Die größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949

Autor:in - Detlev Jähnert
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: impulse Nr. 31, Oktober 2004, Seite 25 - 28 Der Titel ist eine Schlagzeile aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.06.2004 impulse (31/2004)
Copyright: © Detlev Jähnert 2004

Eine alternativlose Vorbemerkung

Liebe Leserinnen und Leser,

lassen Sie mich gleich mit der wichtigsten Bemerkung der folgenden Zeilen beginnen. Sollten Sie auf den nächsten Seiten Vorschläge entdecken, so ist eines von vorn herein festzustellen, sie sind alternativlos, es gibt zu ihnen keine ernst zu nehmende Alternative. Das gilt selbst für den Fall, dass Sie das Gefühl haben sollten, nichts an den evtl. folgenden Vorschlägen ist neu, alles haben Sie irgendwo schon mal gelesen, egal: Die Inhalte dieses Artikels sind ohne Alternative. Sie sind auch nicht, wie manche vielleicht denken mögen, alter Wein in neuen Schläuchen, nein sie befinden sich auf der Höhe der Argumentationskunst unserer politischen Elite. Dies allein beweist doch schon, es gibt zu diesen Ausführungen keine Alternativen - oder doch?

Einleitung

Wenn Blesinger in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift darauf hinweist, dass die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Integrationsfachdienste im engen Zusammenhang mit den sozialpolitischen Veränderungen der letzten Jahre und der Gegenwart stehen[1], dann meint sie das gleiche wie ich mit meiner Feststellung, dass die gerade in Deutschland um sich greifenden Konzepte des sog. Neoliberalismus wenig Gutes erwarten lassen[2] .

Dabei sollte eigentlich klar sein, dass Integrationspolitik, sei es Integration in die Schule, sei es Integration in die Arbeitswelt, sei es die Begleitung des Übergangs von der Schul- in die Arbeitswelt, nur funktionieren kann, wenn es gelingt, die herrschenden Mechanismen einer Gesellschaft zu analysieren und zu benennen.

Wie notwendig dies aber ist, zeigt aktuell ein Artikel, der in der Zeitschrift "Behindertenrecht", die immerhin unter Mitwirkung der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen" herausgegeben wird, erschienen ist. Völlig losgelöst von historischen Kenntnissen und ohne jeden Versuch, die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt z. B. für behinderte Menschen zu analysieren, werden dort alle Nachteilsausgleiche in Frage gestellt. Dies alles wird verbunden mit der Behauptung, wenn diese Einstellungshemmnisse, gemeint sind die Nachteilsausgleiche für behinderte Menschen, wegfallen, werden sich die Eingliederungschancen behinderter Menschen automatisch verbessern.

Mit diesem Artikel werden wir uns an anderer Stelle beschäftigen müssen, eine Kernaussage sei hier aber zitiert:

"Zusammenfassend ist eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zu erwarten, wenn ein Teil der besonderen Rechte wie der Zusatzurlaub und der besondere Kündigungsschutz entfallen würden. Der Wegfall der Pflichtabgabe wäre eine weitere Maßnahme"[3]

Was ist passiert, welche Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein sind eingetreten, dass eine solche Aussage in einer Behindertenzeitschrift, die ja einen guten Ruf zu verlieren hat, erscheint. Bei der Antwort auf dieser Frage sind wir schnell wieder bei den Konzepten des sog. Neoliberalismus, an denen nichts liberal, aber auch nichts neo (=neu) ist, und die am Ende nur zu zunehmender Armut großer Teile der Bevölkerung führen werden. Was das mit Behindertenpolitik zu tun hat? Politik mit und für behinderte Menschen, übrigens gilt dies im übertragenen Sinne auch für Migranten, Aidserkrankte oder Drogenabhängige etc., kann nur in einer solidarischen Gesellschaft funktionieren. Wenn aber große Teile der Bevölkerung verarmt werden, dann können diese nur noch schwerlich solidarisch sein, selbst wenn sie es wollten, weil ihnen die Mittel dazu fehlen. Dass am Ende des Umverteilungsprozesses, die, die dann den gesellschaftlichen Reichtum auf ihre Seite gebracht haben, die Behindertenpolitik finanzieren, mag glauben wer will. Wünschenswert wäre es allemal nicht, denn das wäre nichts anderes als die Gewährung von Almosen.



[1] Vgl.: Blesinger, Berit, Editorial in: impulse 30 (8/2004), S.1.Hamburg: Eigenverlag

[2] Vgl.: Jähnert, Detlev, Chancengleichheit in Europa, in: impulse Nr. 30, S 27-28, Hamburg: Eigenverlag

[3] Dolata, Rolf, Sind die derzeitigen Regelungen des SGB IX für schwerstbehinderte Menschen ein Beschäftigungshemmnis? In: Behindertenrecht, Heft 5/2004, S.128-134. München: Boorberg Verlag.

Finden wir einen Anfang

Wenn man versucht, dem gesellschaftlichen Prozess, in dem wir uns zur Zeit befinden, einen Anfang zuzuordnen, so stellt man schnell fest, dass dies nur schwer möglich ist. Die jetzige Bundesregierung setzt das um, was die CDU-geführte Bundesregierung begonnen hat. Sie macht das brutaler, sie macht das schneller, aber es ist nicht ihre Erfindung. Oft wird die Agenda 2010 als Fixpunkt genommen. Richtig ist, dass damit die wirklichen Absichten dieser Bundesregierung zum ersten Mal einem größeren Teil der Bevölkerung bekannt wurden. Überraschen konnten die Inhalte der Agenda 2010 aber eigentlich nicht. Da hatte es doch vorher schon das sog. Schröder/Blair Papier gegeben (1999). Hätten wir das aufmerksam gelesen, wir hätten wissen können, was auf uns zukommt.[4]



[4] Das ist nachzulesen auf folgender Internetseite: http://www.amos-bläetter.de/AR-blair-schroeder-papier.html

Also dann die Agenda 2010

"Es gibt kein Recht auf Faulheit. Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden[5]", so Bundeskanzler Schröder. Nachdem Schröder noch vor der Bundestagswahl 2002 betont hatte, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe eine der zentralen Aufgaben der nächsten Legislaturperiode sein würde, setzte die Bundesregierung im Februar 2002, nach bekannt werden von Manipulationen der Bundesanstalt für Arbeit an deren Vermittlungsstatistiken, die Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", die sog. Hartz-Kommission ein.

Am 14.03.2003 hat Bundeskanzler Schröder dann dass, was er unter Agenda 2010 versteht, in einer Regierungserklärung der Öffentlichkeit vorgestellt. In der ganzen Rede, immerhin 16 Seiten, kommen behinderte Menschen nicht vor. Es geht, das wird gleich am Anfang klargestellt, um die Senkung der Lohnnebenkosten. "Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitsnehmer zu einer kaum tragbaren Belastung geworden ist und die auf Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt"[6]. Abgesehen davon, dass die Aussage, in einem Land, das seit Jahren ungebrochen Exportweltmeister ist, so nicht stimmen kann[7], wissen wir jetzt, gut anderthalb Jahre später, wie die Lösung der Probleme nach Schröderscher Art aussehen soll. Die Belastung der Arbeitnehmer ist nicht wirklich das Problem der Bundesregierung.

Diese werden kräftig weiter und ständig zunehmend belastet. Dazu werden Kosten verlagert, von der Krankenkasse auf die Patienten, Stichwort Zuzahlung. Auch behinderte Menschen, selbst die, die in Heimen leben müssen und denen nur das Taschengeld zur freien Verfügung bleibt, müssen davon noch eine Zuzahlung leisten. Ein anderer Teil der Kosten wird dann gleich aus der paritätischen Finanzierung (Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen je die Hälfte der Kosten) genommen und ist nur noch von den Versicherten zu zahlen, nach der Riester-Rente jetzt Krankentagegeld und die Versorgung mit Zahnersatz.[8]

Eine weitere Möglichkeit, die Lohnnebenkosten zu senken, ist die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld, welches in der Höhe vom vorher erzielten Einkommen abhängig ist, zu verkürzen. Und in der Tat, wir "werden das Arbeitslosengeld für die unter 55 jährigen auf zwölf und die über 55 jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten"[9]. Da die Lohnnebenkosten ja für die Arbeitnehmer zu einer kaum tragbaren Last geworden sind, so Schröder, ist es doch höchst widersinnig, diese dadurch zu bekämpfen, dass ehemalige Arbeitnehmer möglichst schnell in die Sozialhilfe (Arbeitslosengeld II) geschickt werden. Von welchen Lasten die Arbeitnehmer dabei befreit worden sind, bleibt ein Rätsel.

Übrigens haben alle diese einseitig zugunsten der Arbeitgeber wirkenden Entlastungen, Belastungen der Arbeitgeber sind nicht bekannt geworden, bisher nicht dazu geführt, dass mehr arbeitslose Menschen Beschäftigung gefunden haben.

Zurück zu den Menschen mit Behinderungen: Sie kommen in der Agenda 2010 nicht vor. Das ist aber kein Grund zur Beruhigung, niemand wird hier diskriminiert, denn z. B. die Einsparungen in der Gesundheitspolitik, die ja auch nichts anderes als Umverteilungen sind, sind nicht an den behinderten Menschen vorbeigegangen. Und so wird auch das "Versprechen" von Schröder "Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien ändern - der wird mit Sanktionen rechnen müssen[10]", auch für Menschen mit Behinderung gelten.

Und auch die Ankündigung, darüber hinaus "reformieren wir das Arbeits- und Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben"[11] ist wohl mehr als Drohung zu verstehen. Schon Norbert Blüm, für die jüngeren unter den Leserinnen und Lesern, er war Dauersozialminister unter der CDU geführten Bundesregierung, wollte schon immer Beschäftigungshemmnisse im Schwerbehindertenrecht (heute SGB XII) abbauen und hat dies auch getan. Die Beschäftigungsquote behinderter Menschen ist dadurch allerdings schon damals nicht gestiegen.



[5] Schröder, Gerhard, zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.04.2004

[6] Schröder, Gerhard, Agenda 2010-Innovation und Wachstum, Regierungserklärung vom 14. März 2003

[7] Siehe hierzu auch Teil 2 des Artikels in der nächsten Ausgabe der impulse

[8] Der Zahnersatz geht auf das Konto der CDU/CSU. Dies hatte Schröder in der Regierungserklärung vom 14. März 2003 noch abgelehnt.

[9] Schröder, Gerhard, Agenda 2010 - Innovation und Wachstum, Regierungserklärung vom 14. März 2003

[10] Schröder, Gerhard, Agenda 2010 - Innovation und Wachstum, Regierungserklärung vom 14. März 2003

[11] Schröder, Gerhard, Agenda 2010 - Innovation und Wachstum, Regierungserklärung vom 14. März 2003

Eine unvollständige Bilanz der Agenda 2010

Schließen wir diesen Bereich mit einem Blick auf die bisherigen Ergebnisse der Agenda 2010.

  • Der Kündigungsschutz wurde gelockert. Kleinbetriebe können bis zu zehn, statt früher fünf Mitarbeiter beschäftigen, ohne dass für alle der Kündigungsschutz gilt.

  • Das Arbeitslosengeld gibt es vom 1. Februar 2006 an nur noch für zwölf Monate, für über 55-Jährige maximal für 18 Monate.

  • Das Arbeitslosengeld II wird mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ab 1. Januar 2005 eingeführt. Es liegt in etwa auf Sozialhilfeniveau und damit unter der Höhe der bisherigen Arbeitslosenhilfe. Nahezu jede Arbeit muss angenommen werden, sonst drohen Kürzungen.

  • Die Handwerksordnung wurde gelockert. Gesellen können nun in den meisten Handwerksberufen auch ohne Meisterbrief einen Betrieb eröffnen.

  • Die Rentenkassen sollen mit mehreren mittel- und langfristig wirkenden Eingriffen stabilisiert werden. 2004 werden die Renten nicht erhöht, von 2005 an langsamer steigen. Damit soll der Beitragssatz bei 19,5 Prozent bleiben und bis 2020 nicht über 20 Prozent steigen.

  • Die Gesundheitsreform soll zur Senkung des durchschnittlichen Beitragssatzes von über 14 auf unter 13 Prozent beitragen. Zur Entlastung der Krankenkassen 2004 um neun bis zehn Milliarden Euro müssen Versicherte höhere Zuzahlungen und eine Praxisgebühr beim Arztbesuch von 10 Euro pro Quartal hinnehmen. Auch Ärzte, Apotheker, Pharmafirmen und Krankenkassen müssen Sparbeiträge leisten. Ab 2005 muss Zahnersatz separat versichert werden.[12]



[12] zitiert nach einer DPA Meldung vom 03.05.2003

Zu Hartz IV

Während mit Hilfe der Agenda 2010 die Umverteilung in allen Lebensbereichen organisiert wird, sind für die Umverteilung im Bereich des Arbeitsmarktes die sog. Hartz-Gesetze zuständig (Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt).

Während die Hartz Gesetze I - III noch relativ geräuschlos verabschiedet wurden, hat es das Hartz IV Gesetz in der Zwischenzeit zu trauriger Berühmtheit gebracht. Insbesondere die Montagsdemonstrationen haben das Bewusstsein für die Auswirkungen der sog. Reformen geweckt. Zu den Demonstrationen haben an verschiedenen Orten auch Verbände behinderter Menschen aufgerufen. In Frankfurt/Oder z. B. haben behinderte Menschen auf einer der Kundgebungen geredet und auf die Auswirkungen, auch für behinderte Menschen aufmerksam gemacht. Um die Auswirkungen von Hartz IV soll es im Folgenden ebenfalls gehen.

Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Hickel bezeichnet Hatz IV als "Türöffner in den Niedriglohnbereich und in eine Angstökonomie. Es bedeutet für Langzeitarbeitslose den Absturz in die Armut"[13].

Und in der Tat "die Zahlen sprechen für sich. Tritt das Gesetz am 1. Januar kommenden Jahres in Kraft, dann werden nach Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit etwa 500.000 Empfänger des alten Arbeitsgeldes kein Geld mehr bekommen und nicht zu den Empfängern des Arbeitslosengeldes II zählen. ... Bei einer Million Menschen werden die Leistungen gekürzt".[14]

Dies alles hat angeblich nur das eine Ziel, die Arbeitslosen wieder an ihre Pflicht zur Arbeit zu erinnern. Weshalb man dann allerdings die Möglichkeiten des Zuverdienstes Teilweise einschränkt, ist ein weiteres Rätsel. Bislang konnten Arbeitslosenhilfebezieher 165 Euro monatlich dazu verdienen. Mit dem Eintreten des Arbeitslosengeldes II wird dies eingeschränkt. Jetzt dürfen bei Zuverdiensten bis 400 Euro lediglich 15% behalten werden, also max. 60 Euro. Für Verdienste zwischen 400 - 900 Euro, dürfen Arbeitslsoesie 30 % des Zuverdienstes behalten und zwischen 900 und 1.500 Euro noch mal 15 %. D. h., erst ab einem Zuverdienst von knapp unter 430 Euro ergibt sich wieder der gleiche Betrag, den die oder der Arbeitslose vorher ebhalten durfte. Die in den jeweiligen Stufen errechneten Freibaträga werden addiert und vom Gesamtnettoverdiienst abgezogen, Der dann noch vorhandene Restbetrag wird als Einkommen angerechnet. Es ist an dieser Stelle fairer weise zu erwähnen, dass diese Regelung eine Verbesserung für die bisherigen Sozialhilfeempfänger darstellt, die vorher wesentlich weniger Geld von ihrem Zuverdienst behalten durften..

Fördern und Fordern, so das Konzept, das angeblich auch dahinter steckt- Nur: "offene Stellen sind im Westen 27 Tage, im Osten 14 Tage vakant"[15]. Schneller geht es kaum noch.

Das mit dem Fordern nimmt die Bundesregierung schon sehr ernst. Sie fordert von Arbeitslosen, jede Arbeit anzunehmen, auch wenn die unterhalb des Tarifes liegt. "Eine untertrafliche Entlohnung oder eine Entlohnung unter dem ortüblichen Entgelt steht der Zumutbarkeit der Arbeitsaufnahme nicht entgegen, solange die Entlohnung nicht gegen Gesetz oder gute Sitten verstößt"[16]. Die Grenze dürfte derzeit bei 30 % liegen.

Mit dem Fördern ist das schwieriger. Neue Arbeitsplätze kann die Bundesregierung nicht schaffen. Und solange es die nicht gibt, nutzen auch die Job-Center mit persönlichem Ansprechpartner wenig. Wobei noch nicht einmal abschließend geklärt ist, ob die Job-Center auch für schwerbehinderte Menschen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein wollen, zuständig sein werden und ob behinderte Menschen, die aus der Werkstatt für behinderte Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln wollen, sich an die Center wenden können. Zwar haben die sog. Hartz Gesetze nichts von dem Anspruch auf berufliche Eingliederung nach SGB IX zurückgenommen, aber ob der Personenkreis gleichberechtigt behandelt wird oder in der Geschäftspolitik der BA nur eine untergeordnete Rolle spiel wird, wird von uns genau zu beobachten sein.

Bei mehr als 4 Millionen Arbeitslosen kann auch das angestrebte Betreuungsverhältnis von 150 Arbeitslosen pro Mitarbeiterin bzw. Mitarbeiter der BA, zeitweise war sogar mal von einem Verhältnis von 75 zu 1 die Rede, wenig bewirken. Fast jede Vermittlung führt nur zu einer Verlagerung. Vermutlich werden freiwerdende Stellen häufig in der Folge mit billiger eingekauftem Personal (Hatz IV öffnet hier ja Tor und Tür) besetzt, oder schlimmer, Stellen werden freigekündigt, um die dann mit billigerem Personal besetzen zu können. Das Ergebnis: Die Zahl der Arbeitslosen ist nicht gesunken aber die Realeinkommen wurden gesenkt.

Die dann freigekündigten Neuarbeitslosen werden dann intensiv von den Job-Centren der Bundesagentur betreut. Wie sie sich das vorstellt, hat deren Vize Heinrich Alt der Bild am Sonntag verraten. "Die BA werde bei den Finanzämtern, der Rentenversicherung und den Krankenkassen nachfragen, ob die Angaben von Arbeitslosen stimmen, und im Extremfall behalte sich die BA auch Hausbesuche vor[17]"



[13] Hickel, Rudolf, zitiert nach "die Tageszeitung" vom 30.06.2004

[14] zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.06.2004

[15] vgl. hierzu die tageszeitung vom 17.10.2004

[16] zitiert nach:"Wichtige Hinweise zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II / Sozialgeld) - Vorläufige Ausgabe, Bundesanstalt für Arbeit 2004

[17] zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 05.07.2004

Löst Hartz IV das Problem der fehlenden Zivildienstleistenden?

In letzter Zeit war viel von den 1 € Jobs zu lesen. Spätestens hier geraten wieder die Behinderten wieder ins Blickfeld. Die manchmal notwendige Assistenz, die behinderte Menschen erhalten, wurde bisher weitgehend von Zivildienstleistenden sichergestellt. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Zivildienstleistenden geht aus verschiedenen Gründen ständig zurück, Versorgungslücken sind bereits aufgetreten. Da passt es sich doch prima, wenn die Arbeitslosen diese Aufgabe übernehmen müssen.

Und genau hier liegt auch das Problem: im "müssen". In den letzen Jahren sind für die Assistenz bei behinderten Menschen Qualitätskriterien entwickelt worden, z. B. die Regiekompetenz, einschließlich der Möglichkeit, selbst entscheiden zu können wer die Assistenz ausübt. Durch die vorgesehenen 1 € Jobs ist dies wieder sehr stark in Frage gestellt. Und kann sich jemand ernsthaft vorstellen, dass ein Arbeitsloser zwangsverpflichtet, unter der Androhung von Arbeitslosengeld II Kürzung, ein guter Arbeitsassistent sein kann? Oder machen wir es ganz deutlich:

Können Sie sich vorstellen, sich den Hintern von jemanden abputzen zu lassen, der dies nur tut, weil er dies muss? Eben!

Noch eine Bemerkung an dieser Stelle. Die Wohlfahrtsverbände, die seit Jahren ja auch Beschäftigungsstellen für die Zivildienstleistenden sind, die behinderte Menschen unterstützen, kennen die Probleme und trotzdem waren sie die Ersten, die zugriffen. Sie werden die 1 € Jobs anbieten. Billiger gibt es die Arbeitskräfte zur Zeit nirgendwo, was interessieren da schon Grundsätze?

Gerade an diesem Punkt werden die Menschen mit Behinderungen und deren Interessenvertretungen, also z. B. die BAG-UB für den Bereich der beruflichen Integration aufpassen müssen, dass nicht sicher geglaubte Standards wieder zurück genommen werden.

Hartz IV und Frauen

Emundts hat in der FR darauf hingewiesen: "Für Frauen, die aus der Sozialhilfe kommen, wird sich die Lage verbessern, für ehemalige Arbeitslosenhilfebezieherinnen mit Partner verschlechtern. Das beim Arbeitslosengeld II das Partnereinkommen angerechnet wird, hat zur Folge, dass zumeist Frauen aus dem Leistungsbezug fallen werden, weil sie in der Regel weniger verdienen als ihre Partner".[18]

"Nach Hartz IV müssen Arbeitslose künftig unter Androhung von Leistungskürzungen geringfügige Beschäftigungen annehmen. Es ist zu befürchten, dass dies vor allem Frauen trifft. Diese haben dadurch keine Möglichkeit mehr, qualifizierte Ansprüche in der Arbeitslosenversicherung zu erwerben. Mit über 70 % Anteil sind Minijobs eine Domäne der Frauen. Es ist zu befürchten, dass nach überkommenem Rollenverständnis nicht nur vereinzelte Sachbearbeiter der zukünftigen Bundesagentur meinen, für eine verheiratete Frau reiche unabhängig von ihrer Ausbildung auch ein Minijob als Zuverdienst aus. Dabei können sie sich auf Bundesminister Wolfgang Clement berufen. Er wird in einem Interview in der FAZ mit den Worten zitiert: "Einmal drastisch gesprochen; die Ehefrauen gut verdienender Angestellter oder Beamten akzeptieren einen Minijob oder müssen aus der Arbeitsvermittlung ausscheiden".[19]



[18] Emundts Corinna, zitiert nach: Frankfurter Rundschau vom 17.10.2004

[19] Degen Christel u.a. z, zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 26.11.2003

Die Gewinnerinnen und Gewinner

Natürlich gibt es auch Gewinnerinnen und Gewinner. Dies sind neben den Arbeitgebern, für die Hartz IV das Lohnkostenniveau in diesem Land senkt, die bisherigen Sozialhilfeempfänger, die in das Arbeitslosengeld II wechseln. Sie bekommen in der Regel mehr Bargeld, da das Arbeitslosengeld II höher ist als der Regelsatz in der Sozialhilfe und sie haben verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten. Doch Vorsicht, neben der Sozialhilfe gab es noch zahlreiche Möglichkeiten, einmalige Beihilfen zu beantragen, die sind jetzt weitgehend weggefallen. Und es bedarf schon argumentativer Tricks, wie die des Landtagsabgeordneten der Grünen aus Kassel, um dies auch noch als Fortschritt zu rechtfertigen. So schreibt Jürgens in einem Artikel im Internet: "Ebenso ist mir bekannt, dass viele der Berechtigten bisher die einmaligen Beihilfen nicht in Anspruch nahmen, nunmehr aber sehr wohl von dem höheren Regelsätzen profitieren Das ist doch gerade eine der Erfahrungen aus den Modellversuchen zur Pauschalierung. Wer nur relativ kurze Zeit im Leistungsbezug ist, konnte früher (noch) keine Beihilfen bekommen, erhält aber nunmehr gleich die höheren Regelsätze"[20]. Aber ist es nicht auch so, Herr Jürgens, dass gerade mit länger andauerndem Bezug der Sozialhilfe die einmaligen Beihilfen überlebenswichtig waren? Diese sind nun weggekürzt.



[20] Jürgens, Andreas im Kobinet-Forum vom 06.09.2004 (www.kobinet-nachrichten.org)

Zum Schluss des 1. Teils dieses Artikels

Ich habe einige Aspekte der Agenda 2010 und von Hartz IV aufgezeigt und insbesondere deren Auswirkungen hingewiesen. Dabei habe ich den Fokus, wo immer möglich auch auf behinderte Menschen gerichtet. Dies ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die Auswirkungen dieser, von einer faktischen großen Koalition in Berlin durchgesetzten Politik, in den Medien kaum problematisiert wird. Es ist der Bundesregierung gelungen, diese Politik als alternativlos darzustellen, und die Medien verbreiten dies ebenfalls. Aber es gibt Alternativen zu der unsozialen Politik der Umverteilung von unten nach oben, die sich hinter den Kürzeln "Agenda 2010" und "Hartz IV" verbergen. Diese sind auch veröffentlicht, sie werden aber von den Medien nicht, oder nur sehr vereinzelt dargestellt,

Im zweiten Teil dieses Artikels, in der nächsten Ausgabe der Impulse, werde ich einen Teil der Alternativen vorstellen.

Kontakt:

Detlev Jähnert

Ruthenbergstr. 22b

30559 Hannover

Quelle:

Detlev Jähnert: Die größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949

Erschienen in: impulse Nr. 31, Oktober 2004, Seite 25 - 28

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.05.2006

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