Integrative Regelklassen arbeiten erfolgreich!

Wissenschaft/Forschung

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-99, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999 Gemeinsam leben (2/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Integrative Regelklassen arbeiten erfolgreich!

Das ist das Fazit der Wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs "Integrative Grundschule" in Hamburg und die Antwort auf einen provokanten Artikel "Teuer und weniger effektiv" von Heike Schmoll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Seite 16 vom 16.11.1998. Sechs Wissenschaftler der Arbeitsstelle Integrationspädagogik des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg aus den Instituten für Behindertenpädagogik und Schulpädagogik kommen nach einer sechsjährigen wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs zu diesem Urteil und plädieren für die Weiterführung und Ausweitung dieses bundesweit einmaligen Schulmodells. Dafür haben die Wissenschaftler zahlreiche Empfehlungen ausgesprochen.

In Integrativen Regelklassen an lntegrativen Grundschulen werden unter Verwendung einer zusätzlichen halben sonderpädagogischen Lehrkraftstelle pro Klasse Kinder zusammen mit nichtbehinderten Kindern des Schuleinzugsbereichs unterrichtet, die bisher in Förderschulen, Sprachheilschulen oder Schulen für Verhaltensgestörte überwiesen worden sind. Das ist eine schulkonzeptionelle Antwort auf die gesicherten Erkenntnisse zur begrenzten Effektivität der entsprechenden Sonderschulen und der Tatsache, daß die Grundschule mit ihrer bisherigen Arbeitsweise Effekte sozialer Randständigkeit kaum verringern konnte und Behinderungen im Lernen, in der Sprache und im Verhalten mitproduziert hat. Es werden konzeptionell die ethisch begründete und schulgesetzlich verankerte Maxime der Nichtaussonderung verwirklicht und zugleich durch erweiterte pädagogische Möglichkeiten mehr Kinder an den erfolgreichen Grundschulabschluß herangeführt.

lntegrative Regelklassen sind von lntegrationsklassen zu unterscheiden. lntegrationsklassen nehmen neben nicht behinderten Kindern vornehmlich Kinder auf, deren sonderpädagogischer Förderbedarf bereits vor Eintritt in die Schule erkennbar und so hoch ist, daß das Erreichen der Ziele der Grundschule trotz bester pädagogischer Arbeit wenig wahrscheinlich erscheint und die Ressourcen der lntegrativen Regelklassen für ein gemeinsames Lernen mutmaßlich nicht genügen. Die lntegrationsklassen entstanden durch Elterninitiativen, während die integrativen Regelklassen eine schulpolitische Initiative darstellen. Es wird Partei ergriffen für Kinder sozial randständiger und bildungsferner Familien, die ansonsten keine Lobby im Verteilungskampf um Bildungs- und Zukunftschancen hätten.

Im Schuljahr 1991/92 begann der Schulversuch mit dreizehn Schulen überwiegend in sozialen Brennpunkten. Inzwischen sind 36 Schulen mit 377 Integrativen Regelklassen und über 9000 Schülerinnen und Schülern am Schulversuch beteiligt. In der Zeit von 1991 bis 1996 begleiteten die Wissenschaftler in einer Kernuntersuchung ca. 700 Kinder in 18 Integrativen Regelklassen und zwölf normalen Grundschulklassen in der Entwicklung ihrer Leistungen und ihrer emotional-sozialen Befindlichkeit über die Grundschulzeit hinweg. Gleichzeitig wurden die Bildungswege von 8358 Kindern aufgezeichnet, die sie in der Integrativen Grundschule nehmen. Die Ergebnisse der Wissenschaftlichen Begleitung sind in vier Bänden einer Publikationsreihe des Feldhaus Verlags Hamburg auf mehr als 1300 Seiten dokumentiert. Zwei dieser Bände sind im Sommer erschienen, die beiden nächsten folgen in Kürze.

Mit unterschiedlicher Interessenlage wird nun die Fülle der vorliegenden Ergebnisse rezipiert werden. Das kündigt sich im Artikel von Heike Schmoll an, der zugleich in krasser Weise vor Augen führt, zu welchen unsinnigen Schlußfolgerungen an sich richtige Zitate aus vorläufigen Arbeitsergebnissen verdreht werden können, wenn eine erkennbare Absicht den Blick auf das zugegebenermaßen komplexe Ganze verstellt. So meint Heike Schmoll, den Leserinnen und Lesern ihres Artikels glaubhaft machen zu müssen, daß die Integrativen Regelklassen weniger effektiv seien als die Sonderschulen, und das, so scheint es als Botschaft durch, habe die Wissenschaftliche Begleitung des Schulversuchs herausgefunden und berechnet. An keiner Stelle hat sich die Wissenschaftliche Begleitung jedoch an solchen unverantwortlichen und zynischen Zahlenspielen beteiligt.

Von Heike Schmoll wird ein oft gehörtes und dennoch falsches Stammtischargument bemüht, nämlich daß trotz der Einrichtung von Integrativen Regelklassen "die Zahl der benötigten Plätze in Sonderschulen nicht zurückgegangen, sondern sogar gestiegen" sei. Es hat sich gottlob herumgesprochen, daß die Abnahme der Geburten wohl nichts mit der Abnahme der Zahl der Störche zu tun hat. Vielleicht wird es bald in aller Ohren klingen, daß die derzeitigen rasanten gesellschaftlichen Umbrüche die Zahl derjenigen Kinder massiv erhöht, die an traditionellen Wert- und Erwartungshori- zonten unserer Gesellschaft scheitern. Deshalb werden wir gerade in Großstädten mit einer Zunahme von Schülerinnen und Schülern rechnen müssen, die zwar nicht "grundschulnormgerecht" aber alles andere als behindert sind. Nun aber implizit zu behaupten, die Integrativen Regelklassen hätten durch die Unterrichtung von Kindern, die ansonsten in Sonderschulen überwiesen worden wären, die Erhöhung der notwendigen Plätze gerade in Sonderschulen bewirkt, ist gelinde gesagt unredlich.

Unredlich ist die Behauptung, der Ergebnisbericht der Wissenschaftlichen Begleitung sei ein einziges Plädoyer für die Sonderschule. Gerade das ist der Abschlußbericht nicht.

Detailgenau und nachvoliziehbar dokumentieren die Wissenschaftler, welche Chancen und Risiken das Modell der Integrativen Regelklasse aufweist. Wer Schule kennt, weiß, daß es in jedem Gymnasium, in jeder Grundschule und in jeder Sonderschule guten und weniger guten Unterricht gibt. Das Zusammenwerfen der Ergebnisse aus einem guten und einem schlechten Unterricht macht den guten Unterricht nicht schlechter und den schlechten Unterricht nicht besser. Heraus kommt nur eine Zahl, die keine wirkliche Entsprechung in der Realität haben muß. Genau dieses Problem wurde von den Wissenschaftlern interpretativ differenziert berücksichtigt. Es wurde unter anderem gezeigt, daß es Klassen und Schulen gibt, die die Chancen des Modells der Integrativen Regelklasse sehr effektiv zu nutzen vermögen. Das wird im Bericht der Wissenschaftlichen Begleitung an vielen Kriterien zur Entwicklung der Leistungen, der emotional-sozialen Befindlichkeit und der sozio- metrischen Situation der Kinder gezeigt. Dabei wird verdeutlicht, daß es in der Integrativen Grundschule wie auch in der normalen Grundschule sehr effektive und weniger effektive Klassen gibt und die Differenzen zwischen den einzelnen Klassen größer sind als zwischen den unterschiedlichen Systemen (integrative Grundschule versus normale Grundschule).

Auch wenn schulisch geschaffene Erfolgskriterien, z.B. der Prozentsatz Sonderpädagogischer Förderbedarfe während und am Ende der Grundschulzeit als Maßstab genommen werden, finden sich hoch erfolgreiche und weniger erfolgreiche Integrative Grundschulen. So gibt es Klassen und Schulen, die während und am Ende der Grundschulzeit trotz einer enormen Belastung durch eine hohe Zahl sozial randständiger und bildungsferner Familien in ihrer Wohnbevölkerung kein einziges Kind mit Sonderpädagogischem Förderbedarf ausweisen. Gleichzeitig tritt eine Integrative Grundschule hervor, die während oder am Ende der Grundschulzeit 14,6 % der in der Schule gestarteten Kinder als sonderpädagogisch förderbedürftig bezeichnet hat. In der Summe gibt es im ersten untersuchten Jahrgang bei 586 gestarteten Kindern 5,5 % mit sonderpädagogischem Förderbedarf während oder am Ende der Grundschulzeit. Im nächsten Jahrgang sind es bei 616 Startern in den gleichen Schulen nur noch 4,7 % der Kinder. In beiden Jahrgängen wird die Erwartung von durchschnittlich 8 % Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in sozialen Brennpunktgebieten deutlich unterschritten. Das ist ein schon auf den Durchschnitt bezogenes positives Ergebnis der pädagogischen Arbeit in den Integrativen Regelklassen.

In wissenschaftlicher Redlichkeit wurden Situationen und Bedingungen des Mißerfolgs dokumentiert. In der Tat gibt es Ergebnisse, die nicht mit der Annahme konform gehen, daß eine unbegrenzte und einseitige Ausweitung des Heterogenitätsspektrums in Bezug auf Leistungen und Verhalten der Kinder den Lerngruppen immer dienlich ist. Im Bericht wird darauf verwiesen, daß die Zusammensetzung der Klassen eines Zugs und die Verteilung der in einer Schule vorhandenen Ressourcen mit Aufmerksamkeit beobachtet und gegebenenfalls verändert werden sollte. Mit diesen Einsichten ist das Modell der Integrativen Regelklasse keineswegs in Frage gestellt, sondern es wird auf einen Gestaltungsraum verwiesen, der bei der Umsetzung des Modells der Integrativen Regelklasse in die Realität des Schulalltags genutzt werden muß.

Die Wissenschaftliche Begleitung des Schulversuchs ist der Auffassung, daß das Modell der lntegrativen Regelklasse mit einem chancen- und zugleich risikoreichen pädagogischen Konzept arbeitet. Die Chancen liegen in einer möglichen Intensivierung einer auf das einzelne Kind und seine Lebenssituation bezogenen Pädagogik, die ohne Etikettierung und Aussonderung auskommt und sich immer besser auf den gesellschaftlichen Wandel einzustellen vermag. Eine Integrative Regelklasse muß dabei nicht den Belastungsmomenten ausgeliefert sein, die aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft in sie hineingetragen werden. Die Rolle und Funktion des Teams und der Pädagoginnen, der verwirklichten pädagogischen Konzeptionen und des geschaffenen Klassen- und Lernklimas wurden als Bedingungen des Erfolgs in den Untersuchungen deutlich.

Das zugleich vorhandene Risiko des Modells der lntegrativen Regelklasse liegt aber in einer Komplexitätserhöhung der Grundschularbeit auf mehreren Ebenen, auf die die Beteiligten nicht immer gut vorbereitet sind und in deren Bewältigung sie intensiver kooperativ begleitet werden müßten. Diese Komplexitätserhöhung betrifft eine neue und vor allem nach unten geöffnete Heterogenität der Schülerschaft, neue und notwendige Qualitäten der Kooperation im Team und neue Anforderungen an die zu verwirklichenden Konzepte des Unterrichts in sozial schwierig strukturierten Großstadtgebieten.

Das Rad darf nicht und schon gar nicht unter Zitierung der Wissenschaftlichen Begleitung zurückgedreht werden, denn die Erfolge sind eindrucksvoll. Zudem gilt der in novellierten Schulgesetzen bundesweit verankerte Anspruch der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1994, die Grundschule zum primären Ort der Förderung aller Kinder zu machen. Die nächste Stufe der Weiterentwicklung der integrativen Grundschule darf deshalb nicht zu einer neuen Komplexitätsreduktion - etwa durch die neuerliche Einführung klassischer Selektionsmechanismen, durch das Setzen auf eine scheinbare Homogenisierung von Lerngruppen und durch Ressourcenkürzung - führen. Besondere Ressourcen braucht eine Grundschule, die sich dem integrativen Anspruch im sozialen Brennpunkt stellt und die in einer Phase eher zunehmender gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse dem verstärkten Auseinanderdriften sozialer Gruppen begegnet. Es geht zukünftig darum, die Integrative Grundschule darin zu unterstützen, die pädagogischen Chancen des Modells immer extensiver zu nutzen und seine Risiken zu minimieren.

Hamburg, den 23. 11. 1998

Autoren:

Prof. Dr. Karl Dieter Schuck, Prof. Dr. Wulf Rauer, Dr. Andreas Hinz, Dr. Dieter Katzenbach, Prof. Dr. Hans Wocken, Prof. Dr. Hubert Wudtke

Pressemitteilung der Mitglieder der Wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs Integrative Grundschule und der Arbeitsstelle Integrationspädagogik des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Univers. Hamburg.

Quelle

Karl Dieter Schuck, Wulf Rauer, Andreas Hinz, Dieter Katzenbach, Hans Wocken, Hubert Wudtke: Leserbrief: Integrative Regelklassen arbeiten erfolgreich, Wissenschaft/Forschung

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-99, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 20.02.2006

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