Partizipation und Selbstbestimmung

Peer Counseling im Rheinland

Autor:in - Dieter Schartmann
Themenbereiche: Arbeitswelt
Schlagwörter: Wohnen, Beratung, Projekt, Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 72, 01/2015, Seite 12–15; Schwerpunktthema: Gute Arbeit impulse (72/2015)
Copyright: © Dieter Schartmann 2015

Abbildungsverzeichnis

    Förderung von Anlaufstellen und/ oder Beratungsangeboten im Rahmen der Eingliederungshilfe

    Die Anlaufstellen und/ oder Beratungsangebote sollen sich insbesondere an Menschen richten, die wesentlich behindert sind im Sinne der §§ 53ff. SGB XII oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Die Anlaufstellen und/ oder Beratungsangebote sollen so niedrigschwellig organisiert sein, dass Menschen mit Behinderung diese ohne große Voraussetzungen und Barrieren erreichen können.

    Zielsetzung der Beratungsarbeit ist es, Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wahrnehmen zu können. Dadurch kann auch ermöglicht werden, dass einzelfallbezogene Leistungen der Eingliederungshilfe vermieden oder reduziert werden können. Dies könnte zum Beispiel sein:

    • die Beratung von Menschen mit Behinderung, die aus einer stationären Wohnform in das ambulant unterstützte Wohnen umziehen möchten, oder

    • die Beratung von Menschen mit Behinderung, die noch in der Herkunftsfamilie wohnen, die sich aber mit der Möglichkeit/ dem Gedanken des selbstständigen Wohnens befassen,

    • die Beratung von Menschen mit Behinderung im Hilfeplanverfahren, um die Selbstbestimmung und Emanzipation von Menschen mit Behinderung zu fördern, oder

    • die Beratung von Menschen mit Behinderung, denen Wege aus einer psychischen Krise aufgezeigt werden und diese so gestärkt werden, dass eine wesentliche Behinderung im Sinne des SGB XII vermieden werden kann.

    Die Methode des Peer Counseling bietet die Möglichkeit, durch positive Beispiele eventuell vorhandenen Unsicherheiten und Ängsten entgegenzutreten und zu vermitteln, dass auch andere Menschen vor ähnlichen Problemen gestanden haben und diese erfolgreich bewältigt haben. Sie fördert die Selbstbestimmung und Emanzipation von Menschen mit Behinderung und unterstützt ihre Autonomie. Sie nimmt die Betroffenenperspektive ein und orientiert sich an den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderung.

    Abbildung 1. Bei Unsicherheit, ob man auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeit finden kann...

    Foto: Stephanie Hofschläger, pixelio.de

    Peer Counseling ermöglichen: Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt

    Menschen mit Behinderung, die an einer Schnittstelle ihrer beruflichen Entwicklung stehen, haben vielfältige Fragen und werden mit unterschiedlichen Problemstellungen konfrontiert. Neben sozialrechtlichen, arbeitsrechtlichen, rentenrechtlichen und weiteren Fragen handelt es sich vielfach auch um Unsicherheiten, die weniger auf einer rationalen Ebene lokalisiert sind. Vielmehr resultieren diese aus einer Unsicherheit, ob man es wirklich schafft, wie es in einem Betrieb zugeht, was einen dort erwartet etc.

    Darüber hinaus hat auch das professionelle (z.B. Lehrerinnen und Lehrer, Gruppenleitungen in den WfbM) und das private Umfeld (Eltern…) oftmals Vorbehalte gegenüber einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt („wird mein Kind dort nicht zum Außenseiter?“; ist er/ sie nicht doch besser in der WfbM aufgehoben?“...)

    Die Methode des Peer Counseling bietet besondere Möglichkeiten, durch überzeugende Beispiele diesen Ängsten und Verunsicherungen entgegenzutreten. Dazu sollen Menschen mit Behinderung, die vor dem entscheidenden Schritt von der Schule oder der WfbM in den Arbeitsmarkt stehen, von anderen Menschen mit Behinderung beraten und informiert werden, die bereits erfolgreich den Sprung geschafft haben.

    Diese können ihre Erfahrungen und ihr Wissen durch eine Beratung „auf Augenhöhe“ weitergeben. Sie können von ihren eigenen Ängsten und den sich ihnen gestellten Herausforderungen berichten und darüber, wie sie damit umgegangen sind. Nichts wirkt überzeugender als ein positives Beispiel.

    Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderung andere Menschen mit Behinderung ermuntern und ermutigen, den Schritt in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wagen. Adressaten der Leistungen sind

    • Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen der Initiative Inklusion unterstützt werden und die sich mit dem Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aktiv auseinander setzen wollen.

    • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der rheinischen Werkstätten für behinderte Menschen, die ein Praktikum auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt machen wollen, einen betriebsintegrierten Arbeitsplatz haben oder anstreben und/ oder den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht ziehen.

    Abbildung 2. ...ist Beratung auf Augenhöhe sehr hilfreich: Peer Counseling im Rheinland

    Foto: Stephanie Hofschläger, pixelio.de

    Bereits seit längerem ist bekannt, dass das professionelle und private Umfeld einen großen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Menschen (nicht nur mit Behinderung) hat. So besitzt die elterliche Haltung zum Arbeitsmarkt ein großes Gewicht, wenn es um die Frage geht, wie es nach der Schule weitergeht. Auch Gruppenleitungen in den WfbM besitzen einen großen Einfluss, wenn die Motivation eines Menschen mit Behinderung gestärkt werden soll, Alternativen zur WfbM auszuprobieren. Daher kann es sinnvoll sein, neben der unmittelbaren Beratung von Menschen mit Behinderung auch weitere Menschen, die als wichtige Bezugspersonen des Menschen mit Behinderung gelten, in die Beratung durch Peer Counseler einzubeziehen.

    • Die professionellen Unterstützungssysteme der oben genannten Zielgruppen, also Lehrerinnen und Lehrer, Betreuerinnen und Betreuer in den WfbM

    • Das nicht-professionelle Bezugssystem der beiden Zielgruppen, also zum Beispiel Eltern, Geschwister, aber auch die gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer.

    Zur Projektdurchführung

    Im Sommer des Jahres 2013 wurde ein Interessenbekundungsverfahren durchgeführt, mit dem Anbieter für Leistungen für Menschen mit Behinderung aufgerufen wurden, Projektvorschläge einzureichen. Die hohe Zahl der eingegangenen Anträge (n=32) belegt das Interesse an der Methode des Peer Counseling. Aus diesen 32 Interessenbekundungen wurden dann nach festgelegten Kriterien (z.B. Vernetzungsgrad in der Region, einschlägige Erfahrungen mit den genannten Zielgruppen …) letzten Endes 10 Projekte ausgewählt und im Februar 2014 dem LVR-Sozialausschuss zur Förderung vorgeschlagen. Gefördert werden Projekte für unterschiedliche Zielgruppen (Menschen mit einer geistigen Behinderung, Menschen mit einer psychischen Behinderung, Menschen mit einer körperlichen Behinderung) sowie unterschiedlichen Zielrichtungen (Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft) und unterschiedlichem Erfahrungsschatz (langjährig erfahrene Projekte, neue Projekte). Die Liste der geförderten Projekte ist unter www.peercounseling.lvr.de abrufbar.

    Um eine einheitliche Qualifizierung der Peer Counselor zu gewährleisten, wurde das Zentrum für selbstbestimmtes Lebens e. V. (ZsL) in Köln beauftragt, ein Curriculum zu entwickeln und entsprechende Qualifizierungen durchzuführen. Aufgrund der hohen sozialpolitischen Bedeutung des Modells hat der LVR-Sozialausschuss die wissenschaftliche Evaluation des Modells beschlossen. Nach der Durchführung eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens hat die prognos AG in Zusammenarbeit mit der Universität Kassel den Zuschlag erhalten. Folgenden Fragestellungen wird in der Begleitforschung nachgegangen:

    1. Beratungssuchende: Wer nimmt das Angebot in Anspruch?

    2. Beratungssetting und Beratungsprozess: Anlass der Beratung, Häufigkeit, Dauer und Zielsetzung der Beratung, Zeitaufwand für die Beratung, Zeitaufwand für die Koordinierung

    3. Peer Counselor: Wie werden die Peer Counselor gefunden, welche Qualifikationen haben sie, welche Unterstützung brauchen die Peer Counselor?

    4. Sozialraum: Wie sieht die professionelle Unterstützungslandschaft, zusätzlich zu denen die gefördert werden, in der Region aus? Welche weiteren Anlaufstellen/Beratungsangebote gibt es? Wie hoch ist Grad der Vernetzung der Peer Beratungsangebote mit anderen Service- bzw. Beratungsstellen in der Region?

    5. Rahmenbedingungen für die Beratungsarbeit: Welche Voraussetzungen/Rahmenbedingungen müssen aus der Sicht von Profis vorhanden sein, damit ein Peer Beratungsangebote gelingt? Welche Anforderungen an Rahmenbedingungen und Unterstützung gibt es aus Sicht der Peer Counselor und der Koordinatoren der Projekte? Was sind fördernde bzw. hemmende Faktoren für Peer-Beratungsarbeit aus den verschiedenen Perspektiven? Was kennzeichnet „erfolgreiches“ Peer Counseling aus der Sicht der Beratenen, der Peer Counselor und der Sicht von Profis?

    6. Wirkung: Führt die Inanspruchnahme einer Peer-Beratung dazu, dass sich der Beratene z. B. eher für den Schritt der Beschäftigung auf dem allg. Arbeitsmarkt/ für den Wechsel von einer stationären in ein ambulant betreutes Wohnsetting entscheidet? Hat die Peer-Beratung an Schnittstellen/ Übergängen in Lebens-, Wohn- und Arbeitssituationen der Beratenen einen signifikanten Einfluss auf die Entscheidungsfindung? Was hat sich aus der Sicht der Professionellen durch das Peer Counseling verändert? Hat sich und wenn ja, in welchem Umfang durch die Peer-Beratung die Inanspruchnahme von Leistungen z. B. der Eingliederungshilfe verändert?

    7. Zufriedenheit der Beratenen mit dem Beratungsangebot: Wie zufrieden waren sie mit der Beratung? War die Beratung hilfreich?

    Umsetzungsstand

    Am 03.06.2014 wurde zum offiziellen Projektstart eine Fachtagung mit dem Titel „Partizipation und Selbstbestimmung – Peer Counseling auf den Weg gebracht“ durchgeführt (Dokumentation s. obiger Link) Rund 300 Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmer belegen das große Interesse im Rheinland an diesem Modellprojekt.

    Die Projekte haben ihre Arbeit aufgenommen, das ZsL hat ein Curriculum erarbeitet und bereits die ersten Qualifizierungen durchgeführt. Für den Sommer 2015 wird ein erster Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung erwartet.

    Abbildung 3. Dr. Dieter Schartmann

    Portraitfoto von Dr. Dieter Schartmann

    Dr. Dieter Schartmann ist Leiter des medizinisch-psychosozialen Fachdienstes im Landschaftsverband Rheinland

    Kontakt und nähere Informationen

    Dr. Dieter Schartmann

    Telefon: 0221 809-6881,

    Telefax: 0221 8284-1630

    E-Mail: dieter.schartmann@lvr.de

    Quelle

    Dieter Schartmann: Partizipation und Selbstbestimmung. Peer Counseling im Rheinland. Erschienen in: impulse Nr. 72/2015, Seite 12–15.

    bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 14.04.2017

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