Zum Urteil des OLG Köln vom 8.1.1998 - Behindertenurteil

Autor:in - Wolfgang Enders
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-98 Gemeinsam leben (2/1998)
Copyright: © Luchterhand 1998

Das Problem

Die Gerichte haben sich in letzter Zeit zumindest in der Öffentlichkeit keine Freunde gemacht, wenn sie sich mit Problemen der Behinderten zu beschäftigen hatten. Zunächst hatte das BVerfG zum Mißvergnügen der Betroffenen den Wunsch eines behinderten Kindes bzw. seiner Eltern, eine Regelschule besuchen zu dürfen, nicht als absoluten verfassungsrechtlichen Anspruch gewertet, sondern seine Realisierung unter den Vorbehalt des "Möglichen" gestellt[1]. Beschränkte sich die negative Reaktion noch mehr oder weniger auf die Fachöffentlichkeit[2], so war die Empörung über das hier zu besprechende Urteil des OLG Köln[3] sozusagen allgemein: Minister waren und sind vielleicht noch "höchst unglücklich" über das Urteil, sahen darin einen "großen Rückschlag für das Zusammenleben behinderter und nichtbehinderter Menschen in unserem Land". Es wurde zum absoluten Widerstand gegen das Urteil aufgerufen[4], bundesweit werden Unterschriften gegen das Urteil gesammelt[5]. Man fragt sich, waren da furchtbare Juristen am Werk oder mußten Richter hier ein furchtbares Recht anwenden, ob sie wollten oder nicht? Um dieser Frage näher nachzugehen, sollen der Sachverhalt dargestellt, die Entscheidungsbegründung erläutert und überprüft werden.

Zum Sachverhalt: Der Landschaftsverband Rheinland richtete in einem kleineren Ort im Aachener Raum ein Haus für eine Wohngruppe von sieben geistig behinderten Menschen ein Einer der unmittelbaren Nachbarn fühlte sich bald in seiner Ruhe gestört, behauptete, er könne sich bei schönem Wetter praktisch nicht mehr in seinem Garten aufhalten, weil die Behinderten durch "Schreie, Stöhnen, Kreischen und andere unartikulierte Laute einen unerträglichen Lärm" verursachten. Er hatte zudem behauptet, auf dem Grundstück sei es zu "geschlechtsbezogenen Handlungen" gekommen. Der Nachbar klagte zunächst vor dem LG Aachen, forderte die Beseitigung des "Heimes", hilfsweise forderte er für die Zukunft Unterlassung der Störungen. Beim LG Aachen holte er sich ein Abfuhr, die Klage wurde im vollem Umfang abgewiesen. Auf seine Berufung, die aber die Schließung des "Heimes" nicht mehr weiterverfolgte, änderte das OLG Köln die Entscheidung des LG und verurteilte den beklagten Landschaftsverband, "zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß von den auf seinem Grundstück ... untergebrachten geistig behinderten Personen Lärmeinwirkungen wie Schreien, Stöhnen, Kreischen und sonstige unartikulierte Laute zu folgenden Tageszeiten auf das Grundstück des Klägers dringen: a) an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ab 12.30 Uhr; b) mittwochs und samstags ab 15.30 Uhr; c) an den übrigen Werktagen ab 16.30 Uhr." Dem Kläger wurde hierbei zugemutet, Einwirkungen auch in den "geschützten" Zeiten insoweit hinzunehmen, als sie während des Bemühens erfolgen, die unzulässigen Geräuscheinwirkungen zu verhindern. Die Kosten des Verfahrens hatten der Kläger zu 2/3, der Beklagte zu 1/3 zu tragen. Daraus läßt sich ersehen, daß das Gericht davon ausging, daß der beklagte Landschaftsverband sich zum größeren Teil durchgesetzt hatte.

Im Grunde handelt es sich um einen der nicht seltenen und höchst unerfreulichen Nachbarstreitigkeiten, die mangels Kompromißbereitschaft der Betroffenen vor den Gerichten ausgetragen werden[6]. In diesen fällen sind zwei Probleme zu klären: Handelt es sich bei den um eine nachteilhafte Einwirkung, eine Störung (Immission aus der hier maßgeblichen Sicht des betroffenen Nachbarn)? (Dazu 2.) Wenn ja, muß diese Störung hingenommen werden oder kann der Nachbar Unterlassung fordern? (Dazu 3.).



[1] BVerfG Beschl. v. 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 NJW 1998, S. 131ff (132); ähnlich auch BayVGH Urt. v. 9.7.1997 - BayVBI 1998, S. 180ff

[2] Dazu im Heft 1-98 von Gemeinsam leben die Beiträge in der Rubrik "Forum".

[3] Das Urteil v. 8.1.1998- 7 U 83/96 ist auszugsweise abgedruckt in NJW 1998, 763-766

[4] Die Zitate finden sich bei Wassermann in NJW 1998, S. 730. Nur eine regionale Nachricht wert ist die zumindest in Bayern herrschenden Praxis, blinden den Zugang zu Konzert- und Opernaufführungen zu verwehren, weil Blindenhunde vielleicht bellen könnten (SZ v. 26.3.1998). Das fast sichere lästige Räuspern und Husten nichtbehinderter Besucher wird hingenommen

[5] Nach SZ vom 30.3.1998 - Aktuelles Lexikon "Lebenshilfe"

[6] Nach Metzger in Breidenbach "Mediation für Juristen" (Köln, 1997) sind Nachbarkonflikte "klassische Mediationsfälle", die Juristen nicht besonders "schmecken". Von den 65 Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer hätten sich nur drei bereit erklärt, in Nachbarkonflikten anwaltlich tätig zu werden (s. 184f)

Die Frage nach der Störung

Das Gericht ist der Frage, ob eine Störung vorliegt, sehr gründlich unter zwei Aspekten nachgegangen: inwieweit verursachen die Hausbewohner im Garten akustische und optische Einwirkungen (tatsächliche Frage) und sind diese als Störungen zu werten (normative Frage).

- Hinsichtlich der optischen Einwirkungen ("geschlechtsbezogene Handlungen"), die der Kläger mittels Videoaufnahmen von seinem Fenster beweisen wollte, hat das Gericht es von vornherein abgelehnt, der Frage überhaupt nachzugehen, ob diese Handlungen vorkämen. Hier sei der höchstpersönliche Intimbereich betroffen, Videoaufnahmen wären unzulässig und könnten schon deshalb vor Gericht nicht verwertet werden.

- Bei den akustischen Einwirkungen ließ das Gericht - anders als das LG Aachen - Tonbandaufnahmen als Beweismittel zu. Der Senat sah in den Aufnahmen kein eindringen in die Privatsphäre bezüglich gesprochener Worte, da die Äußerungen weder verständlich seien noch einer bestimmten Person zugeordnet werden könnten. Außerdem vernahm der Senat mehrere Zeugen[7], sowohl aus der Nachbarschaft als auch aus dem Kreis der Betreuer der Wohngruppe. Übereinstimmend sagten die Zeugen aus, daß sich die Bewohner des Hauses bei schönem Wetter nicht nur sporadisch, sondern über mehrere Stunden im Garten aufhielten und in dieser Zeit zwar nicht ständig, aber in doch erheblichem Umfang die vom Kläger behaupteten Laute von sich gäben. Im Ergebnis kam der Senat zum tatsächlichem Umfang die vom Kläger behaupteten Laute von sich gäben. Im Ergebnis kam der Senat zum tatsächlichen Befund, daß deutlich wahrnehmbar akustische Immissionen stattfänden. Juristisch bedeutete dies, daß das Eigentum des Klägers "beeinträchtigt" wurde, was nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in tatsächlicher Hinsicht wohl nicht zu bestreiten ist. Juristisch notwendige folge ist damit zunächst, daß dem Kläger grundsätzlich das Recht zustand, vom beklagten Landschaftsverband Unterlassung künftiger Beeinträchtigungen zu fordern (§ 1004 Abs. 1 BGB). Die Rechtsprechung hierzu ist - wie man so sagt - gefestigt. Daß Geräusche Immissionen darstellen bestätigt § 906 Abs. 1 S. 1 BGB, der den Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB einschränkt. Daß auch menschliche Stimmen "Beeinträchtigungen" darstellen können, ist bisher nie problematisiert worden[8].



[7] Das Gericht bezieht sich in seiner Urteilsbegründung, soweit sie in der NJW a.a.O. abgedruckt, ist auf sechs Zeugen

[8] Bei Palandt, Komm. z. BGB (55. A.), § 906 RdNr. 11 weist eine umfangreiche Rechtsprechung zum Problem der Geräusche als Einwirkung nach, die sich auch auf menschliche Stimmen beziehen (Spielplatz, Schule, Gartenfest)

Zur Unzumutbarkeit der akustischen Einwirkung

Das Problem der "wesentlichen" Einwirkungen

Zentrale Streitfrage ist die Wertung des OLG, die festgestellten akustischen Einwirkungen bräuchte der Kläger nicht unbeschränkt hinnehmen.

Zunächst bringt § 906 BGB zum Ausdruck, daß nicht jede Einwirkung eine Beeinträchtigung darstellt, die der Eigentümer verbieten kann. Nach Abs. 1 kann u.a. die Zuführung von Geräuschen nicht verboten werden, als die Einwirkung die Benutzung des Grundstücks ,nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt". Das OLG Köln betont - unter Hinweis auf die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH und des BVerwG -, daß "letztlich entscheidendes Kriterium für die Wesentlichkeit einer Geräuschimmission deren Lästigkeit ist, wobei es sich um einen Faktor handelt, der nicht klar zu definieren und noch weniger zahlenmäßig zu erfassen ist". Die problematischen Aussagen stecken in der Feststellung, daß bei den "Lauten, die die geistig schwerbehinderten Heimbewohner von sich geben, ... der "Lästigkeitsfaktor" besonders hoch sei. Es sei "eine Eigenart des menschlichen Gehörs, daß es auf ungewohnte, auffällige Geräusche mit besonderer Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit" reagiere. Die "erzwungene Wahrnehmung solcher Geräusche als unangenehm und störend..." beruhe "auf einem weitgehend reflexartigen Verhalten, das auch für einen um Toleranz bemühten "verständigen" Menschen nur begrenzt beherrschbar sei. Diese Feststellung untermauerte der Senat dann mit den aussagen der beteiligten Personen. Der beklagte Landschaftsverband hatte diese Auswirkungen der akustischen Störungen u.a. mit der Begründung bestritten, die Betreuer der geistig behinderten Personen könnten mit diesem Problem gut umgehen. Dieses Argument zeigt allerdings wenig Bereitschaft, über den professionellen Gartenzaun hinaus zu blicken und läßt den oft belächelten Rückgriff auf den Maßstab bildenden "Durchschnittsbetrachter", der sich vom - "normalen" zum "verständigen" Durchschnittsmenschen vorgearbeitet hat[9], als überraschend sinnvollen Maßstab erkennen, wenn er auch letztlich vom erkennenden Gericht festgestellt wird. Der Senat hat diesem Argument zur recht eine klare Absage erteilt. Das Gericht hat auf der anderen Seite z.T. drastischen Schilderungen der Nachbarn, von denen einer behauptet hatte, auf seinem Grundstück in weiter entferntes Gebäude umgezogen sein, weil "die Brüllerei ... nicht auszuhalten" gewesen sei, beanstandet. Die Äußerungen ließen "die gebotene Toleranz teilweise vermissen", sie verdeutlichen aber, in welchem Maße die Nachbarn sich beeinträchtigt sahen. Zusammen mit den vom Senat selbst gehörten Tonbandäußerungen kommt der Senat schließlich zum Ergebnis, daß die Geräuscheinwirkungen nicht nur "unwesentlich" seien. Aufgrund der tatsächlichen Schilderungen in dem Urteil kann man diesem Ergebnis kaum widersprechen. Als Konsequenz davon verurteilte das OLG Köln den beklagten Landschaftsverband, entsprechend den oben beschriebenen Vorgaben für Abhilfe zu sorgen.

Die Bedeutung des Diskriminierungsverbots des GG

Gestützt auf die einfach rechtliche Regelung der §§ 1004 Abs. 1, 906 BGB konnte das Urteil für den Landschaftsverband nicht günstiger ausfallen. Zu prüfen war aber, ob das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 s. 2 GG ("Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"), eine stärkere Verpflichtung auslöst, Beeinträchtigungen, die auf dem Verhalten behinderter Personen beruhen, hinzunehmen. Damit sind zwei Problembereiche angesprochen: Können bzw. müssen aus den Grundrechten auch folgen für privatrechtliche Auseinandersetzungen gezogen werden? Wenn ja, wie ist die Reichweite dieser Verfassungsnorm näher festzulegen.

Der Senat geht - insoweit zugunsten des beklagten Landschaftsverbandes - von einer "Ausstrahlungswirkung" des Grundrechts aus und bezieht es in seine Überlegungen ein[10], ohne sich näher mit der Intensität dieser Wirkung auseinanderzusetzen. Damit wird der Tatsache entsprochen, daß die Forderung nach einem Diskriminierungsverbot nicht zuletzt auf den Erfahrungen mit Diskriminierungen im Privatrechtsbereich beruhte[11], daß auch die Zivilgerichtsbarkeit den Auftrag hat, Grundrechte vor Beeinträchtigungen zu schützen[12]. Diese Ausstrahlungswirkung bedeutet insbesondere, daß auslegungsbedürftige Begriffe mit dem Regelungsgehalt des Grundrechts abgestimmt, daß die Begriffe von den Gerichten "verfassungskonform" ausgelegt werden müssen[13]. Dabei ist die Ausstrahlungswirkung dann stärker, wenn das Grundrecht nicht den Kernbereich der Privatautonomie, die Vertragsfreiheit, einschränken soll, sondern vor sozialen Machtpositionen schützen soll[14]. Darin dürfte auch ein wesentliches Ziel des Benachteiligungsverbotes des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG bestehen. Das OLG zieht daraus die Konsequenz, daß vom "verständigen" [15] Durchschnittsmenschen, auf dessen Empfinden es maßgeblich ankomme, "im nachbarschaftlichen Zusammenleben mit behinderten Menschen eine erhöhte Toleranzbereitschaft eingefordert werden" müsse. Das heißt, daß bei der Beurteilung, ob eine Einwirkung "wesentlich" ist, auch zu berücksichtigen ist, daß diese Einwirkung die Folge der Behinderung von Menschen ist. Dies bedeute aber - so der Senat - nicht, "daß den Interessen der Behinderten schlechthin der Vorrang vor den berechtigten Belangen ihrer Nachbarn" gebühre. "Eine schrankenlose Duldungspflicht widerspräche dem nachbarlichen Gebot der Rücksichtnahme und wäre mit dem gesetzlichen Regelung in § 906 I BGB nicht in Einklang zu bringen". Darin steckt ein Zirkelschluß, weil niemand auf die Idee kommt, daß "berechtigte" Interessen zurückzustehen haben. Die frage ist, ob die Interessen auch bei Einbeziehung des Diskriminierungsverbotes des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG berechtigt sind. Jedoch entspricht diese Einschätzung grundsätzlich den Vorgaben des BVerfG, das die Anforderungen an staatliche Integrationsbemühungen unter den Vorbehalt des "Möglichen" stellt, eine Rücksichtnahme auf andere "Gemeinschaftsbelange" für notwendig hält und auch die Auswirkungen von Maßnahmen auf nicht behinderte Personen berücksichtigt sehen will, wenn es um die Reichweite der Grundrechtsnorm geht[16]. Dem Senat ist so zuzustimmen, wenn er über den Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht den gesamten Grundsatz des privatrechtlichen Nachbarrechts, das auf dem Eigentumsrechts und damit ebenfalls auf einer Grundrechtsnorm beruht, aushebelt und so einen Interessenausgleich fordert. Mehr als die Toleranzpflicht höher zu schrauben, kann man im Grunde nicht verlangen.

Die unter dem Aspekt des Art. 3 III 2 GG heikelste aussage des OLG betrifft den behindertenspezifischen "Lästigkeitsfaktor" der Geräuscheinwirkung. Damit knüpft die Ermittlung der Wesentlichkeit der Einwirkung unmittelbar an der Behinderteneigenschaft an. Wenn, was aus den Ausführungen des Senats allerdings nicht zwingend entnommen werden kann, die Entscheidung hinsichtlich der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung nicht auf der Lautstärke schlechthin, sondern auf der Eigenart des Geräusches als "nicht normale" Kommunikationsversuche von Behinderten beruht, dann ähnelt das Urteil im Grundsatz den Urteilen zum Reiserecht, die behindertenspezifische optische Eindrücke als unzumutbar bezeichneten. Da hätte das OLG doch mehr Anstrengung fordern müssen, sich an diese ungewohnten Formen der Laute zu gewöhnen[17]. So aber hat das OLG vor der herrschenden Abwehrhaltung gegenüber den ungewohnten Lebensäußerungen zu unkritisch kapituliert und die veränderbare Empfindung absolut gesetzt. Das OLG hätte näher ermitteln sollen, ob die behauptete "Eigenart des menschlichen Gehörs" eine anthropologische bzw. kulturfeste Konstante oder nur das Ergebnis herrschender Abwehrstrategien bzw. Trägheit gegenüber unvertrauten Lebensäußerungen ist. Der "verständige" Durchschnittsmensch müßte unter dem Einfluß des Grundrechts vom insoweit "aufgeschlossenen" Menschen abgelöst werden. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG würde eine Obliegenheit auslösen, die ungewohnten Lebensäußerungen zu "verstehen". Ob das Verständnis der Betreuer auch den nicht in die Kommunikation einbezogenen Nachbarn möglich und damit zumutbar ist, das wäre zu klären gewesen. Die Frage ist also, ob das OLG die Reichweite des Diskriminierungsverbots richtig erfaßt hat, zumal die Intensität der Ausstrahlungswirkung höher zu veranschlagen ist, da das Grundrecht hier die soziale Machtwirkung des Eigentums über seine territorialen Grenzen hinaus kontrollieren soll[18].

In der Entscheidung wird auch nicht der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die geforderten und zugesprochenen Einschränkungen auf die Lebensqualität oder den therapeutischen Prozeß haben. Insofern ist der vom Senat selbst erkannte Abwägungsprozeß nicht durchgehalten, indem evtl. spezifische Interessen der Behinderten nicht in die Entscheidung einbezogen werden[19]. Um ein Sachverständigengutachten eines Behindertenpädagogen wäre man dann nicht herumgekommen, ohne daß deshalb die Abwägung im Ergebnis zwingend anders hätte ausfallen müssen. Die etwas starre Festlegung der "Ruhezeiten" erinnert an die hilflosen Versuche der Familienrichter, den Umfang von Besuchsrechten nicht sorgeberechtigter Elternteile quantitativ festzulegen. Auch dort hat das BVerfG den Gerichten mehr Einzelfallorientierung abverlangt[20], die hier unter dem Aspekt des "Behindertenwohls" wohl zu kurz kam. Der Senat hätte - wie bei den Umgangsregelungen - den Sonntag nicht uneingeschränkt dem Kläger "zusprechen" müssen, auch wenn letztlich jede Entscheidung zwangsläufig etwas willkürlich ausfallen muß, wenn die Parteien nicht kompromißbereit sind.

Zusammenfassend läßt sich folgendes sagen: Das OLG war durchaus auf dem richtigen Weg, hat ihn aber nicht konsequent genug weiterverfolgt und damit ggf. die Möglichkeiten des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht ausgeschöpft. Die Verfassungsbeschwerde allein ist der richtige Weg, um dies zu klären. Alle anderen Att acken, wie sie bei Wassermann[21] zitiert werden, sind Anzeichen für die Verlotterung der Rechtskultur.



[9] OLG Köln in NJW 1998 s. 764 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH

[10] Unter Bezugnahme auf Jarass/Pieroth GG, Art. 3 Rdnr. 83; so auch Jürgens in NVwZ 1995, s. 452

[11] So die Informationsbroschüre des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten "der neue Diskriminierungsschutz für Behinderte im Grundgesetz" s. 16, die zwei Entscheidungen zum Reiserecht nennt

[12] Jarass a.a.O. Vorb. Vor Art. 1 Rdnr. 8; diese Schutzaufgabe über die "mittelbare Grundrechtswirkung" akzeptiert auch Dürig (in Maunz-Dürig u.a. Komm. z. GG Art. 3 Abs. I Rdnr. 509) und er bestimmt die Intensität je nach den konkreten Machtverhältnissen

[13] Jarass a.a.O. Art. 1 Rdnr. 25

[14] Jarass a.a.O. Rdnr. 27; ebenso der sonst gegen die Drittwirkung der Grundrechte recht skeptische Dürig in Maunz-Dürig u.a. Komm. z. GG Art. 3 I Rdnr. 509-511

[15] Anführungszeichen im Urteil verwendet

[16] Ob diese Rücksicht auf Nichtbehinderte im Urteil des BVerfG sinnvoll und notwendig war, läßt sich bezweifeln (dazu Mrozynski in GL 1998 S. 5), im Privatrecht wird man aber um eine Abwägung nicht herumkommen.

[17] Ebenso Lachwitz in NJW 1998, 882

[18] Eine ähnliche Problematik ergibt sich bei der sog. medizinischen Indikation eines Schwangerschaftsabbruches, wenn sie mit der Erwartung der Geburt eines behinderten Kindes begründet wird. § 218a Abs. 2 StGB erlaubt im Einzelfall eine Abtreibung zwar nicht wegen der Behinderung, aber doch wegen der Auswirkung der Kenntnis der künftigen Behinderung auf den Gesundheitszustand der Schwangeren. Nach Maunz-Dürig erzwingt das Diskriminierungsverbot des Art 3 Abs. 3 S. 2 GG, daß nur eine evident schwerwiegende Beeinträchtigung eine Abtreibung zu rechtfertigen vermag. Selbstverständlich ist dabei vorausgesetzt, daß die Schwangere nicht in der Lage ist, ihre gesundheitsgefährdende Reaktion auf die bevorstehende Geburt eines behinderten Kindes zu verändern.

[19] Ebenso Lachwitz in NJW 1998, 882f

[20] BVerfG Bschl. v. 18.2.1993, ZfJ 1993 S. 265

[21] Oben FN 4

Der Autor

Prof. Dr. Wolfgang Enders,

Scharnitzer Straße 44,

82166 Gräfeklfing

Quelle:

Wolfgang Enders: Zum Urteil des OLG Köln vom 8.1.1998 - Behindertenurteil

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-98

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

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Stand: 30.05.2005

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