Stellungnahme der BAG UB zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Arbeitsassistenz

(SGB IX, § 102 Abs. 4) vom Juli 2005

Autor:in - Jörg Schulz
Themenbereiche: Recht, Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: impulse Nr. 35, September 2005, Seite 19 - 21. impulse (35/2005)
Copyright: © Jörg Schulz 2005

Stellungnahme der BAG UB zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Arbeitsassistenz

Der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz wurde im Oktober 2000 eingerichtet, um die beruflichen Chancen behinderter Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf während der Arbeitszeit zu verbessern. Arbeitsassistenz sollte dabei eine personale Unterstützungsleistung sein, die - in Ergänzung zu weiteren Möglichkeiten personaler Unterstützung - Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung fördert, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten möchten.

Heute, viereinhalb Jahre nach der Einrichtung des Rechtsanspruchs, hat Arbeitsassistenz sich zu einem wichtigen Eckpfeiler der beruflichen Rehabilitation entwickelt. Die Anzahl der behinderten Personen, die Arbeitsassistenz nutzen, ist zwischen 2000 und 2004 Jahr für Jahr eicht, aber kontinuierlich an den gestiegen. Bei der Bearbeitung von Anträgen auf Arbeitsassistenz ist seitens der verschiedenen zuständigen Leistungsträger eine zunehmende Routine festzustellen, die die Nutzung dieser Leistung deutlich erleichtert. Und auch bei den Menschen mit Assistenzbedarf ist eine zunehmende Sicherheit bei der Nutzung von Assistenz im Arbeitsalltag zu erkennen. Arbeitsassistenz ist im Alltagsgeschäft der beruflichen Rehabilitation und Integration angekommen.

Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass verschiedene Probleme, die sich bereits während der Anfangsphase der Umsetzung des Rechtsanspruchs herauskristallisiert hatten, nicht gelöst werden konnten, sondern sich stattdessen eher verfestigt haben:

  • Obwohl die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) lernbehinderte, so genannte geistig behinderte sowie psychisch kranke Menschen inzwischen explizit als Zielgruppen für Arbeitsassistenz benannt hat, sind nach wie vor bundesweit keine Personen aus diesen Zielgruppen bekannt, die Arbeitsassistenz nutzen. Diese Zielgruppen sind seit nahezu fünf Jahren offenbar ausnahmslos von der Möglichkeit der Nutzung von Assistenz während der Arbeitszeit ausgeschlossen. Dies ist vor allem deshalb alarmierend, weil bekannt ist, dass in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Anträgen aus diesem Personenkreis gestellt wurde. Grund für diese Fehlentwicklung ist die enge Definition von Arbeitsassistenz in den "Empfehlungen" der BIH zur Arbeitsassistenz und das daraus resultierende allgemeine Verständnis von dieser Unterstützungsleistung Arbeitsassistenz als ‚dauerhaft notwendige, einfache Hilfstätigkeit' wird nicht nur gegen Job Coaching, sondern auch gegen alle anderen Formen von Kompetenzförderung, pädagogischer und psychologischer Unterstützung abgegrenzt. Dementsprechend werden die oben genannten Zielgruppen gemeinhin auf Job Coaching oder berufsbegleitende Unterstützung verwiesen an Arbeitsassistenz angrenzende Unterstützungsleistungen, deren Fragen der Finanzierung und Zuständigkeit der Leistungsträger bundesweit noch weitgehend ungeklärt sind. Gerade für kozgnitiv beeinträchtigte Menschen besteht jedoch ohne besondere, auch langfristige Unterstützung kaum eine reelle Chance auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

  • Nicht nur Menschen mit Lerneinschränkungen, sondern allen Menschen mit niedriger schulischer/beruflicher Qualifikation ist der Zugang zur Leistung Arbeitsassistenz unter den derzeitigen Bedingungen nicht möglich. Grund ist der Abschnitt 2.6 der "Empfehlungen" zur Arbeitsassistenz der BIH: Demnach sollen "die Leistungen (...) in einem vertretbaren Verhältnis zu dem von dem schwerbehinderten Menschen erzielten Arbeitseinkommen stehen." Mit dieser Passage wird Menschen mit Assistenzbedarf und zugleich niedrigem Arbeitseinkommen der Zugang zur Leistung Arbeitsassistenz von vornherein versperrt. Tatsächlich sind bislang keine Fälle bekannt, in denen z.B. Lagerarbeiter/-innen oder - Tresenkräfte Arbeitsassistenz nutzen.

  • Die in den "Empfehlungen" genannten Budgets sind nach wie vor lediglich auf Finanzierung der erforderlichen Assistenz (unmittelbare Personalkosten) ausgerichtet; anders als - bei der Finanzierung von arbeitgeberorganisierter Assistenz werden die Kosten für den Verwaltungsaufwand nicht mit einberechnet. Der feste Betrag von derzeit 20 Euro, mit dem die Regiekosten bei einer "Fremdvergabe an Dritte" (Empfehlungen, Abschnitt 4.1) abgedeckt werden sollen, ist zur Finanzierung der gesamten Verwaltungskosten völlig unzureichend. Dies betrifft sowohl den Verwaltungsaufwand, den die Assistenznutzer/-innen beim Arbeitgeber-Modell haben, als auch die Ausgaben für Personalverwaltung bei ambulanten Diensten, die -Arbeitsassistent/-innen beschäftigen würden. Da diese Finanzierung fehlt, haben ambulante Dienste, z.B. Pflegedienste oder Integrationsfachdienste, in den vergangenen fünf Jahren aus Kostengründen darauf verzichtet, Arbeitsassistenz in ihr Dienstleistungsangebot mit aufzunehmen. Der Aufbau von Assistenzpools in ambulanten Einrichtungen, der für die Sicherung des Dienstleistungs-Modells ein wesentlicher Schritt gewesen wäre, ist damit nicht zu Stande gekommen.

  • Insgesamt sind die in den "Empfehlungen" genannten Budgets für die Personalkosten von Arbeitsassistent-/ - innen zu knapp kalkuliert. Ausgehend von den bewilligten Beträgen können die Assistenznutzer-/innen den Assistenzkräften meist nur ein Gehalt zahlen, das noch unterhalb von BAT VI¬II angesiedelt ist. Die Attraktivität der Tätigkeit Arbeitsassistenz droht dadurch soweit zu sinken, dass z.T. nur schwerlich Assistenzkräfte gefunden werden, die bereit sind, für dieses Gehalt zu arbeiten.

  • Wie viele behinderte Menschen mit Assistenzbedarf den persönlichen Rechtsanspruch nutzen und ihre Assistenz selbst organisieren, hängt vor allem davon ab, inwieweit sie Unterstützung und Beratung erhalten. Insbesondere im Anfangsstadium des Assistenzverhältnisses und in individuellen Problemsituationen sind Assistenznutzer-/innen auf praktische und kurzfristige Unterstützung an gewiesen. Es sind jedoch nach wie vor keine übergreifenden finanziellen Mittel bereitgestellt, die die Beratung und Unterstützung von Assistenznutzer/-innen gewährleisten; befristete Beratungsprojekte entstehen einzig durch die Initiative einzelner regionaler Einrichtungen der Behinderten(selbst-)hilfe. Nach wie vor nutzen daher auffallend wenige behinderte Menschen den persönlichen Rechtsanspruch: Die BAG UB schätzt das Verhältnis von selbstoganisierter zu arbeitgeberorganisierter Assistenz auf etwa 1:10 (Quelle: BIH - Stand des zu Grunde liegen den Zahlenmaterials: 2001)

  • Seit Einrichtung des Rechtsanspruchs ist unklar, inwieweit Unterstützung während der Arbeitszeit, die nicht unmittelbar die vertragliche Arbeitsleistung betrifft, originär zu Arbeitsassistenz zählt oder nicht. Während unstrittig ist, dass z.B. Pflegeanteile in größerem Umfang nicht zu Arbeitsassistenz zählen, gibt es bei der Überprüfung des Assistenzbedarfs seitens der Leistungsträger immer wieder Fallbeispiele, in denen aus der insgesamt notwendigen Arbeitsassistenz einzelne Hilfestellungen herausgerechnet werden, so z.B. Hilfe bei Toilettengängen, bei Zwischenmahlzeiten, beim An- und Auskleiden oder bei der Fahrt zur Arbeit und zurück. Die Leistungsträger verweisen in diesem Zusammenhang auf die Zuständigkeit der Träger der Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Sozialhilfe (vgl. Empfehlungen, Abschnitt 3.5). Während aber die Pflegeversicherung für Unterstützung, die während der Arbeitszeit anfällt, grundsätzlich nicht zuständig ist, erfordern Leistungen der Sozialhilfeträger die Offenlegung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Assistenznutzer-/innen, was i.d.R. in keinem Verhältnis zur beantragten Leistung steht.

Fazit

Arbeitsassistenz droht, zu einer Leistung für eine exklusive Gruppe von Menschen mit Behinderungen zu werden. Insbesondere körper- und sinnesbehinderte Akademiker-/innen und Führungskräfte in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst nutzen Arbeitsassistenz zunehmend problemlos; dagegen werden kognitiv beeinträchtige Menschen und Personen mit niedrigem Arbeitseinkommen von dieser Unterstützungsleistung ausgegrenzt. Aber auch von dieser Problematik abgesehen ist die Definition von Arbeitsassistenz in den "Empfehlungen" der BIH zu eng, um für alle Personen mit Assistenzbedarf die erforderliche Unterstützung während der Arbeitszeit in vollem Umfang zu gewährleisten. Darüber hinaus sind die Budgets, die in den "Empfehlungen" genannt werden, nach wie vor zu knapp bemessen, um a) die Assistenzkräfte angemessen zu entlohnen und

b) darüber hinausgehende Verwaltungskosten abzudecken.

Die Forderungen der BAG UB

1. Arbeitsassistenz muss für alle Menschen mit Assistenzbedarf sichergestellt werden. Die Möglichkeit, Assistenz während der Arbeitszeit zu nutzen, darf nicht abhängig von der Art der Behinderung und der schulischen/beruflichen Qualifizierung bzw. dem Arbeitseinkommen sein.

  1. Die Frage, unter welchen Bedingungen Arbeitsassistenz für Personen mit kognitiven Einschränkungen in Frage kommt, muss verlässlich geklärt werden. In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, inwieweit die Definition von Arbeitsassistenz in den "Empfehlungen" der BIH die Nutzung von Arbeitsassistenz für diese Zielgruppen zulässt bzw. einer Ergänzung/ Überarbeitung bedarf. Darüber hinaus sollten alle Zielgruppen in den "Empfehlungen" der BIH explizit benannt werden.

  2. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen muss sowohl langfristige (pädagogische/psychologische) Unterstützung am Arbeitsplatz als auch Einarbeitung/Job coaching gewährleistet sein. Da bei ist es erforderlich, eine Kombination der verschiedenen Leistungen diesen Zielgruppen vielfach beide Unterstützungsbedarfe auftreten, zu erproben und zu dokumentieren. Hinsichtlich dieses Themas sollte ebenfalls geprüft werden, ob eine Überarbeitung der "Empfehlungen" erforderlich ist.

  3. Der Passus innerhalb der "Empfehlungen" der BIH, laut dessen "die Leistungen (...) in einem vertretbaren Verhältnis zu dem (...) erzielten Arbeitseinkommen stehen" sollen, muss in dieser Form gestrichen werden.

2. Die in den "Empfehlungen" genannten Budgets müssen unter dem Aspekt des Arbeitseinkommens der Assistenzkräfte einer Prüfung unterzogen werden. Arbeitsassistenz muss unter finanziellem Aspekt eine interessante Tätigkeit sein, darum ist es erforderlich, Assistenzkräften ein Gehalt zahlen zu können, das sich in etwa am Gehalt z.B. ungelernter Hilfskräfte in Anlehnung an BAT VII oder VIII orientiert.

3. Um zu gewährleisten, dass Assistenznutzer/-innen das Dienstleistungs - Modell nutzen können, muss der Auf- und Ausbau von Assistenzpools in Form von ambulanten Diensten, die Arbeitsassistenz anbieten, gefördert werden. Der erste Schritt dazu ist, dass die zuständigen Leistungsträger für den anfallenden Verwaltungsaufwand bei der Beschäftigung von Assistenzkräften in erforderlichem Umfangfinanzielle Mittel bereitstellen.

4. Für Assistenznutzer-/innen, die ihre Arbeitsassistenz selbst organisieren wollen, muss vor allem in der Anfangsphase des Assistenzverhältnisses Unterstützung, Beratung und Fortbildung sicher gewährleistet sein. Die Frage der Finanzierung dieser Beratung muss durch die zuständigen Leistungsträger bundesweit und unabhängig von der Initiative einzelner Selbsthilfeeinrichtungen geklärt werden. Die notwendige Unterstützung sollte nicht in Form von bundesweit angebotenen Fortbildungen erfolgen, sondern in Form von bedarfsgerechter und kurzfristiger Beratung im Sinne des peer counceling (Assistenznut-zer-/innen beraten Assistenznutzer-/ innen).

5. Arbeitsassistenz ist nicht nur als Unterstützung bei der Arbeitsausführung im engen Sinne zu begreifen, sondern sie betrifft alle notwendigen Hilfestellungen, auf die Assistenznutzer-/innen zur Erfüllung ihrer arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung angewiesen sind. Dazu können ggf. auch einfache Pflegeleistungen in zeitlich geringfügigem Umfang oder die Fahrt zum Arbeitsplatz und zurück gehören. Diese Unterstützung muss einzelfallbezogen, ggf. in Absprache mit anderen zuständigen Leistungsträgern, sicher gewährleistet sein, wobei es wichtig ist sicherzustellen, dass der Charakter von Arbeitsassistenz als einkommens- und vermögensunabhängige Leistung bestehen bleibt. Unter diesem Aspekt muss geprüft werden, inwiefern die "Empfehlungen" der BIH zur Arbeitsassistenz unter besonderer Beachtung von Abschnitt 3.5 eine reibungslose Sicherstellung dieser Unterstützung ermöglichen.

Kontakt

BAG UB

Jörg Schulz

Schulterblatt 36,

20357 Hamburg

Fon: 040 / 4325312-3; Fax: -5

eMail: joerg.schulz@bag-ub.de

Internet: www.arbeitsassistenz.de

Quelle:

Jörg Schulz: Stellungnahme der BAG UB zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Arbeitsassistenz (SGB IX, § 102 Abs. 4) vom Juli 2005

erschienen in: impulse Nr. 35, September 2005, Seite 19 - 21.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 29.08.2007

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