Sonderpädagogik und Behindertenhilfe in Dänemark - Bericht von einer Exkursion im November 1997

Autor:in - Max Kreuzer
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-98 Gemeinsam leben (3/1998)
Copyright: © Luchterhand 1998

Sonderpädagogik und Behindertenhilfe in Dänemark - Bericht von einer Exkursion im November 1997

Nachdem ich im Frühjahr 1997 Kontakte zu vielen Ausbildungs- und Betreuungseinrichtungen in Kopenhagen und Umgebung geknüpft hatte, ergab sich eine günstige Möglichkeit, sehr bald einige dieser Erfahrungen für Studentinnen und Studenten zugängig zu machen.

Ich war zu der Konferenz der "Pädagogen-Hochschule" in Kopenhagen zum Thema "Pädagogische Herausforderungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - deutsche und dänische Gesichtspunkte" eingeladen worden. Ich fragte an, ob ich mit einer Gruppe von Studentinnen und Studenten kommen könne. Daraufhin erhielt ich eine Einladung für weitere 10 Personen. Diese Möglichkeit nutzte ich, um zusätzlich zur Konferenzteilnahme ein Besuchsprogramm zum Thema "Sonderpädagogik und Behindertenhilfe in Dänemark" zu organisieren. Darüber wird im folgenden berichtet.

1. Wohngemeinschaften und betreutes Wohnen im Amtsbezirk von Maribo

Der Amtsbezirk mit Verwaltungssitz in Maribo liegt im Süden von Dänemark und umfaßt im wesentlichen die Inseln Lolland und Falster. Seit Anfang der 80er Jahre hatte der Amtsbezirk eine konsequente Politik der Auslagerung und Enthospitalisierung von Menschen mit einer geistigen Behinderung aus mehreren Zentraleinrichtungen in lokale Wohngemeinschaften betrieben. 1986 wurde im Sozial- und Gesundheitsausschuß unter dem Titel "Von der Versorgung in Institutionen zu einem sozialen und pädagogischen Einsatz in Wohnumfeldern" folgendes formuliert:

"Das Zentrale an dieser Politik ist, einen sozialen und pädagogischen Einsatz aufzubauen, der sich gründet auf einen engen Zusammenhang der neuen Betreuungsangebote mit den anderen Teilen der öffentlichen Dienstleistung, z. B. Tagesangebote und Beratung. Prinzipiell soll weiterhin dadurch die Grundlage dafür geschaffen werden, daß für die Bewohner täglich zumindest ein Milieuwechsel möglich ist, d. h., daß sie ihre Wohnungen verlassen und andere Menschen treffen können; dabei soll besonderes Gewicht darauf gelegt werden, daß die Bewohner Wahlmöglichkeiten haben, was die Arbeit und die Aus- und Weiterbildung angeht."

Bis zum Jahr 1996 stieg im Amtsbezirk die Anzahl der Bewohner in Wohngemeinschaften von fast Null auf insgesamt 738; der Ausgangspunkt war im Jahre 1980 eine Gesamtzahl von 1169 Betreuungsplätzen in zentralen Institutionen.

1992 waren die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über die Entwicklung der Lebensqualität in diesen Wohngemeinschaften unter dem Titel "Ein reiches und beschwerliches Leben" vorgelegt worden. Darin war festgestellt worden, daß sich insgesamt die Lebenssituation der Bewohner einem normalen Leben mit allen Rechten und Pflichten, allen Sorgen und Annehmlichkeiten angeglichen hatte. Aber es waren auch Probleme genannt worden: für 10-15 % der Bewohner waren die sozialen Kontakte geringer geworden; die Angebote für Beschäftigung und Freizeit seien noch nicht weit genug entwickelt; die Grenzen zur Nachbarschaft wurden immer noch als hoch betrachtet. "Die Umstellung ist ein lebender Prozeß", so hieß es für die weiteren Perspektiven in der Untersuchung.

Wir hatten die Möglichkeit, mit dem pädagogischen Leiter der Fachabteilung für Wohngemeinschaften im Amtsbezirk in Maribo, Kurt Lejbolle, ein ausführliches Gespräch darüber zu führen, wie die beschriebene Entwicklung weiter verlaufen ist. Er wies daraufhin, daß als sozialpolitische Reaktion auf die Untersuchung seit 1992 die Palette der Tagesangebote bereichert und ausgebaut worden sei. Im Mittelpunkt steht für ihn die Frage, welche Qualifikation und Ausbildung diejenigen Fachkräfte brauchen, die eine Wohngemeinschaft begleiten und beraten. Es habe sich schon in der Untersuchung gezeigt, daß die Umstellung des Personals mit den veränderten Betreuungsbedingungen, mit der steigenden Verantwortung und Selbständigkeit der Bewohner und mit den individuellen Mustern, die sich in den Wohngemeinschaften entwickeln, nicht immer schritthalten konnte. "Der wirklich spannende Alltag läuft wahrscheinlich dann ab, wenn die Betreuer nicht anwesend sind.

Schnell wurde klar, daß viele Entwicklungen, die in unserem Land im Anfangsstadium sind oder erst gründlich angedacht werden, an vielen Orten in Dänemark auf langjährige und reflektierte Erfahrungen zurückblicken können.

2. Die Hochschule an der Randersgade in Kopenhagen

Die Hochschule in der Randersgade "wurde 1970 als Modellschule auf Initiative einiger Lehrer unter der Regie der dänischen Sozialverwaltung gegründet. Sie ist eine Ganztagsschule für ‚Erwachsene mit besonders weitgehendem Bedarf an Stütze und Hilfe', im deutschsprachigen Raum gemeinhin als ,Geistigbehinderte' bezeichnet". So heißt es in dem ersten einer breiteren deutschen Fachöffentlichkeit zugängigen Bericht von Liesel Wülfing (in: Wege aus der Isolation. Hrsg.: Kasztantowicz, U. 1982) über diese Hochschule. Mittlerweile haben einige Studentinnen/Studenten und Fachleute aus Deutschland diese außergewöhnliche Hochschule kennengelernt.

Für Dänemark selbst bzw. Dänen ist sie nichts Besonderes; sie reiht sich ein in die dänische Volkshochschul- und Erwachsenenbildungsbewegung (ausgehend von Grundvig). Es gibt auf der Grundlage des "Gesetzes über Spezialunterricht für Erwachsene" vom Jahre 1987 derzeit 12 ähnliche Hochschulen über das ganze Land verteilt.

Jeder, der sich bewirbt, wird unabhängig von der Schwere der Behinderung entsprechend seinem Platz auf der Warteliste für ein Unterrichtsjahr aufgenommen. Voraussetzung ist, daß mindestens ein Abstand von 2 Jahren zum Besuch einer Vollzeitschule besteht. An dieser Hochschule angestellt sind im wesentlichen Sonderpädagogen.

Wir konnten ausgiebig die Räume und Ausstattung der Hochschule an der Randersgade kennenlernen, viele Lichtbilder vom Alltag dort anschauen und besprechen und einen "Horrorvideo" sehen, den eben eine Projektgruppe fertiggestellt hatte.

Das Ziel des Unterrichts ist weder berufsqualifizierend noch fördertherapeutisch orientiert; es ist allgemeinbildend, auf die "persönliche und soziale Freimachung", auf die Steigerung des Selbstvertrauens und Entwicklung von erweitertem Bewußtsein für die eigenen Lebensbedingungen ausgerichtet. Entsprechend sind die Inhalte und Unterrichtsformen gewählt: Projekt- und Themenarbeit, kreative und ästhetische Vorhaben, Studienfahrten, Aktivitäts- und Debattenmilieu, Thementage- bzw. -wochen, Feste mit Einladungen an Angehörige und Nachbarn, Wahlmöglichkeiten und hohes Ausmaß an Mitbestimmung.

In der Zeit unseres Studienaufenthaltes in Dänemark war gerade Wahlkampf für eine landesweite Kommunalwahl. Der stellvertretende Leiter der Hochschule, Peter Rasmussen, erzählte uns, daß sie in der nächsten Woche "Politik und Wahl" als Themenwoche durchführen würden: Es ginge darum, ihren Schülerinnen und Schülern eine gute Grundlage für ihre eigene Entscheidung bei der Stimmabgabe am Wahltag zu geben. So hätten sie u. a. für einen Vormittag den ehemaligen Staatsminister, Anker Jörgensen, eingeladen, um Rede und Antwort zu stehen. Der Funktion des Staatsministers entspricht in Deutschland die Funktion des Bundeskanzlers.

In der Hochschule an der Randersgade konnten wir eindrucksvoll kennenlernen, wie das 1958 erstmals in Dänemark formulierte "Normalisierungsprinzip" zu entfalteter Geltung kommen kann: durch hohe Wertschätzung der erwachsenen Schülerinnen und Schüler, durch soziale Aufwertung und durch Ressourcen- und lebensweltorientierte Weiterentwicklung der individuellen und sozialen Kompetenzen.

3. Das Zentrum für Gleichbehandlung von Behinderten

Das Zentrum für Gleichbehandlung mit Sitz in Kopenhagen ist eine relativ neue staatliche oder selbstverwaltete Institution. Es wurde 1993 als Folge eines Beschlusses des Folketing (Parlament) gegründet. Es hat die Aufgabe, die Gleichstellung behinderter Menschen in der Gesellschaft zu überwachen und weiterzuentwickeln. In der Erfüllung dieser Aufgabe ist das Zentrum unabhängig; es kann eigene Untersuchungen anstellen; es berät den Zentralen Behinderten-Rat, den Ombudsmann, die Verantwortlichen in der Politik, der Verwaltung und auch privaten Firmen in Fragen der Gleichbehandlung. Klagen in Einzelfällen fallen nicht in die Verantwortlichkeit des Zentrums. Das Zentrum für Gleichbehandlung hat insgesamt 8 Mitarbeiter, darunter 2 Juristen.

Wir hatten die Möglichkeit, mit Frans Storr-Hansen, dem Vertreter für Öffentlichkeitsarbeit, ausführlich zu sprechen. Er informierte uns über aktuelle Diskussionen und Themen, die vom Zentrum schwerpunktmäßig bearbeitet wurden:

  • "Rechtssicherheit für geistig behinderte Straftäter": Seit langem habe der Verdacht bestanden, daß Personen mit geistiger Behinderung nach dem Strafrecht eher zu zeitunbestimmten Strafen, meist Unterbringung in Einrichtungen, verurteilt würden und die Dauer dieser Strafen in der Regel deutlich länger seien als bei Nichtbehinderten. Diesem Verdacht ging das Zentrum mit einer eigenen Untersuchung nach. Er konnte anhand der Analyse von 121 Fällen bestätigt werden, trotzdem die Rückfallwahrscheinlichkeit bei geistig behinderten Straftätern deutlich geringer ist (35 %) als bei sonstigen - bezogen auf Straftat - vergleichbaren Tätern (80-90 %). Das Zentrum forderte daraufhin den Gesetzgeber auf, die rechtlichen Grundlagen für diese Ungleichbehandlung zu beseitigen. Ein wesentliches Nebenergebnis der Untersuchung bestand darin, daß die gutachterlichen Stellungnahmen zum - rechtlich relevanten - Ausmaß der geistigen Behinderung psychiatrischer und sozialpädagogischer Fachkräfte in den analysierten Fällen klar voneinander abwichen und damit die Rechtsunsicherheit der Betroffenen vergrößerten.

  • "Behinderte Erwachsene in Kindereinrichtungen": Das Zentrum ging vereinzelten Klagen nach und stellte 1995 fest, daß 143 erwachsene Behinderte durchaus entgegen gesetzlichen Vorschriften über das 18. Lebensjahr in Kindereinrichtungen betreut wurden und somit kein altersgerechtes Angebot erhielten. Zudem wurde deutlich, daß diese Bewohner zusätzlich dadurch benachteiligt wurden, daß sie ihre Erwerbunfähigkeitspension nicht wie andere vergleichbare behinderte Erwachsene ausbezahlt bekamen, sondern von einem Taschengeld leben mußten.

  • "Physische Zugänglichkeit der Volksschulen": Ein peinliches Ergebnis brachte die Untersuchung über die Zugänglichkeit der Volksschulen für Rollstuhlfahrer. In einer Vollerhebung mittels Fragebogen ergab sich, daß 45 % der kommunalen Schulverwaltungen ihre Volksschulen als "zugänglich" bezeichneten. Daraufhin wurden 198 Schulen, die als "zugänglich" galten, genauer befragt. In dieser 2. Untersuchung wurde als Kriterium für Zugänglichkeit zugrunde gelegt, daß alle Räume ohne fremde Hilfe durch Rollstuhlfahrer erreicht werden können. Von den 86 Schulen, die die genauen Fragen überhaupt nur beantworteten, waren schließlich nur 5 Schulen wirklich "rollstuhlgeeignet" und damit vollständig für diese Schülergruppe zugänglich.

Die Reihe der "peinlichen" Ergebnisse von Untersuchungen und Nachforschungen durch das Zentrum für Gleichbehandlung ließe sich fortsetzen.

Entscheidend scheint uns, daß das Zentrum durch finanzielle und personelle Ausstattung in die Lage versetzt ist, öffentlicher Ungleichbehandlung behinderter Menschen konkret nachzugehen und sie zu skandalisieren. So wurde uns auch verständlich, warum in der dänischen Behindertenpolitik und auch in der Mehrzahl der Behindertenverbände derzeit keine Neigung besteht, ein Antidiskriminierungsgesetz zu fordern. Als Position in dieser Frage wurde uns vermittelt, daß es mit den bestehenden Regelungen möglich sei, Diskriminierung bzw. Benachteiligungen "im Dialog" schrittweise aufzuheben. Im Rahmen der EU-Verhandlungen wurde von dänischen Regierungsvertretern in Amsterdam (1997) vorgeschlagen, die Frage nach der Notwendigkeit eines Antidiskriminierungsgesetzes den einzelnen Staaten zu überlassen und über die "Standardregeln für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte" (UN-Resolution vom 20. 12. 1993) hinaus keine einheitliche Lösung zu verabschieden.

Die Besuche und Gespräche bei unserer Exkursion in Dänemark haben, wie das in der Regel der Fall ist, gezeigt, daß die Verhältnisse im eigenen Land nicht quasi natürlich sind, sondern nur eine mögliche Konstruktion von sozialer Wirklichkeit darstellen. Persönliche Erfahrungen und Analysen in Dänemark können im Bereich der Sonderpädagogik und Behindertenhilfe dazu beitragen, daß die hiesigen Konstruktionen hinterfragt und zumindest einige bestehende Entwürfe und Utopien an der dortigen Umsetzung in Gegenwart und Wirklichkeit, aber unter deren eigenen Bedingungen, gegengelesen werden können.

Autor

Prof. Dr. Max Kreuzer,

Fachhochschule Niederrhein,

Mönchengladbach

Quelle:

Max Kreuzer: Sonderpädagogik und Behindertenhilfe in Dänemark - Bericht von einer Exkursion im November 1997

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 3-98

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 31.10.2006

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