Entwickeln statt vermessen

Lernwege zu einer guten Schule - 10 Thesen

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen verkürzt am 24.12.1998 in der Frankfurter Rundschau und als Beilage zu Heft 5/1999 der Lernenden Schule, Januar 1999 im Friedrich Verlag, Velber
Copyright: © Friedrich Verlag 1999

Vorbemerkung

In der 3. Internationalen Vergleichsstudie über die Mathematik- und Naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler (TIMSS) schnitten die deutschen Schülerinnen und Schüler nur mittelmäßig ab. Das rief viele Kommentatorinnen und Kommentatoren zu den gegensätzlichsten Interpretationen, die mehr oder weniger durch die Empirie gedeckt sind, auf und zwang die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) zum Handeln.

Besonders weit reichend sind die Folgen des Beschlusses, den die KMK am 23./24. Oktober 1997 auf ihrer Konferenz in Konstanz gefasst hat. Weil die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den internationalen Vergleichstests nur mittelmäßig waren, beschlossen die Kultusminister und Bildungssenatoren "die Durchführung regelmäßiger länderübergreifender Vergleichsuntersuchungen zum Lern- und Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern ausgewählter Jahrgangsstufen an allgemein bildenden Schulen", die sich zunächst auf die Sekundarstufe I beziehen sollen und "vorrangig auf die Entwicklung grundlegender Kompetenzen ausgerichtet werden".

Wir, die Herausgeber der Lernenden Schule, engagieren uns in vielfältiger Weise und seit vielen Jahren für Schulentwicklungsprozesse, die den Schulen in ihrer Qualitätsentwicklung helfen, weswegen wir uns auch als Herausgeber dieser Zeitschrift zusammengefunden haben, und wir sehen es als Selbstverständlichkeit an, dass jede Schule an ihrer Qualitätsentwicklung arbeitet.

Wir fühlen uns auch daher verpflichtet, uns zu äußern, weil wir bisher nicht erkennen können, dass der Weg der länderübergreifenden Vergleichsuntersuchungen der Förderung aller Kinder und Jugendlichen und in diesem Sinne der wirklichen Qualitätsentwicklung der Schulen dient.

Die Amtspflicht der Kultusminister und Bildungssenatoren ist es, die Schulen zu stützen, damit diese die Kinder, die Jugendlichen, ihre Familien stärken können. Den Schulen nur neue Lasten aufzubürden, ohne dass deren Beitrag zur qualitätsfördernden Schulentwicklung klar zu erkennen wäre, widerspricht dieser Verpflichtung.

Aus diesem Grunde fordern wir die Kultusminister und -ministerinnen, die Bildungssenatoren und -senatorinnen eindringlich auf, die qualitätsfördernde Schulentwicklung, in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen zu rücken, nicht jedoch Vergleichstests. Die Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist es, den Schulen in deren Schulentwicklungsprozess,

geleitet von dem Auftrag, alle Kinder und Jugendliche optimal zu fördern, Unterstützung zu gewähren.

In diesem Sinne verstehen sich die nachfolgenden Thesen[1] als eine Einladung zum Diskurs in weiterführender Absicht.

Otto Herz / Reinhold Miller / Horst Oelze / Norbert Posse / Botho Priebe / Anne Ratzki / Michael Schratz / Thomas Loer

Herausgeber und Redaktion der

Lernenden Schule - Für die Praxis der pädagogischen Schulentwicklung



[1] Erschienen gekürzt am 24. 12. 1998 in der Frankfurter Rundschau und als Beilage zu Heft 5/1999 der Lernenden Schule, Januar 1999 im Friedrich Verlag, Velber

1. Gute Schulen braucht das Land

Guten Schulen gelingt es, jedes Mädchen und jeden Jungen anzuspornen und ihnen dabei zu helfen, die in ihnen liegenden Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung in einer für sie optimalen Weise auszubilden - in der Verantwortung füreinander und in der kritischen Aus-einandersetzung mit den gesellschaftlichen Schlüsselproblemen.

2. Gute Schulen sind Lernende Schulen

Damit Schulen in einer Gesellschaft des Wandels ganzheitlich die Entwicklungschancen der aufwachsenden Generationen stützen und stärken können, müssen sie sich als sich kontinuierlich entwickelnde Einrichtungen verstehen. Die Qualität des Lernens in der Schule erfordert die Lernende Schule. Die Lernende Schule ist Weg und Ziel einer zukunftsfähigen Schule.

3. Die Lernende Schule ist Gemeinschaftsaufgabe

Die Lernende Schule ist zuvörderst eine Gemeinschaftsaufgabe der unmittelbaren Mitglieder der Schulgemeinde: der Kinder und Jugendlichen, die keine Kunden, sondern die entscheidenden Subjekte ihres Lernprozesses sind; der Eltern, die aufgeschlossene Mitlernende und kompetente Mitgestaltende sind; der professionellen Pädagogen unterschiedlicher Ausbildung, die in der Schule besondere Verantwortung übernehmen für das gelingende Aufwachsen der Mädchen und Jungen - im Dialog mit ihnen, mit den Eltern, mit den Partnern von Schule und mit der Öffentlichkeit.

4. Die Schule benötigt Ressourcen und ist Ressource

Die Lernende Schule braucht die Achtung und Anerkennung, die Beratung und Unterstützung der Partner von Schule. Das sind engagierte Bürgerinnen und Bürger aus der Nachbarschaft genauso wie Vereine und Verbände, das sind Betriebe genauso wie Gewerkschaften, Kirchen wie Wohlfahrtsverbände, die lokale, regionale, landes- und bundesweite Bildungsverwaltung ebenso wie die Bildungs- und Finanzpolitik. Schulpolitik ist Lebenschancen fördernde Kinder- und Jugendpolitik und Kinder- und Jugendpolitik ist Lernchancen fördernde Schulpolitik. Die Schule benötigt dafür die entsprechenden Ressourcen, sie ist aber auch selbst eine Ressource in der Entwicklung des Gemeinwesens. Wer die Chancen der Schulentwicklung vernachlässigt, schränkt die Lebenschancen der Kinder - und damit die Zukunft der Gesellschaft: unser aller Zukunft - ein.

5. "Die Schule der Nation ist die Schule."

Die Schule ist der in der Gesellschaft einzige Ort, in der die nachwachsenden Generationen in ihrer Gesamtheit über Jahre ihren Zusammenhalt erfahren und erproben können. Die auf Zusammenhalt angewiesene Zivilgesellschaft braucht daher eine Schule, in der die Vielfalt in der Gemeinsamkeit im Geiste von Humanität und Solidarität erlebt, erkannt und gepflegt wird. Ausgrenzungen schaden den Einzelnen und dem demokratischen Gemeinwesen. Integration ist Menschenpflicht.

6. Gestaltungsfreiheiten sind das Merkmal freiheitlicher Schulen

Will die einzelne Schule sich einlassen und Antworten suchen auf die Herausforderungen, vor denen sich die heutigen, immer einzigartigen Kinder und Jugendlichen in ihrer je spezifischen Lebenswelt bewähren müssen, dann braucht die einzelne Schule große Gestaltungsfreiheit, um die menschenrechtlichen, kinderrechtlichen, die Grundgesetz- und Landesverfassungs-, die Schulgesetz- und Richtlinienaufträge konkret umsetzen zu können. Je komplexer die Ziele von Schule sind, desto kontextspezifischer und den Kindern angemessener müssen die Lernangebote und die Lernweisen sein, wenn sie den konkreten Personen mit ihren speziellen Problemen dienlich sein sollen. Die freiheitliche Schule zeichnet sich durch große Gestaltungsfreiheiten aus.

7. Schulen schulen Schulen

Jede Schule muss eine gute Schule in dem ausgeführten Sinne sein wollen. Eine gute Schule weiß um ihre Verpflichtung, Rechenschaft über die Motive und die Wirkungen ihres Handelns abzulegen. Professionelle Vergewisserung, ob das gut Gemeinte auch zum Guten führt, ist Berufspflicht und Eigenanspruch der pädagogischen Zunft. Evaluationen sind selbstverständlicher Teil der Weiterentwicklung jeder Schule. Evaluation ist das Bemühen, die Prozesse und Ergebnisse von Schule zu verstehen in der Absicht, sie weiterzuentwickeln. Daher prüft die Lernende Schule sich selbst, nicht nur andere. Die Lernende Schule lernt aus ihren Fehlern. Sie gibt Einblick in ihr Tun, schottet sich nicht ab. Um des Weiter-Lernens willen erforschen Schulen sich selbst und sie erkunden andere in Wechselseitigkeit. Schulen schulen Schulen: das ist der Sinn forschender Erkundungen und erkundender Forschungen. Maßstab ist eine anspruchsvoller werdende Gleichwertigkeit, kein Bestreben nach Gleichartigkeit. Herauszufinden, wie die einzelne Schule den Lernbedürfnissen und den Lernnotwendigkeiten ihrer Mädchen und Jungen immer besser gerecht werden kann, ist das Ziel der Kommunikation und der Kooperation zwischen den Schulen und der sie dabei unterstützenden Personen und Institutionen.

8. Vergleichstests können Schulentwicklung hemmen

Die Absicht der Kultusminister, mit zweistelligen Millionenbeträgen regelmäßig bundesweite Vergleichstests in ausgewählten Lernbereichen durchzuführen, läuft Gefahr, Schulentwicklung eher zu behindern als zu inspirieren. Schulexterne Evaluation ist in Verbindung mit schulinterner Evaluation sinnvoll und notwendig, wenn beide auf die Sicherung und Weiterentwicklung von Qualität durch Schulentwicklung gerichtet sind. Bloße Vergleichstests beflügeln nicht den anregenden und anspornenden, freiwilligen Austausch über Stärken und Schwächen von Schulen. Sie verführen eher zu Ausreden und Ausflüchten. Sie normieren, aber sie innovieren nicht. Sie führen zu Anpassung, nicht zu Originalität. In einer Welt der Vielfalt ist das Abprüfen des Gleichen für alle der falsche Weg. Rankings werden fast unvermeidbar folgen. Doch Schulen werden nicht dadurch besser, dass man ihnen einen Rang zuweist. Bloße Vergleichsmessungen sind kein Beitrag zur Qualitätsentwicklung. Alle wissen es: Keine Sau wird dadurch fetter, dass man sie öfter auf die Waage stellt. Und keine Kuh gibt deswegen mehr Milch.

9. Die Devise muss heißen: Entwickeln statt vermessen

Das vorrangige Prinzip für die Verbesserung der Schulen heißt: Entwickeln statt vermessen. Wer Leistung will, muss Lernen fördern. Wer Bildung will, muss Verstehensprozessen nachspüren und sie verständnisvoll voranbringen. Da die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen für alle notwendig ist, ist die Förderung der Lernfreude und das immer wieder Ermöglichen von Lernerfolgen, gerade bei Kindern in Schwierigkeiten, wichtiger als das Registrieren eines punktuell erreichten Lernstatus. Wann bei wem wie sinnstiftendes Lernen gelingt, wie multiple Intelligenzen anzusprechen und anzuregen sind, in welcher Weise Leistungen für den einzelnen Jungen, das einzelne Mädchen am besten in unterschiedlichen Sachbereichen zur Geltung gebracht werden können, darüber wissen wir noch viel zu wenig. Deshalb müssen sich die Forschungsanstrengungen vor allem auf solche Fragen konzentrieren. Anspruchsvoller Entwicklungsforschung wird das Stellen gleicher Aufgaben für alle und das Erstellen von Rangreihen oder Mittelwerte nicht gerecht. Lernen vollzieht sich in einem komplexen Beziehungsgeschehen, in dem kognitive, affektive und soziale Faktoren verknüpft sind. Die Arbeitsansätze in den Schulen zu vergleichen dient der Qualitätsentwicklung von Personen und Institutionen weit mehr als die Administration von Vergleichsarbeiten. Die Qualität einer Schule ist zu komplex, um sie allein mit dem standardisierten Ergebnis von Vergleichsarbeiten erfassen zu wollen. Knappe Haushaltsmittel müssen vor allem in die Unterstützung der Qualitätsentwicklung von Schulen investiert werden. Externe Evaluationen sind so anzulegen, dass sie als Rückmeldungen an die untersuchten Schulen ihren Beitrag leisten zu deren innerschulischen Qualitätsentwicklung. Der Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer im Blick auf didaktische Innovationen und schülergerechte Methoden kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Erfolgreiche Schulentwicklung erfordert eine zum Mitmachen einladende Vertrauenskultur, keine durch Kontrolle abschreckende Misstrauenskultur. Leistung zu fördern, heißt auch und vor allem, Menschen zu ermutigen, neue und eigene Wege zu gehen. Das gilt für Kinder und Jugendliche und ihre Eltern genauso wie für Laien- und Berufspädagogen unterschiedlicher Art. Schulentwicklung kann nur in der Gemeinsamkeit mit diesen Personen gelingen, nicht über sie hinweg oder gar gegen sie.

10. Schulentwicklung muss Vorrang haben

Auch Kultusminister- und ministerinnen, auch Bildungssenatorinnen und -senatoren sollten Mut zum Umsteuern haben. Den Beschluss der KMK, bundesweite Vergleichsuntersuchungen durchzuführen, ohne sie in ein Schul- und Qualitätsentwicklungskonzept einzubauen, sehen wir als folgenreichen Fehler an. Bloße Defizitanalysen werden Schulen eher entmutigen, statt sie zu motivieren. Externe Untersuchungen zur Schul- und Unterrichtsqualität können hilfreich sein, wenn sie Schulen in Verbindung mit Beratung, Fortbildung und Unterstützung realistisch orientieren und aktivieren. Die Gegenleistung der Schulen und ihrer Unterstützer wird darin bestehen, dass sie noch intensiver an ihrer qualitätsfördernden Schulentwicklung arbeiten. Die Bildungs- und Schulforschung sei den Schulen in ihrer Qualitätsentwicklung ein Partner, der auf die Fragen der Schulen hört. Gelingensbedingungen für gute Schulen auszumachen und deren Herbeiführung zu begleiten, ist die anstehende anspruchsvolle Aufgabe von Bildungs- und Schulforschung. Im Interesse der Qualitätsförderung von Schule sollten Politik, Praxis und Begleitforschung gemeinsam den Devisen folgen:

Entwickeln statt vermessen

Wer Leistung will, muss Lernen fördern

Gute Schulen braucht das Land

Gute Schulen sind Lernende Schulen

Quelle:

Otto Herz / Reinhold Miller / Horst Oelze / Norbert Posse / Botho Priebe / Anne Ratzki / Michael Schratz / Thomas Loer: Entwickeln statt vergessen - Lernwege zu einer guten Schule - 10 Thesen

Erschienen verkürzt am 24.12.1998 in der Frankfurter Rundschau und als Beilage zu Heft 5/1999 der Lernenden Schule, Januar 1999 im Friedrich Verlag, Velber

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.05.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation