Pierre Bourdieus Soziologie:

Ein Wegweiser für die Sozialpsychiatrie?

Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Zeitschrift des Vereins für interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Studien und Analysen SWS-Rundschau (52.Jg.) Heft 1/ 2012: 19–37 Zeitschrift des Vereins für interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Studien und Analysen SWS-Rundschau (01/2012)
Copyright: © Gruber, Böhm 2012

Abstract:

Psychische Erkrankungen nehmen in ihrer gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Bedeutung zu. Dies impliziert einen verstärkten Bedarf an sozialpsychiatrischer Forschung. Im vorliegenden Beitrag wird geprüft, ob die Soziologie Pierre Bourdieus als theoretische Fundierung sozialpsychiatrischer Fragestellungen herangezogen werden kann. Die Integration theoretischer Überlegungen Bourdieus kann einerseits die fehlende Kooperation zwischen Soziologie und Sozialpsychiatrie (wieder-) beleben. Andererseits lässt der Ansatz Bourdieus genügend Raum für Erkenntnisse der „traditionellen“, medizinisch-biologisch orientierten Psychiatrie. Trotzdem erlaubt diese Herangehensweise der Sozialpsychiatrie, ihr (gesellschafts-) kritisches Potenzial zu bewahren. Es sind v. a. die Begriffe „Habitus“ und „Kapital“, die eine zentrale Rolle in der zukünftigen Theoriebildung der Sozialpsychiatrie spielen könnten.

Mental health and illness are issues that are increasing in relevance for society and national economy. That development implies the necessity of more research in the field of social psychiatry. The present article examines whether the sociology of Pierre Bourdieu can provide a theoretical fundament for social psychiatry and its several research questions. On the one hand the integration of theoretical aspects of Bourdieu’s sociology can improve the relationship between sociology and social psychiatry. On the other hand the considerations of Bourdieu can be connected to findings and concepts of „traditional“, medical psychiatry. However, the approach of Bourdieu does not endanger social psychiatry to lose its critical viewpoint. It is assumed that mainly the theoretical concepts „habitus“ and „capital“ are of great interest for future research in social psychiatry.

1. Einleitung und Relevanz des Themas

Psychische Erkrankungen erlangen auch in Österreich eine immer größer werdende gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Bedeutung. Dies ist nicht zuletzt an jüngst veröffentlichten Zahlen des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger (2011) abzulesen. So nahmen im Jahr 2009 in Österreich ca. 900.000 Menschen aufgrund psychischer Probleme psychiatrische Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch. Obwohl die Frage des Ausmaßes der zunehmenden Verbreitung psychischer Erkrankungen noch nicht endgültig und in allen Details geklärt ist, steht zumindest fest, dass die Inanspruchnahme psychiatrischer und psychosozialer Leistungen einer „Wachstumsdynamik“ (Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger 2011) unterliegt. Es besteht somit nicht nur für die öffentlichen Institutionen Handlungsbedarf. Auch die Sozialpsychiatrie und die sozialpsychiatrische Forschung sind gefordert, die Ursachen für die dargestellte Entwicklung zu untersuchen, epidemiologische Forschung zur Abschätzung des derzeitigen und zukünftigen Bedarfs an psychiatrischen Leistungen anzustellen, sowie neue und innovative Interventions- und Versorgungsinstrumente zu entwickeln, zu implementieren und zu evaluieren. Im Zentrum dieser Forschung stehen dabei stets das Wohlbefinden und die Förderung der Gesundheit der Betroffenen bzw. der Bevölkerung im Allgemeinen.

Um die dargestellten Aufgaben und Anforderungen bewältigen zu können, bedarf es für diese Forschung auch einer gesellschaftswissenschaftlichen, theoretischen Fundierung, die Daten in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellt. Dadurch können die Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Gegebenheiten und den AkteurInnen und ihren individuellen Gesundheitsrisiken erhellt werden. Dieser Beitrag versucht daher theoretische Überlegungen des 2002 verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu für die sozialpsychiatrische Forschung und ihre theoretische Grundlegung fruchtbar zu machen. In einem ersten Schritt werden die Geschichte der Sozialpsychiatrie kurz skizziert und die drei wesentlichen Aspekte der Sozialpsychiatrie erläutert (Kap. 2). Dies soll einerseits ein Verständnis für das komplexe Themenfeld der Sozialpsychiatrie ermöglichen. Andererseits bildet dies die Grundlage für die Verknüpfung des Bourdieu‘schen Gedankenguts mit der Sozialpsychiatrie. Bevor in Kapitel 4 auf Bourdieu als Bindeglied zwischen (Sozial-) Psychiatrie und Soziologie eingegangen wird, wird im dritten Abschnitt das Verhältnis zwischen Sozialpsychiatrie und Soziologie im Allgemeinen thematisiert.

2. Sozialpsychiatrie: Eine kurze Entwicklungsgeschichte

Sozialpsychiatrie ist „jene Wissenschaft, die sich systematisch mit der Bedeutung von sozialen, kulturellen sowie Umgebungsfaktoren in weitestem Sinn für seelische Gesundheit und Krankheit befasst“, formulierte bereits 1972 der österreichische Pionier Hans Strotzka (zit. in Hinterhuber/ Meise 2008, 148). Sie ist neben „der biologischen und der psychotherapeutischen Psychiatrie“ (Wancata/ Meise 2010, 318) das dritte Standbein der Psychiatrie.

Die Sozialpsychiatrie hat v. a. im deutschsprachigen Raum eine relativ kurze, aber bewegte Vergangenheit. Bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts, als sich die Psychiatrie als eine eigenständige medizinische Disziplin entwickelte, gab es Anklänge einer sozialen Orientierung, in der man „(d)as soziale Umfeld in seiner Bedeutung für die Entstehung und Behandlung psychischer Krankheiten zu beachten“ (Schott/ Tölle 2006, 200) begann. Zum ersten Mal tauchte der Begriff „soziale Psychiatrie“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Schriften des deutschen Psychiaters Georg Ilberg auf. Er definierte „soziale Psychiatrie“ als

„(d)ie Lehre von den für die Gesundheit der Gesamtheit verderblichen Umstände und den zu deren Abwehr nützliche Maßregeln (…)“ (Ilberg 1904, zit. in Finzen 2009, 16).

Ilberg verwies mit dieser Definition auf den Gesundheitszustand einer gesamten Bevölkerung, den es zu fördern gilt,[1] z. B. durch die Einschränkung von exzessivem Alkoholkonsum (Schmiedebach/ Priebe 2004, 452). 1911 plädierte der deutsche Psychiater Max Fischer mit den Worten „Ohne soziale Psychiatrie keine Psychiatrie“ (Fischer 1919, zit. in Finzen 1998a, 21) für extramurale (außerstationäre) Institutionen.

Nach dem Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus unterlag das sozial- psychiatrische Gedankengut einer inhaltlichen Verengung bzw. politischen Instrumentalisierung. Die Lehren der Rassenhygiene und Eugenik, die auch mit dem Begriff „soziale Psychiatrie“ in Verbindung gebracht wurden, dominierten. Diese dunkle Vergangenheit führte dazu, dass der Begriff „Sozialpsychiatrie“ nach Kriegsende keine Verwendung fand. Erst in den 1950er-Jahren reflektierte man wieder das Verhältnis zwischen Psychiatrie und Gesellschaft. Gefordert wurden mehr ambulante Versorgungseinrichtungen und die gesellschaftliche Integration von Menschen mit psychischen Erkrankungen (Schmiedebach/ Priebe 2004, 452–456).

In den 1960er- und 70er-Jahren sorgte das politische Aufbegehren der 1968er- Bewegung für eine Auf- und Umbruchphase (Kersting 2001, 45). Im Mittelpunkt standen der Kampf gegen Autoritätsgläubigkeit und Forderungen nach mehr individuellen Freiheiten sowie die Gleichstellung von Minderheiten. Wie in anderen Ländern entwickelte sich in Westdeutschland daraus eine große Reformbewegung. Die Psychiatriereform verfolgte ein dreifaches Ziel: Erstens sollten die katastrophalen Missstände in der stationären psychiatrischen Versorgung beseitigt werden; zweitens wurde eine Aufhebung der rechtlich-sozialen Benachteiligung von psychisch kranken Menschen gefordert; und drittens sollte sich die Psychiatrie von dem vorwiegend „verwahrenden“ Charakter hin zu einer therapeutischen und rehabilitativen Psychiatrie entwickeln (Kersting 2001, 45, Peters o. J., 433–434). In dieser Zeit entstand auch die berühmte Bewegung der Antipsychiatrie, die offensiv für die Auflösung psychiatrischer Anstalten plädierte.[2] Die bewegte Zeit der 1960er- und 1970er-Jahre gilt heute als wichtige „psychiatriegeschichtliche Zäsur“ (Kersting 2001). Dieser historische Einschnitt ist für das gegenwärtige kritische Selbstverständnis der Sozialpsychiatrie zentral.

Bis weit in das 20. Jahrhundert war die Psychiatrie in ihrer Ausrichtung medizinisch geprägt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die Psychiatrie unter dem Motto der „Zurücknahme der medizinischen Einseitigkeit“ (Dörner/ Plog 1996, 476[3]). Trotzdem wurde der medizinisch orientierte Ansatz im 20. Jahrhundert ungleich erfolgreicher, als er im 19. Jahrhundert gewesen war. Entscheidend für diesen Erfolg war die Entwicklung moderner Psychopharmaka in den 1950er- Jahren. Diese Zurücknahme eröffnete u. a. die Möglichkeit für Reformen, wie z. B. jene ab den 1960er- Jahren. Heute begreift man Sozialpsychiatrie als einen ganzheitlichen Ansatz, der sich v. a. aus drei Aspekten zusammensetzt:

„Erstens (ist Sozialpsychiatrie) eine theoretische und empirische Wissenschaft; zweitens eine politische Bewegung; und drittens eine bestimmte Form psychiatrische Versorgung zu praktizieren“[4] (Priebe/ Finzen 2002, 47).

2.1 Sozialpsychiatrie als wissenschaftliche Disziplin

Die Sozialpsychiatrie geht davon aus, dass psychische Erkrankungen in ihrer Verursachung und in ihrem Verlauf einer Vielzahl von Einflussfaktoren unterliegen und daher multifaktoriell zu erklären sind (Wancata u. a. 2007). Die theoretische Grundlage sozialpsychiatrischer Arbeit bildet daher ein ganzheitliches Bild vom Menschen, in dem ein Individuum als ein in die Geschichte und in die physische/ soziale/ gesellschaftliche Umwelt eingebettetes Wesen begriffen wird (siehe z. B. bio-psycho-soziales Modell nach Engel 1980; zusammenfassend Egger 2005; für das Krankheitsbild der Depression siehe Brakemeier u. a. 2008). Aufbauend auf dieses theoretische Gerüst versteht sich die Sozialpsychiatrie als eine wissenschaftliche Disziplin, die schwerpunktmäßig – neben anderen und spezielleren Fragestellungen – folgende Themenfelder bearbeitet:

  • Ursachenforschung: Diese untersucht den Einfluss von verschiedenen Faktoren auf die Verursachung, den Verlauf und die Manifestation psychischer Krankheit bzw. Gesundheit (v. a. mittels sozialwissenschaftlicher und psychologischer Forschungsmethoden[5]).

  • Epidemiologie: Diese „beschäftigt sich mit der Verteilung einer Krankheit in Zeit und Raum sowie mit Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen“ (Meller/ Fichter 2005, 49).

  • Versorgungsforschung/ Wirkungs- bzw. Outcomeforschung: Mit der Frage, wie und in welchem Umfang psychiatrische und psychosoziale Leistungen zur Verfügung gestellt werden sollen, beschäftigt sich die Versorgungsforschung. Die Outcome- bzw. Wirkungsforschung untersucht hingegen die Wirkung bzw. die Wirksamkeit von (sozial-) psychiatrischen Interventionen und Behandlungssettings.

  • Die Erforschung des sozialen Kontexts und der sozialen/ gesellschaftlichen Folgen psychischer Erkrankungen: Hierbei werden die Einstellungen von verschiedenen Gruppierungen, die Probleme psychisch erkrankter Menschen im täglichen Lebensvollzug, ihre sozialen und sozio-ökonomischen Lebensumstände und Stigmaerfahrungen bzw. -folgen untersucht.

Verschiedene Literaturübersichten (Borbé u. a. 2009, Holzinger/ Angermeyer 2002, 2003, Angermeyer/ Winkler 2001) zeigen, dass im deutschsprachigen Raum am meisten zu den Themen Versorgung, Therapie, subjektive Sichtweise der Betroffenen und Epidemiologie geforscht wird. Die Studien verdeutlichen, dass ein Mangel an „sozio- logisch-sozialpsychiatrischer Grundlagenforschung, die die (Mit ) Verursachung psychischer Erkrankungen durch soziale Faktoren untersucht“ (Borbé u. a. 2009, 11), besteht.

2.2 Sozialpsychiatrie in einem politisch-normativen Verständnis

Bereits seit den 1950er-Jahren versteht sich die Sozialpsychiatrie auch als eine politische Bewegung, die für die Rechte und gegen die Exklusion von psychisch erkrankten Menschen kämpft. Diese politisch-normative Ausrichtung wird auch durch zahlreiche theoretische bzw. normative Konzepte, die mittlerweile in der Sozialpsychiatrie weit verbreitet sind, unterstützt. Beispielhaft sollen an dieser Stelle drei dieser theoretisch- normativen Ansätze kurz dargestellt werden:

  • Empowerment: Ziel dieses Konzepts ist die Förderung einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einem Bürger- und Menschenrechtsverständnis, das v. a. Minderheiten zu mehr Unabhängigkeit, Mündigkeit, Selbstvertrauen und Selbständigkeit verhelfen soll (Lauber/ Rössler 2005).

  • Ausbau gemeindenaher/ ambulanter Versorgung: In den 1950er-Jahren fand in allen westlichen Industrienationen die Reformierung der psychiatrischen Versorgung statt (Priebe 2003, 49). Ziele dieser Reform waren u. a. die Schließung psychiatrischer Anstalten, die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen, gemeindenahe Versorgung etc.

  • Inklusion: Inklusion bezeichnet das Miteinbeziehen von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen in soziale Gebilde, Institutionen und gesellschaftliche Funktionsbereiche. Im Rahmen des politisch-normativen Standpunktes wird Inklusion als Forderung verstanden, die es zu erkämpfen gilt.

2.3 Sozialpsychiatrie als therapeutische und unterstützende Praxis

Ein drittes Betätigungsfeld der Sozialpsychiatrie stellt die Therapie (sozialtherapeutische Methoden, Soziotherapie), Rehabilitation und Prävention psychischer Erkrankungen und psychosozialer Probleme dar. Der Therapieansatz der Sozialpsychiatrie kann verallgemeinernd als ein Versuch der „Beeinflussung einer psychischen Krankheit durch situative Faktoren, die zusammengefasst das soziale Gefüge der Um- und Mitwelt bestimmen“ (Müller 1972, zit. in Eikelmann/ Zacharias 2005, 220), verstanden werden. Dabei kann entweder das soziale Umfeld selbst verändert werden oder aber die Interaktion des psychisch Kranken mit seinem Umfeld.

„Ziel dabei ist es, a) die soziale Situation so zu strukturieren, daß sie der Entfaltung und Stabilisierung des Betreffenden förderlich ist, oder b) das soziale Umfeld den Bedürfnissen des Betreffenden ggf. anzupassen“ (Eikelmann/ Zacharias 2005, 220).

D. h. im Gegensatz zur medizinisch-biologischen Psychiatrie, die mit ihren Interventionsmethoden direkt am Individuum ansetzt, versucht die Sozialpsychiatrie in ihrer täglichen Praxis v. a. das soziale Umfeld der Personen mit psychischen Erkrankungen zu beeinflussen. Mit Hilfe der weiter oben beschriebenen Outcomeforschung wird dieser Bereich mit wissenschaftlichen Methoden auf ihre Wirksamkeit intensiv untersucht.



[1] Illberg war der erste Psychiater, der den Ausdruck „soziale Psychiatrie“ verwendete; jedoch gab es bereits im 19. Jahrhundert einige wenige Psychiater, die extramurale Betreuungsmöglichkeiten forderten. Damals – wie heute – wird der Begriff „sozial“ unterschiedlich verwendet (Schmiedebach/ Priebe 2004, 451–452).

[2] Die Bewegung der Antipsychiatrie kann nicht mit der Sozialpsychiatrie gleichgesetzt werden. Finzen (1998c) schreibt hierzu: „Gemeinsam waren Sozialpsychiatrie und Antipsychiatrie die Kritik an der bestehenden Psychiatrie. Dennoch lag eine Welt zwischen ihnen. Die Antipsychiatrie wollte die Abschaffung, die Sozialpsychiatrie eine andere Psychiatrie“ (ebd., 44).

[3] Dörner und Plog bezeichnen den Begriff „Sozialpsychiatrie“ als überflüssig, da es ihrer Meinung nach hier nur um die Vervollkommnung der Psychiatrie in sozialer Hinsicht ginge (hierzu Dörner/ Plog 1996, 474).

[4] Englischer Originalwortlaut: „(F)irstly, (social psychiatry is) an area of theoretical and empirical science; secondly, a political movement; and, thirdly, a way to practise mental health care“ (Priebe/ Finzen 2002, 47).

[5] Die Annahme, dass Ursachen psychischer Erkrankungen Teil der soziologisch-sozialpsychiatrischen Forschung sein sollen, wird nicht von allen geteilt. So weist etwa Finzen (2009, 38) darauf hin, dass die sozialpsychiatrische Ursachenforschung bisher nicht die erhofften Erfolge erbracht hat. Sozialpsychiatrie und Soziologie sollten sich daher laut Finzen auf andere Fragestellungen konzentrieren (z. B. auf das Thema Stigma).

3. Das Verhältnis zwischen (Sozial-) Psychiatrie und Soziologie: eine Bestandsaufnahme

Das Verhältnis zwischen Soziologie und Psychiatrie ist von Skepsis und fehlender Zusammenarbeit geprägt. „Zwischen Psychiatrie und Soziologie herrscht Funkstille“[6] (Finzen 2009, 9). Der „kommunikative Stillstand“ ist u. a. in den konfligierenden Theorietraditionen von Psychiatrie und Soziologie begründet.[7] Im Folgenden werden drei Beispiele für soziologische bzw. der Soziologie nahe stehende Positionen skizziert, die die traditionelle Psychiatrie u. a. in ihrem Krankheitsverständnis und in ihrer therapeutischen Praxis kritisieren (für einen Überblick siehe auch Dellwing 2010).

Dabei wird neben dem „labeling approach“ auch auf Positionen der „kritischen Psychiatrie“ bzw. Antipsychiatrie-Bewegung eingegangen. Letztere werden zwar meist nicht als soziologische Analysen ausgewiesen; sie weisen jedoch in ihrem Kern eine soziologische Perspektive auf und werden daher in sozialwissenschaftlichen Publikationen noch häufig zitiert.

  • Eine bekannte soziologische Theorie, die auch in der Psychiatrie Anwendung fand, ist der sogenannte „labeling approach“. Dieser Ansatz fokussiert nicht auf die Ursachen psychischer Erkrankungen, sondern geht vielmehr davon aus, dass ein Handeln – in diesem Fall jenes, das durch psychische Probleme hervorgerufen wird – erst durch soziale Definitionsprozesse bzw. Etikettierungen (sog.labels“) als abweichend definiert wird, da es nicht einer sozialen Norm entspricht. Psychische Störungen werden im Rahmen dieser Theorie zumeist als Zuschreibungen begriffen (vgl. ausführlich Keupp 1972).

  • VertreterInnen der kritischen Psychiatrie behaupten oftmals, dass die Zuschreibung von psychischen Erkrankungen als Machtmittel missbraucht wird, v. a. um bestehende Strukturen und Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten. So postuliert etwa der kritische Psychiater Franco Basaglia, dass die Psychiatrie die bestehende Gesellschaft „vor der Verschiedenheit, welche die Geisteskrankheit immer noch darstellt, schützt und sichert“ (Basaglia 1974b, 13, Hervorhebung im Original). Gleichzeitig zieht Basaglia die (biologischen) Erklärungen der Medizin in Zweifel; denn in Wirklichkeit sind es die Gesellschaft und die Psychiatrie, die den „Verrückten“ glauben lassen, „daß jeder Akt der Auflehnung gegen die Wirklichkeit, in der zu leben er gezwungen ist, eine krankhafte Handlung sei, eben Ausdruck des Syndroms, an dem er leidet“ (Basaglia 1974a, 20). Es ist nicht der „kranke“ Mensch, der verändert und behandelt werden muss; es ist vielmehr ein „Kampf um eine Veränderung des diese Wissenschaft stützenden Systems erforderlich“ (Basaglia 1974b, 14).

  • Thomas Szasz (1975), der als ein Vertreter der Antipsychiatrie gilt, geht davon aus, dass es keine „Geisteskrankheiten“, sondern nur psychische Probleme gibt; denn „(g)enau genommen können Krankheiten nur den Körper affizieren; daher kann es keine Geisteskrankheit geben“ (ebd., 294). D. h. laut Szasz wurde der Krankheitsbegriff ungerechtfertigter Weise von der Medizin in die Psychiatrie übernommen. Bei den Begriffen „krank“, „neurotisch“ oder „schizophren“ handelt es sich um stigmatisierende Etikettierungen. Sie dienen dazu, die betroffenen Individuen zu unterdrücken und den Macht- und Geltungsbereich der Medizin und derer, die die Zuschreibung psychischer Krankheiten instrumentalisieren, auszudehnen. Szasz ist der Ansicht, dass „eine Unzahl von Vorkommnissen zu ‚Krankheiten“ umklassifiziert wurden. So gelangten wir dazu, Phobien, Geisteskrankheiten, Scheidung, Mord, Sucht usw. fast einschränkungslos als psychiatrische Krankheiten einzustufen. Das ist ein kolossaler und kostspieliger Irrtum“ (ebd., 57).

Betrachtet man die drei kurz skizzierten Positionen, wird deutlich, dass der Psychiatrie abgesprochen wird, psychische Erkrankungen erklären zu können. Zudem läuft die traditionelle Psychiatrie Gefahr, zu stark auf das einzelne Individuum zu fokussieren und dadurch den gesellschaftlichen Kontext für/ den Einfluss auf die Erklärung von Krankheiten und auch die Folgen dieser zu vernachlässigen.

Neben dem konfliktbehafteten Verhältnis zwischen Psychiatrie und Soziologie ist eine weitere Entwicklung zu beobachten: Die Soziologie selbst scheint sich immer mehr aus den Themenbereichen der Psychiatrie zurückzuziehen. Das liegt u. a. daran, dass die medizinisch-biologisch orientierte Psychiatrie in den letzten Jahren einige Erfolge erzielen konnte und dadurch soziologische Ansätze ins Hintertreffen geraten sind. V. a. die Erkenntnisse der Hirnforschung bestärken die Annahme, dass psychische Erkrankungen ein biologisches Korrelat aufweisen und sich daher nicht (nur) als soziale Objekte, kulturelle Rahmungen bzw. Interpretationen darstellen (Groenemeyer 2008).

Zwischen traditioneller Psychiatrie und Soziologie besteht somit ein schlechtes Verhältnis. Wie stellt sich aber die Beziehung zwischen Sozialpsychiatrie und Soziologie dar? Man könnte vermuten, dass sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Disziplinen als besser erweist, zumal die Soziologie als „Mutterdisziplin“ der Sozialpsychiatrie gilt. Aber auch hier scheint „Funkstille“ zu herrschen. Während die Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Sozialpsychiatrie Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre noch einige Früchte trug, klang diese Kooperation in den letzten Jahrzehnten immer mehr ab[8] (Angermeyer u. a. 2004, 420–421). Zurzeit findet sozialpsychiatrische Forschung „weit gehend unter Ausschluss ihrer Mutterdisziplin, der Soziologie, statt. Dies gilt gleichermaßen für ihre theoretische Verankerung wie für die Einbeziehung von Vertretern dieser Disziplin in die Forschungspraxis. (…) Nach wie vor wird die Forschung in der Sozialpsychiatrie von Psychiatern und Psychologen dominiert“ (ebd., 421–422). Dieses Ergebnis findet in einer jüngeren Untersuchung Bestätigung (siehe Borbé u. a. 2009).



[6] Dies war aber nicht immer so. Groenemeyer (2008, 118) berichtet, dass es in den 1930er- und 1940er- Jahren und nochmals zu Beginn der 1980er-Jahre einen relativ intensiven Austausch zwischen Psychiatrie und Soziologie gab.

[7] Der Kern des Konflikts zwischen den beiden Theorietraditionen besteht in ihren unterschiedlichen Erklärungsansätzen: Die medizinisch orientierte Psychiatrie versucht psychische Störungen durch abweichende intrapsychische Prozesse zu erklären. Die Soziologie verortet die Ursachen für psychische Störungen in der Sozialität des Individuums; bzw. fasst sie abweichendes Verhalten als – zumindest zum Teil – gesellschaftlich bedingt oder sozial konstruiert auf.

[8] Finzen (1998b) vermutet für diese Entwicklung folgende Gründe: Die Sozialpsychiatrie definierte sich in den 1970er-Jahren als emanzipatorische und gesellschaftsverändernde Bewegung, die der Möglichkeit objektiver Forschung kritisch gegenüber stand. Außerdem wollte die sozialpsychiatrische Bewegung das Vorhaben, die Psychiatrie zu reformieren, nicht durch sozialwissenschaftliche Forschung gefährden. Denn soziologische Forschung könnte womöglich in den Konzepten der Sozialpsychiatrie Mängel finden bzw. zu Erkenntnissen führen, die mit der damaligen Gesinnung der Sozialpsychiatrie nicht in Einklang standen. Ob diese Vorbehalte auch heute noch Gründe für die mangelnde Kooperation zwischen Sozialpsychiatrie und Soziologie darstellen, sei dahingestellt, zumal die Sozialpsychiatrie mittlerweile sehr viel empirische Forschung betreibt.

4. Pierre Bourdieu als Bindeglied zwischen (Sozial-) Psychiatrie und Soziologie

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es in der Zusammenarbeit zwischen Sozialpsychiatrie und Soziologie nicht nur an empirischen Forschungsprojekten, sondern auch an der Entwicklung von theoretischen Konzeptionen fehlt. Die Theorie Pierre Bourdieus könnte – so die zentrale These dieses Artikels – ein zentrales Bindeglied zwischen (Sozial-) Psychiatrie und Soziologie darstellen. Diese Annahme wird von der Hoffnung getragen, dass mit Hilfe einzelner theoretischer Überlegungen Bourdieus eine Perspektive entwickelt werden kann, die

  • an die medizinisch-biologisch orientierte Psychiatrie anschlussfähig ist;

  • trotzdem ein gewisses Maß an kritischem Potenzial aufweist;

  • theoretische Überlegungen für sozialpsychiatrische Fragestellungen offeriert.

4.1 Die theoretische Anschlussfähigkeit der Soziologie Bourdieus an die medizinisch-biologisch orientierte Psychiatrie

Pierre Bourdieu bietet eine theoretische Konzeption, die mit medizinischen bzw. biologischen Modellen verbunden werden kann. Denn Bourdieu geht von der sehr grundlegenden Annahme aus, dass der (biologische) Organismus als Angriffspunkt für gesellschaftliche Formungsprozesse betrachtet werden kann. D. h. der Körper unterliegt gesellschaftlich bedingten Einflüssen. Er schreibt:

„Die Soziologie nimmt das Biologische und das Psychologische als Gegebenheiten. Und dann versucht sie zu ermitteln, wie die soziale Welt sie benutzt, sie verändert, sie verwandelt“ (Bourdieu 1993b, 29).

Der Mensch ist somit in den Augen Bourdieus nicht ein soziales oder biologisches (bzw. psychologisches) Wesen, sondern beides.[9] Diese Annahme stellt auch die Grundlage für das bereits erwähnte bio-psycho-soziale Krankheits- bzw. Gesundheitsmodell dar, das davon ausgeht, dass (zumindest die meisten) psychischen Erkrankungen – in ihren Ursachen und Folgen – sowohl durch biologische, psychologische als auch soziale Faktoren erklärt und beschrieben werden müssen.[10] Diese Annahme erfährt auch durch biologische Forschungsergebnisse zunehmende Bestätigung. So ist in der Genetik mittlerweile die Annahme verbreitet (jedoch nicht gesichert),

„dass die Vorstellung rekursiver monokausaler Einflüsse genetischer oder umweltbedingter Faktoren auf psychische Gesundheit und Krankheit zunehmend infrage gestellt werden muss […]. Stattdessen sprechen immer mehr Erkenntnisse dafür, dass psychische Erkrankungen das Ergebnis eines komplexen Systems nichtrekursiver Wechselwirkungen zwischen biologischen und nichtbiologischen Faktoren darstellen“ (Kilian 2008, 143).

D. h. für die Erklärung psychischer Erkrankungen ist ein integratives Modell notwendig, das Raum für sowohl biologische als auch soziologische Erkenntnisse lassen muss; bzw. bestünde die Möglichkeit, die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen zu einem integrativen Modell zusammenzuführen. Um die vermuteten komplexen Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Organismus und Genen zu entschlüsseln, erscheint außerdem ein interdisziplinärer Forschungsansatz notwendig zu sein (diese Forderung erheben auch Wancata/ Meise 2010, Kilian 2008). Auf der Seite der Soziologie ist es das theoretische Modell Bourdieus, das durch seine Anschlussfähigkeit an biologische Erkenntnisse ein solches Modell ermöglichen könnte (für eine ausführliche Darstellung der Komplementarität von Soziologie und Neurowissenschaften siehe z. B. Gruber 2010).

4.2 Das kritische Potenzial der Soziologie Bourdieus

Die Sozialpsychiatrie beinhaltet eine normativ-politische Komponente, da sie sich immer wieder für die Anliegen von Menschen mit psychischen Problemen einsetzt, z. B. ihre gesellschaftliche Teilhabe und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung einfordert. Bisher waren es u. a. die theoretischen Überlegungen der Antipsychiatrie, die als Bezugs- und Ausgangspunkt für die kritische Haltung der Sozialpsychiatrie dienten; zumal die Bewegung der Antipsychiatrie immer wieder auf soziale Missstände, auf die Gefahr der politischen Instrumentalisierung und auf die Folgen der Etikettierung bzw. Stigmatisierung hinwies (vgl. weiter oben).

Die im Vorfeld geforderte Anschlussfähigkeit an die medizinisch-biologische Forschung bedeutet jedoch nicht, dass das kritische Potenzial der Sozialpsychiatrie aufgegeben werden muss. Denn eine Kritik an (bestehenden) gesellschaftlichen Verhältnissen muss nicht zwingend in einer Ablehnung naturwissenschaftlich orientierter Forschung begründet sein. Das kritische Potenzial ist vielmehr eine Konsequenz des durch die Aufklärung geprägten gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das die Gleichberechtigung von Menschen mit psychischen Problemen notwendig macht.

Um das kritische Potenzial der Sozialpsychiatrie zu wahren, erscheint die Bezugnahme auf Überlegungen Bourdieus hilfreich. Denn Bourdieu vermittelt uns nicht das Bild von einer Wissenschaft, die Wissen zu ihrem bloßen Selbstzweck generiert. Wissenschaft und politische Stellungnahme schließen einander nicht aus.[11] So schreibt Bourdieu über sich selbst bzw. über das Festhalten an der Wertneutralität in den Wissenschaften: Es handelt sich hierbei um ein Prinzip, das

„ich zwar durchaus nachvollziehen kann, dem ich mich selbst lange Zeit untergeordnet habe, das mir aber heute als Weltflucht im Namen der Wertfreiheit erscheint, als Versuchung, politischen Fragen ganz gezielt aus dem Weg zu gehen – und damit auf die einfachste Art die Anerkennung einer Wissenschaft zu erlangen, die sich vor allem um äußerliche Merkmale ihrer Geltung bemüht“ (Bourdieu 1998, 7).

4.3 Theoretische Verknüpfungen der Soziologie Bourdieus mit der Sozialpsychiatrie

Nach der Darlegung der eher grundsätzlichen Anschlussfähigkeit Bourdieus an die (Sozial-) Psychiatrie soll in weiterer Folge die Nützlichkeit des theoretischen Begriffsinventars Bourdieus („theoretischer Werkzeugkasten“) für die Sozialpsychiatrie dargestellt und diskutiert werden. Dazu gehen wir zunächst auf den Forschungsbereich der sozialen Ungleichheit[12] und seine Thematisierung in der Sozialpsychiatrie ein.

4.3.1 Soziale Ungleichheit in der Sozialpsychiatrie

Wie ausführlich geschildert, interessiert sich die Sozialpsychiatrie für ein ganzes Bündel von Fragestellungen; u. a. für die soziale und sozio-ökonomische Situation von Menschen mit psychischen Problemen. Dabei ist anzumerken, dass einerseits psychische Erkrankungen zur Verschlechterung der sozialen Situation und zum sozialen Abstieg führen können (These der sozialen Selektion oder „Driftthese“[13]). Andererseits kann die soziale Situation (ein) Auslöser bzw. ein Einflussfaktor für psychische Gesundheit bzw. Probleme sein (These der sozialen Verursachung).[14] Der zuletzt genannte Zusammenhang wurde in zahlreichen Studien bestätigt (vgl. zusammenfassend für allgemeine Gesundheit Patera 2011, für eine aktuelle Studie über Deutschland siehe Mauz/ Jacobi 2008; für Europa siehe Freyers et al. 2005; für eine Metaanalyse des Zusammenhangs zwischen sozio-ökonomischem Status und dem Ausmaß von Depression siehe Lorant et al. 2003), wobei sich gesundheitliche Ungleichheit durch alle Schichten einer Gesellschaft zieht. Schichtspezifische Effekte sind u. a. bei den Krankheitsbildern Schizophrenie, Depression, Angststörung und Suchterkrankung festzustellen.

Für den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Position (bzw. sozio-ökonomischem Status) und dem Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, können im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung verschiedene Erklärungsstrategien ausgemacht werden, in denen verschiedene Wirkungszusammenhänge zwischen einzelnen Umweltfaktoren und der Prävalenz psychischer Erkrankung betrachtet bzw. betont werden (vgl. zusammenfassend Möller-Leimkühler 1999, ausführlich Siegrist 2005, Kap. 2).

  • Soziale Position/ sozialer Status und das Ausmaß umweltbezogener Stressoren: Dieser Ansatz geht davon aus, dass je nach gesellschaftlicher Position einer Person (sowohl in ihrer vertikalen als auch horizontalen Dimension) die Anzahl und die Stärke psychosozialer Stressoren variieren. So sind Personen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status im Gegensatz zu gut situierten Personengruppen mehreren Risikofaktoren bzw. psychosozialen Stressoren ausgesetzt. Meist wird im Rahmen dieser Forschung zwischen verschiedenen Typen von Stressoren unterschieden: Einerseits spricht man von einzelnen kritischen Lebensereignissen (life-change-events) und andererseits von chronischen Belastungen (environmental demands). Beispiele für den ersten Typus wären der Tod einer Bezugsperson, Scheidung oder Umzug; als chronische Belastungen gelten beispielsweise schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit und unglückliche Paarbeziehung (vgl. zusammenfassend Schmidt- Traub/ Lex 2005, 22).

  • Soziale Position/ sozialer Status und personale Ressourcen/ Lebensstile/ Risikoverhalten: Ein zweiter, ergänzender Ansatz zur Erklärung schichtspezifisch variierender Erkrankungsrisiken setzt nicht bei den Belastungen, sondern beim Individuum, seinen Ressourcen, seinem Lebensstil und seinen Verhaltensdispositionen an. Angenommen wird, dass Ressourcen, die protektive Wirkung entfalten können („Protektivfaktoren“), ungleich verteilt sind. Zumeist wird zwischen personalen und sozialen Ressourcen unterschieden (z. B.Copingressourcen“ oder „Bewältigungsstrategien“). Auf individueller Ebene sind u. a. Motivations-, Wert- und Einstellungsvariablen, Bildung und materielle Ressourcen von Relevanz. Hier spielen auch (sozial-) psychologische Konstrukte, wie z. B. die Selbstwirksamkeit oder die Kontrollüberzeugung einer Person, eine wichtige Rolle (Siegrist 2005, 49– 55). Im Rahmen sozialer Ressourcen wird angenommen, dass es v. a. der Rückhalt und die Unterstützung in sozialen Netzwerken sind, die für die Fähigkeit zum Coping wichtig erscheinen. Unter bestimmten Bedingungen werden soziale Beziehungen auch als belastend wahrgenommen. Welche Merkmale und Mechanismen ein soziales Netzwerk aufweisen muss, dass es die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen beeinflusst, ist weitgehend ungeklärt (vgl. zusammenfassend Rüesch/ Neuenschwander 2004, Möller-Leimkühler 1999, 976). Allgemein ist festzuhalten, dass die geringere Ausstattung mit Copingressourcen unter Menschen mit geringem sozio-ökonomischem Status zu einem höheren Erkrankungsrisiko („Vulnerabilität“) führt.

Weiters wurde vielfach die Vermutung geäußert, dass sich die Zahl psychisch erkrankter Personen – z. B. im Bereich affektiver Störungen – in den letzten Jahren erhöht hat. Zurückgeführt wird dies auf die Zunahme von psychosozialen Stressoren v. a. in westlichen bzw. kapitalistischen Gesellschaften. Ehrenberg (2006) postuliert beispielsweise, dass die hohe Zahl von Depressionen mit einem gesellschaftlichen Wandel in den Industrieländern im Zusammenhang steht, nämlich mit dem Wandel von einer Disziplingesellschaft zu einer Gesellschaft, in der das autonome Individuum und die „persönliche Initiative“ bzw. das „Ideal der Selbstverwirklichung“ (ebd., 124) im Vordergrund steht. Dadurch verändert sich das Selbstbild (die Arbeit an sich selbst; „Identitätsarbeit“) und der Anspruch (und die Verpflichtung), sein Leben zu gestalten, nimmt zu. Dies geht mit einem erhöhten Risiko des Ausbrennens und Erschöpft-Seins einher und äußert sich durch ein vermehrtes Ausmaß von affektiven Störungen. Ebenso hat sich das „Risiko des Scheiterns“ (Keupp 2009, 132) erhöht. Wilkinson und Pikett (2009) zeigen mit ihrer Forschungsarbeit, dass der Anstieg von psychosozialen Stressoren zumindest zum Teil auf die Zunahme sozialer Ungleichheit zurückgeführt werden kann (z. B. aufgrund erhöhter Angst vor Statusverlust).

4.3.2 „Habitus“ und „Kapital“ als Grundbegriffe der Sozialpsychiatrie

In weiterer Folge sollen zentrale Begriffe der „theoretischen Werkzeugkiste“ Bourdieus mit Annahmen der Sozialpsychiatrie verglichen und verknüpft werden. Die gesamte theoretische Arbeit Bourdieus zu behandeln, würde die vorliegende Arbeit sprengen und ist daher nicht das Ziel dieses Beitrags. Es soll hier v. a. auf die Bourdieu’schen Begriffe „Habitus“ und „Kapital“ Bezug genommen werden.

Wie die bisherigen Ausführungen zur Sozialpsychiatrie zeigen, wird die Disposition zur Gesundheit und damit auch das Krankheitsrisiko nicht nur vom Individuum und seinen genetischen Anlagen, sondern auch von seiner Stellung in der Gesellschaft und von den sozialen Strukturen geprägt. Bereits hier deutet sich die fruchtbare Verknüpfung epidemiologischer bzw. sozialpsychiatrischer Forschung mit einigen theoretischen Überlegungen Bourdieus an. Bourdieu war es ein Anliegen, „die ‚Objektivität der sozialen Strukturen’ im Verhältnis zur ‚Subjektivität der mentalen Strukturen’ zu untersuchen“ (Löw 2001, 180). D. h. Bourdieu versuchte sowohl das Handeln des Individuums als auch die eine Handlung prägende Struktur in seinen Ansatz zu integrieren (vgl. zusammenfassend Müller 2002). Ein zentrales Element stellt der Habitus-Begriff dar. Der Habitus ist „ein durch Sozialisation erworbenes, größtenteils unbewusstes System von Dispositionen bzw. von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die auf bestimmte Ziele hin ausgerichtet sind und das individuelle und kollektive Handeln strukturieren“ (Koller 2002, 185). Der Habitus entsteht durch die Verinnerlichung von objektiven, externen Strukturen als Ergebnis eines längerfristigen Prozesses der Sozialisation, der bei AkteurInnen einer gemeinsamen gesellschaftlichen Klasse vergleichbare Resultate hervorruft. Somit wird der Habitus zur Vermittlungsinstanz zwischen objektiven Strukturen und subjektiver Handlungspraxis von Gruppen und Individuen (Bourdieu 1987, 277–279, Koller 2002, 185).

Der Habitus-Begriff stellt eine hilfreiche Konstruktion für die Sozialpsychiatrie dar. Denn es kann angenommen werden, dass es u. a. die vom Habitus angesprochenen vor- bzw. unbewussten Handlungstendenzen, Deutungs- und Verhaltensmuster sind, die zum erhöhten Erkrankungsrisiko von Menschen mit geringem sozio-ökonomischen Status beitragen.[15] So weist etwa Hartmann (2010, 54–55) darauf hin, dass gesellschaftlich benachteiligte Menschen ein geringeres Gesundheitsbewusstsein oder auch weniger ausgeprägte Coping-Strategien (im Umgang mit psychosozialen Stressoren) aufweisen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dies nicht allen AkteurInnen bewusst ist. Eben diese risikoerhöhenden Dispositionen sind im Zuge der Sozialisation erlernt worden und treten in sozioökonomisch schlechter gestellten Milieus und Schichten gehäuft auf.

Es ist anzunehmen, dass es strukturelle Gegebenheiten in diesen Milieus sind, die diese habituellen Tendenzen eines Individuums beeinflussen, z. B. die geringere Chance auf Bildung oder die geringe Anzahl von gesundheitsbewussten Vorbildern, die den Heranwachsenden als Verhaltensmodelle dienen könnten. Der Habitus verdeutlicht damit den Zusammenhang zwischen sozialstrukturellen Gegebenheiten und individuellen Dispositionen und stellt somit ein Element im Modell der multifaktoriellen Erklärung psychischer Erkrankungen dar.

Ein weit verbreitetes sozialpsychiatrisches Konzept ist die Theorie des Kohärenzgefühls (sense of coherence) von Antonovsky (1997), das davon ausgeht, dass Menschen ein geringeres Erkrankungsrisiko aufweisen, wenn sie im Laufe ihrer Sozialisation ein grundlegendes Gefühl dafür entwickelt haben, dass Herausforderungen verstehbar (comprehensible), beherrschbar (manageable) und bedeutungsvoll (meaningful) sind. Es ist anzunehmen, dass es eben diese subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsstrukturen sind, die in ihrer Ausprägung schicht- bzw. milieuspezifisch variieren. Eine schwache Ausprägung des sense of coherence ist nicht nur durch die Erziehung bereits schlecht gestellter Elternteile bedingt, sondern Produkt vieler Einflüsse, die in Fleisch und Blut übergehen und – analog zur These der Einverleibung von Bourdieu – den Habitus bilden. So postuliert Antonovsky (1997), „daß für zu viele Menschen (…) das Fehlen substantiver Komplexität der Arbeit, das ihre Potentiale nicht berücksichtigt, zur zunehmenden Lähmung ihres Erlebens von Handhabbarkeit führt“ (ebd., 110).

Ein zentrales Element des Forschungsinteresses Bourdieus bestand in der Frage, warum sich Verhaltensdispositionen sowie deren gesellschaftliche Bedingungen kaum oder gar nicht verändern (Guerrini 2011, 30). Auch hier spielt der Habitus eine zentrale Rolle. Dieses Konzept verdeutlicht den Prozess, wie das Risiko psychischer Erkrankungen durch die Sozialisation und durch ähnliche Lebensbedingungen an die nächste Generation „weitergegeben“ wird. Es sind eben die milieubedingte Sozialisation und die umweltbezogenen Stressoren, die zu einer ähnlichen Ausprägung des Habitus und des Erkrankungsrisikos führen.

Ein weiterer zentraler Begriff Bourdieus, der auch für die Sozialpsychiatrie fruchtbar erscheint, ist der des Kapitals. Kapital ist nach Bourdieu eine „soziale Energie“, die den „Einzelnen und Gruppen unterschiedliche Möglichkeiten des Handelns“ (Fuchs- Heinritz/ König 2005, 157) eröffnen. Diese unterteilt er u. a. in ein ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital. Ersteres umfasst die materielle Ausstattung, zweiteres die sozialen Beziehungen und letzteres v. a. die Bildung eines Individuums (z. B. die Schulbildung, aber auch die vom Elternhaus vermittelten Einstellungen, Wissens- beständen, Fähigkeiten und Fertigkeiten). Hier muss Bourdieus Begriff des Sozialraums erwähnt werden, der einen großen Beitrag für die Analyse der sozialen Situation und der Probleme bzw. Problemlösungsstrategien im alltäglichen Lebensvollzug von psychisch erkrankten Menschen bietet. Dieser wird derzeit vielfach in der Sozialarbeit diskutiert (hierzu Früchtel u. a. 2006, Früchtel u. a. 2010, Kessl/ Reutlinger 2010, Böhm 2010). Der Sozialraum fungiert als Abstraktion einer Gesellschaft, indem jedes Individuum, jede Gruppe und deren Verbindung zur Ordnung der Gesellschaft in Relation gesetzt wird. Das Spannungsfeld aus Positionen und Dispositionen (Geneigtheiten) bestimmt und grenzt die sozialen Felder voneinander ab. In ihnen wird um gesellschaftliche Rangplätze gekämpft (Bourdieu 1989, 358–359) und Macht wird im Raum in Form der verschiedensten Kapitalsorten verliehen (Bourdieu 1993a, 120). Die Verfügung über Kapital erlaubt es den AkteurInnen, sich an Personen mit bestimmten gesellschaftsrelevanten Eigenschaften zu nähern und andere unerwünschte Personen auf Distanz zu halten. Für Kapitallose heißt das, dass sie im Hinblick auf gesellschaftlich begehrte Güter (physisch oder symbolisch) auf Abstand gehalten werden (Bourdieu 1993a, 121).

Der Ausdruck „Kapital“ könnte als Leitbegriff dienen, um die Notwendigkeit der Stärkung der Person und ihrer Widerstandsfähigkeit zu verdeutlichen. Im Rahmen dieser Interpretation des Kapitalbegriffs ergeben sich Ähnlichkeiten mit dem Ansatz der Resilienz, der in der Sozialpsychiatrie weit verbreitet ist. Unter „Resilienz“ wird die Fähigkeit eines Individuums verstanden, „erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und negativen Stressfolgen“ (Wustmann 2004, 18) umgehen zu können. Neben biologischen und psychologischen Faktoren können die drei Kapitalsorten Bourdieus als „resilienzstärkende“ Faktoren angesehen werden.[16] In der sozialpsychiatrischen Arbeit kann man daher das Konzept des Kapitals nutzbar machen, indem man davon ausgeht, dass sie den Menschen mit psychischen Problemen bzw. Erkrankungen Unterstützung anbietet und sozusagen Kapital vermittelt (vgl. auch Pantucek 2008). Dies kann durch die Integration des Betroffenen/ der Betroffenen in den Arbeitsmarkt, durch die Unterstützung beim Aufbau von sozialen Beziehungen und durch die Vermittlung von Bildung geschehen. Der Kapitalbegriff lässt sich auch mit der emanzipatorischen Ausrichtung der Sozialpsychiatrie (z. B. mit dem Konzept des Empowerment) verknüpfen. Denn der/ die Betroffene soll sich durch die Erlangung von Kapital selbst ermächtigen und handlungsfähig werden bzw. bleiben.[17]



[9] Es sei darauf hingewiesen, dass Bourdieu im Rahmen seiner theoretischen Konzeption jedoch dem Sozialen ein Primat einräumt (vgl. zusammenfassend Moldenhauer 2010, 18–20).

[10] Hinterhuber und Meise (2008) weisen darauf hin, dass das bio-psycho-soziale Modell eine weitere und zwar die kulturelle Dimension vernachlässigt. Daher erscheint auch dieses Konzept nicht vollständig zu sein.

[11] Mit der Aussage „Soziologie ist ein Kampfsport“ beschrieb Bourdieu sein Selbstverständnis als Wissenschafter. Dies zeigte sich in seinem Engagement für gesellschaftlich benachteiligte Gruppen und in seiner Kritik des wirtschaftlichen Neoliberalismus (siehe z. B. Bourdieu 2009).

[12] In der sozialwissenschaftlichen Diskussion kann die soziale Ungleichheit anhand einer horizontalen (Alter, Geschlecht, Behinderung, soziale Herkunft und Ethnie ziehen sich quer durch alle Gesellschafts- schichten) und vertikalen Ungleichheit (Bildung, Beruf, Einkommen und Vermögen) dargestellt werden. Die horizontalen wirken sich auf die vertikalen Ungleichheiten aus. Für die Teilhabe an der Gesellschaft ist die Aneignung verschiedener Kapitalsorten entscheidend (Maschke 2007, 299).

[13] Die Driftthese bezeichnet den Zusammenhang, dass Krankheit das Risiko eines sozialen Abstiegs erhöht; d. h. der bzw. die Betroffene „driftet“ in dem Vorhaben ab, die gesellschaftliche Position zu erhalten bzw. zu verbessern.

[14] Es ist anzunehmen, dass beide Hypothesen – d. h. sowohl die Theorie der sozialen Selektion als auch die Verursachungsthese – in der Erklärung des Zusammenhangs zwischen den Variablen „soziale Position“ und „psychische Erkrankung“ eine Rolle spielen (Müller-Leimkühler 1999, Hradil 2009, 41). Welcher Faktor mehr wiegt, ist schwer zu beantworten, zumal die beiden Komponenten nicht isoliert voneinander betrachtet werden können (Hradil 2009).

[15] Es sei darauf hingewiesen, dass es natürlich auch der Gesundheit abträgliche Dispositionen gibt, die den AkteurInnen bewusst sind (z. B. Konsum von Drogen oder Alkohol). Außerdem bleibt vielen Menschen oftmals keine Wahl, trotz besserem Wissen bestimmte Handlungen zu vollziehen bzw. sich bestimmten Risiken auszusetzen (z. B. arbeiten viele Menschen mangels Alternativen in psychisch belastenden Berufen).

[16] Der Resilienzbegriff wird in diesem Zusammenhang sehr weit gefasst, da auch Umweltfaktoren („Schutzfaktoren“) wie soziale Beziehungen in diesem Konzept Eingang finden. Engere Definitionen von „Resilienz“ betonen eher personale Ressourcen, wie Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Problemlösungsfähigkeit, soziale Kompetenz etc. (siehe z. B. Wustmann 2004).

[17] Ein zentrales Hindernis für den Aufbau von Kapital für Menschen mit psychischen Störungen ist das Stigma durch die „Normalbevölkerung“. Denn Schemata der „gesunden“ Menschen bzw. der institutionalisierten Bezugsgruppen beeinflussen maßgeblich das Leben der Betroffenen.

5. Resümee und Ausblick

Zwischen Sozialpsychiatrie und ihren thematisch „benachbarten“ Disziplinen herrscht „Funkstille“. Das Verhältnis zur Soziologie ist nicht von gegenseitigem Austausch geprägt. Auch in der Beziehung zur medizinisch-biologisch orientierten Psychiatrie fehlt es an Kooperation. Vielmehr wird heute die traditionelle psychiatrische Forschung als Gefährdung wahrgenommen, zumal auch um finanzielle Mittel konkurriert werden muss. Wie in diesem Beitrag gezeigt wurde, erscheint die theoretische Konzeption Pierre Bourdieus für eine Verbesserung der „angeschlagenen Beziehungen“ zu thematisch verwandten Disziplinen und Forschungsfeldern hilfreich zu sein. Zum einen erlauben die Überlegungen Bourdieus Anknüpfungspunkte für sozialpsychiatrisch relevante Fragestellungen, die auch zentral für die Soziologie erscheinen. Zum anderen lässt die Konzeption Bourdieus Raum für biologische bzw. psychologische Forschungsfelder. Die sozialpsychiatrische Forschung bleibt dadurch für naturwissenschaftliche Forschung anschlussfähig, jedoch ohne ihr kritisches Potenzial zu verlieren. Die Theorie Bourdieus kann somit in die Grundannahmen der Sozialpsychiatrie und des bio-psycho-sozialen Modells der Gesundheit bzw. Krankheit integriert werden.

Der vorliegende Beitrag kann somit als Versuch bzw. Anregung angesehen werden, soziologische Ansätze in der Sozialpsychiatrie vermehrt zu berücksichtigen, und zwar als integralen Bestandteil der Forschung. Die theoretischen Überlegungen Bourdieus können hierfür als Grundlage dienen. Für sozialpsychiatrische Theoriebildung erscheinen v. a. die Begriffe „Habitus“ und „Kapital“ zentral. Einerseits sind diese Konstrukte für Konzepte der Sozialpsychiatrie anschlussfähig. Andererseits eröffnen sie die Möglichkeit, primär soziologische Fragestellungen in der Sozialpsychiatrie zu forcieren und anzuregen. So ergeben sich im Anschluss an die hier dargestellten Überlegungen u. a. folgende Fragen, die empirisch untersucht werden müssten: Welchen Einfluss üben die einzelnen Kapitalsorten auf die individuellen Copingstrategien aus? Wie können Betroffene – d. h. psychisch erkrankte Menschen – Kapitalsorten in Resilienz „umwandeln“? Wie wirken sich Statusinkonsistenzen, die immer mehr um sich greifen (z. B. gibt es immer mehr gut ausgebildete Menschen, die jedoch ein geringes ökonomisches Kapital aufweisen), auf individuelle Coping-Strategien aus? Sind sich Betroffene bzw. gefährdete Menschen ihres Lebensstils bewusst? Wenn ja, in welchem Ausmaß? Und wie kann man ihren Habitus zum Objekt bewusster Reflexion machen? Welche alternativen Handlungsstrategien stehen Menschen mit einem geringen sozio-ökonomischen Status zur Vermeidung von Stressoren in unserer Gesellschaft zur Verfügung?

Literatur

Angermeyer, Matthias C. u. a. (2004) Sozialpsychiatrie ohne Soziologie? Ergebnisse einer Zeitschriftenanalyse. In: Psychiatrische Praxis, 31, Nr. 8, 420–424.

Angermeyer, Matthias C./ Winkler, Ines (2001) Wer, was, wie viel, wo? Eine Analyse der Publikationen deutscher Autoren zu sozial- psychiatrischen Themen in wissenschaftlichen Zeitschriften. In: Psychiatrische Praxis, Nr. 8, 368–375.

Antonovsky, Aaron (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Erweiterte deutsche Ausgabe. Tübingen.

Basaglia, Franco (1974a) Die Freiheit in der Gemeinschaft als Alternative zur institutionellen Regression. In: Basaglia, Franco (Hg.) Was ist Psychiatrie? Frankfurt a. M., 19–37.

Basaglia, Franco (1974b) Was ist Psychiatrie? In: Basaglia, Franco (Hg.) Was ist Psychiatrie? Frankfurt a. M., 7–19.

Böhm, Martin (2010) Behindert im sozialen Raum – Die Bedeutung des Modells des sozialen Raums von Pierre Bourdieu für die Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung. In: Behinderte Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, Nr. 2, 50–61.

Borbé, Raoul u. a. (2009) Sozialpsychiatrische Forschung – Entwicklung über die letzten 10 Jahre im Spiegel deutschsprachiger Zeitschriften. In: Psychiatrische Praxis, Nr. 8, 7–18.

Bourdieu, Pierre (1987) Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (1989) Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hg.) Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M., 354–377.

Bourdieu, Pierre (1993a) Ortseffekte. In: Bourdieu, Pierre u. a. (2010) Das Elend der Welt. Konstanz. 2. Auflage, 117–123.

Bourdieu, Pierre (1993b) Sozialer Sinn. Frankfurt a. M.

Bourdieu, Pierre (1998) Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz.

Bourdieu, Pierre (2009) Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens in der Gesellschaft. Stuttgart. 2., ergänzte Auflage.

Brakemeier, Eva-Lotte u. a. (2008) Ätiopathogenese der unipolaren Depression. Neurobiologische und psychosoziale Faktoren. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 51, Nr. 4, 379–391.

Dellwing, Michael (2010) „Wie wäre es, an psychische Krankheiten zu glauben?“: Wege zu einer neuen soziologischen Betrachtung psychischer Störungen. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Nr. 1, 40–58.

Dörner, Klaus/ Plog, Ursula (1996) Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Bonn.

Egger, Josef W. (2005) Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Grundzüge eines wissenschaftlich begründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit. In: Psychologische Medizin, Nr. 2, 3–12.

Ehrenberg, Alain (2006) Gesellschaftlicher Kontext. Die Depression, Schattenseite der Autonomie? In: Stoppe, Gabriela u. a. (HgInnen) Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven. Heidelberg, 123–137.

Eikelmann, Bernd/ Zacharias, Barbara (2005) Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Krankheiten. In: Möller, Hans-Jürgen u. a. (Hg.) Psychiatrie & Psychotherapie. Heidelberg. 2. Auflage, 208–224.

Engel, George L. (1980) The Clinical Application of the Biopsychosocial Model. In: American Journal of Psychiatry, Nr. 5, 535–544.

Finzen, Asmus (1998a) Das Pinelsche Pendel. Soziale und biologische Psychiatrie in den Wechselfällen der Geschichte. In: Finzen, Asmus (Hg.) Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Texte 1. Bonn, 10–40.

Finzen, Asmus (1998b) Versäumnisse. Sozial- psychiatrie zwischen Wissenschaft und Alltags- handeln. In: Finzen, Asmus (Hg.) Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie. Sozial- psychiatrische Texte 1. Bonn, 80–100.

Finzen, Asmus (1998c) Wie Feuer und Wasser. Sozialpsychiatrie und Antipsychiatrie. In: Finzen, Asmus (Hg.) Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Texte 1. Bonn, 40–60.

Finzen, Asmus (2009) Psychiatrie und Soziologie. Eine Einladung, verfügbar unter: http://www.asmus.finzen.ch/ Finzen/Veroffentlichungen_im_Netz_files/ Pschi+Soz.Asmus%20Finzen.pdf , 26. 10. 2011.

Fischer, Max (1919) Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene und allgemeinen Wohlfahrtspflege. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychiatrisch–gerichtliche Medizin, 529–548.

Freyers, Tom et al. (2005) The Distribution of the Common Mental Disorders: Social Inequalities in Europe. In: Clinical Practice and Epidemiology in Mental Health, Nr. 1, 14.

Früchtel, Frank u. a. (Hg.) (2006) Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden.

Früchtel, Frank u. a. (2010) Sozialer Raum und soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlage, Wiesbaden. 2. Auflage.

Fuchs-Heinritz, Werner/ König, Alexandra (2005). Pierre Bourdieu. Eine Einführung. Konstanz.

Groenemeyer, Axel (2008) Eine schwierige Beziehung – Psychische Störungen als Thema soziologischer Analysen. In: Soziale Probleme, Nr. 2, 113–136.

Gruber, Dominik (2010) Soziologie und Neurowissenschaft: über die Komplementarität zweier Beschreibungsebenen. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Nr. 4, 3–24.

Guerrini, Flavia (2011) Denkwerkzeug Habitus. Uneindeutige Geschlechtlichkeit und die Veränderung habitueller Dispositionen. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Nr. 3, 29–38.

Hartmann, Anja (2010) Wenn der Körper nicht mehr mitspielt: Gesundheit und Krankheit aus der Perspektive der soziologischen Inklusionsforschung. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Nr. 4, 45–61.

Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2011) Psychische Erkrankungen: Hohe Wachstumsdynamik in Österreich, verfügbar unter: http://www.hauptverband.at/portal27/portal/hvbportal/channel_content/cmsWindow?p_pubid=648931&action=2&p_menuid=58215&p_tabid=1, 28.11.2011.

Hinterhuber, Hartmann/ Meise, Ullrich (2008) Keine moderne Psychiatrie ohne Sozialpsychiatrie. In: Neuropsychiatrie, Nr. 3, 148–152.

Holzinger, Anita/ Angermeyer, Matthias C. (2002) Sozialpsychiatrische Forschung im deutschen Sprachraum. In: Psychiatrische Praxis, Nr. 8, 397–410.

Holzinger, Anita/ Angermeyer, Matthias C. (2003) Aktuelle Themen sozialpsychiatrischer Forschung im deutschen Sprachraum: Eine Inhaltsanalyse wissenschaftlicher Zeitschriften. In: Psychiatrische Praxis, Nr. 8, 424–437.

Hradil, Stefan (2009) Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil? In: Richter, Matthias/ Hurrelmann, Klaus (Hg.) Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden. 2. aktualisierte Auflage, 35–55.

Ilberg, Georg (1904) Soziale Psychiatrie. In: Monatsschrift für soziale Medizin. Band I, 312–398.

Kersting, Franz-Werner (2001) „1968“ als psychiatriegeschichtliche Zäsur. In: Wollschläger, Martin (Hg.) Sozialpsychiatrie. Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven. Tübingen, 43-56.

Kessl, Fabian/ Reutlinger, Christian (2010) Sozial- raum. Eine Einführung. Wiesbaden. 2., durch- gesehene Auflage.

Keupp, Heiner (1972) Psychische Störungen als abweichendes Verhalten. Zur Soziogenese psychischer Störungen. München u. a.

Keupp, Heiner (2009) Psychische Störungen und Psychotherapie in der spätmodernen Gesellschaft. In: Psychotherapeut, Nr. 2, 130–138.

Kilian, Reinhold (2008) Die Bedeutung der Soziologie psychischer Gesundheit und Krankheit im Zeitalter der biologischen Psychiatrie. In: Soziale Probleme, Nr. 2, 136–150.

Koller, Hans-Christoph (2002) Bildung und Migration. Bildungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Bourdieu und Cultural Studies. In: Friedrich, Werner/ Sanders, Olaf (Hg.) Bildung/ Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive. Bielefeld, 181–200.

Lauber, Christoph/ Rössler, Wulf (2005) Empowerment und Stigma. In: Gaebel, Wolfgang u. a. (Hg.) Stigma – Diskriminierung – Bewältigung. Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung psychisch Kranker. Stuttgart, 212–219.

Lorant, Vincent et al. (2003) Socioeconomic Inequalities in Depression: A Meta-Analysis. In: American Journal of Epidemiology, Nr. 2, 98–112.

Löw, Martina (2001) Raumsoziologie. Frankfurt a. M. Maschke, Michael (2007) Behinderung als

Ungleichheitsphänomen – Herausforderung an Forschung und politische Praxis. In: Wald- schmidt, Anne/ Schneider, Werner (HgInnen) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld, 299–320.

Mauz, Elvira/ Jacobi, Frank (2008) Psychische Störungen und soziale Ungleichheit im Geburtskohortenvergleich. In: Psychiatrische Praxis, Nr. 7, 343–352.

Meller, Ingeborg/ Fichter, Manfred M. (2005) Psychiatrische Epidemiologie. In: Möller, Hans- Jürgen u. a. (Hg.) Psychiatrie & Psychotherapie. Heidelberg. 2. Auflage, 49–68.

Moldenhauer, Benjamin (2010) Die Einverleibung der Gesellschaft. Der Körper in der Soziologie Pierre Bourdieus. Köln.

Möller-Leimkühler, Anne Maria (1999) Sozialer Status und Geschlecht. Zur Aktualität sozialer Ungleichheit bei psychiatrischen Erkrankungen. In: Der Nervenarzt, Nr. 11, 970–980.

Müller, Christian (1972) Psychotherapie und Soziotherapie der endogenen Psychosen. In: Kisker, Karl Peter u. a. (Hg.) Psychiatrie der Gegenwart. Band II/ 1. Berlin, 291–342.

Müller, Hans-Peter (2002) Die Einbettung des Handelns. Pierre Bourdieus Praxeologie. In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 2, 157–171.

Pantucek, Peter (2008) Soziales Kapital und Soziale Arbeit. In: Wissenschaftliches Journal Österreichischer Fachhochschul-Studiengänge Soziale Arbeit, Nr. 1, verfügbar unter: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/66/78.pdf, 26.8.2011.

Patera, Nikolaus (2011) Soziale Determinanten von Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit. In: Soziale Sicherheit, Nr. 1, 44–47.

Peters, Uwe Henrik (o. J.) Psychiatrie und medizinische Psychologie von A – Z. Weyarn.

Priebe, Stefan (2003) Zukunft psychiatrischer Versorgung – Träume und Albträume. In: Psychiatrische Praxis, Supplement 1, 48–53.

Priebe, Stefan/ Finzen, Asmus (2002) On the Different Connotations of Social Psychiatry. In: Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, Nr. 2, 47–49.

Rüesch, Peter/ Neuenschwander, Martin (2004) Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung. In: Rössler, Wulf (Hg.) Psychiatrische Rehabilitation. Berlin, 7–20.

Schmidt-Traub, Sigrun/ Lex, Tina-Patricia (2005) Angst und Depression. Kognitive Verhaltenstherapie bei Angststörungen und unipolarer Depression. Göttingen.

Schmiedebach, Heinz-Peter/ Priebe, Stefan (2004) Social Psychiatry in Germany in the Twentieth Century: Ideas and Models. In: Medical History, Nr. 4, 449–472.

Schott, Heinz/ Tölle, Rainer (2006) Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München.

Siegrist, Johannes (2005) Medizinische Soziologie. München. 6. Auflage.

Szasz, Thomas (1975) Geisteskrankheit – Ein moderner Mythos? Grundzüge einer Theorie des persönlichen Verhaltens. München.

Wancata, Johannes/ Meise, Ulrich (2010) Sozialpsychiatrie: Gegensatz zu biologischer Psychiatrie und Psychotherapie? In: Psychiatrische Praxis, Nr. 7, 317–318.

Wancata, Johannes u. a. (2007) Sozialpsychiatrie: essentieller Bestandteil der Psychiatrie. In: Psychiatrie und Psychotherapie, Nr. 2, 58–64.

Wilkinson, Richard/ Pickett, Kate (2009) Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin.

Wustmann, Corinna (2004) Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim.

Kontakt:

dominik.gruber@promenteaustria.at

martin.boehm@promenteaustria.at

Quelle

Dominik Gruber, Martin Böhm: Pierre Bourdieus Soziologie: Ein Wegweiser für die Sozialpsychiatrie? Erschienen in: Zeitschrift des Vereins für interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Studien und Analysen SWS-Rundschau (52.Jg.) Heft 1/ 2012: 19–37.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.01.2018

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation