Konzeptfragen im Bereich des § 35 a in Verbindung mit § 41 SGB VIII

Autor:in - Charlotte Köttgen
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-99 Gemeinsam leben (4/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Einleitung

Hilfen gem. § 41 i. V. m. § 35 a KJHG: Eingliederung seelischer Behinderung gem. § 35 a KJHG als Aufgabe der Jugendhilfe:

Die Jugendhilfe hat die Aufgabe, zur Integration seelisch behinderter oder von Behinderung bedrohter junger Menschen in die Gesellschaft beizutragen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz wendet sich bei den Hilfen zur Erziehung der §§ 27 ff. sonst an die Kinder und Jugendlichen oder die Erziehungspersonen. Nicht das Defizit oder die seelische Störung wollte das KJHG in den Mittelpunkt gerückt wissen, sondern die Verbesserung der Entwicklungs- und Lebensbedingungen. Das »Zuhause« ist Vorraussetzung für gezielte Hilfe, d. h. die komplexe Gestaltung einer günstig wirkenden Umwelt (Blumenberg[1]), unabhängig davon, ob der Hilfebedarf durch Entwicklungs-, Persönlichkeits-, Erziehungs- und/oder psychische Störungen erforderlich wird.

Durch die nachträgliche Einführung des § 35 a im KJHG wurden

  • die Feststellungen der individuellen Störung bzw. seelischen (drohenden) Behinderung,

  • die Abgrenzung von geistig/körperlichen und seelischen Behinderungen wieder nötig,

  • und es traten wieder die finanziellen, fachlichen und institutionellen Interessenkonflikte in den Vordergrund.

Mit der Eingliederung aller jungen Menschen in das Aufgabenfeld der Jugendhilfe stand der Integrationsgedanke im Mittelpunkt, der alle einbezog. Es sollten Kinder in erster Linie Kinder und nicht Behinderte sein, denn kein Mensch sollte und will auf den Status einer Behinderung festgelegt werden. Der § 35 a KJHG fällt aus dem Denken eines ganzheitlichen, am Leben orientierten Hilfeansatzes heraus, er entspricht - wie der § 39 BSHG - dem medizinischen Diagnosedenken, wie auch der Begriff »Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte« aus der Erwachsenenpsychiatrie und Rehabilitation stammt. Viele Fach-VertreterInnen haben deshalb die Streichung des § 35a KJHG und des Begriffes »seelische Behinderung« immer wieder gefordert (Lempp, 1994 und Saurbier, 1995[2]; Cobus-Schwertner, 1998 und Schmidt-Nieraese, 1998[3]).

Die Konkurrenzlage zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie hat sich seit dem Inkrafttreten des § 35 a KJHG bundesweit verschärft. Durch ihn werden nicht nur wieder diagnostische Zuschreibungen gefordert, vielmehr versuchen Träger, im medizinischen und Jugendhilfebereich durch therapeutische Spezialeinrichtungen Ressourcen zu erschließen.

Da die Jugendhilfe derzeit vermehrt Einsparungen hinnehmen muss, geht die Verteilung der Ressourcen an die Substanz der Betreuungsbedingungen.

Nach §§ 27 ff. KJHG, Hilfen zur Erziehung, können therapeutische in Verbindung mit pädagogischen Hilfen gewährt werden. Fachlich klare und präzise Abgrenzungen zwischen »Behinderungen«, die Erziehungsdefizite und/oder psychische Störungen definieren können, gibt es nicht. Nach den §§ 27 ff. (HzE) und 35 a KJHG können gleichermaßen therapeutische in Verbindung mit pädagogischen Hilfen bewilligt werden, allerdings besteht nur beim § 35 a KJHG ein individueller Rechtsanspruch, der einklagbar ist.



[1] BLUMENBERG, F.: Psychosoziale Versorgungsangebote von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie...; AFET Nr.4/1990.

[2] LEMPP, R.: Seelische Behinderung als Aufgabe der Jugendhilfe. § 35 a SGB VIII. Stuttgart: BOORBERG u. a., 1994. SAURBIER, H.: Plädoyer für eine eindeutige Zuständigkeitsregelung. In: Eingliederung seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher in die Jugendhilfe. Verein für Kommunalwissenschaften e. V. Berlin 1995.

[3] COBUS-SCHWERTNER, Inge: Behinderte Kinder sind in erster Linie Kinder. SCHMIDT-NIERAESE, Helga: Hilfe ganzheitlich gestalten. Beides in: KöTTGEN, Ch. (Hrsg.): Wenn alle Stricke reißen. Psychiatrie-Verl., Bonn 1998.

Hilfen für junge Volljährige

Der Gesetzgeber hat den veränderten Lebensbedingungen von Jungerwachsenen mit dem § 41 SGB VIII Rechnung getragen. »Im Mittelpunkt der Hilfe steht die Entwicklung von Handlungskompetenz und von Strategien zur Bewältigung einer autonomen Lebensführung.« (Wiesner, 1995)

Spezifische Formen der Hilfen für junge Volljährige hat die Praxis bisher im Hinblick auf die eingeschränkte Zuständigkeit der Jugendhilfe noch nicht entwickelt. Ab 18 Jahren müssen die Eltern nicht mehr zwangsläufig in den Hilfeprozess einbezogen werden. Wenn die Eltern wichtige Bezugspersonen bleiben, so verlieren die Hilfen doch den Charakter als familienunterstützende und -ergänzende Leistungen, da sie nicht mehr im Kontext der »elterlichen Erziehungsverantwortung« gewährt würden. (Wiesner et al., 1995)

Wörtlich heißt es: »Einem jungen Volljährigen soll Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden«, (§ 41 KJHG, Abs. 1). In Abs. 3 des § 41 heißt es: »Der junge Volljährige soll auch nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden.«

Es heißt nicht, der Jungerwachsene muss die Verselbständigungen erreicht haben, auch nicht, dass gesichert sein muss, dass er sie erreicht.

»Der Gesetzgeber trägt der Tatsache Rechnung, daß die individuelle Persönlichkeitsentwicklung von der abstrakt juristisch bestimmten Volljährigkeit abweicht und junge Menschen - insbesondere aufgrund verlängerter Schul- und Ausbildungszeiten - zunehmend später selbständig werden. Der Ablösungsprozeß ist häufig mit besonderen sozialen Schwierigkeiten verbunden, die im Einzelfall zu Straffälligkeit, Problemen mit Alkohol und Drogen oder Ausweichen in Trebe oder Leben auf der Straße, aber auch durch Angstzustände und Depression zum Ausdruck kommen können.« (Wiesner et al., 1995[4])



[4] WIESNER, R. u. a. (Hrsg.): SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. Beck, München 1995, S. 541 - 543.

Die Lebenssituation Jungerwachsener - soziale, sozioökonomische, soziokulturelle Lage von Jungerwachsenen in der Gesellschaft

Die Hilfen für junge Volljährige (gem. § 41 KJHG) waren eine Antwort der Jugendhilfe auf die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters, das früher bei 21 Jahren lag. Viele Jugendliche waren weder damals noch sind sie es heute ab 18. Lebensjahr in der Lage, die Voraussetzungen zu schaffen, um wirtschaftliche Unabhängigkeit, eine Ausbildung und die Gründung einer Familie anzuplanen. Die familiäre Armut und der dadurch entstehende Stress durch Perspektivlosigkeit haben weiter zugenommen.

Waren 1980 gerade einmal 4% der 18- bis 21-Jährigen von Sozialhilfe abhängig, so sind es 1997 12,6% (Bange, 1998[5]). So suchten beispielsweise 348 500 Jugendliche Ende April 1997 bei den Arbeitsämtern bundesweit eine Lehrstelle, während nur 162 500 freie Plätze registriert waren. Für mehr als 50 % der Jugendlichen gab es kein reguläres Arbeits- und Ausbildungsangebot.

45,3% aller 12- bis 24-jährigen Jugendlichen/Jungerwachsenen äußern die große Sorge, ob sie überhaupt eine Berufstätigkeit finden werden, gesellschaftliche Krisen sind heute Teil des Erwachsenwerdens, heißt es in der Shell-Studie. (12. Shell-Studie: Jugend 1997[6], 1997; Bittscheidt, 1998[7]). Jungerwachsene sind häufiger als die Generationen vor ihnen von finanzieller Unterstützung durch Eltern oder Staat angewiesen, ihre Chancen sind sowohl in beruflicher Hinsicht als auch im Hinblick auf kulturelle Teilhabe begrenzt, so dass der Weg in das Erwachsenenalter durch vielfältige widersprüchliche Bedingungen von einem Auf und Ab gekennzeichnet ist. Diese Unsicherheiten betreffen nicht mehr nur die sozialen Randgruppen, sondern breite Schichten, d. h. die Konkurrenz für jene, die im sozialen Abseits sind, wird noch härter.

Eine schlechte Schulbildung, Maßnahme-Karrieren, verschärfter Wettbewerb tragen zum - auch psychischen - Scheitern bei.

Die Jugendhilfe kann nur mit Unterstützung aller gesellschaftlichen Kräfte verbesserte Lebensbedingungen schaffen. In diesem Beitrag geht es schwerpunktmäßig um die Ursachen, das Verstehen, die Kooperation der Hilfen für die von seelischer Behinderung bedrohten jungerwachsenen Menschen und um deren Eingliederung.



[5] BANGE, Dirk (Amt für Jugend): Analyse des 2. Armutsberichtes der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Freien und Hansestadt Hamburg unter jugendhilfepolitischen Aspekten (1997) vom 30. 04. 98.

[6] 12. Shell-Studie: Jugend 1997. Leske + Budrich, Opladen: 1997 bzw. Artikel FR: "Die gesellschaftlichen Krisen sind heute Teil des Erwachsenwerdens" vom 04.06.1997.

[7] BITTSCHEIDT, D.: Repression statt Perspektiven - über die ordnungspolitische Zurichtung der Jugendhilfe.

In: KöTTGEN, C. (Hrsg.): Wenn alle Stricke reißen. Psychiatrie-Verl., Bonn 1998.

Die psychische und soziale Entwicklung: Verletzungen in der frühkindlichen Entwicklung

Bei Kindern und Jugendlichen, denen es in der frühen Lebensgeschichte an einem sicheren Lebensort, stabilen, schützenden und Sicherheiten vermittelnden Beziehungen durch Eltern oder andere nahe Bezugspersonen fehlte, kann es zu seelischen Wunden mit vollständiger, partieller und defekter »Narben«heilung kommen. Seelische Narbenbildungen können, wie bei körperlichen Verletzungen, zu unmittelbaren oder erst viel später sichtbaren Beeinträchtigungen führen. Ein fehlendes Bein z. B. wird immer spürbar ausgeglichen werden müssen, das wird nie jemand ernsthaft bezweifeln. Eine seelische Verletzung findet weniger selbstverständlich Akzeptanz und adäquate Beantwortungen. Das psychiatrische Diagnoseschema im ICD 10[8] folgt einem atheoretischen, multicausalen Ansatz, d. h. man geht heute von der »Vulnerabilität der Persönlichkeit« (also Verletzlichkeit) aus. Eine einheitliche Theorie über Ursachen und Wirkungen existiert nicht. Dafür gibt es viele Überzeugungen: Die einen glauben - nach wie vor - an die biologischen, andere an die psychosozialen Verursachungen, entprechend die einen an die Wirkung von Medikamenten oder die Heilung durch Beziehungsarbeit und bessere soziale Integration. In der Praxis wird die individuelle, bedarfsgerechte kombinierte Anwendung dieser verschiedenen Hilfen benötigt, eine Devise könnte lauten: Nicht Kindern und Jugendlichen abverlangen, dass sie sich den institutionellen Methoden anpassen, sondern die Institutionen veranlassen, dass sie ihre Methoden den jungen Menschen anpassen.

Traumatisierend können folgende schicksalhafte Lebensereignisse sein:

  • Verlassenheit, Tod, Trennungen,

  • Verlust der Heimat, Kriegserlebnisse, häufige unfreiwillige Ortswechsel.

Die Auswirkungen der seelischen Verletzungen in der frühkindlichen Entwicklung werden meistens erst später sichtbar. Die Entwicklung verläuft streckenweise unauffällig, wie auch bei schwersttraumatisierten Kindern nach Kriegs- und KZ-Erfahrungen beobachtet wurde.

Außerdem können folgende Belastungsfaktoren seelische Verletzungen mit auslösen und verursachen:

  • Chronische Überforderung durch Entwertungen, Zerstören des Selbstwertgefühls und des Urvertrauens, Overprotection und andere Formen der Autonomiebehinderung

  • Liebesentzug auch kombiniert mit Leistungsstreß,

  • sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt, seelisch/körperliche Übergriffe,

  • Deklassierung infolge kultureller und sozialer Einbrüche durch Migration, Krieg, Sucht, Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit, vielfältige Sonder- und Spezialmaßnahmen und Verlegungen mit wiederkehrenden ungewollten Beziehungsabbrüchen u. a.

Diese und andere Erlebnisse können zu Einschnitten in der frühkindlichen Entwicklung führen, auch und ganz besonders, wenn ein Kleinkind noch keine Sprache hatte, als die Traumatisierungen geschahen. Später können un- oder vorbewusste kindliche Angst- und Ohnmachtsgefühle wieder aufbrechen. Es kann zu einer Regression auf eine frühe Entwicklungsstufe kommen und diese kann sich in Symptomen, Verhaltensweisen, Reaktionen ausdrücken, die an kleinkindliche Reaktionen erinnern. Diese waren für Kleinkinder adäquat, für Jugendliche oder Jungerwachsene wirken sie unangemessen, dazu gehören:

trotzen, aggressive Ausbrüche, weglaufen, sich selbst schädigen, verletzen, sich prostituieren (z. B. nach sexuellem Missbrauch), innerlich erstarren vor Angst, vor Wut etc.

Die Beobachtungen des Verhaltens, zusammen mit Kenntnissen der biographischen und subjektiven Erinnerungen, können helfen zu verstehen, um auf Jugendliche in der Jugendhilfe angemessen zu reagieren.



[8] Internationales Klassifikationssystem psychischer Störungen (ICD-10). Huber, Bern 1991.

Beispiele für Verhaltensweisen früh verletzter Kinder und Jugendlicher:

- Selbstbeschädigung:

Kinder, die sich selbst verletzen, z. B. schneiden und körperlich misshandeln, haben in der Regel Erfahrungen mit körperlicher Gewalt. Sie reinszenieren mit diesen Aktionen ihre alten Erfahrungen. Mit scharfen Gegenständen wird z. B. die Haut aufgeritzt bis das Blut fließt, oft im Genitalbereich. Es ist nicht selten, dass sie hiermit demonstrieren, wie ihrem eigenen Körper Gewalt angetan wurde. Manchmal zeigen sie sogar, an welcher Stelle sie verletzt wurden. Sie haben keine Sprache entwickeln können für erlittene Verletzungen.

- Gewalt:

Kinder, die anderen Gewalt antun, haben erlebt, dass ihre eigene Schwäche nicht respektiert worden ist. Sie reagieren auf Schwächere mit Gewalt. Viele Eltern, die ihre Kinder misshandeln, sind ihrerseits als Kinder misshandelt worden. Viele Eltern wollen nicht schlagen, aber es passiert ihnen, es ist ihre mangelnde Kontrolle über selbst erlittene Verletzungen. Sie reagieren mit schlechtem Gewissen und mit neuen aggressiven Triebdurchbrüchen. Es kommt zu Rationalisierungen: »Mir hat das nicht geschadet. Weshalb sollte es meinem Kind schaden ...?«

- die Zerstörung von Beziehungen:

Kinder quälen und provozieren besonders die Bezugspersonen, die für sie die wichtigsten sind. Oft heißt das unbewusst für ein solches Kind: Ich mache dir die Angst und Verzweiflung, die ich erlebt habe, als ich mich verlassen fühlte ... Die Sorgen, die Du Dir machst, habe ich als Gefühl durchlitten ... Wenn Du Dir Sorgen machst, nimmst Du mich wenigstens wahr ... Dann weiß ich, dass ich lebe ...

Kinder und Jugendliche, die Verlassensein und Abbruch von Beziehungen häufig durchlebt haben, zerstören Beziehungen lieber selbst, um sich die erwartete Enttäuschung zu ersparen. So entstehen die heftigsten Krisen im Rahmen der Jugendhilfe dann, wenn ein Kind fürchtet, dass es abgeschoben wird. Suizidversuche, Drohungen, der Drogenmissbrauch und die Prostitution sind häufige Reaktionen auf das Gefühl, wieder verlassen zu werden. Dahinter steckt viel Energie, diese spiegelt die Dramatik der Verletzungen wider.

- Prostitution und Pädophilie:

Jugendliche und Kinder, die im Prostitutionsmilieu ihre Kontakte suchen, demonstrieren nahezu immer ein Symptom aus ihrer eigenen Geschichte. Sie haben Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch und Gewalt durch Väter, Brüder, nahe Bekannte und Fremde erlebt. Das Vertrauen zu den Bezugspersonen ist dadurch auf Dauer beschädigt. Sie hatten niemanden, der sie geschützt hat. Sie wurden zum Stillhalten gezwungen, erpresst durch vorgegebene Liebe, mit Geldgeschenken und - oft durch Drohungen - zum Schweigen gebracht. Sie sind auf einer unermüdlichen und vergeblichen Suche nach alternativen (schützenden) Eltern. Auf diesem Wege gelangen manche ins Prostitutionsmilieu, wo ihnen erneut der gleiche zerstörerische Mechanismus begegnet: Zuhälter/Freier gaukeln Zuwendung und Liebe vor, zwingen sie zum Stillhalten/Schweigen und bezahlen mit Geld. Den Wiederholungsmechanismus durchschauen die Kinder oft erst viel zu spät. Sie haben die Illusion, diesmal Macht über die Missbraucher zu haben und hoffen, dass sie entschädigt werden. Sie sind wieder nicht als Person geliebt und gemeint.

Als »Übersetzer« für komplizierte, innerseelische Vorgänge bleiben oft nur die Helfer vor Ort, Therapeuten finden sich selten, wenn massive soziale Problemlagen dazukommen.

Einige junge Menschen mit einer so belasteten Vorgeschichte sind auf Ersatzeltern und professionelle Bezugspersonen angewiesen, auch nach Erreichen des 18. Lebensjahres. Sie sollen oft eine Verselbständigung beweisen, die unter normalen Lebensbedingungen keinem jungen Menschen abverlangt wird, da sich die Ablösung und Trennung bis zur Verselbständigung als ein langer Prozess vollzieht. Durch die unklaren Perspektiven gibt es heute in Familien eher wieder mehr sogenannte »Nesthocker«.

Die Bewertung von Störungen unterscheidet sich nach sozialer Zugehörigkeit

Je nachdem, zu welcher sozialen Gruppierung jemand gehört und welche Auffälligkeiten er zeigt, wird das Verhalten eher als »psychische Störung« oder als »Erziehungsproblem« gedeutet. An den Folgen früher Verletzungen tragen viele Kinder und Jugendliche, die aus der Familie heraus müssen. Schon die Trennung von den Eltern ist ein schweres Trauma, dem andere vorausgegangen sind.

Die Diagnose »Borderline-Störung« dient als Legitimation, um aus der Jugendhilfe in eine andere Spezial-Institution abgeben zu können. Es heißt oft »Das ist ein Borderline-Fall, den können wir in der Jugendhilfe nicht mehr weiterbetreuen, der braucht spezielle Therapie«.

Während einige Jugendliche sich innerlich zurückziehen, suchen andere in Rebellion und in Peer-Gruppen Stärke und Familienersatz. Wenn die Verheißungen der Konsumgesellschaft für sie nicht erschwinglich sind, schaffen sie sich Ersatz: z. B. durch »Abziehen« anderer Jugendlicher, die Markenkleider tragen, Autos crashen. Sie setzen die selbst erlebte Gewalt auf diese und auf andere Weise fort. Ein Jugendlicher, der Grenzerfahrungen mit Sport oder dem Auto seines Vaters macht, wird seltener mit dem Gesetz in Konflikt geraten, als derjenige, der sich ein fremdes Auto stiehlt. Die Gefahr insgesamt, durch delinquentes Verhalten als kriminell eingestuft und bestraft zu werden, ist also für den Jugendlichen aus benachteiligten Familien größer, der Weg aus der Kriminalität, aber auch aus der Psychiatrie heraus, ungleich schwieriger (Hartmann, 1996[9]). Die Zerstörung der »Heiligtümer« der Gesellschaft hat symbolischen Charakter. Stigmatisierung, Ausgrenzung und Strafen setzen das ohnmächtige Agieren und Appellieren fort, oft bis zu dramatischen Eskalationen, wenn die Dynamik unberücksichtigt bleibt.

Die Ursachen für Rebellion zu verstehen heißt nicht, sie zu billigen, das wird zu oft verwechselt. Ohne gezielte Ursachenanalyse gibt es Antworten und Hilfsangebote, die nicht greifen können.

Die soziale Benachteiligung auszugleichen, auch Jungerwachsenen zu optimaler Autonomie zu verhelfen und ihnen bei der Bearbeitung seelischer und sozialer Konflikte behilflich zu sein, ist ein Auftrag der Jugendhilfe gem. § 1 ff. KJHG, der die Jugendhilfe verpflichtet, alle jungen Menschen zu fördern, unabhängig davon, ob sie behindert, arm oder ausländisch sind. Die Jugendhilfe soll helfen, soziale Problemlagen zu entschärfen, sie hat sie nicht verursacht. Die Schuldzuweisungen, die bei jedem dramatischen Einzelfall als Diskriminierung der gesamten Jugendhilfe und Jugend erfolgen, müssen vehement zurückgewiesen werden. Nehmen die sozialen Konflikte zu, kommt es regelmäßig zu mehr Forderungen nach Repression und Spezialeinrichtungen. Nicht die faktische Gewalt und die desolate Situation von Familien und Jugend durch Arbeitslosigkeit und Benachteiligung ist Thema in den Wahlkämpfen, sondern die angeblich immer »gewalttätigere und kriminelle Jugend« wird von Politikern und Medien schlagzeilenträchtig und panikmachend missbraucht. Nach den Wahlkämpfen haben sie diese Funktion erfüllt, plötzlich ist die Gewalt nicht mehr in dem Maße alarmierend.

Kinder aus benachteiligten Familien werden bei gleichen Delikten beispielsweise härter bestraft (Hartmann, 1996), dadurch stärker ausgegrenzt; elitäre therapeutische Einrichtungen dagegen suchen sich ihr Klientel aus[10].



[9] HARTMANN, S: Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafverfahren bei Ladendiebstahl. Sozialmagazin. 21. Jg., H. 2, S. 42 - 48

[10] KöTTGEN, C. (Hrsg): Wenn alle Stricke reißen. Psychiatrie-Verl., Bonn 1998.

Psychische Krisen treten bei Übernahme neuer Aufgaben und Rollenerwartungen auf

Typische Umbruchphasen sind:

  • der Beginn der Schule;

  • die Pubertät;

  • das Ende der Schulzeit, Ablösung von den Eltern;

  • der Beginn einer Partnerschaft, Ehe, Elternschaft;

  • Berufs-/Studien-/Arbeitsbeginn.

Während die einen durch Depressionen, Magersucht, Zwänge, Leistungsstörungen und Ängste den Konflikt anzeigen, neigen andere zu fremd- und selbstzerstörenden Verhaltensmustern, wie z.. B. Sucht, Drogen, Alkohol, ausagierenden, aggressiven Krisen, Prostitution, sich Schneiden, Suizid- oder Parasuizidhandlungen, Autorasen und/oder Vandalismus. Wann helfen Diagnosen zum besseren Verstehen, wann versperren sie den Blick für ganzheitliche Hilfekonzepte?

»Borderline-Störungen« nehmen in der Jugendhilfedebatte derzeit einen breiten Raum ein, oft dienen sie als Formel für unlösbare Konflikte.

Der Anfang der Weisheit ist es, niemals jemanden einen »Borderline-Patienten« zu nennen (Vaillant 1992[11]).

Die Mechanismen der Übertragung und Gegenübertragung und die Abwehrmechanismen früher Verletzungen (Vaillant u. a. 1992).



[11] VAILLANT, G. E.: The Beginning of Wisdom is Never Calling a Patient a Borderline. Journal of Psychotherapy practice and Research. 1992, Vol. 1.

Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen

Die Verzweiflung »früh verlassener Kinder« teilt sich dem Gegenüber mit. Das Gefühl der Verzweiflung wird auf den Therapeuten oder die Bezugsperson übertragen. Wut, Angst, Gefühle von Ohnmacht oder Vernichtung werden auf alle Menschen übertragen. Die Gegenübertragung ist dadurch charakterisiert, dass der Helfer/Therapeut die aufgenommene Angst zusammen mit dem Patienten wieder abwehrt, um sie nicht wahrnehmen zu müssen. Er agiert die Angstabwehr mit dem Patienten zusammen. Unverständnis führt zur Eskalation.

Beispiel: Ein Jugendlicher möchte nicht an seine frühen Verletzungen erinnert werden. Er möchte nie wieder so ausgeliefert sein, wie er es früher war. Er verleugnet seine Angst, indem er Gewalt gegen andere ausübt, um sich stark darzustellen. Gleichermaßen wird die eigene Angst und die Hilflosigkeit des Opfers gewaltsam bekämpft. Zwischen den Personen, die in Beziehung zueinander stehen, kommt es nun zu einer verwirrenden Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktion heftiger Gefühle, die häufig der Hintergrund von Suizidversuchen und Gewalthandlungen sind, aber auch von Sucht, Mager- bzw. Fresssucht, Medikamenten- und Drogensüchten.

Einige Reaktionen werden in der Psychoanalyse »Abwehrmechanismen« genannt, d. h. so werden schmerzliche Erinnerungen abgewehrt.

Manchmal ist Erinnerungslosigkeit oder Abwehr zum psychischen Überleben sinnvoll und notwendig. Sie bildet eine Art Schutz-Symptom, solange es an sicherem Schutz und Vertrauen fehlt.

Während »sicher gebundene« Menschen - die einen Verlust erleben - dennoch Vertrauen haben, weil sie verlässliche Bezugspersonen hatten und wissen, dass man einen Verlust überleben und überbrücken kann, sind sogenannte »unsicher gebundene« Menschen immer wieder bedroht, wenn eine neue Belastungssituation eintritt. Neue Gefühle des Bedrohtseins können Krisen, Symptome oder gar einen psychischen Zusam- menbruch auslösen. Erinnerungen aus der frühen Kindheit werden aktualisiert und gleichzeitig unkenntlich gemacht bzw. abgewehrt.

Vaillant warnt vor einigen Helfer-Reaktionen (die nicht nur bei Therapeuten, sondern auch in der Jugendhilfe vorkommen können):

1. Psychopharmakologische Medikation ist häufig überbeansprucht, um solche schwierigen Patienten zu managen. Diese Menschen suchen Pillen. Sie fordern und missbrauchen sie. Sie versuchen, sich mit ihnen umzubringen und sie bestrafen ihre Betreuer und Therapeuten, indem sie zu viele Pillen nehmen. Die Therapeuten versuchen oft ein Medikament nach dem anderen ohne irgendein erfolgreiches, überzeugendes Ergebnis. Manchmal ist es, als wenn man Roulette spielt. Das Schlimmste ist, dass das zu Drogenmissbrauch künstlich beiträgt.

Viel besser wäre es, den Patienten in eine Gruppe zu integrieren und wenn, sehr gezielt, Medikamente zu verordnen bzw. helfen, ohne Pillen auszukommen.

2. Eine zweite Gefahr besteht darin, dem Appell zu folgen, eine ideale Mutter zu sein, die diese Patienten suchen. Zitat: »Der Patient, der häufig bereits ein verängstigtes, aggressives und früh mißbrauchtes Kind war, ergreift allzu gerne den dargereichten Finger von einem engagierten Therapeuten und beißt ihn in die dargereichte Hand, die ihn füttern wollte.« Die Betreuer/Therapeuten finden dann ein solches Verhalten undankbar, beantworten es mit Ablehnung und finden, dass der Patient zuviel Aggressionen und einen negativen Narzissmus habe ... So wiederholen sich die Erfahrungen der früh verletzten Patienten: In der Hoffnung, eine gute Mutter zu finden, werden sie wieder und wieder auch durch unbewusstes eigenes Dazutun enttäuscht. Je mehr Klarheit und Stabilität zwischen Betreuer und Betreutem sich entwickelt, desto besser werden diese Mechanismen direkt aufzuklären sein und allmählich umgesteuert werden können.

3. Einfordern von Grenzen: Viele »persönlichkeitsgestörte Patienten« werfen »Steine an die Gefängnistüren, um die Grenzen, die sie haben möchten, endlich zu finden«. Sobald sie innerhalb eines solchen Gefängnisses oder aber einer restriktiven Psychiatrie sind, merken sie, dass es Gift war, weil die »ersehnte gute Mutter« auch innerhalb der Mauern nicht zu finden ist.

Anstatt Grenzen von oben vorzugeben, sollten Therapeuten/Betreuer die Unterstützung durch Peer-Gruppen fördern. Das können Gruppen für Fresssucht sein, es kann sogar die »Hells-Angels-Gang« für einen anderen sein u. a., sagt Vaillant. Wichtig ist eine soziale Unterstützung, die klar strukturiert ist. Eine solche Gruppenzugehörigkeit macht die Welt des Patienten sicherer und reduziert den Bedarf an schlecht angepassten, das Image zerstörenden Verteidigungsmechanismen.

Soziale Unterstützung trägt dazu bei, die Mechanismen der Selbstbestrafung abzubauen. Während Bestrafung als pädagogische oder therapeutische Maßnahme nutzlos ist, um die Störung zu beseitigen, sind Grenzen durch eine stabilisierende Umgebung, klare Beziehungsangebote und ein Durchbrechen des destruktiven Ausagierens manchmal lebensrettend.

4.Psychodynamische Psychotherapie: »Während neurotische Patienten sehr häufig dankbar sind und selbst Psychotherapeuten werden wollen, sind persönlichkeitsgestörte Patienten oft gekränkt, verärgert und beschämt durch Deutungen« ... (Vaillant) Die Interpretation führt dazu, dass der Patient den Therapeuten anklagt, herzlos, gefühllos und dumm zu sein. Jemandem während eines Erregungszustandes zu sagen, dass er gerade ausagiert, ist ungefähr so vernünftig wie der Versuch, den aufgepeitschten Ozean einzufangen. Im Gegensatz dazu sind empathisches Spiegeln und, was Vaillant »Making contact« (ich-stützende Hilfen) nennt, sinnvoll und erlauben dem Patienten, von unreifen zu mehr neurotischen Abwehrmustern zu wechseln. Mit anderen Worten: Obwohl unreife Abwehrstrukturen verstanden und behandelt werden können, sollten sie nicht interpretiert (gedeutet) werden. Der Therapeut soll dem Patienten helfen, von seinen Abwehrmechanismen zu anderen Mechanismen zu finden, z. B.: Hypochondrie kann zu Reaktionen von Altruismus führen; sadistische, passive Aggression kann in einen Witz und dann sogar in Humor münden. Zusammengefasst heißt das

5. Patienten/Betreute sollten darin unterstützt werden, Selbstbestrafungen, -verletzungen, die hoffnungslose (Sehn)sucht nach der guten Mutter, Pillen/Drogen zu meiden, umzuverlagern, anders auszudrücken u.a.

Eingliederungshilfe Jungerwachsener - Ziele

In gelungenen familiären Bindungen und Entwicklungen bestimmt ein Heranwachsender den Zeitpunkt seiner Ablösung und sucht sich allmählich einen Lebensort und Menschen, die er braucht. Die Trennung ist nicht endgültig.

Gute Pädagogen würden sich ähnlich verhalten zum »Wohle der jungen Menschen«. Die juristische Altersgrenze ist - wie der Kommentar zum Gesetz sagt - nicht geeignet, den Zeitpunkt festzulegen, wann jemand allein fertig werden muss. Erzwungene Beziehungsabbrüche aktualisieren alte Verletzungen.

Für die Bearbeitung und Klärung von Trennungen, bei Konflikten, in Krisen und bei Beziehungsproblemen ist die Ursprungsfamilie und das vorhandene soziale Umfeld einzubeziehen. Für Diagnosen wie »Borderline-Störung« und »Psychose« gilt das Gleiche.

  • Begleitung bis zur Verselbständigung mit Übergang in eine Betreuung.

  • Die äußere Umwelt stabilisieren, ein stabiler Ort zum Leben.

  • Die innere Umwelt verändern.

  • Die Gegenübertragung zwischen Betreuer/Therapeut und Betreutem kontrollieren.

  • »Bemutterung«, zu enge Grenzen und zu dynamische Therapie vermeiden (s. Kasten).

  • Unterstützung bei der Ablösung von Betreuern; Eltern u .a., individuelle Zeit lassen.

  • Eine schulische und berufliche Perspektive, Hilfe bei der Gestaltung der Freizeit und der sozialen Beziehungen im Umfeld.

  • Bei Krisen möglichst Hinzuziehung von therapeutischer Hilfe; Anbindung an Arzt/Therapeuten vor Ort, falls nötig.

  • Klinische stationäre Hilfen, wenn nötig und so kurz wie möglich, Weiterbetreuung im Rahmen der Jugendhilfe.

  • Keine Abschiebungen, Verlegungen, Auswärtsunterbringungen, wenn irgend vermeidbar.

  • Supervision für die Betreuer und Beratung für die Eltern.

  • Koordinierung der Hilfen.

Bei notwendigen Krankenhausaufenthalten und anderen Spezialmaßnahmen (z. B. Suchttherapie) soll Jugendhilfe Ansprechpartner bleiben. Fixierung auf Symptome, Bindung an klinisches Personal und Flucht in die Institutionen (Hospitalisierung) sollte vermieden werden.

Ein tragfähiges, möglichst »normales« bzw. der Normalität der anderen Menschen angepasstes Lebensumfeld entwickeln helfen. Krisen und psychische Einbrüche sind als normale Reaktionen von Menschen anzusehen: d. h. Stigmatisierung vermeiden.

Qualifizierung der Jugendhilfe

Für die Aufgabe »Weg- oder LebensbegleiterIn« auch seelisch verletzter Menschen zu sein, müssten die Sozialarbeiter sich als die eigentlichen Experten für schwierige soziale Lebenslagen verstehen. Wenn alle Spezialisten aufgeben und/oder »Untherapierbarkeit« beschei- nigen, bleiben sie in der Zuständigkeit. Zur Qualifizierung der Mitarbeiter in der Jugendhilfe gehören Kenntnisse früher Verletzungen. Die größere »Fachkompetenz« und die Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Lebenslagen haben sie. Ihre Fachkompetenz sollte allerdings durch eine berufsbegleitende Weiterbildung entwickelt und geschult werden.

Ausstattung der Jugendhilfe mit multiprofessionellen Fachkräften

Derzeit greift die Jugendhilfe auf die unterschiedlichen Hilfesysteme, Theorie- und Handlungsansätze der Erwachsenenrehabilitation und -psychiatrie zurück. Das System der Rehabilitation war bisher für seelisch, geistig/körperlich behinderte Jungerwachsene zuständig. Es ist stärker als die Jugendhilfe auf die medizinischen Theorie- und Handlungsansätze ausgerichtet gewesen, hat in den Bereichen der Rehabilitation aber auch ähnliche Ansätze von Lebensweltorientierung entwickelt, wie die Jugendhilfe. Spezialdienste, wie Sucht-, Drogen- und Alkohol-Therapieketten existieren ebenfalls.

Abgrenzungen der Ressorts, unterschiedliche Terminologie, Hierarchievorstellungen, Fragen der Definitionsmacht über krank und gesund, extrem unterschiedliche Sichtweisen, Kompetenz- und Ressourcenstreitigkeiten fließen jetzt - verwirrend im Einzelfall - in die Hilfeplanung Jungerwachsener mit ein. Hilfen für diese neue Aufgabe muss die Jugendhilfe erst noch selbst entwickeln. Die Zusammenarbeit mit den anderen Regel- und Hilfesystemen für Erwachsene muss sich erst einspielen. Kurzmaßnahmen, wechselnde Beziehungen, (Spezial-)Therapien mit tiefendynamischem Hintergrund, gut gemeinte, aber fachlich nicht fundierte und supervidierte (Bemutterungen) bzw. Abbrüche von Beziehungen, Über- und Unterversorgung und Behütung können alten Verletzungen neue hinzuzufügen, mehr Schaden anrichten als nutzen.

Die Jugendhilfe braucht für die Aufgabe der Eingliederung seelisch verletzter junger Menschen multiprofessionelle Unterstützung, wie sie für soziotherapeutische Arbeit im Suchtbereich, im Erziehungsberatungs-, psychiatrischen und Reha-Bereich völlig selbstverständlich ist. Die Fachleute und Betreuer müssen neben einer Grundausbildung Familien-, Einzel-, Systemische- und Gruppentherapie-Erfahrungen und Kenntnisse haben, sie müssen die Arbeitsweisen der Jugendhilfe kennen, Erfahrungen in der Unterstützung wichtiger Betreuungspersonen und Multiplikatoren haben. Die Fachdienste sollten die sozialen, die institutionellen und rechtlichen Bedingungen des Jugendhilfesystems kennen. Die Arbeit folgt dem Motto: Leben, Arbeiten, Wohnen, Ausbilden gestalten helfen und begleiten.

Eine Koordinierung der Hilfen ist erforderlich, sonst kommt es, wie z. Z. oft zu beobachten ist, durch die gegensätzlichen Sichtweisen (Paradigmen) zu unverbundenen Maßnahmekarrieren zum Schaden der jungen Menschen.

Einige wichtige Paradigmen der Jugendhilfe sind z.B.: Leitlinien wie Milieunähe, Elternarbeit, individuelle flexible Hilfen, statt Institutionalisierung, Verzicht auf Abschiebungen, wegen immer neuer Sonder- oder Spezialmaßnahmen (Entspezialisierung), langfristige, ganzheitliche Hilfeplanung, das Erlernen von Aushandlungsprozessen im Hilfeplanverfahren, die Einbeziehung unterschiedlicher Fachkräfte, Diagnosen und Spezialwissen deuten lernen.

Zusammenfassung

Das Wissen um die Komplexität von Ursachen seelischer und sozialer Verletzungen und/oder psychischer Erkrankung ist wesentlich differenzierter geworden. Das Interesse gilt aber nicht allen gleichermaßen. Um einige junge Menschen kümmern sich zahlreiche hochspezialisierte Dienste, andere fallen schließlich durch alle Netze. Die Gelder werden knapper, die Probleme nehmen zu. Die Verbesserung der sozialen Lebenslage und der Sinnhaftigkeit von Methoden muss Gegenstand der Fachdiskussionen sein. Für die Qualifizierung der Jugendhilfe-Fachleute wäre eine wechselseitige berufs- und institutionenübergreifende Fort- und Weiterbildung nötig. Die Spezialisten sollten über die Möglichkeiten aber auch die Grenzen der Jugendhilfe fortgebildet werden. Derzeit führt oft die Problemverschiebung und Hilflosigkeit dazu, weiter- und abzuschieben.

Kenntnisse der sozialen Lebenslagen und der unterschiedlichen Hilfesysteme sind Vorraussetzung für die Arbeit. Die klassischen psychotherapeutischen Settings schließen soziale Randgruppen durch hohe Eingangsvoraussetzungen mehr und mehr aus.

Geeignete Methoden, um Zugang zu jungen Menschen zu bekommen, die am Rande stehen, müssen weiterentwickelt werden. Die Kooperation der Fachdienste lässt zu wünschen übrig.

Bei schwierigen Einzelfällen steht derzeit oft nicht so sehr die Frage am Anfang: »Was braucht die Familie, der junge Mensch in seinem Lebensfeld?«, sondern oft die Frage: »In welche Institution könnte er/sie - weit weg - gegeben werden?« Auch nicht die Frage: »Was muss notfalls entwickelt werden, was woanders vorhanden ist?«, sondern: »Welcher Spezialdienst/auswärtige Träger nimmt ihn/sie?«.

Abschiebungen und Verlegungen funktionieren wie Stauseen und Bäche: erst einer, dann mehrere, dann ist es ein Strom, der nicht mehr leicht zu stoppen ist. Ohne gezielte, fachpolitische Gegensteuerung werden Möglichkeiten des Abschiebens überall genutzt.

Dieser Gefahr erliegen alle Institutionen: die der Behinderteneinrichtungen, der Altenheime, der Psychiatrien - und nicht nur die Jugendhilfe. Überall dort gibt es die gleiche Diskussion (Expertenbericht Psychiatrie, 1988[12]). Das Phänomen ist bekannt und ihm wurde im Rahmen der Psychiatrie mit dem klaren Pflichtversorgungsauftrag der psychiatrischen regionalen Einrichtungen begegnet: Kein Rezept löst größere Hoffnungen aus, als weit entfernt gelegene Einrichtungen für schwierige Fälle ...

Jede Region und ihre Fachdienste könnten beispielsweise einen Verbund bilden und eine gemeinsame Versorgungsverpflichtung und -verantwortung übernehmen und übertragen bekommen. Sie organisieren gemeinsam die Mittelvergabe, die bedarfsorientiert und unter Beteiligung der Betroffenen eingesetzt wird, und sind verantwortlich für alle Menschen innerhalb ihrer Region (Gründung regionaler Pools für Hilfen nach BSHG, JH, Krankenhilfe, s. a. Positionspapier der JMK und GMK)[13].

Die Aufgabe der Gesellschaft ist es, in einem kommunikativen Prozess Jugendlichen Beistand zu leisten, ihnen zu mehr Teilhabe an Bildung, Arbeit, Kultur und Freizeit zu verhelfen. Individuelle Defizite und Störungen haben oft soziale Ursachen. Das Zusammenwirken vieler gesellschaftlicher Kräfte bei diesem Prozess ist unerlässlich.



[12] BUNDESMINISTER FüR JUGEND, FAMILIE, FRAUEN UND GESUNDHEIT (Hrsg.): Empfehlungen der EXPERTENKOMMISSION DER BUNDESREGIERUNG zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich. 1988.

[13] Jugendminister und Gesundheitsministerkonferenz: Jugendhilfe und Jugendpsychatrie. Positionspapier 1991.

Autorin

Charlotte Köttgen,

Amt für Jugend, Aus- und Fortbildung,

Osterbekstraße 90 a, 22083 Hamburg

Quelle

Charlotte Köttgen: Konzeptfragen im Bereich des § 35 a in Verbindung mit § 41 SGB VIII

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 4-99, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 12.09.2005

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