Auszug aus: Lebensweisheiten des Epikuräers Aljoscha B.

(Begleittext zu Aljoschas Übersiedlung in eine Wohneinrichtung)

Autor:in - Franziska Schäffer
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-99; Seite 78 - 82 Gemeinsam leben (2/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Auszug aus: Lebensweisheiten des Epikuräers Aljoscha B.

Eigentlich wollte ich niemals in meinem ganzen Leben zur Schule gehen - schließlich haben irgendwelche dubiosen Neidhammel gerade wieder auf Sizilien einen ihrer eigenen Leute erschossen, nur weil er zuviel wußte...

Tja, wie dem auch sei: Das Schicksal aller Schüler blieb mir nicht erspart. Gottlob ist es den sogenannten Pädagogen nicht gelungen, alles kaputtzumachen, was ich an Fähigkeiten und Fertigkeiten in die Schule mitbrachte. Ehrlicherweise muß ich aber zugeben, daß ich in diesem Lehrinstitut auch einiges gelernt habe, was mir - hoffentlich - zur Gestaltung meines zukünftigen Lebens etwas nützt.

Beginnen möchte ich meine Memoiren mit dem Kapitel, welches für mich (fast) die größte Bedeutung hat:

1. Nicht nur Frauen plaudern gerne - Von der Kommunikation zwischen mir und meinen Lebensbegleitern

Im Gegensatz zu Euch, liebe Mitmenschen, habe ich es nicht leicht, meine kommunikativen Inhalte für Euch wahrnehmbar zu machen. Ihr braucht einfach nur Eure rotlippige Kommunikationsklappe zu öffnen, um Euch anhand stimmlich verlautbarter und daher akustisch wahrnehmbarer Buchstabenlaute anderen Menschen verständlich zu machen. Zuvor ordnet Ihr Eure kommunikativen Inhalte innerhalb Eurer Geisteswelt anhand der Normen und Kodierungen, die Ihr erlernt habt.

Ich bin ganz sicher, daß bei mir die Möglichkeit zur stimmlichen Äußerung von festgelegten Buchstabenfolgen nicht gegeben ist. Mit anderen Worten: Ich vermag meine innere Sprache nicht in ein akustisch wahrnehmbares Gewand zu kleiden.

An dieser Stelle beginnt für mich das Dilemma meiner Kommunikationsfähigkeit: Es gibt - leider! - tatsächlich ein paar Dödel auf dieser Welt, die die - irrige! - Ansicht vertreten, ich könne überhaupt nicht sprechen. Mit diesem Standpunkt beweisen diese Leute aber nur ihre absolute Unkenntnis zum Sachverhalt, ha!, meistens kennen die noch nicht mal den Unterschied zwischen "Sprache" und "Sprechen"!

Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, daß es Menschen gebe, die über keinerlei Sprache verfügten und daher auch nicht sprechen könnten, will ich hier mal an meinem eigenen Beispiel schildern, wie der Sachverhalt wirklich aussieht:

Innerhalb meiner Geisteswelt besitze und benutze ich meine "innere" Sprache, das sind individuelle Aussagen, die ich mit ebenso individuellen Zeichen nach außen wahrnehmbar mache. Wer dies begriffen hat, dem müßte dann auch klar sein, daß die oft gedankenlos miteinander verquirlten Begriffe "Sprache" und "Sprechen" zwei völlig verschiedene Dinge sind. Für mich ist "Sprache" das, was ich in meinem Kopf "höre" (z.B. eine Aussage über die derzeitige Körperempfindung in meiner Po-Gegend, die mir wehtut, weil ich schon etwas sehr lange in meinem Rollstuhl sitze - oder die Aussage von meinem knurrenden Magen in Verbindung mit der Vorstellung von einem riesigen tiefen Teller mit Spaghetti "frutti di mare" und viiiiiel Knofel ...).

"Sprechen" ist bei mir die Technik in Verbindung mit einem Zeichensystem, also der Prozeß, wie ich meine Aussagen nach außen transportiere, damit meine Mitmenschen sie wahrnehmen können.

Und da sind wir auch schon bei dem wirklichen Knackpunkt der Geschichte angekommen, und wenn Ihr ehrlich seid, dann müßt Ihr's endlich zugeben: Es gibt nicht "nichtsprechende Menschen", sondern es gibt nur Menschen, die das Verständnis für individuell gestaltete Aussagen mit individuell gestalteten Zeichen erlernen müssen.

Ich gebe zu, daß das nicht leicht ist! Manch einer meiner bisherigen Lebensabschnittbegleiter hat wochen-, monate- und sogar jahrelang gebraucht, bis er eindeutig wußte, mit welchem Zeichen ich welche Aussage kenntlich gemacht habe.

Hach! Wenn ich da an meine erste Lehrerin denke: Die hielt sich anfangs doch tatsächlich für Madame Oberschlau, dabei kriegte sie keine einzige meiner Aussagen mit. Das Schärfste daran war, daß sie die meisten meiner kommunikativen Zeichen für "Stereotypien" hielt, die ich angeblich zwecks Selbststimulation ausgebrütet hätte. Na ja, so ganz furchtbar unrecht hatte das schlaue Huhn nun auch wieder nicht: Manchmal mopse ich mich eben oder ich bin stinkig, weil man wieder erneut nicht mitbekam, daß und was ich mitteilte! Dann flüchte ich mich schon mal in alberne Spielchen, vor allem dann, wenn ich meine unaufmerksamen Mitmenschen damit ärgern kann!

Trotzdem: Viele angebliche "Stereotypien", "Verhaltensmacken", "Langeweile-Spielchen" etc. sind in Wirklichkeit meine individuellenZeichen für meine individuellen Aussagen!

Meine erste Lehrerin (Ihr wißt schon - dieses Schlauköpfchen!) nennt meine Kommunikationsform INDIVIDUALKOMMUNIKATION.

Nicht nur mir, sondern vor allem allen meinen Kommunikationspartnern scheint es, als ob die Individualkommunikation die schwierigste, nervenaufreibendste, zeitaufwendigste und am wenigsten erfolgver- sprechende Kommunikationsform überhaupt ist. Ich gebe aber mal zu bedenken, wie viel Jahre ein "normales" Baby benötigt, um nicht nur Laute aus seinem Mund purzeln zu lassen, sondern auch eine für andere verständliche Lautfolge!

Um nun - irgendwann - mit mir kommunizieren zu können, müßt Ihr Euch, liebe Lebenswegbegleiter, auf den mühevollen Weg der ORIENTIERUNGSKOMUNIKATION begeben.

Während ich (und meine diesbezügliche Aufgabe ist wahrlich nicht weniger mühevoll als Eure) Euch immer und immer wieder meine individuellen Zeichen für jeweils ganz bestimmte individuelle Inhalte anbiete, solltet Ihr Euch bemühen, zunächst einmal alle meine als "bewußt produziert" identifizierbaren Zeichen (auch wenn sie Euch noch so abstrus oder "stereotyp" erscheinen mögen) schriftlich zu erfassen. Dann müßtet Ihr stets und ständig beobachten (und ebenfalls schriftlich fixieren - in Stichworten natürlich nur!), in welcher Situation ich wie und wann welches Zeichen produziere. Dann - und das ist wohl das Schwierigste - könntet Ihr beginnen, zunächst mal einem Zeichen eine bestimmte Bedeutung unterzulegen. Von da ab müßt Ihr prüfen und prüfen, ob dieses Zeichen mit der von Euch unterlegten Aussagen übereinstimmt. Ist dem beweiskräftig so, dürft Ihr Euch auf die Schulter klopfen und "Bingo!" rufen (Ich selbst verlange im Erfolgsfall für meine tatkräftige Mithilfe nur ein Stück Sahnetorte!).

Kriegt Ihr nach langer Überprüfung den Beweis für die Übereinstimmung von Zeichen und Aussage nicht, dann - ja dann müßt Ihr von vorne anfangen: Gleiches Zeichen - andere Aussage - prüfen - prüfen usw. usw.

Damit Ihr nun aber nicht den Mut verliert und trotz aller Schwierigkeiten Euch kräftig bemüht, mit mir in Kommunikation zu treten (schließlich bin ich ein umwerfend charmanter Bursche!), empfehle ich Euch, den Beitrag "ORIENTIERUNGSKOMMUNIKATION" (in: Die neue Sonderschule, 41. Jahrgang 1996, Heft 1, Verlag: Luchterhand Neuwied) von meiner Ex-Lehrerin zu lesen. In diesem Bericht plaudert sie nämlich im wahrsten Sinne des Wortes "aus der Schule" und verrät ein paar meiner kommunikativen Tricks, die (zumindest bis jetzt) immer noch gültig sind.

2. Meine Gustetik = Lehre vom Geschmack

Schon sehr früh mußte meine darob verblüffte Mutter feststellen, daß sie mit mir nicht nur einen ausgesprochen hübschen und äußerst charmanten Burschen aus Abrahams Wurstkessel geangelt hatte, sondern auch einen gaumenkitzligen Gourmet. Böse Zungen behaupten, ich sei eher ein Gourmand (also ein Vielfraß): Das stimmt nur bedingt, aber wenn's mir so richtig wohl ist und auf der Speisenkarte mein derzeitiger Gusto zur Auswahl bereitsteht, na ja, dann lange ich eben mal kräftig zu. Übel wird mir danach sehr selten, nur leider läßt sich manchmal ein Rückwärtsschwuppdich nicht vermeiden. Das mache ich beileibe nicht mit Absicht, meistens passiert's mir nur, wenn ich so'n blöden Husten oder Hustenreiz habe.

Prinzipiell bin ich ein angenehmer, still genießender Essenspartner: wenn alles so gestaltet wird, wie ich's gern habe. Krach und Hektik bei Tisch kann ich überhaupt nicht leiden, obwohl ich viel lieber in Gesellschaft speise als allein. Und dann liebe ich Essensassistenten, die frisch und höchstens dezent nach einem unaufdringlichen Parfüm duften. Zuwider sind mir ganz mächtig alle aschenbechermäßig aus dem Mund müffelnden oder mit dem Parfümpotpourri eines arabischen Freudenhauses benebelten Essenpartner. Wenn die mir nämlich bei den Mahlzeiten behilflich sind, legen sich ihre geballten Duftstoffladungen derart lästig auf meine Zungengeschmacksknospen, daß ich beim besten Willen einen Salzhering nicht von einem Eclair unterscheiden kann.

Zu meinen Vorstellungen von einer gepflegten Essensatmosphäre gehört weiterhin meine physiologisch korrekte Sitzhaltung in der 90°-Position. Ich liege nicht gerne beim Essen, auch nicht "nur ein bißchen", denn wenn ich - halb-/ liegend - die Chance kriege, Augenspielchen an der Zimmerdecke zu veranstalten oder mir beim Betrachten von (vor allem Neon-) Licht ein kleines Epilepsieanfällchen reinzuziehen, dann kann das schon mal mehr Spaß bereiten als ggfs. ein geschmacklich nicht besonders aufregendes Mahl.

Nein, nein, es ist schon wahr: am liebsten habe ich als Betrachtungsobjekt einen netten Essensassi, der mir von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt und mir behutsam beim Trinken und Essen behilflich ist. Auf Essenspartner, die z.B. über Eck zu mir sitzen und deshalb mein Zuckerschnütchen nicht richtig sehen können, so daß sie mir ständig den Löffel an die Zähne hauen oder mich mit der Gabel in die Zunge pieken - also auf diese Zeitgenossen habe ich einen gelinden Pick: Denen gegenüber entwickle ich ein elefantöses Gedächtnis und warte geduldig auf den Tag, wo mir mal einer ihrer Finger zwischen mein Wolfsgebiß gerät ...

Übrigens bin ich auch besonders bissig gewissen Figuren gegenüber, die das genußvolle Einnehmen von Mahlzeiten mit mir äußerst geschmacklos als "füttern" bezeichnen!

Was nun die simple Aufnahme- und Bearbeitungstechnik von Getränken und Speisen anbelangt: in dieser Beziehung verfüge ich über perfekte Fertigkeiten! Mit anderen Worten ausgedrückt - ich kann trinken wie eine Kuh aus'm Eimer und ich kann kauen wie eine Schildkröte (das müßt Ihr Euch mal in natura angucken, wie exakt Schildkröten kauen!).

  • Spitzfindig und pfiffig, wie Ihr seid, habt Ihr sicher mitgekriegt, daß ich bezüglich des Trinkens und Essens von meinem "Können" gesprochen habe. Aber manchmal kann ich mein Können leider nicht in seinem vollen Glanz zur Geltung bringen die Ursachen hierfür werde ich im letzten Kapitel meiner Memoiren darstellen.

Da es also doch einige Besonderheiten bei den Techniken gibt und ich außerdem - wie bereits erwähnt - ein Mensch mit einen dezidierten Geschmack bin, möchte ich Euch einige kleine Hinweise geben.

Nicht jede Flüssigkeit ist (m)ein Getränk!

Jaaaa, meine lieben Leute, ich könnte also - wenn ich denn wollte - alle Flüssigkeiten trinken, die hierfür vorgesehen sind. Wohlgemerkt: ich könnte!

Allerdings will ich manchmal nicht, und dies hat unterschiedliche Gründe.

  • Im Prinzip weiß ich wohl, wie wichtig das Trinken für mich ist. Nicht nur, daß ich darauf achten muß, viel Flüssigkeit zur Erhaltung meiner zarten Haut aufzunehmen.

  • Nein, ich brauche vor allem eine Menge Flüssigkeit, um mein Blut und meine Nieren von den Giftstoffen der Medikamente zu reinigen.

Also allein schon die Vernunft leitet mich, täglich genügend Getränk zu mir zu nehmen. Hinzu kommt, daß ich eigentlich auch gerne trinke. Oh Mann, oh Mann, was glaubt Ihr, wie ich mich auf's Älterwerden freue, denn dann darf's wohl auch mal ein Bierchen oder 'n Glas Schampus sein!

All das hört sich ziemlich problemlos an, nicht wahr? Ist es auch - aus meiner Sicht, denn ich trinke viel und zügig immer dann, wenn ich will. Das kann so aussehen, daß ich

  • gleich morgens nach dem Aufstehen schon mal einen halben Liter Kakao brauche, dafür aber weder zum oder unmittelbar nach dem Frühstück nicht ein Tröpfchen mag, dann ein bis zwei Stunden später gerne ein Schlückchen zu mir nehme und vor allem nachmittags/abends wahre "Sauforgien" veranstalte;

  • morgens und den ganzen Vormittag über absolut nichts trinken möchte, dafür aber ab mittags mir einen Getränkebauch zulege.

Dies alles könnte auch umgekehrt ablaufen, und an manchen Tagen könntet Ihr den Eindruck gewinnen, daß ich nicht genug getrunken hätte. Ihr werdet jedoch feststellen, daß ich dafür an anderen Tagen besonders süffig gelaunt bin - das gleicht sich bei mir immer aus!

  • Der zweite Grund, warum ich manchmal die Flüssigkeitsaufnahme verweigere, liegt im ange- botenen Getränk. Warme oder gar heiße Getränke sind so gar nicht nach meinem Geschmack!

Am liebsten mag ich flüssige Labsale höchstens mit Zimmertemperatur oder auch 'ne Spur kühler, und im Sommer darf's dann schon mal schön kalt sein.

Naja, und dann hab' ich halt so meine Vorlieben: Kalter Kakao ist eigentlich (fast) nie verkehrt. Auch mag ich Milch, Tee (natürlich ein wenig gesüßt!), Eistee und sehr gerne Säfte.

Kohlensäurehaltige Getränke krieg' ich vormittags kaum runter, außerdem muß es mich es mich überhaupt heftig danach gelüsten, damit ich sie mal zu mir nehme.

So viel also zum Thema "Trinken"! Ich hoffe, Ihr könnt meine diesbezüglichen kleinen Menschlichkeiten verkraften - so schlimm sind sie ja nicht, nicht?

Biete strahlende Laune gegen gutes, abwechslungsreiches Essen

Nicht, daß etwa jemand glaubt, ich wollte Erpressung betreiben! Trotzdem: Wer immer mir besondere Aufmerksamkeit beim Angebot von Brotbelag zukommen läßt, den schließe ich in mein Herz und öffne ihm freudig mein genußfrohes Mäulchen.

Wie ich bereits erwähnte, kann ich hervorragend kauen. Na, kommt Euch bei dieser Formulierung etwas bekannt vor? Ja, ja, auch hier gilt der Spruch "Können und können sind verschiedene Dinge" - manchmal kann ich eben nicht können (siehe 3. Kapitel).

Mein Frühstück beginne ich am liebsten mit einem leckeren Müsli. So zwei bis drei gehäufte Eßlöffel von einem (gemahlenen) Mehrkorn-Früchte-Müsli, schön mit flüssiger Schlagsahne - von wegen des notwendigen und aufbauendem Eiweiß' - (Milch geht auch, schmeckt aber nicht so toll und etwas Fett kann ich bei meiner schlanken Linie vertragen!) verrührt, ein halbes Stündchen zum Quellen in den leicht gewärmten Backofen gestellt und vor dem Essen etwa mit

  • einem Eßlöffel Honig und einem Tupfer Zimt,

  • einem Eßlöffel beliebiger Marmelade,

  • Nutella,

  • frischen Obststückchen,

  • Obstjoghurt (roter Grütze etc.)

verziert, also gegen einen solchen Frühstücksstart hatte ich bisher noch nie etwas einzuwenden. Außerdem kann man in den ersten Löffeln der Müsli-Köstlichkeit meine blöden Pillen verstecken. Ich bin's zufrieden, weil ich das Giftzeug dann nicht so deutlich im Mund spüre, und meine Essenpartner dachten immer, ich hätte ihrenTrick nicht bemerkt. Von mir aus können wir dieses Spielchen fortsetzen, immerhin sind wir wohl alle mit dem Effekt zufrieden.

Manchmal ist es günstig, mir nach den tablettengespickten Müslihappen gleich ein belegtes Brot anzubieten. Manchmal kann ich allerdings nur das Müsli essen, weil ich dabei nur schlucken und nicht kauen muß. Es kann auch vorkommen, daß ich zur üblichen Frühstückszeit gar nichts runterkriege. Dann, liebe Leute, probiert's doch in 'ner halben oder ganzen Stunde noch mal ...

Hin und wieder (vor allem dann, wenn ich das genußvolle Kauen eines Frühstücksbrotes über ein paar Tage hinweg verweigere) muß man mir meine Begeisterung für's Brotessen erleichtern, indem man mir eine Stulle zerbröselt und mit einem leckeren Belag vermischt oder - schlimmstenfalls - mir den Brotbelag pur anbietet. Meistens besinne ich mich dann sehr schnell wieder auf den Spaß, mein Frühstücksbrot kauend zu genießen.

Obwohl ich nun ein ganz Süßer bin, habe ich durchaus nicht nur eine Vorliebe für Süßkram. Wohl darf's auch mal Marmelade, Nutella oder Honig auf dem Brot sein, aber eigentlich mag ich auch zum Frühstück schon viel lieber Kräftiges-Deftiges. Ich hoffe, Ihr haltet mich nicht für unverschämt, wenn ich Euch hier eine kleine Liste meiner bevorzugten Lieblings-Brotbeläge serviere:

  • Schafskäse (mit Knoblauch und Kräutern),

  • Fleischsalat,

  • Räucherfisch (Lachs, Forelle, Schillerlocke, Heilbutt),

  • Seelachsschnitzel (im Glas),

  • hartgekochtes Ei (es darf ruhig etwas - leider falscher - Kaviar darauf sein),

  • Wurst und Käse (viele verschiedene Sorten, z.B. roher Schinken, ungarische Salami, Harzer, Limburger, Schweizer),

  • Ölsardinen/Thunfisch.

Dazu esse ich (wie gesagt auch schon zum Frühstück) gerne ein paar Happen Gewürzgurke, Paprikaschote, grüne Gurke, rohe Zwiebel ...

Auch Rührei (mit Schinken), Kräuterquark oder Sardellenpaste mag ich gerne - Ihr seht also, ich bin ein absoluter Gegner einer asketischen Ernährungs-Monotonie und ein leidenschaftlicher Verfechter einer abwechslungsreichen Genußfreude.

Brot esse ich etwas lieber als Brötchen, die sind mir oft zu knusprig, so daß mir kleine harte Krustenteile immer in die Schleimhaut pieken. Bei den Brotsorten bin ich nicht besonders wählerisch: Vom Weißbrot über Rosinenbrot und Mischbrot kann ich bis zum Vollkornbrot (mit Körnern) alles verzehren!

Warme Mahlzeiten gehören zu meinen Lieblingsmahlzeiten: Ob Suppen, Eintöpfe, Nudelgerichte oder treudeutsche Standardmenüs (Fleisch, Soße, Kartoffeln, Gemüse) - ich liebe warmes Essen. Die Hauptsache dabei ist aber, daß es mir schmecken muß! Beispielsweise könnte ich Euch ein paar Geschichten von dem Schulessen (das Wort "Essen" ist in dem Zusammenhang mächtig übertrieben!) erzählen ...

Gottlob mußte ich immer nur freitags in der Schule essen, montags bis donnerstags durfte ich das Drei-Sterne-Essen im Schülerladen genießen. Oh weh, wie oft bin ich am Freitag hungrig nach Hause gefahren, denn die Schulköchin konnte nicht mal Milchreis zubereiten.

Daheim verschlang ich dann immer eine Riesenportion Spaghetti Bolognese oder andere leckere Dinge, die meine Mama tausendmal besser kochen kann als diese Dame in der Schule.

Vergessen darf ich aber auch nicht, daß ich ein nachmittägliches Kakaostündchen absolut nicht verachte. Zum Kakao schätze ich Kuchen in jeglicher Gestalt, vor allem (Käse-)Sahnetorten und Crèmetorten finden meine begeisterte Zustimmung.

Tja, liebe Essenspartner - prinzipiell habt Ihr wenig Schwierigkeiten mit mir beim Essen (und Trinken). Woran es manchmal hapert und an welchen Stellen es knirscht, das verrate ich Euch im dritten und letzten Kapitel.

3. Vom Wollen und vom Können (und vom Wollen-Können)

Also eins könnt Ihr mir - unbesehen - glauben: wollen tu' ich immer!

Ich will,

  • daß es mir gut geht;

  • daß es Euch gut geht und Ihr keine (nennenswerten) Probleme mit mir habt;

  • daß ich schöne, interessante Beschäftigungen angeboten kriege (z.B. liebe ich sportliche Betätigungen wie Schwimmen und Reiten, Musik machen auf dem Keyboard, Zutaten probieren beim Kochen/Backen);

  • daß ich nette Leute kennenlerne (z.B. auf Ausflügen/Reisen);

  • daß wir alle eine feine Zeit miteinander haben.

Um dies zu erreichen, will ich

  • mich bemühen, beim Waschen und Anziehen nicht wie ein Stier zu brüllen; Vielleicht könnt Ihr mich manchmal dabei unterstützen, indem Ihr mir ein kleines Lied vorsingt oder mit mir schmust oder ... - leider klappt's dann hin und wieder doch nicht, obwohl ich wirklich nicht brüllen möchte;

  • mich bemühen, meine paar Selbststimulations-Spielchen möglichst wenig zu spielen, - helft mir doch bitte mit spannenden Tagesaktivitäten, damit ich von meinen gelegentlichen Sehnsüchten nach einem selbstgestrickten Anfall abgelenkt werde;

  • mich anstrengen, beim Trinken und Essen meine qualitativ hochwertigen Fertigkeiten glänzen zu lassen, damit jede Mahlzeit ein genußvolles Vergnügen für alle Beteiligten wird;

  • mich mit großer Geduld bemühen, meine kommunikativen Zeichen immer wieder auszusenden und alles zu tun, was eine gemeinsame erfolgreiche Verständigung zwischen uns ermöglicht.

Und doch weiß ich aus meiner bisherigen Lebenserfahrung, daß mir mein Wollen allein nichts nützt. Leider gibt es nun ein paar Menschen, die in diesem Zusammenhang einen ganz blöden Spruch auf den Lippen haben, der da lautet: "Er könnte schon, wenn er wollte - aber er will eben nicht!"

Ich werde Euch mal sagen, wie der Spruch aus meiner Sicht heißen müßte: "Er könnte ja, wenn er bloß wollen könnte - aber im Moment kann er wohl nicht wollen können!"

Na, habt Ihr die Pointe mitgekriegt? So, wie ich Euch einschätze, ist Euch die Sachlage völlig klar: Ihr wißt also, daß ich (fast) nie etwas nicht können will, sondern leider manchmal etwas nicht wollen kann. Euch ist somit auch bewußt, daß ich euch (beinahe) nie ärgern möchte, sondern eher unter meinem Mangel an Willenskraft leide.

Wie dieser Mangel zustande kommt, läßt sich an einigen Beispielen verdeutlichen:

Eines meiner heftigsten Probleme stellen die in unterschiedlicher Stärke auftretenden epileptischen Anfälle dar. Manche Anfälle beeinflussen mich nicht sehr, die meisten jedoch beeinträchtigen mein Wohlbefinden in erheblicher Form. Für die gravierendste Anfallsform gibt Euch mein Doktor Hinweise, die Euch und mir nützlich sind. Ansonsten bin ich immer ganz froh, wenn mich jemand während des Anfalls leise streichelt und beruhigend mit mir spricht. Nach manchen An- fällen muß ich schlafen, nach einigen Anfällen bin ich unglücklich-knatschig gestimmt - am besten ist es, man läßt mich dann ein wenig in Ruhe. Meine Kicher-Anfälle (das sind die, die ich mir selbst zubereite) hindern mich nicht daran, das Tagesgeschehen interessiert zu verfolgen bzw. fortzusetzen.

Bedeutsam für meine Willenskraft ist auch die Qualität meiner Nachtruhe. Habe ich miserabel geschlafen oder einen Alp geträumt (z.B. von dieser Schulköchin), dann ist mein Wollen-Können ebenfalls beeinträchtigt.

Bevor ich mich nun in weitere Gründe für meinen hin und wieder auftretenden Wollen-Können-Mangel verstricke, versuche ich mal, die Sache abzukürzen. Eigentlich müßt Ihr - abgesehen von den Auswirkungen der epileptischen Anfälle - nur an all' die vielen kleinen Menschlichkeiten denken, denen Ihr genau wie ich ausgesetzt seid. Die haben manchmal, obwohl man's gar nicht merkt und überhaupt gar nie will, mehr Einfluß auf unser Wollen-Können als wir es wahrhaben möchten.

Manch' einen von uns wirft's schon aus der Bahn, wenn das Frühstücksei nicht butterweich, sondern steinhart war.

Andere Menschen kriegen für den Rest des Tages ihre Wollen-Notbremse gezogen, weil ihnen ein autofahrender Mitmensch ein Kratzerchen in den Lack ihrer Blechkutsche geritzt hat. Wieder andere geben sich die Kugel und sind für'ne ziemliche Weile handlungsunfähig, weil ...

Ich finde ja, daß uns dieses Nicht-Wollen-Können-Menscheln unheimlich miteinander verbindet. Jedem von uns fehlen ein paar Nadeln an der Tanne - unfair wird's nur, wenn man es ausschließlich bei den Anderen feststellt und nicht auch bei sich.

Also ich, ich weiß, daß ich wahrhaftig kein perfekter Mensch bin - aber statt dessen bin ich Aljoscha, der knuddeligste Typ unter der Sonne!

Autorin

Franziska Schäffer,

Enzianstraße 1

12203 Berlin

Quelle

Franziska Schäffer: Auszug aus: Lebensweisheiten des Epikuräers Aljoscha B.

(Begleittext zu Aljoschas Übersiedlung in eine Wohneinrichtung)

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-99

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 27.11.2006

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