Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde aus evangelischer Sicht

Autor:in - Albrecht Roebke
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-99 Gemeinsam leben (3/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde aus evangelischer Sicht

Nach der erschreckenden Erfahrung des Nationalsozialismus schrieben die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Schutz der Würde des Menschen als Staatsziel fest. 50 Jahre später mache ich als Bruder eines Menschen, der von dieser Gesellschaft als "behindert" abqualifiziert wird, oft die umgekehrte Erfahrung.

Es fängt damit an, daß Menschen mir ihr Beileid ausdrücken, für mein angeblich hartes Schicksal, nämlich Bruder von Uli zu sein, einem Menschen mit Down-Syndrom. Ein solches Beileid drückt aus, daß mein Bruder durch den Sprecher dieses Satzes hauptsächlich als Belastung für mich und andere wahrgenommen wird und nicht als Bereicherung, wie es von jedem sogenannten nichtbehinderten Geschwisterkind vorausgesetzt wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Ein Professor der Theologie, der sehr stolz auf den Diskurs mit Ethikern wie P. Singer ist, bescheinigt mir, daß ich viel zu "betroffen" bin, um an einer rationalen Diskussion teilzunehmen. Auf die Idee, daß er zu "unbetroffen" ist, weil er vielleicht viele Bücher gelesen hat, aber keinen Menschen mit Behinderung persönlich kennt, kommt er nicht. Und daß auch Bücher die Würde von Menschen angreifen, ja sogar lebensbedrohlich sein können, sollte gerade in Deutschland wirklich jeder/m klar sein. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Im aktuellen "Spiegel" lese ich von einem Schwangerschaftsabbruch in Zittau. Grund: der Säugling hatte Kleinwuchs. Der Abbruch wird in der 29. Schwangerschaftswoche vorgenommen. Das Kind lebt. Der Arzt steht in Verdacht, das Kind nach der Geburt getötet zu haben. Am Ende des Artikels lese ich von der Hoffnung, daß in dem anstehenden Prozeß die "seelische Not der Eltern und die bedrängte Lage des Arztes in solchen Fällen" zur Sprache kommen wird. Wer kümmert sich eigentlich um die Sorgen und Nöte der Menschen mit Behinderung? Gleichzeitig erlebe ich Eltern von Menschen mit Behinderung, die große Angst haben vor der Operation ihres Kindes, weil sie nicht sicher sind, ob die Ärzte im Notfall wirklich alles tun würden, um ihr Kind zu retten. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Ein führender Pränataldiagnostiker aus Bonn sagt im Rahmen einer medizinethischen Veranstaltung, daß der Umgang in dieser Gesellschaft mit der pränatalen Diagnostik kein Problem mehr sei. Wie positiv diese Gesellschaft inzwischen mit Menschen mit Behinderung umginge, sähe man ja daran, wieviel Behindertenparkplätze es schon gibt. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Ein Gericht in Köln beurteilt die Gespräche von Menschen mit Behinderung als Lärmbelästigung. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Als meine Frau in diesem Jahr mit unserer Tochter Lara schwanger war, beschlossen wir, keine Amniocentese vornehmen zu lassen, denn das Ergebnis hätte für uns keine Auswirkung gehabt. Wir haben viele fragende Blicke geerntet, und Bekannte gaben uns offen zu verstehen, daß so ein Verhalten doch eigentlich unverantwortlich sei, ja daß "Behinderungen heutzutage doch nicht mehr nötig seien". Gemeint war natürlich ein Abbruch der Schwangerschaft nach der 20. Woche. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Die vormals so genannte Bioethikkonvention erlaubt die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen. Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Der Gedanke von der unantastbaren Würde des Menschen gehört zu den Fundamenten der evangelischen Theologie

Es geht in den ersten beiden Kapiteln des Buches Moses um eine Glaubensaussage über Würde, Wert und Bestimmung des Menschen. Diese Glaubensaussage bezieht sich zeitlos auf alle Menschen, will also kein historisch wahrer Bericht sein. Der Wahrheitsanspruch des Textes liegt ebenfalls jenseits aller biologischen Erkenntnisse.

Gott erschuf Adam zu seinem Ebenbild und setzte ihn/sie zum/r Stellvertreter/in Gottes über die Schöpfung ein.

Dieser Satz enthält mindestens drei grundsätzliche Aussagen über die Würde des Menschen:

  1. Das besondere am Menschen ist, daß er von Gott zum Abbild erschaffen wird. Diese Qualität, das Ebenbild Gottes zu sein, ist nichts, was in dem Menschen selbst zu suchen ist (im biblischen Bericht besteht der Mensch genau wie die Tiere aus Lehm). Was den Menschen heraushebt, ist die besondere Beziehung, die Gott mit dem Menschen eingeht. Damit überträgt Gott seine Heiligkeit und Dignität auf den Menschen. Der Mensch erhält seine Würde von außen, also von Gott zugesprochen.

  2. Diese Würde kommt jedem einzelnen Menschen und der Gattung zu: Im Hebräischen hat der Name Adam einen doppelten Klang. Zum einen beschreibt der Name einen konkreten (übrigens androgynen) Menschen. Zum anderen ist "Adam" gleichzeitig eine Gattungsbezeichnung. Mit diesem Gleichklang legt die hebräische Bibel fest, daß die von Gott zugesprochene Würde nicht nur der Gattung Mensch gilt, sondern gleichzeitig auch jedem konkreten einzelnen Menschen.

  3. Der Mensch wird von Gott zum Verwalter Gottes über die Schöpfung eingesetzt. Dieser Teil des Textes hatte in der Geschichte verheerende Folgen für die Natur. Gemeint ist nämlich nicht die selbstherrliche Nutzung der umgebenden Schöpfung, sondern die Nutzung im Sinne des Schöpfers. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß für die evangelische Theologie der Mensch durch die Einsetzung Gottes das Besondere der Schöpfung ist und bleibt. Der Mensch ist Selbstzweck an sich, er allein darf nichts anderem untergeordnet werden.

Da die Würde dem Menschen von Gott - also von außen - zugesprochen wird, kann sie nur vorausgesetzt und geglaubt werden.

Jeder Versuch, die Würde des Menschen allein durch die Betrachtung seiner/ihrer Fähigkeiten festzulegen, ist zum Scheitern verurteilt, ja wird unter Umständen sogar gefährlich und ein Angriff auf die Würde von Menschen (P. Singers Vergleich von Neugeborenen - nicht nur den sogenannt behinderten - und Tieren und sein folgerichtiges Absprechen des Lebensrechtes von Neugeborenen seien hier als trauriges Beispiel genannt).

Aus evangelischer Sicht kann die Würde, mit der das Lebensrecht absolut verknüpft ist, nicht zur Disposition stehen. Ebensowenig wie es eine Diskussion über die Würde oder das Lebensrecht von Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma geben darf, darf es eine Diskussion um das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung, komatösen oder psychisch kranken Menschen oder altersdementen Personen geben.

Weiterhin ist der Mensch als Krone der Schöpfung Selbstzweck, niemals darf er Forschungsobjekt für materielle, ideologische oder wissenschaftliche Interessen werden, auch und gerade der bewußtlose Mensch nicht.

Es muß seitens der Evangelischen Kirche klare und eindeutige Stellungnahmen für die Würde und das Lebensrecht aller Menschen geben, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Intelligenz, Alter und körperlichen Fähigkeiten. Etwas anderes hieße, das biblische Zeugnis verleugnen. Die einzige Teilnahme an einem Diskurs mit Forschern wie Peter Singer oder seinem Deutschen Epigonen, dem Rechtsphilosophen N. Hoerster, die das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung bestreiten, kann einzig und allein ein klares Nein sein. Auch muß jede nationale oder europäische Gesetzgebung verhindert werden, die Menschen zu Objekten der Forschung oder der Industrie macht.

Der defizitäre Mensch und das Ermöglichen von Beziehung

Die evangelische Theologie geht von einem sehr negativen Menschenbild aus. Denn jeder Mensch ist wesensmäßig absolut defizitär, da er oder sie sündig ist. Mit "sündig sein" meint die evangelische Theologie nicht ein moralisches Fehlverhalten oder die Sexualmoral, sondern das Getrenntsein des Menschen von Gott. Wer von Gott getrennt ist, hat keine Würde, da Würde ein von Gott zugesprochener Begriff ist (s. o.). Es gibt nichts, was der Mensch von sich aus tun könnte, um diese Trennung von Gott zu überwinden: Kein moralisch perfektes Handeln, keine Intelligenz oder sonst irgend etwas können dieses Defizit überwinden. Die Trennung von Gott, also das Fehlen der Würde aus sich selber heraus, ist weder heil- noch therapierbar.

Die Geschichte des Jesus von Nazareth ist eine Geschichte des Aufhebens von Getrennt-Sein und des Ermöglichens von Beziehungen. Gerade die Erzählungen von Krankenheilungen wurden oft so fehlinterpretiert, als wolle Jesus die Krankheit oder die Behinderung eines Menschen beseitigen.

Jesus' Heilungen sind symbolische Wiederherstellungen von Beziehungen. Zu beachten ist, daß zu Zeiten Jesus' eine Krankheit von der Gemeinschaft ausschloß: auf jeden Fall von der Kult-Gemeinde, meist aber auch aus der Dorf- oder Stadtgemeinschaft. Wenn Jesus Menschen heilt, dann heißt dies, daß er den Menschen ermöglicht, wieder Vollmitglied in der Gemeinschaft zu werden. Am Kreuz und in der Auferstehung stellt Jesus die Gemeinschaft zwischen allen Menschen und Gott unverbrüchlich wieder her. Aus dieser Beziehung, die Jesus Christus mit jedem Menschen, so wie er oder sie ist, aufnimmt, resultiert die absolute und unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen. Diese Würde kann nicht verdient werden und sie kann auch nicht verloren gehen.

Das Feststellen von einzelnen Defiziten bei Menschen kann und darf niemals eine Aussage über Würde, Wert oder Lebensrecht eines Menschen sein, denn letztlich sind wir alle wesensmäßig defizitär, und wir können nichts tun, um eine Beziehung zu Gott herzustellen. Angesichts dieses Grunddefizits nehmen sich die Unterschiede nach IQ Punkten oder der körperlichen Beweglichkeit geradezu lächerlich aus.

Um Jesus gemäß zu leben, sind wir aufgefordert, in Gemeinschaft mit allen Menschen zu leben. Das bewußte Ausgrenzen von Menschen ist somit absolute Sünde. Ebenso wie der Rassismus in jeder Form absolute Sünde ist, weil hier Beziehungen zu anderen Menschen verweigert werden, ist jede Form der Aussonderung von Menschen mit Behinderung Sünde. Die Evangelische Kirche ist also gefragt, in jeder ihrer Lebensäußerungen Menschen mit Behinderungen an der Gemeinschaft teilhaben zu lassen und/oder neue Gemeinschaft zu initiieren: im Gottesdienst, im Gemeindeleben, in der Hilfe für Eltern.

Die existierenden Großinstitutionen, wie die Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld, sind heute mit Skepsis zu betrachten. Vor hundert Jahren, als Menschen mit Behinderung versteckt wurden, war es sicher im Sinne der Nachfolge Jesus', Beziehungen herzustellen, auch wenn dies damals nicht anders machbar war als in der Form von Großanstalten. Inzwischen haben diese großen Einrichtungen aber das Gegenteil bewirkt. Die Verantwortung der einzelnen Gemeinden für den Aufbau von Beziehungen wird abgeschoben: "Warum stört dieser Mann im Gottesdienst, es gibt doch Bethel", solche oder ähnliche Sprüche sind leider oft diskriminierender Alltag in vielen Gemeinden.

In diesem Sinne ist auch die gängige Abtreibungspraxis aufs schärfste abzulehnen. Würde und Lebensrecht sind aus der protestantischen Sicht auch auf den menschlichen Embryo auszudehnen. Auch ihm oder ihr kommt das gleiche Lebensrecht und die gleiche Würde wie jedem anderen Menschen zu. Eine Verhinderung, daß dieser Embryo lebensfähig geboren wird, bedeutet Verweigerung einer Beziehung zu einem Menschen.

Allerdings kennt die evangelische Ethik durchaus eine Ausnahme, in der Töten von menschlichem Leben erlaubt ist, nämlich in dem Fall der Notwehr, wenn durch das eine Leben ein anderes bedroht ist. Diesem Umstand trägt das neue Abtreibungsrecht Rechnung. Entscheidend für dieses Notwehrkriterium ist aber in jedem Fall die Notlage der Mutter, nie die Beschaffenheit des Kindes.

In der heute gängigen Praxis ist es aber oft so, daß das Kind solange ein Wunschkind ist, bis sich durch die pränatale Diagnostik (die meist ja nur eine rein medzintechnische Beratung ist) eine sogenannte Behinderung herausstellt. Verschärft wird die Situation der Mutter meist durch die Aussonderungspraxis in unserer Gesellschaft: Die meisten kennen wegen der flächendeckenden Aussonderung gar keine Menschen mit Behinderung.

Was oft folgt, ist die Einleitung der Geburt eines überlebensfähigen Säuglings. Die moderne Intensivmedizin macht es inzwischen möglich, frühgeborene Säuglinge ab der 24. Schwangerschaftswoche überleben zu lassen, auch auf die Gefahr schwerer Schädigungen hin. So kann es vorkommen, daß in einem Kreißsaal ein Kind mit großem, auch finanziell großem Aufwand gerettet wird, während im Nachbarkreissal die Geburt eines weiterentwickelten und an sich lebensfähigen Säuglings künstlich eingeleitet wird, wobei der Säugling oft noch lebt. Dabei spielen in der Praxis oft nicht mehr nur "schwere" Schädigungen des Kindes eine Rolle, sondern auch "Behinderungen" wie Trisomie 21, Klinefelter oder die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Diese Praxis ist aus Sicht der evangelischen Ethik absolut inakzeptabel und ein Angriff auf die Würde des Menschen. Auch eine vorherige Tötung des Säuglings im Mutterleib durch eine Kaliumchloridspritze ins Herz verändert die Sachlage nicht, zumal die Motivation für eine solche oft nur eine forensische ist, seit in Oldenburg ein Kind die künstlich eingeleitete Geburt überlebte.

Es kommt immer mehr zu einer doppelten Buchführung: Lebende Menschen mit Behinderungen sind angeblich vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft. Andererseits ist ihr "Sosein" Grund genug, zu diesen Menschen die Beziehung zu verweigern, ja ihre Geburt künstlich zu früh einzuleiten. Mit der Sicht des Würdeschutzes ist dies nicht vereinbar. Würde ich einem homosexuellen Menschen sagen: "Ich habe ja nichts gegen Sie persönlich, aber wenn ich wüßte, daß mein Kind homosexuell werden wird, dann würde ich verhindern, daß es lebend geboren wird.", hätte ich damit selbstverständlich seine oder ihre Würde angegriffen.

Die pränatale Diagnostik wird weiter "Fortschritte" machen. Dies wird zur Konsequenz haben, daß Schwangerschaftsabbrüche immer früher eingeleitet werden. Zur Zeit wird die Präimplantationsdiagnosik diskutiert. Durch sie soll die genetische Gesundheit noch vor dem "Einpflanzen" der befruchteten Eizelle in das "exuterale Umfeld" (wie ein bekannter Pränataldiagnostiker den weiblichen Körper nennt) festgestellt werden. Aber auch bei dieser frühen Methode bleibt der Grund für die Verweigerung einer Beziehung mit dem Kind immer noch die Beschaffenheit des Kindes selbst. Gibt es Schwangerschaftsabbrüche, die legitim sind, so können diese nur mit dem Notwehrrecht der Frau begründet sein, nie mit der Beschaffenheit des Kindes. Alles andere ist ein Angriff auf die Würde aller Menschen mit Behinderung.

Weiterhin entsteht durch diese Abtreibungspraxis in Bezug auf Menschen mit Behinderung ein Klima in dieser Gesellschaft, das besagt "so etwas wäre doch nicht nötig gewesen". Gerade in Zeiten der knapper werdenden Geldmittel werden sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen, Kinder, die nicht der Norm entsprechen, abzutreiben. So stiehlt sich die Gesellschaft aus ihrer Verantwortung, indem sie die Geburt eines Menschen mit Behinderung zur Privatentscheidung einer Frau macht. Dies wird fast zwangsläufig zu dem Umkehrschluß führen, daß die Geburt eines Kindes mit Behinderung zum Privatvergnügen einer Frau wird. So wird langsam aber sicher die Solidarität der Gesellschaft und der Anspruch der Frau auf gesellschaftliche Hilfe im Fall der Geburt eines Kindes mit Behinderung aufgekündigt, denn sie "ist ja selber schuld".

Jeder Mensch ist eine Gabe

Aus Sicht der evangelischen Ethik hat jeder Mensch eine Gabe, die ihm oder ihr von Gott mitgegeben ist (1. Korintherbrief 12,7). Wir neigen heute dazu, einen bestimmten Grad an Können, Intelligenz und körperlicher Fitneß als "normal" anzusehen. Meist entstammen die Kriterien den Ansprüchen der westlichen Industriegesellschaft. Menschen, die außerhalb dieses Rasters stehen, gelten als "unnormal" oder "behindert". Im besten Fall werden diese Menschen dann zu "Trotzdem-Menschen" entwürdigt, "denen man ja TROTZ ihrer Behinderung" helfen muß. So werden oft aus Menschen Objekte der Hilfe. Diese Tendenz ist leider gerade bei christlich motivierten Helfern und Helferinnen zu entdecken.

Als evangelische Christen und Christinnen sollten wir wissen, daß es ein "normal" nicht gibt. Jeder Mensch hat seine Fähigkeiten. Haben wir die bei einem einzelnen Menschen noch nicht entdeckt, so ist unser Blickwinkel schuld. Als evangelische Christen und Christinnen sind wir gerufen, uns gegen die Definitionsmacht unserer nutzorientierten Gesellschaft zu wehren. Denn nach den Kriterien der Heiligen Schrift kann sich ein brillanter Medizinprofessor als "emotional behindert" erweisen, weil seine Intelligenz und die Hierarchie im medizinischen Betrieb seine emotionalen Fähigkeiten verkümmern lassen. Hingegen kann sich ein Mensch mit einer sogenannten "schwersten geistigen Behinderung" als "sozial kompetent" herausstellen, eben weil ihm z. B. das Mittel der Sprache nicht zur Verfügung steht.

Allerdings macht sich die Würde eines Menschen nicht an seinen oder ihren Fähigkeiten fest. Wie positiv und bereichernd ein Mensch ohne eigene Fähigkeiten in unser Leben treten kann, läßt sich an einer (erwünschten) Schwangerschaft feststellen: unser Leben verändert und bereichert sich, obwohl der Embryo nachweislich kaum Fähigkeiten und weder Bewußtsein noch Rationalität besitzt.

Diese Würde und diese positive Kraft der Beziehung gilt selbstverständlich auch für jeden komatösen Menschen und den Menschen mit schwerster geistiger Behinderung.

So gilt es, in unserer Gesellschaft andere Werte zu vertreten und zu leben, als die von der Industriegesellschaft vorgegebenen. Dazu sollte die Kirche die Kraft der solidarischen Gemeinschaft der Gemeinde vor Ort nutzen.

Bis dies Geforderte wirklich passiert, ist noch ein langer Weg. Aber als evangelische Christen und Christinnen sind wir aufgefordert, ihn zu beschreiten. Wir sollen die Würde jedes einzelnen Menschen im Namen Gottes verteidigen und Gemeinschaft von allen Menschen mit allen Menschen ermöglichen. Wenn wir dies nicht tun, haben wir unseren Auftrag als evangelische Kirche verfehlt.

Autor

Albrecht Roebke

Münsterplatz 7

53111 Bonn

Quelle

Albrecht Roebke: Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde aus evangelischer Sicht

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-99

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.11.2006

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