Wie eine Spinne im Netz

Gelebte Lotsenfunktion im Integrationsfachdienst – wie macht man das und was ist leistbar?

Autor:in - Hendrik Persson
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 71, 04/2014, S. 10–13. impulse (71/2014)
Copyright: © Hendrik Persson 2014

Abbildungsverzeichnis

    Ein Lotse wofür?

    Was steckt hinter dem zentralen Begriff des Lotsen? Auf Wikipedia[1] heißt es dazu: „Der Begriff Lotse kommt ursprünglich aus der Seefahrt (englisch loadsman‚ Geleitsmann‘). … Ein Lotse ist in der Seefahrt meist (in Deutschland grundsätzlich) ein erfahrener Nautiker (Kapitän) mit mehrjähriger praktischer Erfahrung, der bestimmte Gewässer so gut kennt, dass er die Führer von Schiff en sicher durch Untiefen, vorbei an Schifffahrtshindernissen und dem übrigen Schiffsverkehr geleiten kann. Sie üben ihre Tätigkeit als Berater des Kapitäns eines Schiff es aus.“

    Bei der Lotsenfunktion geht es darum, den Rat und Orientierung Suchenden sicher durch schwierige „Gewässer“ zu geleiten. Nicht nur Menschen mit schweren Behinderungen finden sich vielfach im gegliederten Gesundheits- und Rehabilitationssystem nicht zu Recht, sondern treiben, um im Bild zu bleiben, hilflos in einem „Ozean der Möglichkeiten“. Nach Unfällen oder Krankheiten, können bei betroffenen Menschen sehr komplexe Problemlagen entstehen. Wenn dann die erforderlichen medizinischen, rehabilitativen und sozialen Leistungen nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen und nicht nahtlos ineinandergreifen, wirkt sich dies sehr zum Nachteil der Betroffenen aus und eine Inklusion in die Gemeinschaft und in das Arbeitsleben gelingt nur unzureichend.

    Trotz eines auf gesetzlicher Ebene längst erfolgten Paradigmenwechsels (SGB IX , 2001) hat sich im Hinblick auf eine Optimierung bereichsübergreifender Rehaprozesse in den vergangenen Jahren wenig getan. Im gegliederten System der Rehabilitation in Deutschland verläuft das dringend benötigte Zusammenwirken der unterschiedlichen Leistungsträger alles andere als optimal. Weiterhin ist die Verzahnung zwischen medizinischer und beruflicher Rehabilitation in der täglichen Praxis mangelhaft entwickelt. Im System der beruflichen Rehabilitation sind in der Regel bisher nur Gruppenmaßnahmen vorgesehen, die die erforderliche individuelle Förderung von Menschen mit komplexen Schädigungsbildern nicht zulassen.

    Alle Experten sind sich einig: unser gegliedertes System der Rehabilitation behindert die Menschen in ihren Teilhabemöglichkeiten. Die Überwindung der mangelhaften Kooperation der Leistungsträger und -erbringer kann durch ein individuelles Teilhabe-Management gelingen, das früh einsetzt und ganzheitlich und interdisziplinär ausgerichtet ist. Um alle Chancen der Betroffenen zu nutzen, kann ein Lotse mit allen Beteiligten den im Einzelfall am besten geeigneten Kurs finden.

    Abbildung 1.

    Fotographie eines fahrend Schiffes mit dem Namen Lotse
1

    Foto: Bernd Sterzl, pixelio.de

    Wie eine solche – zwangsläufig trägerübergreifend zu organisierende – Leistungsart ausgestaltet werden muss, wer sie erbringt und finanziert, welche Qualität gefordert ist und weitere Fragen müssen jetzt öffentlich diskutiert werden. Wo die Sozialleistungsträger weiterhin ihr jeweils „eigenes Süpplein kochen“, könnte den Integrationsfachdiensten (IFD) im Hinblick auf eine möglichst nahtlose medizinisch-berufliche Rehabilitation zukünftig eine besondere Bedeutung zukommen. Zumindest waren rund 80% der TeilnehmerInnen des genannten Workshops auf der Jahrestagung der BAG UB der Auffassung, dass sich IFD für eine zukünftige Lotsentätigkeit rüsten sollten. Damit von dem weiteren rechtspolitischen Diskurs zur Entwicklung dieser neuen Dienstleistung im Sozialsystem nicht nur Hirngespinste bleiben, wird es wesentlich sein zu erreichen, dass sich dazu auf regionaler Ebene die verschiedenen Sozialversicherungsträger auf eine gemeinsame Umsetzung verständigen.

    IFD als Lotse?

    Weit stärker als bisher üblich könnten zukünftig Integrationsfachdienste eine Lotsenfunktion im Sinne eines Case Managements zwischen Krankenbett und Arbeitsplatz ausfüllen. Viele Experten sehen es als ausgesprochen sinnvoll an, wenn zukünftig Integrationsfachdienste regelmäßig bereits vor dem Entlassungstermin bei Patienten tätig würden, bei denen sich in der medizinischen Rehabilitation ein besonderer poststationärer Unterstützungsbedarf zeigt.

    Welche Erfahrungen gibt es damit? Was davon ist in der Praxis konkret umsetzbar? Was ist besonders zu beachten? Erfahrungen gibt es dazu schon länger. Im Rahmen des bundesweiten Modellprojekts „Integrationsfachdienste“[2] im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums wurde bereits in den Jahren 1999 bis 2001 das Vernetzungsprojekt Wieder-Eingliederungs-Gemeinschaft (WEG) zwischen Rehabilitationskliniken, Integrationsfachdiensten und beteiligten Kostenträgern in Schleswig-Holstein umgesetzt. Ziel war eine nahtlose berufliche (Wieder-)Eingliederung der Patienten aus den Rehakliniken durch einen Lotsen an ihrer Seite. Kompetenzen der beteiligten Kliniken wurden mit denen der ebenfalls beteiligten Integrationsfachdienste verbunden, Fachdienstmitarbeiter wurden für das Case Management zusätzlich geschult. Vermutlich erstmals in Deutschland wurde hier auf überregionaler Ebene ein konsequentes Case Management zwischen Krankenbett und Arbeitsplatz eingeführt. Diese Maßnahme belegte im Ergebnis, dass die Integration chronisch erkrankter Menschen auch innerhalb widriger Strukturen erfolgreich verlaufen kann, wenn konsequent nach Case-Management-Kriterien[3] verfahren wird.

    Allerdings war vor rund 15 Jahren die Bereitschaft und Fähigkeit der Träger der Sozialversicherung, entsprechende Strukturen mit zu entwickeln und zu unterstützen nicht gegeben. Anders sah es um das Jahr 2000 in der privaten Versicherungswirtschaft aus. Insbesondere Autohaftpflichtversicherer, aber auch die privaten Unfallversicherer und weitere Versicherungszweige setzen seitdem und mit großem Erfolg auf Case Management durch spezialisierte Rehadienste[4]. Davon profitieren nicht nur die Betroffenen. Die Boston Consulting Group[5] hat in einer groß angelegten Untersuchung in der Schweiz nachgewiesen, dass die Versicherungsunternehmen durch ein konsequentes Case Management Millionenbeträge einsparen.

    Im Bereich der Sozialversicherung ist so etwas noch Zukunftsmusik. Welch gewaltiger volkswirtschaftlicher Nutzen würde erst entstehen, wenn das Instrument Case Management auch bei gesetzlich Versicherten regelmäßig angewendet würde. Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist man hier am weitesten und hat im Januar 2013 einen Handlungsleitfaden für ein eigenes Reha-Management[6] herausgegeben. Ein konsequentes zukunftsfähiges Reha- bzw. Case Management in Komplexfällen müsste trägerübergreifend und unabhängig organisiert werden und könnte daher sinnvoll bei den Integrationsfachdiensten angesiedelt werden, sofern diese entsprechend kompetent aufgestellt sind.



    [2] Jörg Michael Kastl/ Rainer Trost: Integrationsfachdienste zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderung in Deutschland, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Juli 2002

    [3] Wendt, Wolf Rainer: Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Lambertus, Freiburg i.Br. 1997

    [4] Persson, Hendrik: Professionelles Rehamanagement – Der Rehadienst als Partner für Unfallopfer und eintrittspflichtige Haftpflichtversicherung, in: Case Management 2 (Juni) 2014

    [5] The Boston Consulting Group, Januar 2010: Case Management und seine strategische Bedeutung für Versicherer. Durch die BCG wurden mehrere Tausend Schadenmeldungen aus den Bereichen Leben, Unfall und Haftpflicht ausgewertet und (mögliche) Einsparungen für die schweizerische Versicherungswirtschaft quantifiziert.

    [6] Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Herausgeber), Januar 2013: Das Reha-Management der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung – Handlungsleitfaden

    IFD nicht als Teil des Netzes, sondern als Gestalter?

    Im Idealfall beginnt die zukünftige Tätigkeit des IFD als Lotse jeweils in der Phase der stationären medizinischen Rehabilitation und begleitet anschließend die ambulante Rehabilitation bis zur sozialen und beruflichen Integration. Die genaue Zielstellung hinsichtlich des Erreichens größtmöglicher Teilhabe für den Rehabilitanden kann von Fall zu Fall unterschiedlich aussehen. Neben beruflicher (Wieder-)Eingliederung eines an Krebs erkrankten kann z.B. bei einem pflegebedürftigen Menschen das Erreichen bestmöglicher Selbständigkeit im Alltag Ziel der Bemühungen sein. Je nach Einzelfall kann es neben der Koordination geeigneter medizinischer und/oder pflegerischer Maßnahmen darum gehen, barrierefreie Baumaßnahmen umzusetzen, technische Hilfsmittel zu installieren, Arbeits- bzw. Ausbildungsoptionen zu erarbeiten, einen vorhandenen Arbeitsplatz ressourcenorientiert anzupassen oder auch einen Nischenarbeitsplatz zu schaffen.

    Wesentliche Aufgabe im individuellen Teilhabemanagement ist es, die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Beteiligten (Betroffene/r, Angehörige/r, Ärzte und Therapeuten, Kostenträger, Arbeitgeber etc.) zu ermöglichen und somit sicherzustellen, dass die vereinbarten Reha-Ziele umgesetzt werden. Lotsentätigkeit bedeutet hier, dass erforderliche Therapien bzw. Behandlungen abgestimmt, Kostenübernahmen geklärt und Terminabstimmungen getroffen werden.

    Stets gilt es, den Behandlungs- bzw. Rehabilitationspfad so individuell wie möglich zu gestalten und dabei ergänzende Fachkompetenzen adäquat zu integrieren. Der IFD agiert dabei als Kompetenznetzwerk, in das im Bedarfsfall externe Fachkräfte und Spezialisten aus den Bereichen Medizin, Beruf, Schule, Pflege, Mobilität und Wohnen ihre fachlichen Kenntnisse einbringen. Zu spezifischen Fragestelllungen wie etwa einer weiterführenden Diagnostik der körperlichen bzw. kognitiven Leistungsfähigkeit, der Abklärung von Pflegebedarf, zu Umbaumaßnahmen, Mobilitätshilfen u.v.a.m. schaltet der IFD Experten, wie z. B. Neuropsychologen, Architekten mit Schwerpunkt barrierefreies Bauen, Spezialkliniken, Fachdienste etc. ein, mit deren Hilfe individuelle Ergebnisse, Informationen und Empfehlungen erarbeitet werden, die im weiteren Verlauf umgesetzt werden.

    Wendt[7] weist darauf hin, dass die Integration und selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen in komplexen Problemlagen nur in einem Prozess erreichbar ist, der

    • längere Zeit dauert

    • eine Mehrzahl von beteiligten Personen und verschiedene Dienste, formelle und informelle Hilfen einbezieht und

    • nebeneinander wie nacheinander gesundheitliche, soziale und beschäftigungs- oder berufsbezogene Aspekte aufweist

    Soll dieser Prozess zielwirksam erfolgen, werde ein Steuerungsverfahren für den Einzelfall gebraucht, das die Gestaltung der Abläufe, der Koordination und der Zusammenarbeit zum Inhalt hat. Die Grundlage dazu bietet das Verfahren des Case Management. Für eine zukunftsfähige Aufstellung der IFDin der Lotsenfunktion kann auf eine entsprechende fachliche Qualifikation nicht verzichtet werden.

    Voraussetzungen für eine Tätigkeit in diesem komplexen Arbeitsfeld sind neben einer Case Management-Qualifizierung eine hohe fachliche Eignung, die Fähigkeit zu vernetztem Denken und Handeln sowie umfangreiche Erfahrungen im Bereich der Rehabilitation, ebenso exzellentes Kommunikationsvermögen, Moderationskompetenz und Kreativität. Damit wird deutlich, es geht nicht einfach so, dass der IFD als „Alleskönner“ diese Anforderungen auch mal eben so mit erfüllt. Vielmehr bedarf es in der Tat einer tiefgreifenden Weiterentwicklung des Leistungskatalogs und einer Erweiterung der beruflichen Profile. Darüber hinaus ist innerhalb des jeweiligen Lotsendienstes eine Binnendifferenzierung mit Fachkräften, die über störungsbildspezifische Kompetenzen verfügen, sinnvoll.



    [7] Wendt, Wolf Rainer: Prozessoptimierung durch Case Management, in: impulse (BAG-UB ) Nr. 17/2000

    Fazit und Empfehlungen für die Praxis

    Die individuelle Reha-Koordination durch unabhängige Lotsen ist inzwischen eine hinreichend erprobte Leistung, mit der Störungen unseres gegliederten Rehabilitationssystems erfolgreich ausgeglichen werden können. In diese Lotsenleistungen investierte finanzielle Mittel sind Ausgaben, die – gut abgestimmt und sinnvoll eingesetzt – dabei helfen, mittel- und langfristig Kosten deutlich zu senken. Auch wenn es bis jetzt noch keine verlässliche Finanzierungsgrundlage für diese neue Dienstleistung im Sozialsystem gibt, könnten mit dem geplanten Bundesteilhabegesetz durchaus verbesserte Voraussetzungen geschaffen werden. Daher könnte es für IFD durchaus sinnvoll sein, sich auf ein neues trägerübergreifendes Angebot vorzubereiten. Bisher gibt es noch wenige Erfahrungen, wie eine Lotsentätigkeit durch IFD trägerübergreifend finanziert werden kann. Je nach Lage des Einzelfalls könnte vorerst die Beantragung eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets z.B. beim Träger der Sozialhilfe für diese Aufgabe zielführend sein.

    Ein individuelles Teilhabe-Management an der Seite von Menschen mit einer erworbenen Behinderung oder einer gravierenden Erkrankung, das früh einsetzt und ganzheitlich und interdisziplinär ausgerichtet ist, kann eine Zukunftsaufgabe von IFD sein. Es lohnt sich dafür zu einzutreten, dass die rechtlichen Voraussetzungen für ein solches trägerübergreifendes Angebot geschaffen werden. Für die IFD wird die Ausrichtung auf eine derartige Lotsentätigkeit in der Praxis eine besondere Herausforderung darstellen. Um diesen Prozess zügig und erfolgreich zu gestalten, ist eine Zusammenarbeit mit privaten Rehadiensten denkbar, die hierzu bereits auf einen breiten Erfahrungsschatz zurückblicken können.

    Abbildung 2. Hendrik Persson

    Portraitfoto von Hendrik Persson

    Hendrik Persson ist Geschäftsführer und Teamleiter des Reha-Managements bei inreha, einem unabhängigen Case-Management-Dienstleister.

    Kontakt und nähere Informationen

    InReha GmbH

    Havighorster Weg 8a, 21031 Hamburg, Tel.: 040–72004080, Fax: 040–72004088,

    Mail: hendrik.persson@inreha.net

    Quelle

    Hendrik Persson: Wie eine Spinne im Netz. Gelebte Lotsenfunktion im Integrationsfachdienst – wie macht man das und was ist leistbar? Erschienen in: impulse Nr. 71/2014, Seite 10–13. ISSN 1434-2715. http://www.bag-ub.de/impulse

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 16.03.2017

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