Outdoor-Aktivitäten

Einsatz in der kommunikationspädagogisch-kinderpsycho-therapeutischen Arbeit mit Kindern mit Problemverhalten

Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Artikel
Copyright: © by Institut für Kommunikationspädagogik 2000

Einleitung

Die Ergebnisse einer internen Erhebung bezüglich der Ursachen von Problemverhalten[1] und des Freizeitverhaltens der behandelten Kinder zeigen deutlich, dass im Bereich der Naturbegegnung und der damit verbundenen natürlichen Möglichkeit Entwicklung zu realisieren, grobe Defizite gegeben sind. So kann davon ausgegangen werden, dass die Kinder zumindest 78% der Freizeit in geschlossenen Räumen verbringen, ca. 15% im direkten Wohnumfeld und nur 7% außerhalb. Im Bereich geschlossene Räume war die häufigste Nennung: »spielt allein in seinem Zimmer«. Zu dem Bereich im direkten Wohnumfeld wird von allen Eltern die Wohnhausanlage genannt. Für den Bereich außerhalb der Wohnungen geben die Eltern an, dass sie zumindest einmal pro Woche für ca. 1 bis 1 1/2 Stunden einen Spielplatz besuchen.

Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Kinder in jedem Fall an einem erheblichen Defizit bezüglich der Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit unterschiedlich komplexen Situationen leiden, so dass sich vor allem in der Motorik und den damit in Verbindung stehenden Bereichen (Wahrnehmung, Denken, Sprache) Entwicklung nicht adäquat entfalten kann. So kommt es zu einer allgemeinen Einschränkung in der Entwicklung und zu einer Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten. Was wir in der Praxis sehen sind einseitig ausgeprägte Bewältigungs- und Verhaltensweisen. Davon abgeleitet erklärt sich u.U. auch die Tatsache, dass bei Kindern mit Problemverhalten in der Regel insgesamt Entwicklungsverzögerungen gegeben sind (vgl. dazu HOFFERER, M.; ROYER, St.: 2000, S. 3-4). Dieser Verlust von unterschiedlichen Entwicklungsräumen kann auch nicht durch die Turn- oder Rhythmikstunde in Kindergarten oder Schule ausgeglichen werden.

Die Frage, wie nun in der Therapie mit Kindern mit Problemverhalten der Zugang zu Problemlösung, Entwicklung und Veränderung gestaltet werden kann, muss so beantwortet werden, dass der Bereich der Naturbegegnung unbedingt aufgenommen werden muss. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass heute eine "Renaissance" des Erlebnisbegriffs stattfindet, eines Begriffs, der als moderne Zeiterscheinung höchst bedeutsam ist. "Erlebnis, Fun und Action" der konsumistische Markt hat dieses menschliche Urbedürfnis für sich entdeckt und ist in gewohnt effizienter Manier daran, diesen Mangel an Erlebnissehnsucht wirtschaftlich effizient auszunutzen. Erlebnisse, wie sie in der kommunikationspädagogischen Therapie[2] intendiert sind, sind nicht so einfach reproduzierbar, und deshalb auch nicht verkäuflich.

Die KPTH versucht - durch die Verlagerung bestimmter Aktivitäten aus dem herkömmlichen Setting - in der Natur einen "Rahmen" zu schaffen, der vielfältige und problembezogene Spiel-, Experimentier- und Erlebnismöglichkeiten eröffnet und ein ganzheitliches und auf das Problem bezogenes Lernen ermöglicht. Die Therapiearbeit findet dabei in einer möglichst unberührten Natur, statt. Dadurch wird eine Vielfalt gestaltbarer und voraussehbarer sowie auch unvoraussehbarer Varianten von prägenden Erlebnissen und Erfahrungen möglich, denn die Natur bietet ein hochkomplexes und gut funktionierendes System, ein System, welches für die Therapie von Kindern mit Problemverhalten als »idealer Entwicklungs- und Lernraum« betrachtet werden kann. Die KPTH betrachtet die Natur als pädagogisch-therapeutischen Partner, der den Rahmen vorgibt.

Bei den therapeutischen Outdoor-Aktivitäten stehen grundsätzlich positive Veränderung im Mittelpunkt, welche durch den speziellen Ort, das Material und die Anforderungen, die zu authentischem Handeln führen, eingeleitet werden. Die therapeutischen Outdoor-Aktivitäten und die damit verbundenen Erlebnisse bilden einen besonderen Ausgangspunkt und die Basis für allgemeine Entwicklungs- und spezielle Veränderungsprozesse. Der »besondere Spielraum« stellt eine wunderbare und natürliche Möglichkeit zum Spielen und Experimentieren mit der gegebenen Umwelt und zum Ausprobieren z.B. völlig neuer Annäherungs-, Strategiebildungs- und Bewältigungserfahrungen, Material- und Objekterfahrungen, kommunikativen Spielerfahrungen etc. dar.

Damit jedoch die Outdoor-Aktivitäten tatsächlich einen therapeutischen Nutzen haben können, stellten die Autoren folgende Forderungen auf, welche erfüllt sein müssen, damit von "therapeutischen Outdoor-Aktivitäten" gesprochen werden kann: Der jeweilige Therapeut muss eine berufsmäßig anerkannte therapeutische und eine methodenspezifische (erlebnissportspezifische) allgemein anerkannte Qualifikation haben. Dies ist auf Grund von denkbaren Szenarien wie: Offenlegung von sexuellem/körperlichem Missbrauch, Suizidandrohung und -versuche, Selbstverletzung, Gewalt gegen sich selbst, Gewalt gegen andere, Psychosen, Dissoziation, schwere Angstzustände, traumatische Beschwerden einschließlich posttraumatischer Stressreaktionen, etc. notwendig. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Therapeuten mit Regression und Widerstand arbeiten können.



[1] Eine genaue Beschreibung dazu findet sich u.a. in: HOFFERER M., 1999a, S. 5 ff.

[2] wird im Nachfolgenden Text mit KPTH abgekürzt

Definitorischer Zugang zu therapeutischen Outdoor-Aktivitäten

Die Wurzeln für die therapeutischen Outdoor-Aktivitäten, wie sie in der KPTH angewandt werden, reichen zurück bis Wilhelm DILTHEY (1833-1911)[3] und seiner Begründung der geisteswissenschaftlichen Psychologie. Wilhelm Dilthey machte das Verstehen zum Zentralbegriff der Geisteswissenschaften. Verstehen als Grundbegriff einer universalen Hermeneutik beinhaltet ein nacherlebendes Einfühlen. "Das Verstehen setzt ein Erleben voraus und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge der Subjektivität des Erlebens herausführt in die Region des Ganzen und Allgemeinen." (Dilthey 1958, S. 143) Verstehen setzt dabei zwar Erleben voraus; Erleben aber wird erst durch seine Verarbeitung zur Erfahrung (vgl. Dieckmann 1994, S. 86f.). In diesem Prozess kommt es zu einer wechselseitigen Korrektur der subjektiven und objektiven Aspekte des Verstehens. In diesem Sinne ist Erleben zu verstehen als das subjektive Innewerden von Vorgängen, die als bedeutsam empfunden werden. Die Erfahrung stellt dabei die Summe von Erlebnisanteilen dar und bildet das durch eigenes Erleben und eigene Anschauung erworbene Wissen. Über die Reflexion der Erfahrungen entsteht Erkenntnis, aus der Einsicht resultiert, die als höchste Stufe menschlicher Weisheit bezeichnet werden kann.

Der Therapieansatz der Kommunikationspädagogik geht davon aus, dass durch ein zur Verfügung stellen komplexer Spiel- und Experimentierräume die elementaren Grundpotenziale[4] wieder angesprochen und angeregt werden und sich weiter entfalten können. Ausgehend von einer klaren Problemstellung (Diagnose) werden von den Therapeuten[5] im Team Umwelten und Situationen gesucht und gestaltet, die der Problemstellung des jeweiligen Kindes entsprechen. Gestaltet werden die Situationen aus dem Grund, da ein bloßes Bereitstellen der Situation gerade von den Kindern mit Problemverhalten nicht genutzt werden können. Im Unterschied zur Erlebnispädagogik[6], die vor allem " ... durch exemplarische Lernprozesse junge Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen will, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten, indem sie vor konkrete Herausforderungen auf der physischen, psychischen und sozialen Ebene gestellt werden ..." (vgl. dazu u.a. MICHL, W.: 1996) geht die KPTH bewusst einen anderen Weg. Dabei geht es "nicht darum, bloß Situationen zu suchen oder zu schaffen, die aus sich heraus wirken (nach dem Motto: "Das Meer erzieht absichtsfrei"[7]), die z.B. soziales Handeln situativ erzwingen, sondern vielmehr um das über eine konkrete Tätigkeit bewusste Bearbeiten von individuellen Problemstellungen mit dem Ziel der Erweiterung der eigenen Erfahrungs-, Einsichts-, und Handlungsfähigkeit. Anders formuliert bedeutet das, durch die gezielte Bereitstellung spezieller Anforderungssituationen die ganzheitliche Anregung, Unterstützung und Begleitung des Individuums auf dem Weg zu Selbststeuerung." (HOFFERER, M. & ROYER, ST.: 2000, S. 4)



[3] Weitere wichtige Vertreter des Gedankens: Durch eigenes Tun, eigenes Handeln und eigenes Erleben zu lernen. Platon (427 - 347 v. Chr.), Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778), David Henry Thoreau (1817 - 1862), John Dewey (1859-1952), Georg Kerschensteiner (1854 - 1932), Paul Geheeb (1870 - 1961), und Kurt Hahn (1886 - 1974)

[4] Die Herangehensweise an den Menschen, wird in der KPTH von sechs »anthropologischen Bezugspunkten« geleitet. Diese Bezugspunkte gehören zu den am tiefsten liegenden Schichten der Persönlichkeit, sie bilden die Basis, die »verletzt oder verwundet« sein können. Vor diesem Hintergrund bildet sich das Verstehen der Therapeuten ab und es können begründete Zielvorstellungen und zielgerichtete Handlungsstrategien und Inhalte entwickelt und in der Therapie eingebracht und umgesetzt werden. Die bewusste Einbindung dieser anthroplogischen Aspekte in den Prozess der Begegnung und der Auffaltung (Diagnose) der Problemlage durch Beobachtung bildet die Grundlage für das theoriegeleitete Verstehen und Handeln in der KPTH. Die Bezugspunkte sind: (1) wesenhafte Bezogenheit, (2) Leiblichkeit, (3) Kreativität, (4) Beziehungs- und (5) Erkenntnisfähigkeit sowie (6)Verantwortlichkeit.

[5] im Folgenden wird die männliche Form für beide Geschlechter verwendet.

[6] Unter der Webadresse: www.erlebnispaedagogik.de findet sich eine übersichtliche Darstellung der demensprechenden Literatur

[7] vgl. dazu Schleiffer, R.: 1994

Das Konzept der therapeutischen Outdoor-Aktivitäten

Soll das Erschließen und Miteinbeziehen von komplexen Spiel- und Experimentierräumen in der Therapie fruchtbar werden, muss sie - trotz organisatorischer und ökonomischer Schwierigkeiten - aus dem abgeschlossenen Rahmen des kleinen Therapiezimmers mit seiner Kleine-Welt-Ausstattung heraustreten. Jede »verkleinerte Vermittlung« bietet nur einen dementsprechend verkleinerten Ausschnitt anstatt originaler Begegnung und echter Wirklichkeitserfahrung. Diese Verkleinerungen verstärken unter Umständen sogar die Entfremdung des Kindes von seiner Umwelt. Statt dessen müssen lebensnahe Räume erschlossen werden, damit die schlecht ausgebildete oder verkümmerte Sensibilität durch unmittelbare Sinneseindrücke und ganzheitliche Wahrnehmung wieder geweckt und gefördert wird. In den nachfolgenden Überlegungen wird von folgenden Grundmerkmalen therapeutischer Outdoor-Aktivitäten ausgegangen: Die KPTH erarbeitet, aufbauend auf einem detaillierten Diagnoseprozess[8], Natur- und Umweltbegegung und stellt Kindern mit Problemverhalten, bezogen auf ihre individuelle Problemlage, natürliche komplexe Spiel- und Experimentierräume zur Verfügung, in denen selbst organisierte ganzheitliche Entwicklungs-, Lern- und Veränderungsprozesse angeregt werden, die zu Verhaltensänderungen und zu einer allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung führen. Die besonderen Kennzeichen des Konzepts sind, dass mittels des Dynamischen Zirkulationskonzepts[9] über die Prozesse des:

- Spielens und Experimentierens,

- Symbolisierens,

- Systematisierens und Darstellens sowie der

- ideelen Konkretisierung[10]

in Begleitung mit einem Therapeuten jene störungsrelevanten Bereiche be- und erarbeitet werden, damit die von RUTTER M., (1985) allgemein gefassten Behandlungsziele einer Therapie erreicht werden können:

1. Symptomreduktion im Sinne einer Veränderung der psychopathologischen Auffälligkeit

2. Förderung der gesunden Entwicklung - nicht nur bei definierten Entwicklungsstörungen sondern bei sämtlichen kinderpsychiatrischen Problemen, die den normalen Entwicklungsprozess behindern,

3. Förderung von Autonomie und Selbstvertrauen

4. Generalisierung und Persistenz der erreichten Veränderungen.

Die wichtigsten »Prinzipien[11]«, die von der KPTH für die Gestaltung der therapeutischen Outdoor-Aktivitäten herangezogen werden, sind:

Das Prinzip

  • der Achtung und Akzeptanz der Individualität des Gegenübers

  • der Förderung der Gesamtpersönlichkeit

  • der bewussten Gestaltung einer anregenden und lebensweltbezogenen Umwelt

  • der bewussten Gestaltung entsprechender Zeit- und Inhaltsstrukturen

  • der kleinsten und kleinen Schritte

  • der Möglichkeit der Selbstkorrektur und Selbstkontrolle

  • der Problemorientierung und Lebensnähe der Lerninhalte

  • des Aufbaues von Lernprozessen vom Einfachen zum Komplexen

  • des Bewusstmachens, Verstärkens und Sicherns erfolgreicher Lern- und Entwicklungstendenzen

  • des Lernens in einer stressfreien Umgebung

  • des Lernens in überschaubaren Ordnungen und Strukturen

  • des möglichst selbst organisiert aktiven Lernens

  • des Sicherns des Lernerfolgs durch die Möglichkeit der wiederholten Anwendung

  • des situationsorientierten Lernens

  • des Wechsels von Selbstständigkeit zu Gewährung von Unterstützung

  • des Wechsels von spielerischen Angeboten zu Förderangeboten und therapeutischen Angeboten

Die »Natur als Therapieraum« wird als Rahmen dem Bild der Innenwelt des Kindes gegenübergestellt, so dass frühe Erfahrungen und Beziehungen (siehe Fussnote, S.3) möglichst in ihrer gesamten Affektivität wieder erleb- und ausagierbar werden. Hier können die Kinder in Beziehung ihre Wesenhaftigkeit zum Ausdruck bringen und müssen nicht nur ihre innere Bewegt- und Verworrenheit andeuten. Das soll aber keinesfalls bedeuten, dass es allein um ein Ausagieren innerer Aggression und Erregung geht. Vielmehr ist beabsichtigt, den Kindern einen unbesetzten Lebensraum zur Verfügung zu stellen, in dem sie selbst sein können.

Die Natur als »Therapieraum« zu nutzen bedeutet auch, auf einem sehr natürlichen Weg die »anderen Kommunikationsmittel«, die dem Menschen neben der Sprache zur Verfügung stehen (Geruch, Geräusche, Sehen, Geschmack, Bewegung, Berührung, Intuition, nonverbaler Ausdruck...etc.), bewusst in die Therapiearbeit zu integrieren. Bewegung und Wahrnehmung bilden dabei eine der wichtigsten Grundlagen für Entwicklung und dürfen darum aus der Sicht der KPTH in der Therapie bei Kindern mit Problemverhalten nicht fehlen.

Abgrenzung

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, soll an dieser Stelle klar zum Ausdruck gebracht werden, was in der KPTH unter therapeutischen Outdoor-Aktivitäten zu verstehen ist. In keinem Fall handelt es sich dabei um mehrtägige Wanderungen oder um solche Aktivitäten, die extreme Grenzerfahrungen (Eisklettern, Höhlenforschen, Paragleiten, Rafting etc) zur Folge haben. Die Outdoor-Aktivitäten der KPTH sind weder ein Überlebenstraining noch »Abenteuer«, da per Definition das Abenteuer nicht planbar ist und überraschend und unvorhersehbar auftritt. Daraus folgt: wer mit dem Abenteuer pädagogisch oder/und therapeutisch jongliert, wird möglicherweise erst dann merken, dass es ein gefährlicher Hochseilakt war, auf den er sich einließ, wenn es zu spät ist. Auch geht es dabei nicht um den Aufbau von Kraft, Kondition, Ausdauer und körperlichem Training wie es z.B. bei HAHN K. dem Begründer der Erlebnistherapie (vgl. BAUER, H., S. 40 ff) vorgesehen ist. Vielmehr suchen die Therapeuten die Natur, um in ihr als neuen Lernort ohne Ablenkung und mit wenigen Materialien Spiel- und Experimentierräume zu konstruieren und aufzubauen, in denen in Begleitung behutsam und vorsichtig der Kontakt zu den eigenen Potenzialen und Ressourcen[12], zum Wesen des Menschen selbstständig wiederhergestellt werden und die (frühkindliche) Entwicklung rekonstruiert und nachvollzogen werden kann. Die Lernräume der therapeutischen Outdoor-Aktivitäten der KPTH sind eigentlich stille Räume, die dem Staunen, dem konkreten Tun und der Erfahrung, der Freude sowie der Begegnung dienen, so dass sich entsprechend der Problemsituation Erkenntnis und Einsicht entwickeln kann.

Ein kleines Beispiel

Als Beispiel soll an dieser Stelle das »Spinnennetz« als Therapiegerät vorgestellt werden. Zur Herstellung benötigen die Therapeuten 3 Kletterseile mit jeweils 50m, 10 Schraubkarabiner, 20 Expressen und 10 Bandschleifen. Nachdem die Verspannung gemeinsam hergestellt wurde besteht die Aufgabe für die Kinder nun darin, das Netz auf unterschiedlichste Art und Weise zu durchklettern bzw. spielerisch mit der Situation umzugehen und einfach auszuprobieren, was dabei alles möglich werden kann.

Abbildung 1: Das Spinnennetz

Kombiniert man das »Spinnennetz« zusätzlich mit andern Klettergeräten - Schaukel, Knotenseil, Strickleiter etc. - dann ergibt sich daraus eine wunderbare Spiel- und Experimentierlandschaft, die nicht nur den ganzen Menschen herausfordert, sondern auch die Möglichkeit eröffnet in den problematischen Bereichen wie z.B. im Hinblick auf das verletzte Selbstvertrauen oder der Ich-Erfahrung und -Stärkung, der Spannungs- und Entspannungserfahrungen etc. wieder anschlussfähig zu werden. Über das Spielgerät entsteht ein Lebensraum, der den anthropologischen Bezugspunkten (vgl. dazu Fußnote 4, S. 3) Raum gibt, sich zu entfalten. Ganz wichtig zu betonen ist, dass, im Unterschied zu anderen Richtungen, bei den therapeutischen Outdoor-Aktivitäten der KPTH ein Betreuerverhältnis von 1:1 gegeben ist, so dass tatsächlich gleichzeitig allgemein pädagogische und spezielle Förderarbeit und entsprechend der Problemlage des Kindes therapeutische Interventionen möglich werden können[13]. Zusätzlich bietet die Bewegung und der Umgang in und mit der Natur den Kindern ganz nebenbei die Möglichkeit, "... einer ungeahnten Fülle von Farben, Formen, wechselnden Situationen und Gegebenheiten zu begegnen und dabei auf natürliche Weise ihre Wahrnehmung und Empfindsamkeit zu verfeinern. Das tut dem Menschen ganz allgemein gut, da es entspannt und beruhigt. Die Sinne werden angeregt und gleichzeitig harmonisiert. Die Kinder können in diesem Lebensraum alle ihre Fähigkeiten anwenden und sich ganz zum Ausdruck bringen. Die Natur begrenzt und ist gleichzeitig grenzenlos!" (HOFFERER, M., 2000, S. 7)

Theoretische Grundlagen therapeutischer Outdoor-Aktivitäten

Zentrale theoretische Grundlagen für den Ansatz der KPTH und der damit verbundenen Outdoor-Aktivitäten finden sich im Menschenbild der humanistischen Psychologie[14], das den Menschen grundsätzlich als sinnstiftendes, sich aktiv mit und an der Umwelt entwickelndes Wesen begreift, der zeitlebens entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig ist und über noch nicht realisierte Möglichkeiten verfügt. Weiters sind Systemtheorien relevant. Die modernen Systemtheorien[15] betonen im Wesentlichen - und das ist für die der KPTH zu Grunde liegende Sichtweise der Entwicklung und der Veränderung von Verhalten bzw. der Arbeit mit Konflikten von besonderer Bedeutung - dass die Welt und ihre Inhalte und damit vor allem das Leben als Prozess verstanden werden muss: "Das Leben ist nicht bloß, sondern es geschieht! Die systemtheoretischen Elemente[16] sind auch insofern relevant, als dass sie das Handeln und das Verhalten einer Person stets auf der Basis einer subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit verstehen. Diese eigenen Wirklichkeitskonstruktionen werden vom Menschen zur Deutung der Welt und der subjektiv erlebten Wirksamkeit herangezogen, was zur Folge hat, dass er nur mehr das als Wirklich erlebt, was er selbst als Wirklichkeit erkennt[17]. Das Therapiemodell der Kommunikationspädagogik gestaltet bei den therapeutischen Outdoor-Aktivitäten aufbauend auf chaos- und systemtheoretischen Überlegungen sowie auf den Grundlagen der humanistischen Psychologie und der Tiefenpsychologie[18], Rahmenbedingungen, welche den unaufhörlich sich ändernden, nichtlinearen Prozessen des Lebens den Raum geben können, so dass sich zunehmend ein kreatives, sinnerfülltes und zunehmend selbst gestaltetes und selbst gesteuertes Leben ausbreiten kann.

Der Mensch ist von Anbeginn in der Lage, in Kontakt zu seinem eigenen Körper, zu seinen Gefühlen und Gedanken, zur lebendigen Umwelt, zu Mitmenschen, zur Natur und zu »Dingen« zu sein, d.h., der Mensch ist immer in Kontakt mit sich selbst, mit den andern und der Welt[19]. In diesem Kontakt werden die einzelnen Funktionen des Organismus und die notwendigen Vernetzungen sukzessiv ausgebildet. Darüber hinaus entwickeln sich mit der Zeit einfache Grundmuster, Schemata oder Prototypen, über die der Mensch seine Bedürfnisse zu befriedigen versucht. Er tut etwas für sich selbst und das ganz allein. Er macht etwas für jemand anderen und er macht etwas mit jemand gemeinsam. Alle Erfahrungen und Entwicklungen, die der Mensch im Laufe seines Lebens macht, schlagen sich in seiner psychischen wie physischen Struktur nieder, die in seinem Handeln, im Umgang mit seinen Gefühlen und in seinem Körper sichtbar werden. Der Mensch vollzieht diese Erfahrungen und die damit verbundene Entwicklung mit seinem ganzen Organismus. Die KPTH betrachtet den Lernprozess in einer Therapie analog zum Wachstum biologischer Systeme und stellt fest, dass dieses Wachstum sich zwar immer innerhalb ganz bestimmter Rahmenbedingungen vollzieht, jedoch die Prozesse, die innerhalb dieser Rahmenbedingungen das Wachstum und die Entwicklung tatsächlich auslösen und steuern, sind nichtlinear miteinander verbunden. Damit wird auch deutlich, dass das was gelernt wird nicht von außen bestimmt werden kann, da es sich dabei um komplexe innere Prozesse handelt.

Wie in der nachstehenden Abbildung deutlich gemacht, fügen sich in einem beständigen und sich wiederholenden Prozess sinnliche Wahrnehmungen, Emotionen, Wertvorstellungen, kognitive Strukturen des Denkens und des Wissens sowie körperliche Empfindungen zu einer Einheit zusammen. Der Mensch ist ganz! Wenn man es ganz genau bedenkt, gleicht sich kein Ereignis völlig und nichts ist immer dasselbe. Jeder Augenblick des Lebens bringt ganz neue Sinneswahrnehmungen und neue Gefühlserlebnisse und wird man sich dieser Wahrnehmungen bewusst, dann kann man erkennen, dass sie neu sind. Ignoriert man hingegen diese Informationen oder wird angehalten nicht darauf zu achten, dann geht man an den vielen schönen und guten kleinen Dingen des Lebens vorüber.

Abbildung 2: Entwicklungsstrukturmodell

Man muss sich der Bedeutung der Wahrnehmungen und der Bewegung für die Gesamtentwicklung bewusster werden[20]. Über diese Bewusstwerdung durch Erfahrung wird der Mensch zunehmend fähiger sein, mit jeder neuen Erfahrung auch etwas ganz Neues zu entdecken. Natürlich sind nicht alle Wahrnehmungen bzw. Erlebnisse immer nur lustbetont und angenehm, und es gibt auch so etwas wie Schmerz, Enttäuschung oder Trauer etc., aber auch dabei gilt, nur wenn der Mensch sich diese Gefühle bewusst werden lassen kann - sie explizit bewusst macht -, kann er sie integrieren und damit überwinden.

Ziele des Konzepts therapeutischer Outdoor-Aktivitäten

Die KPTH geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich das Potenzial und somit auch die Fähigkeit besitzt, diejenigen Aspekte seines Wesens und seines Lebens erfassen und verstehen zu können, die ihm Probleme bereiten. Er besitzt die Fähigkeit, sein Wesen und seine Einstellung zum Leben in Richtung auf eine zunehmende Komplexität so zu organisieren, dass dadurch ein fülligeres Erlebens-, Auffassens-, Verstehens- und Handlungsspektrum zu Stande kommt. D.h., dass der gesamte therapeutische Prozess direkt auf eine zunehmende Unabhängigkeit und stärkere Integration des Kindes abzielt, statt zu erhoffen, dass sich diese Resultate ergeben, wenn der Therapeut bei der Lösung des Problems aktiv mithilft. Ziel ist es primär nicht, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern dem Kind zu helfen, sich so zu entwickeln und zu entfalten, dass es über dieses Wachsen neuer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen mit dem aktuellen Problem und damit auch mit zukünftigen Problemen auf besser integrierte Weise fertig werden kann. Pädagogik, Förderung und (Psycho-) Therapie sind, "... wenn sie nicht von dem Grundsatz ausgehen, dass jede Person in ihrer Eigenart als »vollkommener Mensch« zu sehen ist, der den Maßstab für seine Entwicklung in sich trägt, zum Scheitern verurteilt, weil man nur mit den Kräften der Person arbeiten kann. Der gesamte pädagogische und therapeutische Prozess soll dahin wirken, dass eine Person ihre Kräfte, ihre Fähigkeiten frei zum Ausdruck bringen kann, um so zu ihrem Selbstausdruck zu kommen. Damit ist auch das Ziel des therapeutischen Prozesses formuliert, dass nämlich der Klient Zugang zu den eigenen Ressourcen bekommt. Therapie wäre so gesehen Lösen, Freilegen, Abbauen, damit die Seele selbst nach ihrem inneren Gesetz wieder tätig und lebendig wird, was sie von Natur her ist." (GARNITSCHNIG, K., 1999)

An dieser Stelle können in einem ersten Schritt zumindest vier grundlegende Zielperspektiven der therapeutischen Arbeit bei Outdoor-Aktivitäten unterschieden werden:

1. Die Möglichkeit zum Nachvollzug kindlicher Entwicklung durch möglichst ganzheitliche potenzialaktivierende Arbeit: D.h., sich mit elementaren Anforderungen noch einmal auseinander zu setzen bringt den Organismus in die Lage noch nicht oder nur schlecht und einseitig entwickelte Ressourcen und Kompetenzen zu erweitern und zu verfeinern.

2. Bedürfnisbefriedigung und Entwicklung personaler Kompetenz: Erst durch das zur Verfügung stellen eines adäquaten » Gefühls-, Spiel- und Lebensraumes«, der explizit den Grundbedürfnissen Raum gibt, wird sicher gestellt, dass die unterschiedlichen Seiten kindlichen Erlebens, Verstehens und Handelns wieder lebendig werden können. Das in der Therapiesituation selbstständige adäquate Befriedigen können der Grundbedürfnisse, eröffnet auf ganz natürliche Weise den Weg, dass sich jene »personalen Kompetenzen[21]« entfalten können, die notwendig sind, um auch »schwierigen Problemstellungen« begegnen und sie eigenständig lösen zu können.

3. Ich-, Selbstwert- und Identitätsstärkung: Die Stärkung der inneren Vitalität bildet die Grundlage für eine entsprechende Lebensqualität und ist damit auch die Voraussetzung um schwierige Lebensumstände und kritische Lebensereignisse konstruktiv bewältigen zu können.

4. Realitätsbewältigung: Über die spielerische Auseinandersetzung mit konkreten Aufgabenstellungen und komplexen Lernssituationen, erfährt sich das Kind bewusst als jemand, das an neuen Dingen interessiert ist, neue Herausforderungen annimmt, Neues hinzulernt und durch das neu hinzukommen des Könnens und Wissens immer wieder ein kleines Stück über sich hinauswachsen kann.

Aufgabe und Ziel der KPTH ist es demnach ganz allgemein"... Beziehung anzuregen und anzusprechen, innere und äußere Kommunikation zu initiieren - und damit in Zusammenhang stehende Funktionen und Strukturen zu erarbeiten - die Entwicklung, Veränderung und symmetrische Kommunikation auf der Basis gegenseitiger Anerkennung auf Dauer stellen können und schließlich diesen Prozess so lange zu begleiten, bis sich diese Funktionen und Strukturen so etabliert haben, dass das Kind in der Lage ist, seine weitere Entwicklung selbst zu gestalten und zu steuern." (HOFFERER, M. 1999d, S. 30).

Bei den therapeutischen Outdoor-Aktivitäten wird in naturnahen Räumen vermittels selbst gesteuerter Spiel- und Experimentierprozesse (vgl. dazu Abschnitt:Theoretische Grundlagen therapeutischer Outdoor-Aktivitäten S. 7f) neben den oben angeführten Zielperspektiven aber auch immer eine zunehmende Einsicht in die aktuellen Problemzusammenhänge sowie in die Übertragungs- und Abwehrprozesse gefördert. Im gleichen Maße geht es um die situative, inhaltliche und personale Bereitstellung von Bedingungen, so dass die durch die Störung gehemmten kreativen Anteile des Kindes freigesetzt werden können. Und schließlich nimmt die Förderung der (Selbst-) Reflexion der Situation und der Erfahrungen einen wichtigen Stellenwert ein.

Durch das spielerische Mobilisieren in den o.a. anthropologischen Bezugspunkten (vgl. Fußnote 4, S. 3) in konkreten Spiel- und Experimentiersituationen, werden vom Kind selbstständig zunehmend Erkenntnis- und Problemlösefertigkeiten generiert und entwickelt, die es auch zur Bewältigung seiner alltäglichen Probleme benötigt. Die Gestaltung, der Ort und der Inhalt der Situation bei den therapeutischen Outdoor-Aktivitäten muss also dem Kernproblem des Kindes in der Weise entsprechen, so dass das Kind in seinem Spiel Situationen - in einem für es neuen und ansprechenden und explizit zur Selbsttätigkeit auffordernden Rahmen - vorfindet, die sein/e Kernproblem/e in sich trägt/tragen. So wird es möglich, dass das Kind »an einer anderen Stelle« sein eigentliches Problem entdeckt bzw. diesem Problem wieder begegnet und es selbst - mit therapeutischer Unterstützung - an der Lösung arbeiten kann.

Die Therapie in den Outdoor-Situationen, bezogen auf das Problem des Kindes ausgerichtet zu gestalten, bedeutet, den Ort, die Aktivität und die darin enthaltenen Aufgabenstellungen so zu organisieren, dass das Kind entsprechend seiner Möglichkeiten, in einem ihm eigenen Rhythmus wieder Zugang zu seiner eigenen Entwicklung findet. Durch diese Vorgangsweise, wird die Stufe des Spielens- und Experimentierens sowie die des Symbolisierens nicht auf eine simple Aneignung von vorgegebenen Fertigkeiten reduziert, sondern das Kind erhält dadurch die Möglichkeit, aktiv, entsprechend seiner eigenen Art und Weise, sich der Situation zu stellen und wiederum auf seine ihn eigentümliche Weise die Lösung des Problems selbst zu entwerfen. So kann das Kind sich selbst und seine Lösungskapazitäten konstruieren und der eigentliche Lernprozess findet dann statt, wenn das Kind selbst die Lösung für das Problem, vor das es gestellt ist, entdeckt. Schafft man also Spielsituationen wie z.B. das Spinnennetz, in denen das Problem, das es zu bewältigen gilt, klar formuliert ist, in denen aber offen gelassen ist, wie es gelöst werden könnte, kann das Kind im Handeln seine eigenen Strategien ausprobieren. Einige dieser Strategien wird es bald beiseite lassen, andere wiederum weiterhin einsetzen und neue hinzunehmen. Das Kind erhält so die Möglichkeit, auf sein eigene Art und Weise den Zugang zur Problemlösung zu erarbeiten. Dieses Vorgehen ermöglicht dem Kind auch, sich im Handeln ständig selbst zu beurteilen bzw. zu reflektieren und die Ergebnisse mitzuteilen (ist: Stufe des Systematisierens und Darstellens). D.h., dass das Kind die Vorstellungen von sich selbst, von seinem Handeln, von seinem Erfolg bzw. Misserfolg und der Art wie er Zustandekommen ist etc. zum Ausdruck bringt, darauf vom Therapeuten entsprechend Feed-back erhält (passiv-impressive Kommunikationserfahrungen) und so seine aktiv-expressive Kommunikation und die Dialogfähigkeit nützt. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass bei ca. 70% der Kinder der Ausdruck auch über den Umweg des Zeichnens erfolgt. Die Bilder die so entstehen, geben sehr deutlich Auskunft darüber, was in der Stunde geschehen ist, welche Befindlichkeit vorlag, welche Probleme von besonderer Bedeutung waren, wo die größten Schwierigkeiten gelegen haben und welche Auswirkungen die Aktivität auf das Gefühlsleben des Kindes genommen hat etc.

Skizze eines Fallbeispiels

D. (7) ist ein Einzelgänger. In der Schule spielt er nie mit seinen Mitschülern und in der Pause steht er meist in einer Ecke allein herum. D. hat keine Freunde und nimmt auch von sich aus keinen Kontakt zu anderen Kindern auf. Wenn er in der Schule etwas gefragt wird, errötet er, schaut verlegen zur Seite und bringt kaum ein Wort heraus oder spricht nur ganz leise und etwas stotternd. Die Schulleistungen waren von Anbeginn mangelhaft und verschlechtern sich zunehmend. D´s Eltern klagen darüber, dass der Bub nie etwas von sich aus unternimmt und dass er nicht in der Lage ist, Anliegen oder Wünsche zu äußern. Wenn D. z.B. von den Eltern Geld bekommt, weiß er nichts damit anzufangen. Am liebsten hält sich D. in seinem Zimmer auf und spielt mit den Legobausteinen. Gelegentlich kommt, nach den Angaben der Eltern, nächtliches Einnässen vor.

Der Bub wurde von den Eltern im vergangenen Jahr zwei Therapeuten vorgestellt und war daran im Anschluss bei einer Therapeutin für kurze Zeit in Therapie. Diese wurde jedoch schon nach kurzer Zeit vom Kind verweigert und darum abgebrochen. Die Eltern berichteten, dass sich der Bub mit aller Heftigkeit gegen die Therapiestunden zur Wehr setzte.

Das Beispiel zeigt einen Buben, der massive Probleme in den Bereichen der Entwicklung des Antriebs- und Durchsetzungsvermögens, der Entwicklung des Gefühlslebens, der Entwicklung von Lebensfreude, Spontaneität und Aktivität sowie in der Entwicklung von Aktivität und Leistungsfreude hat, so dass die Folge eine psychische Erstarrung und Ich-Einschränkung zeigt. Als Ursache für die Problematik konnte ein über die ersten fünf Lebensjahre dauernder überängstlicher Erziehungsstil der Eltern festgestellt werden, der mit dem Eintritt in den Kindergarten (mit fünf Jahren) abrupt und in einem Übermaß in einen »du musst jetzt aber selbstständig sein Stil« wechselte, was zur Folge hatte, dass der Bub von diesem Zeitpunkt an von Seiten der Eltern kaum noch Hilfe und Unterstützung bekommen konnte, was den totalen Rückzug des Kindes zur Folge hatte. Das Beispiel zeigt auch sehr anschaulich, dass die einengenden Bedingungen der anfänglichen überängstlichen Erziehung der Eltern die Aspekte »wesenhafte Bezogenheit«, die »Beziehungsfähigkeit« und vor allem die »Kreativität« des Kindes nachteilig berührt haben, so dass in weiterer Folge die Bereiche »Erkenntnisfähigkeit« und »Verantwortlichkeit« beeinträchtigt wurden. Der Umstand, dass mit dem Eintritt in den Kindergarten das gesamte bisherige Bezugssystem des Kindes umgestoßen wurde, führt in weiterer Folge dazu, dass der Bub in eine Situation der akuten Bedrohung und Hilflosigkeit gerät, da ihm die notwendigen Kompetenzen zur Bewältigung fehlen.

Die »therapieorganisierende Kernthematik[22]«, die - verschränkt mit einer massiven therapiebegleitenden Beratung der Eltern - für die Arbeit mit dem Buben formuliert wurde lautet: »Ich muss noch einmal Kleinkind sein!« Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die Möglichkeit des Nachvollzugs frühkindlicher Entwicklung und dabei vor allem bezogen auf den anthropologischen Aspekt »Kreativität«, zur Folge hat, dass der gegebene Zustand sich in Richtung Entwicklung und Zugewinn von Kompetenzen und damit in Verbindung zunehmende Sicherheit und Lebensfreude einstellt.

Zur Umsetzung der therapieorganisierenden Kernthematik und der damit verbunden Ziele wurde das Setting therapeutische Outdoor-Aktivitäten gewählt. Nachdem sich der Bub sehr rasch daran gewöhnt hatte, dass die Therapie nicht, wie schon erfahren, in einem Therapieraum stattfindet, wurde - nachdem zunächst in den ersten Stunden die Umgebung erkundet bzw. andere Kinder bei der Arbeit mit dem Spinnennetz beobachtet wurden - auf seinen expliziten Wunsch hin das Spinnennetz (siehe dazu Abbildung, S. 6) gebaut. Schon in der Vorbereitung und der Phase der Konstruktion und des Aufbaus zeigte sich, dass eine anwachsende Aktivität vom Kind ausging. Zunächst alles ohne aktive Einbeziehung des Therapeuten. Der Bub war ganz mit den Seilen und Karabinern und den Aufbau seiner Spiellandschaft beschäftigt. Doch völlig unverhofft, in der siebenten Therapiestunde hat D. begonnen, sich an den Therapeuten zu wenden und ihn aktiv in seinen Konstruktionsprozess miteinzubeziehen. So wurde aus dem einsamen Alleinspiel ein gemeinsames und sehr gut aufeinander abgestimmtes Arbeiten. Die Konstruktion war mittlerweile zu einem mehrschichtigen Gebilde angewachsen, das mit Tüchern und Decken ergänzt wurde. Die Nachhaltigkeit und die Kreativität, mit der D. an der Aufgabe »Spinnennetz« arbeitete, legte seine gesamte innere Beteiligung und Bewegtheit offen. Immer wieder kam es dabei, vor allem in den Phasen der Selbstüberschätzung, auch zu wilden Zorn- und Wutausbrüchen mit Tränen, Vorwürfen und lautem Geschrei, aber die Überwiegende Zeit war geprägt von positiven emotionalen Stimmungsbildern wie Freude, Ausgelassenheit und Heiterkeit. Wieder und immer wieder forderte er, dass der Therapeut mit ihm das Spinnennetz bauen muss. Ab diesem Zeitpunkt erzählte D. während der gesamten Arbeitsphasen von sich aus über seine Situation: das niemand da ist der mit ihm spielt, das er nachts wilde Albträume hat, dass er am liebsten in einem anderen Land wohnen möchte, bei anderen Menschen, weil er dort Freunde finden würde usw., usw. Der Therapeut entschied sich dafür, die Gespräche in den Spielsituationen zu belassen, d.h., sie explizit nicht durch nachfolgende Gespräche, Zeichnungen oder Spiele auf die Ebene der bewussten Reflexion zu heben. Gleichzeitig wurden den Eltern in den therapiebegleitenden Elterngesprächen Informationen darüber gegeben, was sie mit D. konkret unternehmen und wie sie den gemeinsamen Alltag und die Freizeit gestalten könnten. Das war zunächst ein sehr schwieriger Prozess, aber nachdem die Eltern erkannten, dass sich Erfolge einstellen war ihre Mitarbeit sichergestellt. Getragen durch die gute Zusammenarbeit der Eltern und der Therapeuten veränderte D. auch in seinem alltäglichen Lebensumfeld relativ rasch sein gesamtes Verhalten. D. wurde - so berichteten die Eltern und auch seine Lehrer - zunehmend offener, er erzählte was er tat und was er vorhatte, er äußerte ganz präzise seine Wünsche und er ging von sich aus auf andere Menschen zu. Das Wesentliche aber war, dass D. mit der Zeit für sich selbst Ziele formulierte, die weit außerhalb der gegenwärtigen Situation lagen, die er erreichen wollte. Ein Beispiel dafür ist, dass er eines Tages im Gespräch dem Therapeuten mitteilte: "weißt du, ich muss die Schule unbedingt gut abschließen, weil ich an der Universität studieren will, um Brückenbauer zu werden, weil ich so viele Ideen habe wie das gehen könnte."

In einem weiteren Schritt wurde D. in eine kleine Therapiegruppe (3 Kinder mit 3 Therapeuten) integriert. Das Ziel dieser Maßnahme war, zusätzlich die sozialen Kompetenzen des Kindes zu stärken. Der starke ausgeprägte Egozentrismus, das alles selber tun wollen und das sehr stark an den Therapeuten gebunden sein, brauchte einige Zeit zur Überwindung, aber schon sehr bald war D. auch in diesem Setting sehr erfolgreich. Die Therapie wurde nach 9 Monaten erfolgreich abgeschlossen.



[8] eine Übersicht dazu findet sich in: HOFFERER, M.: 1999b, S. 38-43

[9] vgl. dazu auch: HOFFERER, M.: 1999c, S. 138-166

[10] d.h., eigenständiges Anwenden.

[11] vgl. dazu: HOFFERER, M.; FANNINGER, R.; ROYER, ST.: 1999, S. 16 f.

[12] Die KPTH unterscheidet zwischen "Potenzial" und "Ressource" in der Weise, dass Ressourcen jenen Bereich des Potenzials darstellen, der bereits aktiviert wurde und in schon bestimmter Form im z.B. Handeln zum Einsatz gebracht werden kann.

[13] vgl. dazu: HOFFERER, M.; FANNINGER R.; ROYER, St.: 1999, S 7-11

[14] siehe dazu u.a.: Karmann G., 1987

[15] chaostheoretischer Ansatz, bootstrap Ansatz, holografischer Ansatz, quantenrelativistische Ansätze, ...u.a.

[16] siehe dazu: KRIZ, J., 1999

[17] Das Problem der »Selbstreferenzialität« kann in der Therapie nur durch Erfahrung und daraus resultierender Einsicht erweitert und überwunden werden.

[18] vor allem im Sinne Anna Freuds: siehe dazu FREUD, A.: 1968, 1987

[19] Das gilt auch für Menschen, bei denen dieser Prozess von außen unterstützt werden muss!

[20] Siehe dazu: ZINKE-WOLTER, P.: 1991

[21] Hohes Selbstwertgefühl, aktive Problemlösefähigkeit, hohe Selbstwirksamkeit, ausgeprägtes Kohärenzgefühl und Vertrauen in die eigene Belastbarkeit

[22] Allen Überlegungen zur Bildung einer therapieorganisierenden Kernthematik liegt die Frage zu Grunde, wie der Mensch sich in den auf Seite 3 in Fußnote 4 angesprochenen anthropologischen Bezugspunkten entwickeln konnte, wo Hindernisse gegeben waren und sind und unter welchen Bedingungen diese realisiert werden konnten. Beim Er- und Ausarbeiten der Kernthematik/en frägt das Team der Therapeuten danach, was dem Kind fehlt bzw. was es verhindert, damit eine adäquate Realisation der Aspekte der Grundausstattung unter den gegebenen speziellen Bedingungen und in der jeweils problematischen Situation gelingen kann. Diese Informationen werden im Team reflektiert und sodann in einem Kernsatz, der »therapieorganisierenden Kernthematik« wieder zum Ausdruck gebracht. Somit ist die therapieorganisierende Kernthematik einerseits der Bezugspunkt, um den sich alle Informationen konfigurieren und eine Sturktur bilden und von dort andererseits rasch wieder abgerufen werden können.

Zusammenfassung

Die Ergebnisse unserer Arbeit mit therapeutischen Outdoor-Aktivitäten ermutigen uns in der Annahme, dass ein derartiges Konzept in der Therapiearbeit mit Kindern mit Problemverhalten bei einem sehr vorsichtigen Einsatz eine äußerst positive Wirkungen auf die Entwicklung der Problemlösefähigkeit und - ganz allgemein - der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder hat. Der behutsame Umgang mit Kindern unter naturnahen Rahmenbedingungen und entsprechenden Angeboten eröffnet eine ungeahnte Fülle von Möglichkeiten, Entwicklung anzuregen, an den Problemursachen anzuknüpfen und an entsprechenden Lösungsstrategien zu arbeiten ohne dabei den ganzen Menschen aus dem Blickpunkt zu verlieren. Es geht nicht so sehr darum, sich in körperlichen, emotionalen oder kognitiven Grenzbereichen zu bewegen, sondern in gut arrangierten Situationen an der spielerischen Ausweitung der Grenzen zu arbeiten und so bedeutsame Erfahrungen und daraus erwachsendes Wissen zu sammeln. Dadurch, dass das Kind handelt, entdeckt es, nicht nur welche Verhaltensweisen einer bestimmten Situation angemessen und in einem speziellen Kontext zielführend sind bzw. werden dabei nicht nur die unterschiedlichsten Funktionen gefördert, sondern es erlebt sich vor allem in den anthropologischen Bezugspunkten als wirksames und veränderbares Ich. Durch »Begegnung und Erfahrung« wird die Möglichkeit gegeben, die mit der Zeit entwickelten und verfestigten »bestimmten Ausrichtungen« aufzuweichen, wieder zu beleben und durch Spiel und Experiment zu erweitern. Die Aufgabe, die den Therapeuten im »Prozess der Reorganisation der Entwicklung« zukommt ist die, wie sie Anna Freud schon 1968 in ihrem Buch "Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung" dargestellt hat: "Der Analytiker vereint also zwei schwierige und eigentlich einander widersprechende Aufgaben in einer Person: Er muss analysieren und erziehen, das heißt, er muss in einem Atem erlauben und verbieten, lösen und wieder binden. Gelingt ihm das nicht, so wird die Analyse dem Kind zum Freibrief für alle in der Gesellschaft verpönten Unarten. Gelingt es ihm aber, so macht er damit ein Stück verfehlter Erziehung und abnormer Entwicklung rückgängig und verschafft so dem Kind oder denjenigen, die über das Schicksal des Kindes entscheiden, noch einmal die Möglichkeit, es besser zu machen"[23]. Übersetzt man die etwas sperrige Formulierung, dann heißt das, dass der Therapeut grundsätzlich freigebend und den Wünschen des Kindes folgend ist und sich nur dann "... entzieht, nein sagt oder aktiv eingreift, wenn die Wünsche oder Verhaltensweisen des Kindes erkennbar dem Wiederholungszwang folgen und somit in erster Linie die Abwehr stärken statt neue Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen." (FIGDOR, H., In: REINELT, T., et al., 1997, S. 235-237)



[23] vgl. dazu auch WINNICOTTs Konzept der "Objektverwendung", 1971

Literatur

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Freud, A. (1968): Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. - Frankfurt am Main: Fischer, 1968

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Hofferer, M.(1999c): Selbsterfahrungsgestützte Theorieaneignung: Denkanstoß und ihre Methode für die Ausbildung in pädagogischen Berufen. - Wien: unveröffentl. Dissertation

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Hofferer, M.; Royer, St. (2000): Klettern mit Kindern mit Problemverhalten. Praktische Anwendung in der kommunikationspädagogisch-kinderpsychotherapeutischen Behandlung. - Ausbildungsskript, Eigenverlag: Institut für Kommunikationspädagogik, Wien, Erlaaer Straße 3-9/1, A-1230 Wien

Karmann, G. (1987): Humanistische Psychologie und Pädagogik. Psychotherapeutische und therapieverwandte Ansätze. - Bad HeiIbrunn: Klinkhardt

Kriz, J.(1999): Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner - Eine Einführung. - Wien: Facultas Universitätsverlag

Michl, W. (1996): Leben gewinnen. In: Michl, W. & RIEHL, J. (Hrsg.). Leben gewinnen. Beiträge der Erlebnispädagogik zur Begleitung von Jugendlichen mit mehrfacher Behinderung. Allingen: Sandmann Verlag

Reinelt, T., et al.: Lehrbuch der Kinderpsychotherapie: Grundlagen und Methoden. - München/Basel, E. Reinhardt, 1997

Rutter, M. (1985): Psychological Therapies in Child Psychiatry: Issues and Prospects. In: Rutter, M.; Hersov, L.: Child and Adolescent Psychiatry. - Blackwell, Oxford: Modern Approaches

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Winicott, D., W.(1979): Vom Spiel zur Kreativität. - Stuttgart: Klett-Cotta, 1979

Winnicott, D. W. (1988): Warum Kinder spielen. - In: Flitner, A. (Hrsg.), S. 107-111

Zinke-Wolter, P. (1991): Spüren - Bewegen - Lernen: Handbuch der mehrdimensionalen Förderung bei kindlichen Entwicklungsstörungen. - Broadstairs (UK): Borgmann Verlag; Dortmund: modernes lernen

Quelle:

Manfred Hofferer, Stefan Royer: Outdoor-Aktivitäten. Einsatz in der kommunikationspädagogisch-kinderpsychotherapeutischen Arbeit mit Kindern mit Problemverhalten

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.03.2011

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