Das Persönliche Budget - Chancen und Gefahren

Erfahrungen und Forderungen aus der Nutzerperspektive

Autor:in - Uwe Frevert
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben, Kultur
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 41/42, 1 + 2/2007, Seite 34 - 37. impulse (41/42/2007)
Copyright: © Uwe Frevert 2007

Das Persönliche Budget - Chancen und Gefahren

Die Förderung des Themas "Persönliches Budget" ist für behinderte Menschen, aber auch für die Behindertenarbeit generell, eine wichtige Entwicklung, die wir nicht hoch genug ansiedeln sollten. Mein Beitrag ist eine Zwischenbilanz über die Erfahrungen, die wir vom Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter in Kassel gemacht haben. Dabei fließen auch die Erfahrungen ein, die wir über unseren Bundesverband der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL e.V., dem Dachverband der Zentren für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen, bisher mit dem Persönlichen Budget gemacht haben. Hierfür werde ich zuerst einen Einblick in meine eigenen Erfahrungen mit dem Hilfesystem in Deutschland gewähren, danach eine Einführung in die nicht unkomplizierte Materie der Persönlichen Budgets geben, um abschließend einen Ausblick auf die vor uns liegenden Herausforderungen zu wagen:

1. Meine eigenen Erfahrungen

Ich möchte mit meinen persönlichen Erlebnissen beginnen, die ich als behinderter Mensch mit der so genannten Behindertenhilfe gemacht habe. Denn daraus resultiert sehr viel, was wir heute als Persönliches Budget bezeichnen und wofür ich und viele andere streiten.

Ich bin 49 Jahre alt und hatte mit knapp zwei Jahren Kinderlähmung (Poliomyelitis). Ich benutze einen Elektrorollstuhl und bin auf personelle Hilfen (Assistenz) angewiesen. Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder und arbeite in Kassel in einem großen Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen als Peer Counselor (Berater), um andere behinderte Menschen dabei zu unterstützen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können. Mein Leben wäre wahrscheinlich ganz anders verlaufen, wenn ich nicht irgendwann aus den vorgegebenen Denkmustern der klassischen Behindertenhilfe ausgeschert wäre und zusammen mit anderen eigene Wege gesucht und entwickelt hätte.

Ich verbrachte zehn Jahre meines Lebens in einer Institution in München Schwabing, auf der Station 8/1, dem damaligen Polio-Kinderkrankenhaus, weil es in den 60er Jahren für Menschen mit meiner Behinderung angeblich keine bessere Unterstützung gab. Das medizinisch ausgebildete Fachpersonal bestimmte die Zeiten, zu denen ich aufstehen durfte und die ich im Bett verbringen musste. Mein Anderssein wurde, wie bei vielen anderen behinderten Menschen auch, mit Kranksein gleich gesetzt und diente als Vorwand dafür, mich so zu behandeln, wie Nichtbehinderte nie behandelt werden möchten.

Als ich 1969 in ein großes Rehabilitationszentrum mit über 500 behinderten Bewohnern zog, die Pfennigparade in München, die damals als fortschrittlich galt, konnte ich kaum lesen und schreiben. Ich hatte während meines Aufenthaltes im Krankenhaus schlichtweg keine Motivation, geschweige denn einen Sinn im Lernen gesehen. Als junger Mann wollte ich später jedoch ein eigenständiges Leben führen und aus der Sondereinrichtung ausziehen. Zusammen mit dem damaligen blinden Heimleiter der Pfennigparade, Dr. August Rüggeberg, entwickelten wir die Idee für den ersten ambulanten Hilfsdienst in Deutschland, mit dessen Hilfe mir und vielen anderen behinderten Menschen letztendlich ab 1978 ein Auszug aus der Sondereinrichtung ermöglicht wurde.

So wichtig die anfängliche Unterstützung durch den ambulanten Hilfsdienst war, genau so wichtig war es für mich, nach einigen Jahren den nächsten Schritt zu mehr Selbstbestimmung zu gehen, nämlich die eigenständige Organisation meiner personellen Hilfen mittels des Arbeitgebermodells. Obwohl es bundesweit mittlerweile zirka 1.500 bis 2.000 behinderte Menschen gibt, die seit Jahren ihre Hilfen im Rahmen des "Arbeitgebermodells" selbst organisieren, wird immer noch von einem "Modell" gesprochen. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass wir diese Form der Assistenzorganisation sehr individuell durchgesetzt haben und dies aufgrund der Tatsache, dass daran kein Leistungserbringer verdient, sozusagen am Rande der klassischen Behindertenhilfe individuell durchführen. Das Modellhafte an dieser Form der Hilfeorganisation trifft jedoch zu, wenn wir heute vom Persönlichen Budget reden und viele glauben ja auch, dass es sich dabei um etwas "völlig Neues" handelt. Behinderte Menschen haben mit dem Arbeitgebermodell bereits Anfang der 90er Jahre die Bresche für die heutigen Persönlichen Budgets geschlagen und verfügen damit bereits über eine 20jährige Erfahrung. Wer heute also an der selbst organisierten Hilfeerbringung und seiner Kostenübernahmeregelungen zweifelt, dem können wir viele positive Beispiele aufzeigen.

Denn für uns war es damals wie heute wichtig, dass wir nicht von Einrichtungen oder Diensten abhängig sind, wenn es darum geht, wie wir unser behindertes Leben gestalten wollen. Wir wollen morgens aufstehen, wenn wir uns danach fühlen, beziehungsweise wenn dies unser Tagesablauf erfordert. Wir wollen unsere Verantwortung in der Familie, unsere Aufgaben am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft ausfüllen und wir wollen dabei nicht von medizinischen oder pädagogischen Fachpersonal bevormundet werden. Aber genau dies erleben leider viele behinderte Menschen, die in ihrem Alltag von Pflegediensten beziehungsweise von der klassischen Behindertenhilfe abhängig sind, die deren Bedürfnisse mit Verweis auf institutionelle Zwänge nicht ernst nehmen. Der entscheidende Unterschied besteht für uns behinderte Menschen darin, dass wir für diese Tätigkeiten und Funktionen Assistenz brauchen. Dr. Adolf Ratzka aus Schweden, der in Stockholm die erste Assistenzgenossenschaft aufgebaut und für das vielgepriesene schwedische Assistenzgesetz gekämpft hat, sagte sehr anschaulich, dass "wenn wir nicht aufpassen, unsere Wohnung sehr schnell zum Krankenhaus werden kann, in dem wir zu Patienten gemacht werden". Eine solch entwürdigende Situation haben wir zum Beispiel beim Bezug der Sachleistung von der Pflegeversicherung. Laut Paragraf 71 SGB XI ist die Hilfe unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft zu erbringen, was nichts anderes heißt, dass der Pflegedienst das juristische Recht hat, darüber zu entscheiden, wie, wann und wer die Pflegesachleistung zu erbringen hat. Die behinderte Person ist praktisch nicht mehr "Herr im eigenen Haus".

Um dies zu verhindern, haben wir nicht nur daran mitgewirkt, dass ambulante Dienste verstärkt die Selbstbestimmung behinderter Menschen achten und ihnen die entsprechenden Wahlfreiheiten gewähren, sondern dass behinderte Menschen auch selbst mit dem Arbeitgebermodell die Entscheidungsgewalt ausüben können, die sie zum Arbeitgeber statt zum Betreuten machen.

Dabei geht es unter anderem um die Finanzkompetenz, nämlich darum, dass ich selbst das Gehalt an die AssistentInnen bezahle, also auch klar ist, dass ich der Chef bin. Die Personalkompetenz sorgt dafür, dass behinderte Menschen selbst auswählen können, wer ihnen morgens aus dem Bett hilft und wen sie einstellen beziehungsweise entlassen müssen. Die Organisationskompetenz ist wichtig, dass ich selbst den Dienstplan für die Assistenz machen kann, der sich danach richtet, wann ich personelle Hilfe brauche und dies nicht über meinen Kopf hinweg geschieht. Und die Tatsache, dass ich selbst mit den Ämtern darüber verhandle, welche Hilfen ich brauche und diese mit ihnen abrechne, ist zwar zuweilen recht anstrengend, macht mich jedoch zum Verhandlungspartner statt zum Betreuten, über dessen Kopf hinweg sonst all zu selbstverständlich entschieden werden kann.

2. Das Persönliche Budget

Wenn wir heute also über Persönliche Budgets diskutieren, soll es um eine Machtverschiebung dieser Kompetenzen gehen. Im Ergebnis sollen die behinderten Personen selbst darüber entscheiden, wer was wann für sie tut.

An dieser Stelle möchte ich einige Zahlen nennen, denn es ist wichtig, die Situation der bisherigen Behindertenhilfe zu erkennen. Leider hat sich an der sozialen Stellung behinderter Menschen in unserer Gesellschaft wenig geändert hat und daher ist es wichtig, dass System der klassischen Behindertenhilfe zu verändern:

Im Jahr 2004 erhielten nur 33 Prozent Eingliederungshilfe außerhalb von stationären Einrichtungen, der größere Teil, also 67 Prozent, erhielt die Hilfe nur in Institutionen. Wenn man dieses Verhältnis in Geldbeträgen betrachtet, wird es bedrückender, denn 93 Prozent der Mittel fließen in die Aussonderung und nur 7 Prozent werden für die Förderung für ein Leben in der Gesellschaft ausgegeben.

Bei Betrachtung der Hilfe zur Pflege aus dem Jahr 2002 sieht es nicht viel besser aus: 73 Prozent der Gelder fließen in die Aussonderung und nur 27 Prozent werden für ambulante Hilfen verwendet.

Diese Zahlen sind peinlich, das musste auch die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Frau Evers-Meyer, in New York am 13. Dezember 2006 auf der UN-Generalversammlung erfahren. Dort wurde die UN Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen verabschiedet und Frau Evers-Meyer gefragt, warum in Deutschland nur 12 Prozent der behinderten Kinder eine Regelschule besuchen? Im restlichen Europa seien es doch 80 Prozent.

Beschäftigte in Sondereinrichtungen sollten sich einmal ehrlich fragen: Möchten sie in den Einrichtungen, in denen sie arbeiten, wohnen und von den betreffenden Leistungen abhängig sein? Möchten sie von den ambulanten Diensten, für die sie tätig sind, unterstützt werden? Oder möchten sie von den Kostenträgern, die Ihren Arbeitplatz finanzieren, Bescheide bekommen, wenn sie durch eine Behinderung eingeschränkt werden? Vieles, was in der herkömmlichen Behindertenhilfe als Gold verkauft wird, verliert bei genauerer Betrachtung schnell den Glanz und verblasst zu normalem Metall. Damit uns dies nicht auch mit den Persönlichen Budgets passiert, ist es wichtig, dass wir eine Reihe von Grundsätzen beachten, die bei den derzeitigen Modellen bereits deutlich werden.

Die Machtverschiebung mit Hilfe des Persönlichen Budget ist einerseits eine neue Herausforderung für die klassische Behindertenhilfe als Ganzes, für uns behinderte Menschen, die bisher ihre Hilfen selbst organisiert haben und immer wieder neue Breschen in das herkömmliche System geschlagen haben, ist dies lediglich eine Erweiterung auf unserem Weg für mehr Selbstbestimmung. Das Persönliche Budget ist aber auch eine Wendung, die die Türen endlich für viele weitere behinderte Menschen öffnet und dies auch gesetzlich festschreibt. Grundsätzlich unterstützen wir daher die Möglichkeit für Persönliche Budgets und dabei besonders das trägerübergreifende Budgets als weiteren Schritt zu einem Paradigmenwechsel - als einen radikalen Denkwechsel - in der Behindertenpolitik. Wir sehen hierin tatsächliche Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung und Teilhabe der einzelnen behinderten Menschen und auch große Chancen, dass dadurch die Behindertenhilfe humaner und flexibler wird - wenn die Persönlichen Budgets bedarfsgerecht sind und nicht zum Sparmodell werden.

Worum handelt es sich bei Persönlichen Budgets also genau? Vielleicht wird das deutlich, wenn sich die Leser einmal vorstellen, dass sie anstatt ihres pauschalen Gehalts von ihrem Arbeitgeber, das sie jeden Monat bekommen, bei verschiedenen Stellen für das Wohnen, die Freizeit, das Essen, die Mobilität, die Kleidung etc. Geld beantragen müssten. Das bleibt ihnen zum Glück erspart, denn das wäre ein Heidenaufwand und wenn sie dazu noch jeweils begründen müssten, warum sie wie viel Geld für was genau verwenden möchten, wären sie schwer beschäftigt. Und so geht es vielen behinderten Menschen, die all zu oft mit drei, vier ja mit bis zu sechs oder mehr Kostenträgern über ihren Bedarf verhandeln, diesen beantragen und abrechnen müssen - von den Widersprüchen ganz zu schweigen. Es würde nicht behinderten Menschen wahrscheinlich genauso wenig gefallen, wenn ihr Arbeitgeber auf den Gedanken käme, ihr Leben für sie zu regeln, indem er ihre Wohnung anmietet, ihnen eine Autowerkstatt sucht beziehungsweise ihnen das Essen auf Rädern liefert und am Ende noch ihre Freizeit für sie organisiert. Auch das erleben behinderte Menschen allzu oft, dass sie von Dienstleistungen abhängig sind und ihre Bedarfe mit Leistungskomplexen gedeckt werden und wenig Einfluss darauf haben, wer ihnen aus dem Bett hilft, was es wann zu Essen gibt beziehungsweise wo und mit wem sie wohnen - und das meist auch noch in Doppelzimmern. Und wenn dies alles von einem Anbieter kommt, ist die Abhängigkeit unerträglich massiv, vor allem, wenn es noch an Alternativen fehlt. Mancher erinnert sich vielleicht noch daran, wie das früher war, als die Bundespost noch der einzige Telefonanbieter war und wie froh man sein konnte, dass die überhaupt kamen, um das Telefon anzuschließen oder zu reparieren. Genauso geht es oft behinderten Menschen, die mit ihrem Anbieter von Dienstleistungen zwar nicht zufrieden sind, aber auch kaum Alternativen nutzen dürfen. Die neue gesetzliche Regelung mit dem Persönlichen Budget eröffnet behinderten Menschen Alternativen zur etablierten Behindertenhilfe, die wir jedoch dann auch eigenverantwortlich organisieren müssen.

Um die Möglichkeiten und Herausforderungen eines Persönlichen Budgets einmal plastisch darzustellen, möchte ich beispielhaft eine vor kurzem in Kassel abgeschlossene Zielvereinbarung für ein Persönliches Budget erläutern. Denn darin stecken sehr viele Details, die es zuweilen zu berücksichtigen gilt:

Ende November ist es uns in Kassel gelungen, eine Zielvereinbarung zum trägerübergreifenden Persönlichen Budget mit insgesamt sechs verschiedenen Kostenträgern zur eigenständigen Organisation der Hilfen im Rahmen des Arbeitgebermodells erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Das ist sozusagen einer der höchsten Schwierigkeitsgrade in diesem Geschäft - eine geeignete Zielvereinbahrung auf den Weg bringen.

Karsten Eckhardt, ein Beratungskunde von mir, der mit der Veröffentlichung seiner Geschichte einverstanden ist, hat Muskeldystrophie, nutzt eine mechanische Beatmung sowie einen Elektrorollstuhl und ist berufstätig. Um seine personellen Hilfen so individuell wie möglich, entsprechend seinen Bedürfnissen organisieren zu können, wollte sich Karsten Eckhardt von seinem bisherigen Pflegedienst lösen und die Assistenz im Rahmen des Arbeitgebermodells selbst organisieren. Hierfür stellte er mit Unterstützung des Kasseler Vereins zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab e.V.) im Mai 2006 einen Antrag beim Integrationsamt, das beim Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) angesiedelt ist. Das Integrationsamt hat zwar nur einen geringeren Kostenanteil an den gesamten Assistenzleistungen als andere Träger, doch die gute Zusammenarbeit mit dem Integrationsamt war für Karsten Eckhardt ausschlaggebend, dieses als Beauftragten für den Abschluss einer Zielvereinbarung für ein trägerübergreifendes Persönliches Budget zu wählen.

Die vereinbarte Leistungserbringung im Rahmen des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets enthält eine Reihe von Komponenten, die beispielhaft sind: Neben der Tatsache, dass das Persönliche Budget zukünftig im Rahmen des Arbeitgebermodells, also von Karsten Eckhardt eigenständig organisiert werden kann, ist es mit dem Abschluss der Zielvereinbarung gelungen, sechs beteiligte Kostenträger unter einen Hut zu bekommen und die zukünftige Leistungserbringung und -abrechnung zu vereinfachen. Gutscheine der Pflegeversicherung werden darüber hinaus zukünftig mittels eines Kooperationsvertrages verrechnet, eine Dynamisierung des Gesamtbudgets ist gewährleistet, eine Schwankungsreserve für bis zu drei Monate wurde vereinbart und die Rückführung überschüssiger Finanzmittel an die Leistungsträger ist geregelt. Wichtig ist auch, dass zukünftig ein ungekürztes pauschales Pflegegeld gezahlt wird. All dies sind enorm wichtige Komponenten für ein wirklich Bedarf deckendes Persönliches Budget, die im Bescheid beispielhaft verankert werden konnten.

Mit der Schwankungsreserve wird beispielsweise auch die persönliche Assistenz im Krankenhaus für Karsten Eckhardt gewährleistet, wenn diese einmal nötig werden sollte. Gelder zur Einarbeitung neuer AssistentInnen sind darin ebenfalls vorgesehen. Schulungsmaßnahmen für AssistentInnen und doppelte Ausgaben im Urlaubsfall des behinderten Berechtigten, wie zum Beispiel die Unterkunft für die AssistentInnen etc., sind in der Schwankungsreserve ebenfalls enthalten, so wie finanzielle Anreize für AssistentInnen zur Arbeit an Sonn- und Feiertagen.

Die Zahlung des pauschalen Pflegegeldes nach Paragraf 64 Absatz 3 SGB XII ermöglicht Karsten Eckhardt darüber hinaus zukünftig die Lohnbuchhaltung, die Beratung, Schulung und das Training für ihn als behinderten Arbeitgeber, sowie Regieaufwendungen für Telefon, EDV, Porto etc. zu finanzieren. Auch dies sind enorm wichtige Faktoren, die oft außer Acht gelassen werden.

Auch ein negatives Beispiel will ich nicht vorenthalten, denn damit sieht man, dass es im alten Denken der Kostenträger viele Wege gibt, um die neue gesetzliche Regelung mit dem Persönlichen Budget zu verhindern:

Ein stark körperbehinderter Mann, der in Teilzeit berufstätig ist, stellte einen Antrag auf ein Persönliches Budget im März 2006 bei der AOK Hessen, nachdem eine Kostenzusage für den Bezug eines neuen Elektrorollstuhles über ein Sanitätshaus vorlag. Das Budget wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, da nach Ansicht der AOK "für einen Elektrorollstuhl kein regelmäßig wiederkehrender Bedarf" existiert.

In der Vergangenheit wurden zweimal Gelder für die eigenständige Beschaffung eines Elektrorollstuhles von der AOK zur Verfügung gestellt. Über die eigenständige Beschaffung des Hilfsmittels konnten Kostenersparnisse bis zu 35 Prozent erreicht werden. Nach einigen Nachfragen, warum denn unbedingt über die kartellähnlichen Märkte der Sanitätshäuser mehrere Tausend Euro mehr bezahlt werden sollen und weil sich die AOK wahrscheinlich diese Ersparnis doch nicht entgehen lassen wollte, gewährte die sie im Juli 2006 die Geldleistung über Paragraf 13 Absatz 3 SGB V, weil die Leistung von der AOK angeblich nicht rechtzeitig erbracht wurde. Diese Regelung sieht eine Kostenerstattung für selbst beschaffte Hilfsmittel im Nachhinein vor. Für den behinderten Mann musste die AOK jedoch das Geld im Voraus zur Verfügung stellen, damit der teure Elektrorollstuhl überhaupt bestellt werden konnte.

An diesem Beispiel kann man sehen, dass einmal das Persönliche Budget nicht wirklich etwas Neues ist und zum anderen wird deutlich, wie flexibel ein Kostenträger werden kann, wenn er die Hilfegewährung in diesem neuen gesetzlichen Rahmen nicht akzeptieren will.

3. Ausblick und Herausforderung

Die Persönlichen Budgets werden wohl kaum alle Probleme behinderter Menschen auf einen Schlag ändern, der rechtliche Anspruch darauf ab 2008 wird sicherlich aber einige eingefahrene Denkweisen und Strukturen aufbrechen.

  • Behinderte Menschen selbst werden herausgefordert, darüber nachzudenken, welche Hilfen sie überhaupt in Anspruch nehmen wollen, ob diese wirklich für sie passen beziehungsweise wie diese für sie effektiver und passgenauer sein können oder anders organisiert werden müssen. Dabei ist es wichtig, dass diejenigen, die zur Anstellung solcher Überlegungen beziehungsweise zur Umsetzung von alternativen Hilfen die nötige möglichst unabhängige Beratung und Unterstützung bekommen, die sie brauchen, damit die Hilfe in ihrem Sinne erbracht wird.

  • Erbringer von Dienstleistungen, ob diese stationärer oder ambulanter Natur sind, werden sich darauf einstellen müssen, dass es zukünftig weniger darum gehen wird, bisher geschlossene Märkte über die Köpfe der Betroffenen hinweg aufzuteilen und diese mit den Leistungsträgern (Kostenträger) abzustecken. Sie müssen sich vielmehr damit auseinandersetzen, dass sie "behinderte Kundinnen und Kunden" haben, die sich zunehmend ihrer Rolle als Selbstzahler bewusst werden und sich ein konkurrierender Markt bilden wird.

  • Von den Leistungsträgern erfordern die Persönlichen Budgets eine neue Beweglichkeit, bei der es unter anderem darum geht, über den eigenen Tellerrand und Paragraphenwald hinauszuschauen, vor allem, wenn mehrere Leistungsträger Hilfen für eine behinderte Person zu erbringen haben. Vor allem müssen diese Kostenträger von der systemorientierten Sachleistung zur personenbezogenen Hilfe umschwenken. Das Denken an Mauern, Einrichtungen und Diensten muss dem Denken an die konkreten Lebensbedürfnisse und Wünsche der einzelnen behinderten Person weichen.

  • Für die Politik wird es meines Erachtens darum gehen, den begonnenen Kurs für mehr Selbstbestimmung, Teilhabe und Gleichstellung konsequent weiter zu verfolgen und vor allem für eine Sicherheit zur Umsetzung der Gesetze zu sorgen. In den letzten Jahren wurde so manches Zukunftsweisende - und für uns behinderte Menschen Hoffnungsvolle - von der Politik in Buchstaben gegossen, nun müssen die Verwaltung und die einzelnen Akteure bei der Umsetzung auf diesem Weg mitgenommen werden.

Trotz all dieser Herausforderungen und dem langen Weg, der noch vor uns liegt, bis auch in Deutschland all diejenigen, die dies wollen, Daheim statt im Heim leben können, lohnt sich dieser Weg. Die Weichen dafür sind in einigen Bereichen richtig gestellt. Ich selbst habe die Entscheidung, meine Assistenz selbst zu organisieren und sozusagen mein persönliches Budget selbst durchzusetzen und zu verwalten, nie bereut - und Ähnliches höre ich immer mehr von anderen behinderten Menschen, die diesen Weg gehen.

Kontakt:

Bundesverband der Interessenvertretung

"Selbstbestimmt Leben" Deutschland e.V. - ISL

Uwe Frevert, Vorstand

Kölnische Str. 99, D - 4119 Kassel

Tel.: 0561 - 72885-17, Fax: -19

eMail: uwe.frevert@fab-kassel.de

Weitere Informationen

- zum Thema Persönliches Budget:

http://www.isl-ev.de/2006/12/01/beispielhafte-zielvereinbarung-zum-personlichen-budget/

- zum Thema Persönliche Assistenz:

http://www.fab-kassel.de/assistenz2.html

- zum Thema Behinderung allgemein:

http://www.kobinet-nachrichten.org/

Quelle:

Uwe Frevert: Das Persönliche Budget - Chancen und Gefahren. Erfahrungen und Forderungen aus der Nutzerperspektive

erschienen in: impulse Nr. 41/42, 1 + 2/2007, Seite 34 - 37.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06. 05. 2008

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