Empowermentprozesse und berufliche Perspektivenentwicklung sichtbar machen

Über die Erfahrungen, durch narrative Interviews Entwicklungsprozesse von AusbildungsteilnehmerInnen mit unterschiedlichen Behinderungen nachzuzeichnen

Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse, Nr. 44/2007, Seite 21-23. impulse (44/2007)
Copyright: © Marlene Mayrhofer, Doris Rath 2007

Empowermentprozesse und berufliche Perspektivenentwicklung sichtbar machen

16 Personen mit einer Behinderung wurden im Rahmen des österreichischen EQUAL-Projektes "Pro-Fit Niederösterreich" zu "Pro-Fit BeraterInnen für Arbeit" qualifiziert. Das Ziel war es, Selbstvertretungskompetenzen und - möglichkeiten von Menschen mit Behinderung über den Erwerb entsprechender Kompetenzen und Kenntnisse zu forcieren: Die zukünftigen Pro-Fit BeraterInnen können in der Sensibilisierung und Information von Unternehmen im Hinblick auf die Beschäftigung von behinderten MitarbeiterInnen tätig werden. Die TeilnehmerInnen der Ausbildung durchliefen dazu im Laufe von knapp eineinhalb Jahren insgesamt 16 inhaltlich aufeinander abgestimmte Module, die sie auf ihre spätere Tätigkeit als Pro-Fit BeraterInnen für Arbeit bestmöglich vorbereiten sollen - persönlich, rhetorisch, technisch und inhaltlich. Gleichzeitig war es aber auch unser Ziel, durch diese Ausbildung Empowermentprozesse in Gang zu bringen, welche unabhängig von den Lerninhalten und - zielen in der Ausbildung nachhaltig wirken sollten.

In diesem Artikel stehen zwei Aspekte im Mittelpunkt: Zum einen werden wir darüber berichten, wie es uns als Forscherinnen bei der Begleitung dieser Prozesse ergangen ist, was wir lernen konnten und welche Schlüsse wir für den weiteren Einsatz unserer Methode ziehen. Zum anderen geht es die Einschätzung der Empowerment"wirkung" der Ausbildung und um die Frage, welche Ziele sich daraus ableiten lassen.

Unser Ziel in der Begleitforschung: Was wollten wir eigentlich sichtbar machen?

Wir haben versucht, jene Empowermentprozesse nachzuzeichnen, die sich während und durch die Ausbildung manifestieren. Dabei stehen individuelle und gruppenbezogene Aspekte genauso im Mittelpunkt wie die möglichen Veränderungen von Selbst- und Fremdbild und eine Erweiterung der allgemeinen Handlungskompetenz der zukünftigen Pro-Fit BeraterInnen für Arbeit. Zentrale Fragestellungen sind im Hinblick auf die Gesamtziele der Ausbildung auch Entwicklungen und Veränderungen z.B. in Bezug auf Selbstbestimmung und Durchsetzungsfähigkeit, auf soziale Integration, auf Werte, Zielsetzungen und Einstellungen, die durch die TeilnehmerInnen artikuliert werden sowie auf Aspekte der sozialen Rollenwahrnehmung. Weiters erschienen uns im Hinblick auf die zukünftigen Aufgaben der ausgebildeten Pro-Fit BeraterInnen insbesondere die folgenden Aspekte der Ausbildung interessant: Kompetenzerweiterung im Kontext der Selbstvertretung allgemein sowie die nötige Handlungskompetenz zur Nutzung von Mitgestaltungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Gruppen und Institutionen. Hingegen haben wir uns kaum auf die Lernzielerreichung konzentriert, diese wurde gesondert von der pädagogischen Ausbildungsleitung evaluiert - unser Zugang zum Thema ging davon aus, dass sich zahlreiche Empowermentprozesse auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren können, auch wenn inhaltliche Lernziele nicht erreicht werden sollten.

Wir gehen von einer narrativen Grundkompetenz aller TeilnehmerInnen aus - unabhängig von der Art der Behinderung.

Die Methode der Befragung der TeilnehmerInnen haben wir also diesem Grundverständnis entsprechend entwickelt, indem wir das bestehende Instrument des narrativen Interviews entsprechend adaptiert haben. Die Bedeutung dieser Interviewform, bei der der Erzählung durch die interviewte Person breiter Raum gelassen wird, für unsere Fragestellungen erschließt sich aus der inhaltlichen Nähe zur Biografie- und Entwicklungsforschung: Im Mittelpunkt standen individuelle Entwicklungsprozesse und die subjektive Lebenswelt der TeilnehmerInnen der Ausbildung zum/ zur Pro-Fit BeraterIn für Arbeit. Es ging uns darum, authentische Sichtweisen und Interessen behinderter Menschen zu erfahren, die AusbildungsteilnehmerInnen selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre sozialen Bedeutungsstrukturierungen als Basis für unsere Forschung zu nehmen. Narrative Interviews zeichnen sich dadurch aus, dass sie den interviewten Personen für ihre Erzählungen (Narrationen) besonders großen Raum lassen. Der/die ForscherIn gibt dem/der InterviewpartnerIn einen Erzählstimulus. Dabei wird eine sehr weite Ausgangsfrage gestellt, die den interessierenden Bereich fokussiert. In dieser Phase verhält sich der/die ForscherIn absolut zurückhaltend. Die Erzählung steht im Mittelpunkt, deren Inhalte und Strukturierung bleiben dem/der ErzählerIn vorbehalten.

Für unsere Untersuchung haben wir diese Methode des narrativen Interviews nun etwas weiterentwickelt und für den Kontext der Befragung von Menschen mit verschiedensten Behinderungen mit dem Ziel der Erfassung, Darstellung und Analyse von individuellen und kollektiven Empowermentprozessen adaptiert. Dabei wurden die methodischen Grundfesten, die diese Interviewform kennzeichnen, beibehalten und um spezielle Aspekte der analytischen Arbeit mit Menschen mit verschiedenen Behinderungen ergänzt. Wir haben das prägende Prinzip dieser Interviewform, lediglich eine Eingangsfrage zu stellen und keine weiteren Fragestellungen (und damit evt. auch Themen) einzubringen, etwas erweitert. Das bedeutet, wir starteten ebenfalls mit einer sehr offenen Eingangsfrage und ließen zunächst Raum für gänzlich durch die interviewte Person gestaltete Erzählphase, ohne weitere Fragen zu stellen. Allerdings stellten wir am Ende der Erzählphase gegebenenfalls klärende Fragen, um bereits angesprochene Aspekte zu klären bzw. das Verständnis zu vertiefen. Allerdings sollte strikt vermieden werden, neue Themen einzubringen, damit das Bild von der sozialen Wirklichkeit wirklich jenes des/der InterviewpartnerIn war. Dies war ein - wie wir trotz unserer jahrelangen Erfahrung in der Sozialforschung feststellten - gar nicht so einfaches Unterfangen. Zu groß ist etwa in der Interviewsituation, getragen von ehrlichem Interesse an der Person und ihrer Geschichte, die Versuchung, etwas nachzufragen, was noch nicht angesprochen wurde. Manche Interviews dauerten daher eineinhalb Stunden, manche nur 5 Minuten.

Ausgangspunkt ist somit auch die angesprochene Annahme einer gewissen narrativen Grundkompetenz der InterviewpartnerInnen, die als gegeben angesehen wird, auch wenn sie sehr unterschiedlich ausgeprägt sein mag. Wie sich etwa aus verschiedenen Studien zeigte, sind vor allem die Antworten von Menschen mit einer Lernbehinderung stark von Beschreibungen und Erzählungen geprägt. Je standardisierter daher die Erhebungsinstrumente sind, umso mehr besteht die Gefahr, dass bestimmte Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit nicht erfassbar sind, wenn sie z.B. in einem Fragenkatalog eines Leitfadeninterviews nicht berücksichtigt werden oder nicht in die vorgegebenen Merkmalsräume eines standardisierten Fragebogens passen.

Die Interviews zur Eingangserhebung fanden im Dezember 2005 sowie im Jänner 2006 statt, nachdem alle TeilnehmerInnen zumindest das erste der 16 Ausbildungsmodule absolviert hatten. Als Erzählimpuls wurde folgende Frage gestellt: "Erzählen Sie mir bitte von Ihrem bisherigen Leben - was Ihnen in Ihrer ganzen Lebensgeschichte wichtig erscheint, von der Schulzeit bis jetzt, zum Beginn der Ausbildung zum/zur Pro-Fit BeraterIn"[1].

Dabei konnten wir in der Eingangserhebung auch viel über "Barrierefreiheit der Sprache" lernen. Wir als Forscherinnen mussten beispielsweise feststellen, dass die impulsgebende Frage trotz ihrer Offenheit zu viele Ebenen beinhaltete, sodass sie manche der InterviewpartnerInnen in der Situation überforderte. Als Resultat darauf haben wir diese Impulsfrage gestellt und in einem zweiten Schritt versucht, sie mehrmals mit verschiedenen Wörtern zu wiederholen. Auf diese Idee der umschreibenden Vereinfachung brachte uns einer der Teilnehmer, der uns zum Beginn des Interviews mit der Gegenfrage konfrontierte, was denn "Lebenslauf" heißen würde. Wir sahen weiters, dass die Interviewsituation an sich meist gut gemeistert wurde - nur eine von 16 Personen machte etwa vom Angebot Gebrauch, eine Begleitperson mitzubringen.

Diese Form der Eigenbeteiligung der AusbildungsteilnehmerInnen (die "Beforschten") an der Untersuchung ist aufgrund der Heterogenität der Gruppe (unterschiedliche Behinderungen, Lernbehinderungen) als besondere methodische Herausforderung zu betrachten, unterstreicht jedoch den Zugang, dass hier Begleitforschung nicht lediglich über sondern mit den Betroffenen passiert. Das narrative Interview in der von uns adaptierten Form erschien hier als besonders geeignet, da es in erster Linie durch die Erzählung durch die interviewte Person geprägt wird und weil die Bedeutungsstrukturierung der sozialen Wirklichkeit vor allem durch die Person selbst erfolgt.

Welche Prozesse und Veränderungen konnten wir sichtbar machen? Oder: Was hat die Ausbildung für die TeilnehmerInnen gebracht?

Derart ließen sich auch die Empowermentprozesse am besten nachzeichnen, da wir in der genauen Auswertung der Interviews auch die Veränderungen zwischen der Befragung zu Beginn und zum Ende der Ausbildung vergleichen konnten.

Es zeigte sich beispielsweise, dass TeilnehmerInnen, die davor in einer Werkstätte tätig waren, ihr Bild vom Arbeitsmarkt und vom Arbeitsleben, von den eigenen Kompetenzen und Möglichkeiten erst entwickelt hatten. Die größten Veränderungen zeigen sich im Hinblick auf das Selbstbild (z.B. Bilder zur eigenen Behinderung) sowie die Sensibilisierung für andere Behinderungsarten und die Bedürfnisse anderer Menschen mit Behinderung. Der Aspekt des Lebenslangen Lernens hat ebenfalls große Bedeutung. Für viele TeilnehmerInnen war es ein besonderes Erlebnis, an einer Ausbildung wie dieser teilzunehmen. Sie konnten direkt davon profitieren, indem sie ihr Wissen und ihre Handlungskompetenz im Hinblick auf Selbstvertretung beträchtlich ausweiten konnten (z.B. Wichtigkeit der Selbstvertretung, Methoden und Instrumente, stärkeres Selbstbewusstsein, Üben von Auftritten). Die Motivation, eine Tätigkeit in der Selbstvertretung auszuüben, hat sich bei vielen TeilnehmerInnen beträchtlich verstärkt.

Die Heterogenität der Gruppe hat ebenso große Auswirkung gehabt. So zeigte sich, dass jene TeilnehmerInnen, die bereits im Berufsleben stehen (z.B. am ersten Arbeitsmarkt oder auf einem geschützten Arbeitsplatz) oftmals als "Role-Models" für die anderen TeilnehmerInnen, die noch keine Erfahrungen dieser Art sammeln konnten, dienten. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung zeigten auch, dass im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen, sehr viele Veränderungen eingetreten sind. Die Ausbildung hat vor allem Effekte auf die Fähigkeit zur Reflexion von sozialen Interaktionen gehabt und bei vielen TeilnehmerInnen Prozesse zur Neubewertung von als belastend erlebten Situationen in Gang gebracht. Prägend sind Erfahrungen, bei denen eine zunächst ängstlich oder stressig erlebte Situation durch eigenes Handeln positiv aufgelöst werden kann. Das Überwinden von Ängsten, das Ausprobieren und Erfolgreich-Sein stehen im Mittelpunkt. Eine Erweiterung der Handlungskompetenz ist auch im Kontext von Selbstwahrnehmung und sozialem Handeln sichtbar.

Es zeigte sich auch deutlich, dass gerade die TeilnehmerInnen mit einer Lernbehinderung eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung sowie mit dem Thema Behinderung in der Gesellschaft durchlaufen haben. Die Reflexion von eigenen Bedürfnissen und Wünschen sowie von Stärken und Schwächen hat stattgefunden und bildet die Basis für eine Veränderung im Selbstbild. In manchen dieser Interviews wurde zu Beginn der Ausbildung das Thema Behinderung völlig ausgeklammert, falls es doch vorkam dann transportiert durch eine besondere Betonung von Normalität (man sei nicht behindert, alles sei "völlig normal", etc.). Verstärkt hat sich bei vielen AusbildungsteilnehmerInnen vor allem der Wunsch nach einer Tätigkeit in der Selbstvertretung. Die erweiterte Handlungskompetenz im Hinblick auf die Artikulation von Bedürfnissen und Grenzen sowie das erweiterte Handlungsrepertoire z.B. bezüglich des Umgangs mit Ungerechtigkeiten, Diskriminierung und Konflikten werden sichtbar und wirken sich auf die Wünsche für die Zukunft aus. Der Wunsch, aktiv für eine faire Chance von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben teilzunehmen einzutreten, ist durch die Ausbildung gewachsen.

Für rund ein Viertel der TeilnehmerInnen hingegen waren die Lernanforderungen zu hoch und es lassen sich auch kaum Empowermentprozesse nachzeichnen. Diese TeilnehmerInnen haben aber von einzelnen Inhalten profitiert (z.B. Umgang mit PC geübt).

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Begleitforschung erscheint es in besonderem Maße wichtig, Empowermenteffekte dort zu sichern, wo sie durch die Ausbildung erzielt werden konnten. Dazu gehört in den meisten Fällen auch die Unterstützung dabei, eine Perspektive im Hinblick auf die Tätigkeit als Pro-Fit BeraterIn für Arbeit zu entwickeln. Weiters sind unterstützende Maßnahmen notwendig, damit die AbsolventInnen der Ausbildung eine Tätigkeit als Pro-Fit BeraterIn im jeweils angestrebten Ausmaß auch ausüben können (z.B. im Hinblick auf Mobilität, Organisation der Termine, Planung der Tätigkeit unter Berücksichtigung des beruflichen Alltags, etc.).

Das Instrument des narrativen Interviews in der Form wie wir es für das Projekt adaptiert haben, liegt darüber hinaus - bereits in der Praxis getestet und von "Kinderkrankheiten" weitestgehend befreit - als eine weitere Methode in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen im Kontext der beruflichen Integration als ein weiteres Ergebnis des Projektes vor.



[1] Die Interviews der Ausgangserhebung fanden im Februar 2007, nach Abschluss der Ausbildung, statt. Die 16 AbsolventInnen wurden wiederum mittels narrativen Interviews befragt. Den Erzählimpuls stellte dabei die folgende Frage dar: "Erzählen Sie mir bitte, wie ist es Ihnen seit unserem letzten Gespräch ergangen, was hat sich in Ihrem Leben getan, was hat sich verändert? Was erscheint Ihnen diesbezüglich wichtig seit Beginn der Ausbildung zum/zur Pro-Fit BeraterIn?"

Kontakt:

Marlene Mayrhofer ist Soziologin und Diplom-Sozialarbeiterin

E-mail: marlene.mayrhofer@rmp.or.at

Doris Rath ist Pädagogin und Sonder- und Heilpädagogin

E-mail: doris.rath@rmp.or.at

Beide waren an der Entwicklung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung des EQUAL-Projektes "Pro-Fit Niederösterreich" beteiligt.

Quelle:

Marlene Mayrhofer, Doris Rath: Empowermentprozesse und berufliche Perspektivenentwicklung sichtbar machen. Über die Erfahrungen, durch narrative Interviews Entwicklungsprozesse von AusbildungsteilnehmerInnen mit unterschiedlichen Behinderungen nachzuzeichnen

erschienen in: impulse, Nr. 44/2007, Seite 21-23.

bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.03.2009

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