Disability Equals Business und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in England

Autor:in - Roland Higgins
Schlagwörter: Persönliches Budget
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse, Nr. 44/2007, Seite 18-19. impulse (44/2007)
Copyright: © Roland Higgins 2007

Disability Equals Business und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in England

In den letzten Jahren hat die Umsetzung des Persönlichen Budgets in Großbritannien immer weitere Kreise gezogen. Heute profitieren einerseits mehr Menschen davon, selbst über den Einsatz des ihnen zustehenden Geldes für gesellschaftliche Teilhabe zu entscheiden, als noch vor ein paar Jahren. Andererseits sind es immer mehr Lebensbereiche, für die das Persönliche Budget genutzt werden kann. Dies war auch Thema der englischen EQUAL-Entwicklungspartnerschaft (EP) "Disability Equals Business", die in der transnationalen Partnerschaft "Working Towards Diversity" beteiligt war. Roland Higgins erklärt den Entwicklungsprozess von den Anfängen selbstbestimmten Lebens und des Persönlichen Budgets bis heute.

Der folgende Artikel erklärt, inwieweit die englische EP Teil der englischen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist. Die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung verstehen wir als Teil der gesellschaftlichen Integration. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick darüber gegeben, wo England in der Umsetzung von Integration / Inklusion Zurzeit steht (vgl. Tabelle auf Seite 20).

Thema der EQUAL-EP "Disability Equals Business" ist die Beschäftigung. Deshalb bezieht sich dieser Artikel auf Erwachsene. Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass die Entwicklung von Unterstützungssystemen für Kinder und Jugendliche eine wichtige Voraussetzung für die berufliche Teilhabe ist. Ich werde zeigen, wie Veränderungen im Bereich von Wohnbedingungen und -möglichkeiten sich auch auf Veränderungsprozesse in den Bereichen Arbeit, Freizeit und finanziellen Leistungen auswirken. Denn ihre ersten Erfolge verzeichnete die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in England in der Verbesserung von Wohnmöglichkeiten.

Die Anfänge der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in England liegen in der Phase von der Nachkriegszeit bis zu den 1960er Jahren. Bis in die 1960er Jahre gab es in Großbritannien Großeeinrichtungen für Menschen mit "geistiger Behinderung", Lernbehinderungen, Sinnesbehinderungen oder Körperbehinderungen. Eltern der Nachkriegsgeneration begannen festzustellen: "Es muss sich etwas ändern. Es muss sich etwas verbessern".

In den 1960er Jahren begannen Eltern zu fordern, dass ihre Kinder nicht in Heime abgeschoben würden, sondern dass etwas Besseres geschehen solle. So wurde es für Kinder mit Behinderung zunehmend selbstverständlicher, bei ihren Eltern zu leben. Aber die getrennte Schulbildung blieb. Infolgedessen boten sich für jene Kinder als Erwachsene zwei Optionen:

  1. bei den Eltern zu bleiben

  2. in Einrichtungen zu gehen.

So begann ein Kampf für die Schließung der großen Wohneinrichtungen für Erwachsene und für das Leben von Menschen mit Behinderung in der Gemeinde. Das institutionelle Versorgungsmodell für Menschen mit Behinderung in den Bereichen (Aus-)Bildung, Wohnen, Arbeit und Freizeit wurde abgelehnt. Ein Mangel an staatlichen alternativen Finanzierungen stand jedoch Veränderungen im Weg.

In den 1980er und 90er Jahren ging die Schließung von Großeinrichtungen massiv voran. Die Trennung von Menschen mit Behinderung von der übrigen Gesellschaft wurde als Grundidee verworfen. Schritt 1 war die Schließung der großen Wohneinrichtungen. Einrichtungen, die Hunderte von Menschen beherbergt hatten, wandelten sich in kleinere Wohngruppen für 10-30 Personen. Dennoch waren Menschen mit Behinderung trotz des Lebens in der Gemeinde aufgrund der Größe der Wohngruppen weiterhin als Gruppe von der Restgemeinde separiert.

In den 1990er Jahren kam es mit der Schließung der Wohngruppen und dem Umzug der Menschen in Wohngemeinschaften zu Schritt 2. Wer in den Wohngemeinschaften wohnte, wurde von den EinrichtungsleiterInnen entschieden. Die Menschen, die dort lebten, hatten kaum die Wahl, mit wem sie ihre Wohnung teilten.

Dann kam es zu Schritt 3. Jetzt bestand für Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, selbst nach ihren Wünschen zu entscheiden, ob sie allein oder in einer Wohngemeinschaft und mit wem sie ggf. wohnen wollten. Das ist wahrhaftiges Leben in der Gemeinde, wenn die Menschen selbst aussuchen, mit wem sie wohnen. Die Möglichkeit alleine zu wohnen bedeutet nicht, ohne Unterstützung zu wohnen. Mögen manche Menschen nur wenige Stunden pro Woche Unterstützung benötigen, so sind andere auf eine Rund-um-die-Uhr-Unterstützung angewiesen. Ein wesentlicher Teil selbstbestimmten Lebens war damit realisiert. Selbst Menschen, die wenig Vorstellungen darüber haben, wie sie ihr eigenes Geld verwalten können, können selbstbestimmt leben, wenn sie einen Unterstützerkreis haben. So können es zum Beispiel Familienangehörige und FreundInnen sein, die jemanden in der Verwaltung seines / ihres Budgets entsprechend der eigenen Wünsche eines behinderten Menschen unterstützen.

Im Bereich Arbeit hat eine ähnliche Entwicklung begonnen. Innerhalb der Einrichtung wurde Arbeit als Teil des Wohnens verstanden. Arbeit wurde nicht oder nur gering entlohnt. Es wurde als selbstverständlich betrachtet, dass Menschen durch ihre Arbeit an die Institutionen zurückzahlen, die sie unterbringen und ernähren. Mit Schritt 1 führte die Schließung der Großeinrichtungen zur Entwicklung von Werkstätten für behinderte Menschen und Tagesförderstätten. Die betroffenen Personen hatten kaum Einfluss darauf, wo und was sie arbeiteten und taten. Mit Schritt 2 + 3 änderte sich nur wenig. Heute werden im vierten Schritt die Werkstätten allmählich geschlossen, und die Menschen werden ermutigt und unterstützt, eine Arbeitsstelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden. Gleichzeitig werden die Gemeinden und Betriebe ermutigt, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Für Menschen, die vermeintlich nicht die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlichen Fähigkeiten haben, gibt es weiterhin Werkstätten und Tagesförderstätten, jedoch werden diese weiter abgebaut. Es gibt Bestrebungen, Menschen mit Behinderung sowohl in unbezahlte als auch in bezahlte Arbeitsstellen zu vermitteln. Teilweise werden auch kombinierte Arbeitsplätze geschaffen - ein Teil als bezahlter, ein Teil als unbezahlter Arbeitsplatz und oft an unterschiedlichen Arbeitsorten.

Mit dem Ziel, die Veränderungsprozesse zu unterstützen, hat sich auch die Form staatlicher Unterstützungsleistungen verändert. Im Rahmen der Großeinrichtungen gab es ein behördlich verwaltetes Gesamtbudget, der Staat zahlte einen festgesetzten Betrag für die Komplettversorgung eines Menschen an die Institution. Hieraus wurden Unterbringung, Ernährung, Pflege, Betreuung in der Werkstatt oder Tagesförderstätte, Kleidung und Freizeitaktivitäten bezahlt. Der einzelne Mensch bekam jeweils ein kleines Taschengeld für Dinge des persönlichen Bedarfs zur Verfügung gestellt.

Bei Schritt 1 wurden die Wohngruppen weiterhin mit einem Gesamtbudget finanziert. Die Wohneinrichtung bekam jetzt das Budget für Wohnung, Ernährung, Pflege und Freizeitaktivitäten. Die Tagesförderstätte oder Werkstatt bekam das Arbeitsbudget. Der einzelne behinderte Mensch erhielt ein Budget für Kleidung und ein kleines Taschengeld für Dinge des persönlichen Bedarfs vom Staat.

Mit Schritt 2 wurden die Wohngemeinschaften von Trägern für Wohneinrichtungen angeboten und betrieben, die vom Staat ein Budget für Wohnen, Ernährung und Pflege bekamen. Die Tagesförderstätte bzw. die Werkstatt erhielt weiterhin das Budget für Arbeit, und der einzelne behinderte Mensch erhielt weiterhin ein Budget für Kleidung und für Dinge des persönlichen Bedarfs sowie jetzt neu auch ein Budget für Freizeitaktivitäten.

Mit Schritt 3 und dem ersten Teil Selbstbestimmten Lebens erhält der behinderte Mensch selbst ein Budget für Wohnen vom Staat. Das Budget für die Pflegeleistungen verbleibt bei der Kommune. Der einzelne Mensch erhält zudem ein Budget für Ernährung, Kleidung, Freizeit und Dinge des persönlichen Bedarfs.

Die nächste Entwicklung - Schritt 4 - wird direkte Bezahlung ("Direct Payments") genannt. Über 300 Personen in Westsussex haben jetzt selbst Kontrolle über ihr Budget und kaufen sich selbst ihre professionellen Leistungen für das Wohnen und die Pflege, ihre Nahrungsmittel, Kleidung, Freizeit und sonstigen Dinge des persönlichen Bedarfs ein. Die Bezahlung von Werkstätten und Tagesförderstätten liegt weiter in der Hand der kommunalen Verwaltungen. Jedoch gibt es starke Fortschritte im Bereich bezahlter und unbezahlter Arbeit. Die Form der "direkten Bezahlungen" wird in allen Regionen umgesetzt, in denen die EQUAL-EP tätig war, d.h. in Sussex, Brighton und Hove.

Schritt 5 ist jetzt versuchsweise in West Sussex und 18 weiteren Regionen Großbritanniens gestartet. Hier erhalten die Menschen ein Persönliches Budget für alle Bereiche des Lebens, und sie entscheiden selbst, wie sie es ausgeben. Die einzige Aufgabe des Staates dabei ist es, dem Betrag des jeweiligen Bedarfs zuzustimmen. Die Person selbst entscheidet, was er / sie einkauft, wen er / sie als Pflegekraft einstellt, wo und wie er / sie wohnt. Es gibt Unterstützungsorganisationen, die bei der Verwaltung der Budgets behilflich sind. Dazu gehören die Kontoeinrichtung und -verwaltung, Gehaltsabrechnungen und andere Arbeitgeberpflichten sowie eine Rechtsberatung. Die Kosten für diese Budgetassistenz sind im Gesamtbudget enthalten.

Erfahrungen mit der schrittweisen Umsetzung des Persönlichen Budgets

Einige Eltern in Großbritannien waren zunächst besorgt über den Wechsel von der behördlichen Kontrolle zur individuellen Kontrolle über die Angelegenheiten, die Menschen mit Behinderung jeweils betreffen. Es ist nicht immer leicht für Menschen mit Behinderung, ihre eigenen Pflegekräfte einzustellen, ihre Budgets zu verwalten, aber es stehen ihnen Unterstützungsgruppen und RechtsanwältInnen zur Verfügung, deren Hilfe sie in Anspruch nehmen können, wenn sie wollen. Eine Lernschwierigkeit oder eine andere Behinderung zu haben, muss nicht zwangsläufig eine Barriere zum selbstbestimmten Leben sein.

Die wesentliche Botschaft ist, den einzelnen Menschen und nicht die Organisation das eigene Leben kontrollieren zu lassen. Mit dieser Haltung sind eine Menge Änderungen erreicht worden. Ich kenne Menschen, die in Wohnheimen wohnten und denen dauerhafte Fürsorge und Schutz zugedacht wurde, und die heute mit ein paar Stunden Unterstützung pro Woche in ihren eigenen Wohnungen wohnen. Menschen, die früher ausschließlich als Fürsorgeobjekte betrachtet wurden, haben heute eine aktive Rolle in der Gesellschaft.

Das ist eine gute Geschichte. Der schlechte Teil der Geschichte ist, dass in Großbritannien an jedem der 5 Schritte Menschen stecken geblieben sind. Einige Menschen leben noch immer in Großeinrichtungen, manche in Wohngruppen, manche in Wohngemeinschaften, ohne das zu wollen. Manche Eltern machen sich Sorgen darum, dass ihre erwachsen werdenden Kinder sich selbst überlassen werden und dass es ab und zu Probleme geben wird. Allerdings lässt sich das nicht vermeiden, niemandes Leben ist sorgenfrei. Keiner von den Menschen mit Behinderung, die ich kenne, würde wieder auf die Stufe zurück gehen, die er oder sie bereits überwunden hat.

Die Schritte zu einem selbstbestimmten Leben, in dem die Kontrolle über das Geld Kontrolle über das eigene Leben bedeutet

 

Dinge des persönlichen Bedarfs

Kleidung

Freizeit

Nahrungsmittel

Wohnung

Pflege

Arbeit

Einrichtung

Einrichtung

Einrichtung

Einrichtung

Einrichtung

Einrichtung

Einrichtung

Einrichtung

Wohngruppe Schritt 1

Person

Person

Wohngruppe

Wohngruppe

Wohngruppe

Wohngruppe

Werkstatt für behinderte Menschen /Tagesförderstätte

Wohngemeinschaft Schritt 2

Person

Person

Person

Wohngemeinschaft

Wohngemeinschaft

Wohngemeinschaft

Werkstatt für behinderte Menschen /Tagesförderstätte

Leben in der Gemeinde Schritt 3

Person

Person

Person

Person

Person

Pflegedienstleistungsanbieter

Werkstatt für behinderte Menschen

Direkte Bezahlungen Schritt 4

Person

Person

Person

Person

Person

Person

Werkstatt für behinderte Menschen /Tagesförderstätte

Persönliches Budget Schritt 5

Person

Person

Person

Person

Person

Person

Person

Kontakt

Roland Higgins

West Sussex Association for Disabled People 7 St. Johns Parade

Alinora Crescent Goring by Sea

GB - West Sussex BN12 4HJ

E-mail: roland.higgins@wsad.org.uk

Quelle:

Roland Higgins: Disability Equals Business und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in England

erschienen in: impulse, Nr. 44/2007, Seite 18-19.

bidok-Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.03.2009

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