Die Würde des Menschen darf nicht mehr angetastet werden! Eine neue Sozialpolitik für behinderte Menschen?

Autor:in - Elke Bartz
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-99 Gemeinsam leben (3/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Die Würde des Menschen darf nicht mehr angetastet werden! Eine neue Sozialpolitik für behinderte Menschen?

Unter diesem Titel fand im April eine Tagung im Bonner Gustav Heinemann-Haus statt. Eingeladen hatte das "Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.", das die Veranstaltung in Kooperation mit der "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland, ISL" organisierte. Finanziell unterstützt wurde die Veranstaltung im Rahmen der "Aktion Grundgesetz". Die große Anzahl von fast 200 TeilnehmerInnen aus dem gesamten Bundesgebiet bewies, wie aktuell und wichtig die Themen Pflegeversicherung und Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nach wie vor für die betroffenen Menschen und ihre Organisationen sind.

Besonderen Stellenwert bekam die Veranstaltung durch die Anwesenheit von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer. Diese nahm erstmals seit ihrer Ernennung zur Ministerin umfassend öffentlich Stellung zur Pflegeversicherung. Zuvor bekamen verschiedene Frauen und Männer Gelegenheit, auf dem Podium ihre Probleme mit der Pflegeversicherung zu schildern. Wie Antonie Platz von der Lebenshilfe Tübingen berichtete, erhalten Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen viel zu selten Leistungen aus der Pflegeversicherung, da Anleitung und Beaufsichtigung nach wie vor vollkommen unzureichend bei der Einstufung berücksichtigt werden.

Claus Fussek von der Vereinigung Integrationsförderung in München berichtete von den menschenunwürdigen Zuständen in Alten- und Pflegeheimen, deren Ursache zum großen Teil auf Mängeln der Pflegeversicherung beruhen. So empfehlen die Gutachter der Medizinischen Dienste der Krankenkassen Magensonden und Dauerkatheter ohne medizinische Notwendigkeit als "pflegeerleichternde Maßnahmen", um in niedrigere Pflegestufen einstufen zu können.

Besondere Probleme mit der Pflegeversicherung haben behinderte Arbeitgeber, die ihre Assistenz (Pflege) durch das sogenannte Arbeitgebermodell mittels selbsteingestellter Assistenten sichern. Uwe Frevert (ISL) schilderte in seiner Einführung, dass "Betriebe im eigenen Haushalt" von der Pflegeversicherung nicht als Pflegebetriebe in eigener Sache anerkannt werden und die Betroffenen deshalb nur das geringere Pflegegeld erhalten. Daher müssen die Sozialhilfeträger einen wesentlich höheren Anteil ungedeckter Assistenzkosten übernehmen, als wenn die behinderten Arbeitgeber die Sachleistung in Anspruch nehmen könnten.

Corina Zolle und Ilona Brandt bekräftigten Freverts Ausführungen. Zolle berichtete von den Schwierigkeiten einer schwerstbehinderten Frau, die aus einer Einrichtung ausgezog und nun große Probleme mit dem Sozialhilfeträger wegen der Kostenübernahme hat. Ilona Brandt erzählte zum Thema Pflichtpflegeeinsätze (§37 Abs.3 SGB XI), wie diskriminierend sie diese regelmäßigen Zwangskontrollen empfindet. Schließlich sei sie als Betroffene selbst Expertin in eigener Sache und lege größten Wert auf eine adäquate Pflege. Ständige Kontrollen bedeuten einen starken, permanenten Eingriff in die Privatsphäre. Dass es auch positive Ausnahmen gibt, bewies Volker Obst von der Huntington-Hilfe. Er führt im Namen seiner schwerstbehinderten Frau einen von der Pflegeversicherung anerkannten Betrieb, der ausschließlich zur Sicherung der Pflege dieser Frau dient. Daher kann er die Sachleistungen mit der Pflegekasse abrechnen.

Christoph Jaschke leitet einen ambulanten Dienst, der dauerbeatmeten Menschen assistiert. Er schilderte drastisch die Probleme, die sich durch unterschiedliche Zuständigkeiten wie Kranken- und Pflegeversicherung bzw. Sozialhilfeträger ergeben. Durch die Dienstleistungen seines Betriebes wird den Betroffenen (in der Regel sogar wesentlich kostengünstiger) trotz schwerster Behinderungen und Krankheiten ein menschenwürdiges Leben in der eigenen Wohnung ermöglicht. Als Alternative stünde häufig nur die Intensivstation eines Krankenhauses zur Verfügung.

In ihrer umfangreichen Stellungnahme betonte Gesundheitsministerin Fischer, die Einführung der Pflegeversicherung hätte Menschen Vorteile gebracht; die Kritik behinderter Menschen in vielen Punkten sei jedoch berechtigt. Ein Gesetzesentwurf zur Änderung der Pflegeversicherung beinhalte unter anderem die künftige Kostenübernahme für die Pflichtpflegeeinsätze durch die Pflegekassen, um die Akzeptanz dafür zu erhöhen. Von einer Abschaffung wolle man jedoch absehen. Außerdem müssen die Pflegeheime künftig stärker überprüft werden, um die Missstände abzuschaffen, meinte Andrea Fischer weiterhin. "Interessiert sich eigentlich die Gesellschaft für dieses Thema, und was ist sie bereit, für dieses Engagement zu geben?" fragte sie im Zusammenhang mit der Finanzierung der benötigten Leistungen. Damit berührte sie einen wichtigen Punkt, denn das Thema Pflege hat einen sehr niedrigen Stellenwert in der Gesellschaft. Fischer bot zwar künftige Zusammenarbeit mit den Organisationen der Behindertenhilfe und -selbsthilfe an, dennoch hatten sich die zahlreichen Tagungsteilnehmer mehr konkrete Aussagen von ihr erhofft, wie in der anschließenden Diskussionsrunde zum Ausdruck kam.

Auf große Zustimmung stieß Horst Frehes Beitrag. Frehe (Richter und Mitglied des Forums behinderter JuristInnen). Frehe forderte detaillierte Änderungen des SGB XI, die sowohl die Belange sogenannter geistigbehinderter als auch dementer Menschen stärker berücksichtigen müssen. Außerdem gilt es, die Selbstbestimmung wieder stärker zu fördern, denn die Pflegever- sicherung orientiert sich an den rein medizinisch somatischen Defiziten und hat damit sämtliche Voraussetzungen für eine ganzheitliche Pflege unter sozialen Aspekten zunichte gemacht.

Angesichts nicht gerade übervoller öffentlicher Kassen wirkt sich der 1996 eingeführte neue § 3a BSHG eklatant auf assistenznehmende Menschen aus. Dieser Paragraph läßt erstmals den direkten Kostenvergleich zwischen ambulanten und stationären Kosten zu. Eine sogenannte Zumutbarkeitsklausel soll zwar die Zwangseinweisung allein aus Kostengründen verhindern, doch bescheiden die Kostenträger häufig ausschließlich unter dem finanziellen Aspekt. Diese Erfahrung mußte Edgar Döll vor einem guten Jahr machen. Als die Kosten für seine nächtliche Assistenz um wenige hundert Mark monatlich stiegen, sollte er sein selbstbestimmtes Leben aufgeben, sich von seiner Lebensgefährtin trennen und in eine Anstalt ziehen. Als "Alternative" wurde der Lebensgefährtin ebenfalls der "Umzug" in eine Anstalt angeboten. Döll konnte erst vor Gericht einen Kompromiss erstreiten.

Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen kämpfen zunehmend gegen Kürzungen im Bereich der Eingliederungshilfen (§ 39ff BSHG), die ihnen die Förderung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Besonders fatal wirken sich in diesem Bereich die Umwidmungen von Eingliederungs- in Pflegeeinrichtungen aus. Mit diesen Umwidmungen erhalten die betroffenen Menschen höhere Leistungen aus der Pflegeversicherung. Dadurch entlasten sie unter dem Verlust von Lebensqualität die Sozialhilfeträger.

Wie schwer es ist, als behinderte Frau ein "normales" Leben mit einem nichtbehinderten Partner zu führen, schilderte Bianka Becker eindrucksvoll. So werden sie und ihr Mann stets auf Sozialhilfeniveau leben müssen, obwohl ihr Mann über einen qualifizierten Arbeitsplatz verfügt. Der einzige Grund dafür: Sie können die benötigten Assistenzleistungen für Bianka Becker nicht selbst finanzieren und sind daher auf Leistungen nach BSHG (§ 69) angewiesen.

Der berechtigte Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben hat nichts mit dem Lebensalter zu tun. Die beinahe 70jährige Friedel Hohenstein ließ keinen Zweifel daran, wieviel es ihr bedeutet, auch im Alter in der eigenen Wohnung zu leben. Um unabhängig von institutionellen Zwängen leben zu können, hat sie vor kurzem die Kostenübernahme für das Arbeitgebermodell beantragt. Da sie (noch) nicht auf umfassende, kostenintensive Hilfeleistungen angewiesen ist, sind ihre Chancen gut.

Andere Erfahrungen macht jedoch Sandra Wiedenstridt derzeit. Auch sie beantragte das Arbeitgebermodell für wenige Stunden täglicher Assistenz. Obwohl sie nachweisen kann, dass sie ihre Assistenz nicht anders zu sichern vermag (weil kein ambulanter Dienst die Hilfen zur benötigten Zeit zur Verfügung stellen kann) und das Arbeitgebermodell kostengünstiger als ein ambulanter Dienst ist, steht sie mittlerweile im Klageverfahren. Entgegen geltenden Rechts will das zuständige Sozialamt sie dazu zwingen, zunächst die Sachleistungen in Anspruch zu nehmen. "...Schließlich könne man nicht alle Annehmlichkeiten des täglichen Lebens finanzieren...." lautete u.a. der ablehnende Bescheid. Sandra Wiedenstridt hatte die Kostenübernahme für Hilfen beim Anziehen, den Toilettengängen und ähnliches beantragt!

Beeindruckt von den Schilderungen der Betroffenen zeigte sich die behindertenpolitische Sprecherin der SPD, Regina Schmidt-Zadel, die als weitere Politikerin an der Tagung teilnahm. Schmidt-Zadel wies auf die gesetzlich verankerte Beratungs-, Aufklärungs- und Hinweispflicht der Behörden hin, die dieser in der Praxis anscheinend nur sehr selten nachkommen. Sie sah es als unzumutbar an, dass nur diejenigen die ihnen zustehenden Leistungen erhalten, die sich umfassend in der Rechtslage auskennen. Sie erkannte ebenfalls die Problematik durch die unterschiedlichen Kostenträger. Auf die besorgte Frage eines Tagungsteilnehmers meinte sie, das Arbeitgebermodell sei auch in Zukunft gesichert. Im Hinblick auf die Probleme im Zusammen- oder besser Gegeneinanderwirken der einzelnen Kostenträger wie Pflegeversicherung, Sozialhilfeträger usw. wunderte sie sich, dass die entsprechenden Gremien von Arbeits- und Gesundheitsministerium häufig zur gleichen Zeit, aber eben nicht am gleichen Ort tagen. Dadurch ist es (ihr) unmöglich, sich umfassend zu informieren. Sie forderte die Tagungsteilnehmerinnen auf, ihre Anliegen den Politikern in den Wahlkreisen zu unterbreiten und um Unterstützung zu bitten. Zudem bot sie ihre konkrete Hilfe in Einzelfällen an.

Moderatorin Elke Bartz vom Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen bekräftigte, wie wichtig ein eigenes, einkommes- und vermögensunabhängiges Leistungsgesetz (SGB IX) für behinderte Menschen ist, das die Menschen nicht als medizinisch defizitäre Pflegeobjekte behandelt. "Die Zeit des Bettelns und Bittens ist vorbei. Wir kommen als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen, die lediglich Nachteilsausgleiche fordern, die eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des täglichen Lebens ermöglichen", fasste sie zusammen.

Aufgrund großer Nachfrage erwägen die Veranstalter die Herausgabe einer Dokumentation über diese Tagung.

Autorin

Elke Bartz,

Hollenbach, Nelkenweg 5, 74673 Mulfingen

Quelle

Elke Bartz: Die Würde des Menschen darf nicht mehr angetastet werden! Eine neue Sozialpolitik für behinderte Menschen?

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-99, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.05.2005

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