ius soli Prinzip) für die Kinder von ausländer_innen möglich. Seit der gleichzeitigen Wirksamkeit der EU Freizügigkeitsregelungen kommen mehrheitlich gut ausgebildete Menschen aus vielen Teilen Osteuropas als Arbeitsmigrant_innen, von denen Deutschland in hohem Maße volkswirtschaftlich profitiert. Ganz aktuell bestimmen vor allem die anhaltenden Fluchtwanderungen von Menschen u.a. aus Syrien, Irak und Afghanistan das politische Geschehen.



    [2] Heute lebt die dritte, zum Teil sogar schon die vierte Generation der Gastarbeiter in Deutschland. Die ehemaligen angeworbenen Arbeitskräfte sind heute im Rentenalter und zum Teil in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Im Zuge der Gastarbeitermigration sind insgesamt 24 Millionen Menschen zugewandert, 21 Millionen von ihnen verließen die Bundesrepublik wieder.

    [3] Heute leben noch über 3 Millionen (Spät-)Aussiedler bzw. ihre Nachkommen in Deutschland. Dabei stellen diejenigen aus der ehemaligen UdSSR (hier vor allem die Teilrepubliken bzw. Nachfolgestaaten Russland und Kasachstan) zusammen mit ca. 1,5 Millionen Menschen die größte Gruppe dar. Annähernd 600.000 Menschen kamen als so genannte „Polendeutsche“ in die BRD, außerdem über 200.000 aus Rumänien sowie aus anderen osteuropäischen Staaten.

    Definition Migrationshintergrund

    Die Migrationsbewegungen nach Deutschland haben wie gezeigt ganz vielfältige intergründe. Um diese differenziert berücksichtigen zu können soll im Weiteren die Begrifflichkeit ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ näher beleuchtet werden. Häufig wird verallgemeinernd von „Migranten“ gesprochen – die Bezeichnung deutet auf den lateinischen Ursprung „migratio“, also Wanderung hin. Der Sammelbegriff „Migrant“ wird in der Alltagssprache sowohl für Ausländer_innen, als auch Menschen mit (vermeintlich) nicht-deutscher Herkunft verwendet, Fremdheit oder eine Zuwanderungsgeschichte werden häufig vorausgesetzt oder mitgedacht. Welche Personengruppen genau sich hinter diesem Sammelbegriff verbergen ist zumeist wenig bekannt. Eine klare Begriffsdefinition bietet der Mikrozensus des statistischen Bundesamtes – es ist die umfangreichste Haushaltsbefragung in Deutschland und die etablierteste Bevölkerungsstatistik. Auf der Grundlage des ikrozensusgesetz 2003 sind Menschen mit Migrationshintergrund „alle Ausländer und eingebürgerte ehemalige Ausländer, alle nach 1949 als Deutsche auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderte, sowie alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.“ (Statistisches Bundesamt 2015: 5)

    Auf der Grundlage der Daten des aktuellen Mikrozensus hatten im Jahr 2014 insgesamt 16,4 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Somit ist jede(r) fünfte Bewohner_in der knapp 81 Millionen Menschen in der BRD ein Mensch mit Migrationshintergrund.[4] Differenziert nach Herkunftsländern stellt die Türkei mit knapp 3 Millionen Menschen den größten Anteil, es folgen mit jeweils ca. 1,5 Millionen die Personen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie aus Polen. Etwas über eine Million sind aus Russland zugewandert, es folgen mit etwas unter einer Million Menschen aus Kasachstan und Italien. (Statistisches Bundesamt 2015: 38ff ) Allgemein wird in der Bevölkerungsstatistik unterschieden zwischen Deutschen und Ausländer_innen, d.h. Personen die einen oder keinen deutschen Pass besitzen. Außerdem wird differenziert zwischen Menschen, die selbst eingewandert sind (mit eigener Migrationserfahrung), bzw. denjenigen, die in Deutschland geboren sind (ohne eigene Migrationserfahrung).



    [4] Zu beachten ist hierbei, dass sich diese und folgende Zahlen aus dem Mikrozensus 2014 die zurzeit aktuellsten verfügbaren Daten zur Bevölkerungsstatistik darstellen. Die Zuzüge von Flüchtlingen seit September 2015 nach Deutschland sind hier nicht erfasst.

    Empirische Daten zur Migrationsbevölkerung

    Im Weiteren wird deutlich, warum diese begrifflichen Unterscheidungen notwendig sind und einige empirische Daten zur Bevölkerungsstruktur und Migrationsbevölkerung werden herausgestellt (Statistisches Bundesamt 2015: 38ff):

    • Von den 16,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund sind nur 7,2 Millionen Ausländer_innen (d.h. sie besitzen keine deutsche Staatsangehörigkeit) – hingegen haben 9,2 Millionen der so genannten Migranten die deutsche Nationalität.

    • Jeder dritte Mensch mit Migrationshintergrund (insgesamt 5,5 Millionen) hat keine eigene Migrationserfahrung – d.h. diese Menschen sind in Deutschland geboren, sie sind z.B. ius soli Kinder oder haben einen oder mehrere ausländische und/oder zugewanderte Eltern(-teile).

    • Jedes dritte Kind im Grundschulalter verfügt über einen Migrationshintergrund, jedes vierte Kind in der Sekundarstufe I, insgesamt trifft es auf jede_n fünfte_n Einwohner_in zu.

    • In zahlreichen Großstädten wie Frankfurt, München, Stuttgart, oder den Stadtstaaten und anderen (west-)deutsche Metropolen in den Ballungsgebieten Deutschlands setzt sich inzwischen bis zu einem Drittel der Einwohnerschaft aus Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zusammen.

    Diese Sachverhalte sind Sozialwissenschaftler_innen, Migrationsforscher_innen und Statistiker_innen seit längerer Zeit vertraut – werden in der Öffentlichkeit jedoch häufig mit Verwunderung aufgenommen. Es wird deutlich, dass die Verallgemeinerung von M.m.MH der komplexen Realität und den verschiedenen Lebenswirklichkeiten nicht gerecht wird. M.m.MH sind keine homogene Gruppe, sie können sowohl Ausländer oder Deutsche mit und ohne eigener Zuwanderungsvergangenheit sein, oder auch nur deren Kinder. Sie unterscheiden sich nach sozialer Herkunft, sozioökonomischem Status, Sprachkompetenzen und rechtlichen Aufenthaltstiteln.[5] Eine Homogenisierung und einfache Aufteilung zwischen Migrationsbevölkerung und so genannter Mehrheitsgesellschaft ist daher wenig zielführend.



    [5] In öffentlichen Diskussionen werden mitunter Integrationsforderungen formuliert, ohne dass diese genau benannt werden.. i.d.R. werden einseitige Eingliederungs- und Anpassungsleistungen von den adressierten Individuen bzw. Gruppen gefordert, was in der Migrationsforschung als „Assimilation“ bezeichnet wird. Dass Integrationsprozesse immer wechselseitige Prozesse sind gerät, dabei ebenso außer Acht, wie auch die Tatsache, dass kein allgemeinverbindliches Verständnis von „gelungener Integration“ besteht.

    Begriffsklärungen Behinderung

    Ähnlich vielschichtig wie der Migrationsbegriff stellt sich die Bezeichnung Behinderung in den verschiedenen sozialen Kontexten dar. Auch hier wird das pauschalisierende Gruppenetikett „Behinderte“ dem Umstand nicht gerecht, dass es sich um Individuen verschiedenen Geschlechts, Milieu- und Klassenzugehörigkeit, als auch ethnischer oder religiöser Orientierung mit ganz individuellen Identitätsausprägungen handelt. Gewöhnlich werden Personen mit einer geistigen, körperlichen oder Sinnes-Beeinträchtigung als „Behinderte“ oder „Schwerbehinderte“ benannt. Dieser Begriff findet öffentliche Verwendung, er ist außerdem im Sozialrecht verankert. Gemäß der Definition des §2 SGB IX gelten Personen als behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“

    Schwerbehindertenstatistik – Unterrepräsentanz der ausländischen Bevölkerung

    Als Datenquelle zur Betrachtung behinderter Menschen bietet sich die Schwerbehindertenstatistik an, die auf einer exakten Zählung aller Personen mit einem Grad der Behinderung [GdB] von 50-100 beruht. Ein Blick in die Schwerbehindertenstatistik bringt in Bezug auf Migration folgende Daten zum Vorschein: Demnach liegt der Anteil der Deutschen mit einer amtlich anerkannten Schwerbehinderung bei 9,7%, bei den Ausländer_innen hingegen sind es nur 5,7%. Anschaulich bedeutet es, dass fast jede_r 10. Deutsche eine Schwerbehinderung hat, aber nur jede_r 18. Ausländer_ in.[6] (Statistisches Bundesamt 2014: 7)

    Wir haben es also insgesamt mit einer deutlichen Unterrepräsentanz der ausländischen gegenüber den deutschen Staatsbürger_innen zu tun.[7] Gründe für die Unterrepräsentanz der Ausländer_innen bzw. der Migrationsbevölkerung mit Schwerbehinderung sind zum einen demografische Gegebenheiten. Die Migrationsbevölkerung ist mit einem Durchschnittsalter von 35 Jahren deutlich jünger als die Autochthonen (47 Jahre) d.h. Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Zum anderen ist davon auszugehen, dass Ausländer_innen bzw. Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt seltener die amtliche Anerkennung einer (Schwer-)Behinderung beantragen. Es ist von einem Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und subjektivem Nutzen des Antrags auf Anerkennung einer (Schwer-)Behinderung auszugehen. Die amtliche Feststellung erfolgt nur auf Antrag bei den Versorgungsämtern. Diese dient dem Zweck der Anerkennung von Ansprüchen auf Nachteilsausgleiche und Leistungen nach Teil 2 des SGB IX – wie z.B. technische Arbeitshilfen, besonderer Kündigungsschutz und der Arbeitgeber-Beschäftigungspflicht. Die Tatsache, dass Ausländer_innen (und speziell Ausländerinnen) deutlich häufiger arbeitslos sind, kann ihre Unterrepräsentanz in der Schwerbehindertenstatistik möglicherweise erklären – die wissenschaftliche Bestätigung dieser These existiert bisher aber nicht. Die Unterrepräsentanz der ausländischen Bevölkerung in Bezug auf amtlich festgestellte Behinderungen kann auch in einer mangelnden Informiertheit begründet sein. Möglicherweise sind auch Unsicherheiten mit Behörden ein Einflussfaktor, z.B. bei einem unsicheren oder irregulären Aufenthaltsstatus. Auch institutionelle und/ oder sprachliche Barrieren könnten ein Einflussfaktor sein. Eine wissenschaftliche Überprüfung und empirische Klärung dieser Erklärungsansätze steht allerdings noch aus. (Wansing/Westphal/Jochmaring 2012)

    Abseits des sehr breit gefassten Beeinträchtigungsbegriffs, wie er im Teilhabebericht[8] der Bundesregierung verwendet wird, ist der Einflussfaktor Alter für das Merkmal Behinderung sehr bedeutsam. Da (Schwer-)Behinderungen im Wesentlichen eine Alters- und damit einhergehende Krankheitserscheinung sind - 85% der Schwerbehinderungen sind durch Krankheiten bedingt und drei Viertel der Menschen sind über 55 Jahre alt - ist auch ein Blick auf jüngere Bevölkerungsgruppen erforderlich und lohnenswert.



    [6] Schaut man sich die jüngeren Bevölkerungsgruppen an, gibt es kaum Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern: Bei den 4-15jährigen haben jeweils 1,4% eine Schwerbehinderung. Bei den Kleinkindern unter 4 Jahren und der Gruppe der jungen Erwachsenen zwischen 15-25 Jahren sind Deutsche gegenüber Ausländern nur geringfügig überrepräsentiert.

    [7] An dieser Stelle ist auf folgende methodische Einschränkung der Schwerbehindertenstatistik hinzuweisen: Da nicht der Migrationshintergrund sondern die Staatsangehörigkeit erfasst wird, sind z.B. Eingebürgerte, Aussiedler_innen oder ius soli Kinder unter den deutschen Staatsangehörigen subsumiert und können nicht einzeln betrachtet werden.

    [8] Im Teilhabebericht wird von einem anderen Behinderungsverständnis ausgegangen: Hier wird mit dem Begriff der Beeinträchtigung gearbeitet. Dem Bericht zufolge gilt jeder vierte Erwachsene ab 18 Jahren als beeinträchtigt, das sind 16,8 Millionen – verteilt auf 21% mit Migrationshintergrund und 26% ohne Migrationshintergrund. (Teilhabebericht 2013: 56) Die Migrationsbevölkerung hat eine deutlich geringere Erwerbstätigenquote und ist deutlich seltener beschäftigt. Ein Grund dafür ist vor allem das deutlich niedrigere Qualifikationsniveau. (ebd. 119)

    Sonderpädagogischer Förderbedarf

    Im Schulkontext rückt eine weitere Behinderungskategorie in den Fokus: Im Bildungssystem ist die Diagnose und offizielle Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs [SPF] relevant. Die Klassifikation des SPF knüpft nur zum Teil an den sozialrechtlichen Behinderungsbegriff an und ist je nach Bundesland verschieden. Gewöhnlich wird der SPF so definiert, dass die betreffenden Kinder in ihrem Bildungs-, Lern- und Entwicklungsvermögen so beeinträchtigt sind, dass sie dem Unterricht der allgemeinbildenden Schule nicht ohne besondere Hilfe ausreichend gefördert werden können. (Wrase 2015: 53)

    Die Dokumentation der Schüler_inenzahlen mit und ohne sonderpädagogische Förderung bzw. Unterstützung geschieht jährlich durch die Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz [KMK]. Die aktuelle Publikation der KMK weist für das Schuljahr 2014 folgende Zahlen aus: Demnach werden 7% der Schüler_innenschaft im schulpflichtigen Alter sonderpädagogisch gefördert – das sind insgesamt 508.400 Schüler_innen. (KMK 2016: XIVf) Das bedeutet, dass jede_r 14.Schüler_in im schulpflichtigen Alter sonderpädagogische Förderung erhält. Hingegen hat nur ca. jedes 66. Kind im Alter von 4-15 Jahren auch eine amtlich anerkannte Schwerbehinderung. (Statistisches Bundesamt 2014: 7; KMK 2016: XV) Der größte Teil sonderpädagogischer Förderung entfällt auf die Förderschwerpunkte der unspezifischen Behinderungsarten, wie Lern- und Verhaltensschwierigkeiten sowie sprachliche Beeinträchtigungen.[9] Dieses differente Verständnis von Behinderung im Kontext Schule ist oft nicht deckungsgleich und nicht immer gleichbedeutend mit mangelnden Teilhabemöglichkeiten an der Gesellschaft, wie es im SGBIX formuliert wird.



    [9] Hervorzuheben ist die hochgradige Differenzierung in verschiedene Förderschwerpunkte: Von allen sonderpädagogisch geförderten Schüler_innen entfielen ca. 38% auf den Förderschwerpunkt Lernen, sowie jeweils 16% auf die Bereiche geistige Entwicklung und emotional-soziale Entwicklung. Es folgen mit ca. 11% die Bereiche Sprache und 7% körperlich motorische Entwicklung, der Rest entfällt auf die übrigen Förderschwerpunkte Sehen, Hören und Kommunikation, Kranke und übergreifende Förderschwerpunkte.

    Unterschiede Integrativer Beschulung und Förderschule

    Inzwischen werden nur noch 2 von 3 Kindern mit einem diagnostizierten Förderbedarf an separierenden Förderschulen unterrichtet, die übrigen in integrativen Settings an Regelschulen. (KMK 2016: XIV- ff ) Wenn man sich die Zeitreihen der KMK Daten als auch des aktuellen Bildungsberichts anschaut, wird deutlich, dass sonderpädagogische Förderung in jüngerer Zeit gewissermaßen „im Trend“ liegt. Es werden immer mehr Schüler_innen als „schulisch behindert“ klassifiziert: Waren es im Jahr 2001 noch 5,3% sind es 2014 schon 7% der Schüler_innenschaft, die als sonderpädagogisch förderbedürftig diagnostiziert wurden.[10] Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich zwar der Anteil der Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine Regelschule im Vergleich zur Förderschule besuchen erhöht, der Anteil der Schüler_innen die eine Förderschule besuchen an allen schulpflichtigen Schüler-innen allerdings mit knapp 5% seit Beginn der 00er Jahre konstant geblieben ist. Das heißt der Ausbau der sonderpädagogischen Förderung an allgemeinen Schulen geht derzeit nicht mit einem Rückgang der Förderschulbesuchsquote einher. Es zeigt sich also eine Ausweitung der sogenannten inklusiven bzw. integrativen Beschulung, bei gleichzeitiger Beibehaltung separater Beschulung.[11] Dieser Umstand ist insofern bedeutsam, als dass drei von vier Schulabgänger_innen die Förderschule ohne Abschluss verlassen und diese vor allem im größten Förderbereich Lernen ein wenig anregendes Lernmilieu bieten. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 178f) Hingegen profitieren die meisten Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf, vor allem im Schwerpunkt Lernen, von der integrativen Beschulung und weisen zum Teil deutliche Kompetenzvorsprünge im Lesen, Zuhören und Mathematik auf als die Vergleichsgruppe an Förderschulen – wie Studien belegen (siehe u.a. Bos et al. 2010; Kocaj et al 2014; Wocken 2007,2005; Wocken/Gröhlich 2009; Lehmann/Hoffmann 2009).



    [10] Ebenso bedeutsam sind regionale Unterschiede, welche die soziale Konstruktion von Behinderung bzw. sonderpädagogischer Förderung verdeutlichen: In Rheinland Pfalz und Niedersachsen werden ungefähr 5 % eines Jahrgangs sonderpädagogisch gefördert, in Mecklenburg Vorpommern hingegen mehr als 10%. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 179)

    [11] Auf die Fachdiskussionen und Begriffsauslegungen zur integrativen und inklusiven Beschulung kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Zur enormen Bandbreite der bis zu 80 verschiedenen Integrationsformen und der Umsetzung sonderpädagogischer Förderung in Deutschland bietet Blanck (2014) eine umfassende Analyse.

    Faktor Migration in der Förderschule

    Nimmt man die Kategorie Migration mit in die Betrachtung sonderpädagogischer Förderung, sind folgende Fakten bedeutsam: Ausländische Kinder werden fast doppelt so häufig auf eine Förderschule überwiesen wie deutsche Kinder, in der Forschung wird hier von einem erhöhten Relativen Risiko Index gesprochen. Besonders Kinder aus Serbien und Albanien, aber auch aus Maghreb-Staaten gehören zu den Bildungsverlierer_innen und werden bis zu viermal häufiger auf Förderschulen verwiesen als deutsche Kinder. (Powell/Wagner 2014) Von der Ausweitung integrativer Beschulung im Zuge der UN-BRK profitieren vor allem deutsche Schüler_innen. In Bezug auf ihren Bevölkerungsanteil werden zu wenig ausländische Schüler_innen in integrativen Settings unterrichtet, während sie dagegen überproportional häufiger auf Förderschulen verwiesen werden (KMK 2016: XVff). Da die KMK-Daten nur mit der Kategorie der Staatsangehörigkeit arbeiten, wird die Mehrheit der Förderschüler_innen mit Migrationshintergrund gar nicht erfasst, da diese die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Das Ausmaß der Diskriminierung nicht-autochthoner Schüler_innen durch erhöhte Förderschulüberweisungen wird daher laut Powell/Wagner (2014) statistisch sogar noch unterschätzt. Es bleibt zu konstatieren, dass Ausländer_innen in Bezug auf die Anerkennung einer Schwerbehinderung und dem damit verbundenen Zugang zu Förderungen und Privilegien gegenüber deutschen Staatsangehörigen unterrepräsentiert sind. Hingegen ist im Förderschulbereich eine deutliche Überproportionalität von ausländischen Kindern und Jugendlichen festzustellen, die größtenteils als Bildungsverlierer_innen kaum Chancen auf einen Übergang in den ersten Arbeitsmarkt und eine reguläre Erwerbstätigkeit haben.

    Aus den aufgezeigten Zahlen wird deutlich, dass die verallgemeinernde Bezeichnung von Menschen mit Verwendung der Kategorien „Behinderte“ bzw. „Migranten“ zwar in der Alltagssprache üblich, allerdings nur wenig zielführend ist: Hier geschieht eine Pauschalisierung und Verengung des Blickfeldes – Personen werden hier nur auf eine „mit-Eigenschaft“ bzw. ein Etikett reduziert. Bedeutsam ist dieses auch in Bezug auf die sozialpolitische Implementierung: Hilf- und Unterstützungsprogramme sind i.d.R. einseitig ausgerichtet, d.h. für Behinderte oder für so genannte Migrant_innen. Sie bedürfen einer Festlegung und Ausrichtung an einer Kategorie, zu dem sich Betroffene zugehörig erklären müssen, um Leistungen in Anspruch zu nehmen.

    Faktor Migration in der Behindertenhilfe

    Entsprechend wird im Praxisfeld der Behindertenhilfe seit einiger Zeit ein steigender Unterstützungsbedarf von Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund wahrgenommen und kommuniziert, sowie eine Ausweitung entsprechender Angebote angeregt. Beispielsweise wurde im Rahmen der Berliner Kundenstudie (Seifert 2010) u.a. deutlich auf die Notwendigkeit und bislang unzureichende migrationssensible Beratung und Unterstützungsangebote für Migrationsfamilien mit behinderten Angehörigen hingewiesen und eine interkulturelle Öffnung der Behindertenhilfe gefordert. In der Studie wurden der Zugang und die Nutzung ambulanter wohnbezogener Unterstützungen mithilfe von quantitativen Erhebungen und Interviews in drei Berliner Stadtteilen untersucht. Ein Ausschnitt der Studie fokussierte auf die türkische Community und die geringe Inanspruchnahme dieser Unterstützungsformen. Neben der deutlich geringeren Nutzung wurden vor allem Vorbehalte und Barrieren bei der Inanspruchname der Angebote der Behindertenhilfe festgestellt. Außerdem wurde die zentrale Rolle der Herkunftsfamilie sowie Wertedifferenzen im Umgang mit Behinderung zwischen Professionellen und Betroffenen ausgemacht. (ebd.)

    Eine weitere regionale Studie aus Berlin ist in diesem Kontext zu nennen: Heiden et al (2009) befragten schriftlich in ihrer Feldstudie sowohl Betroffene als auch Expert_innen der verschieden Institutionen und Wohlfahrtsverbände des Schnittfeldes, wie u.a. Migrantenorganisationen und Selbsthilfe-Behindertenverbände. Die Autor_innen identifizieren sowohl einen hohen Bedarf an rechtlicher Aufklärung, Beratungstätigkeiten als auch an der Umsetzung konkreter Unterstützungsmöglichkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund und Behinderung bzw. chronischer Erkrankung. Es werden zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung des Zugangs zur Beratung und Durchführung formuliert. Vor allem wird eine partizipative inklusive Praxisgestaltung angeregt und eine Vernetzung und Zusammenarbeit der zahlreichen bisher getrennt operierenden Institutionen gefordert, die bisher ausschließlich auf ihren jeweiligen Personenkreis Behinderte oder Migranten – fokussiert sind. (Heiden et al 2009)

    Forschungsstand Familie, Migration und Behinderung

    Abseits der beiden genannten Berliner Studien liegen neben Praxisbeiträgen auch einzelne qualitative Studien vor, die das Zusammenspiel der Themenfelder Behinderung Migration und Familie untersuchen. Meist liegt der Fokus auf den familiären Verarbeitungsformen und es wird der Frage nachgegangen, warum Beratungsangebote und professionelle Hilfen von zugewanderten Familien seltener angenommen werden (zum Forschungsstand siehe Windisch 2014: 120ff ; Halfmann 2012). Als Erklärungsansatz wird i.d.R. herausgestellt, dass in den Familien mit Migrationshintergrund ein defizitäres Informationsniveau und Kommunikationsbarrieren u.a. aufgrund der unzureichenden deutschen Sprachkenntnisse vorlägen. Speziell türkische Familien bzw. Zuwanderer_innen aus muslimisch geprägten Ländern, auf denen der Fokus der Praxisberichte liegt, verwendeten ein kulturell geprägtes Behinderungs- und Krankheitskonzept. Kulturell-traditionale Heilsvorstellungen, wie etwa der Glaube an Magie und Schicksal in Verbindung mit religiösen Vorstellungen einer gottgegebenen Strafe oder Prüfung herrschten in den Familien vor. Aus diesen Gründen würden Unterstützungsangebote des institutionalisierten Hilfesystems weniger in Anspruch genommen. Die Kommunikationsschwierigkeiten im Beratungsprozess mit betreffenden Familien werden wiederum auf die kulturelle bzw. religiöse Verarbeitung von Behinderung, die dem deutschen, professionellen Hilfesystem (mit biologisch-medizinisch rehabilitativen Anspruch) und Empowerment-Strategien der Professionellen entgegensteht, rückbezogen und gedeutet. (Skutta 1998; Beyer 2003; Rauscher 2003; Yenice-Cagler 2008) Die dokumentierten Einzelfallanalysen sind oft anschaulich und informativ, allerdings als Erklärungsansätze nicht verallgemeinerbar. Aus Sicht der wissenschaftlichen Forschung wird bezweifelt, dass traditionelle und religiös motivierte Heilvorstellungen in der Migrationscommunity weit verbreitet sind, ohne die Existenz ihres Vorkommens auch bei (herkunfts-) deutschen Familien zu bestreiten.

    Im Gegensatz zu den geschilderten Praxisbeiträgen stehen nicht kulturspezifische Erklärungsansätze aus der qualitativen Forschung. Kauczor (2002) dokumentierte ihre Beratungserfahrungen mit muslimischen Migrantenfamilien mit behinderten Kindern und differenziert fünf Familientypen: Diese reichen von hoher Eigeninitiative bis hin zu innerer Regression (Rückzug und Ablehnung von Behinderung) und decken sich auch mit den Bewältigungsprozessen der Mehrheitsbevölkerung. Die Differenzierung dient vor allem der Sichtbarmachung unterschiedlicher familiärer Ressourcen bzw. Belastungen bzgl. Resilienz und Coping, sowie den unterschiedlichen Haltungen gegenüber Behinderung. Halfmann (2012) konnte in ihren biografisch-rekonstruktiven Einzelfallstudien von vier Migrationsfamilien keine herkunftsspezifischen Deutungsmuster von Behinderung erkennen. Ebenso wenig waren übergreifende Handlungs- und Bewältigungstypen nach Herkunftskultur identifizierbar. Vielmehr passen sich die Familien in ihren Bewältigungsstrategien den in Deutschland gegebenen Bedingungen situativ an.

    Amirpur (2015; 2016) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Otheringprozess“, den sie sowohl in der Praxis als auch in wissenschaftlichen Publikationen ausmacht. Mit der Suche nach dem vermeintlich richtigen, speziellen Umgang mit Behinderung in muslimischen Familien werden defizitorientierten sowie paternalistischen Haltungen Vorschub geleistet. So wird die Asymmetrie zwischen dem Hilfesystem einerseits und der vermeintlich fremden, anderen Familie andererseits aufrechterhalten und verstärkt. Das Blickfeld auf Kompetenzen, Ressourcen und Anstrengungen der Familie werde verdeckt, Bestrebungen nach Teilhabe negiert und ignoriert. Aus Sicht der Autorin kann es im professionellen Kontext nicht darum gehen, Wissen über „die anderen Familien“ zu sammeln, sondern die eigene Rolle des professionell Handelnden in einer Organisation des Hilfesystems zu reflektieren sowie das eigene Mitwirken bei der Herstellung und Reproduktion von Machtverhältnissen in den Blick zu nehmen. Im Sinne der UN-BRK sind daher inklusive Veränderungsprozesse anzustreben, um individuelle Teilhabechancen zu erhöhen und Barrieren abzubauen. (ebd.)

    Keine Ethnisierung der Herausforderungen im Kontext Behinderung

    Zusammenfassend betrachtet ist die These kulturdominanter bzw. migrationsspezifischer Deutungs- und Bewältigungsmuster von Behinderung wissenschaftlich nicht haltbar. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Migrationsfamilien wie alle Familien das Hilfenetz (Engelbert 1999) abhängig von den ihnen verfügbaren Ressourcen unterschiedlich gut oder weniger gut nutzen können und sich entsprechend zwischen den vielen ausdifferenzierten Leistungs- und Rehabilitationsangeboten zurecht finden. Der gelingende Zugang zu Beratung ist entscheidend, und dieser ist u.a. abhängig vom Bildungskapital, der sozioökonomischen Lebenslage und sozialen Netzwerken, um sich Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen. Die ethnische Zugehörigkeit stellt nur eine Facette individueller Biografien und Familiensysteme dar und sollte berücksichtigt, aber nicht alleiniger Ausgangspunkt professioneller Beratungskontexte sein. Vor diesem Hintergrund sind die Forderungen nach einer interkulturellen Öffnung bzw. einem migrationssensiblem Umbau der Beratungs- und Behindertenhilfe ambivalent zu interpretieren.

    Zum einen erscheint es vor dem Hintergrund der dokumentierten Forschungsergebnisse wenig zielführend, eine Ethnisierung der Herausforderungen von Behinderungen, egal ob im Lebens-, Beratungs- oder Unterstützungskontext, zu betreiben. Zum anderen ist vor dem Hintergrund der UN-BRK, dem nationalen Aktionsplan und dem professionalen Selbstverständnis die Verwirklichung inklusiver Postulate geboten. Ob allerdings deshalb explizit migrationsspezifische Angebote der Behindertenhilfe die Lösung sind, ist nicht eindeutig zu beantworten.

    Eine Sensibilisierung in Bezug auf Migration und die Absenkung der Zugangsbarrieren für Migrationsfamilien ist definitiv notwendig. Zu konkreten Veränderungsschritten zählen u.a. mehrsprachige Beratungsangebote sowie Kooperationen bzw. Verzahnungen mit Akteuren und Institutionen der Migrationsverbände. Die Wohlfahrtsträger und Vereine der Behindertenhilfe sollten sich verstärkt mit der Frage beschäftigen, warum die Migrationscommunity bisher Beratungsangebote so selten in Anspruch genommen hat, bzw. von professionellen Unterstützungsangeboten nicht erreicht werden konnte. Wenn der Anspruch der Institutionen ernst gemeint ist, inklusiv und teilhabeorientiert zu arbeiten, dann sind Professionelle und Entscheidungsträger_innen gefordert einen niedrigschwelligen Zugang für alle Familien zu ermöglichen, Verschiedenheiten anzuerkennen und entsprechende Angebote zu schaff en. Die „Entdeckung“ der Migrationsbevölkerung in jüngerer Zeit vonseiten der Behindertenhilfe als Adressat_innen und Zielgruppe des eigenen Handlungsfeldes ist vor dem Hintergrund einer mittlerweile 60-jährigen bundesdeutschen Zuwanderungsgeschichte zumindest überraschend. Es macht deutlich, wie sehr lange Zeit Einwanderung als vorübergehende Erscheinung betrachtet wurde und nicht als dauerhafter Zuzug und Verbleib von Menschen mit nichtdeutscher Herkunft. Die professionelle Behindertenhilfe ist gefordert sich darauf einzustellen und sich entsprechend dem inklusiven Selbstverständnis auszurichten.

    Abbildung 1. Abbildung 1: Jan Jochmaring

    Portraitfoto von Jan Jochmaring.

    Jan Jochmaring, M.A. ist Lehrkraft und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dortmund und arbeitet seit vielen Jahren bei Trägern der Behindertenhilfe. Forschungsschwerpunkte sind Behinderung und Migration, Ungleichheitsforschung und der Übergang Schule-Beruf.

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    Quelle

    Jan Jochmaring: Migration und Interkulturalität. Neues Herausforderungsfeld für die Behindertenhilfe? Erschienen in: impulse, Magazin der Bundesgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung, Nr. 76/2016, S. 12-18, Schwerpunkt: Migration.

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 13.02.2019

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